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2. Ein minderer Bruder

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Irgendwie aber muss der Ruf der Franziskaner nach Ockham gedrungen sein: Ob ein Geistlicher den jungen Wilhelm „entdeckt“ hat?6 Ob einfach die Eltern den Sohn an einen Orden gaben und dann eben an einen, bei dem die Mitgliedschaft vergleichsweise billig war, weil man, anders als oft bei den Benediktinern, keine Stiftung erstatten musste?

Ockham hat seinen Eintritt in den Franziskanerorden stets als seinen eigenen Entschluss gedeutet: „Der Regel des seligen Franz habe ich mich unterworfen“, schreibt er Jahrzehnte später.7 Aber da hat er sich schon längst in einem Maße mit diesem Orden identifiziert, das auch in der Rückschau Ordenseintritt und Profess zu einem eigenen Akt machen musste. Gleichwohl wird man, auch wenn man historisch gezwungen ist, andere Motive zu untersuchen und zu nennen, zunächst einmal davon ausgehen dürfen, dass in der Tat das franziskanische Ideal, das Leben in Einfachheit und Armut, wie es ein Jahrhundert zuvor Franz von Assisi vorgelebt hatte8 , das war, was den jungen Wilhelm in den Orden zog.

Nur bekommt man diese grundlegende religiöse Motivation biografisch mangels unmittelbarer Zeugnisse nicht recht zu fassen. Streng genommen ist es nicht einmal sicher, ob am Anfang wirklich ein freier Entschluss stand oder nicht vielmehr das Drängen der Familie, die den Sohn womöglich schlicht versorgt sehen wollte. Angesichts unserer geringen Kenntnis über die Gründe, die Wilhelm zu dem lebensentscheidenden Schritt in den Orden führten, sprießen die psychologisierenden Spekulationen. Spätere Deuter hätten es gerne gesehen, dass es seine Sehnsucht nach den Büchern war, die ihn in den gelehrten Franziskanerorden trieb9 , aber das ist wohl kaum mehr als eine Rückprojektion, zumal wenn der Eintritt, wie man ebenfalls im 16. Jahrhundert berichtete, schon jung erfolgte10 – was man wiederum nicht genau weiß. Sicher ist allein, dass er zum Zeitpunkt seiner Weihe zum Subdiakon, 1306, bereits Franziskaner war: Das Kürzel „O.F.M.“ weist ihn als Mitglied des ordo fratrum minorum, des Ordens der Minderbrüder, also der Franziskaner, aus.

Anzunehmen ist eher, dass die Ordensmitgliedschaft in jedem Falle eine Lösung aus den bisherigen sozialen Bindungen, in gewisser Weise einen sozialen Aufstieg verhieß: Ein junger, begabter Mensch vom Lande besaß zunächst weder soziale noch räumliche Mobilität, wenn er nicht durch den Weg in einen Orden die Standesschranken unterlief. So gesehen war dann sicher auch die im Franziskanerorden gebotene Bildung äußerst attraktiv. Doch wird man in Rechnung stellen müssen, dass noch wichtiger als die Mobilität zweifellos die elementare soziale Sicherung war. Der Orden gab einen sozialen Rahmen vor, innerhalb dessen der Einzelne aufgefangen und versorgt war.

So unsicher die Gründe sind, so sicher kann man sich doch über die primären Folgen sein: Das Milieu, dem Wilhelm nun begegnete, war jedenfalls ein charakteristisch anderes als das bisherige dörfliche, wie allein schon die Tatsache anzeigt, dass er in London geweiht wurde und hier wohl auch Konventsmitglied war. Statt des Landlebens mit seiner täglichen Arbeit, statt der feudalen Herrschaft war nun die Gemeinschaft der Brüder bestimmend. Die spätere, bis zu ihrem erzwungenen Abbruch überaus viel versprechende akademische Karriere spricht dafür, dass Ockham zu denen gehörte, die bereits im Alter von sieben Jahren oder wenig mehr begannen, die Lateinschule zu besuchen11 , was nur dann erklärbar wäre, wenn er schon jung mit den Franziskanern konfrontiert wurde. Für diese Annahme spricht auch, dass er später behauptet, schon als ganz kleiner Junge, als puerulus, etwas über die hoch komplexe logische Theorie der Supposition gehört zu haben.12 Es ist kaum vorstellbar, wie er in Ockham, einem kleinen Dorf, solchen Unterricht genossen haben sollte. Schulen fanden sich in den Städten – für die Stadtkinder – oder bei den Orden.13 So ist die wahrscheinlichste Möglichkeit, dass Ockham schon zum Erlernen der ersten Bildungselemente von zu Hause fortgeschickt wurde und dann schwerlich an eine öffentliche Schule, sondern doch wohl an die Schule eines Ordens. Und wiederum ist es zwar keineswegs gesichert, aber doch die nach dem üblichen Gang der Entwicklung wahrscheinlichste Möglichkeit, dass es die Franziskaner waren, bei denen er die ersten Berührungen mit der Bildung erfahren hat. Gerade vor seinem einfachen bäuerlichen Hintergrund ist es gut möglich, dass seine Eltern ihn als Oblaten an ein Kloster übergeben haben. Vollmitglied dürfte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewesen sein, auch wenn die Statuten, die festlegen, dass man erst nach Vollendung des vierzehnten Lebensjahres Ordensmitglied werden dürfe, erst etwas später, 1316, erlassen wurden14 und somit für seinen Fall noch nicht als verbindlich anzusehen sind.

Ockhams Hinweis auf den durchaus nicht kindgerechten und ebenso wenig praxisorientierten Lerninhalt ist natürlich durchaus ernst zu nehmen. Schon die Elementarschule des mittelalterlichen England, die ein Siebenjähriger besuchen konnte, war von vornherein an einem Bildungsverständnis ausgerichtet, das weit entfernt von den praktischen Erfordernissen eines Kindes aus bäuerlichem, selbst auch aus städtisch-handwerklichem oder kaufmännischem Milieu war. Die erste Aufgabe der Schule war das Beibringen des Alphabets und dann sofort das Unterrichten der lateinischen Sprache.15 Für Ockham könnte dies auch die Konfrontation mit einer weiteren Fremdsprache mit sich gebracht haben. Wenn er tatsächlich Angehöriger der Unterschicht war, so dürfte die Sprache seines Elternhauses Englisch gewesen sein, aber die Sprache, deren man sich zur Vermittlung des Lateinischen in den Schulen bediente, war noch bis in die Vierzigerjahre des 14. Jahrhunderts gemeinhin das Französische.16

Das Erlernen des Lateinischen zielte dabei zunächst vor allem auf die korrekte Aussprache, die man anhand der Psalmen und anderer wichtiger Gebetstexte lernen konnte – für einen späteren einfachen Kleriker reichte dies für den korrekten liturgischen Vollzug. Für diejenigen, die weitere akademische Grade anstrebten, war es jedenfalls eine wichtige Voraussetzung für das weitere Studium. Erst mit acht oder neun Jahren wurden die Kinder dann mit der lateinischen Grammatik konfrontiert, die sie natürlich aktiv ebenso wie passiv beherrschen mussten. Während Englisch die Sprache der Unterschichten war, Französisch die Sprache der Oberschichten, der Verwaltung und der geschäftlichen Beziehungen, war das Lateinische die Sprache für die Kirche, deren man sich schriftlich wie mündlich bediente. Es dürfte in diesem Zusammenhang gewesen sein, dass der puerulus Wilhelm aus Ockham mit Grundlagen der Suppositionslogik konfrontiert wurde, auch wenn diese gewiss nicht in größerem Maßstab das Curriculum einer Lateinschule bestimmte.

Spätestens mit Aufnahme des Noviziates jedenfalls, also mit vierzehn Jahren, dürfte Ockham dann regelmäßig am klösterlichen Leben teilgenommen haben. Das bedeutete vor allem eine Strukturierung des Tages durch das Gebet. Zwischen den Hauptgebetszeiten Laudes am Morgen und der Vesper am Abend spannte sich der Bogen über Terz, Sext und Non. Hinzu kamen ganz früh am Morgen die Prim und spät abends die Komplet: Sieben Mal am Tag wurde der Mönch mit dem wichtigsten Gebetbuch der Christenheit konfrontiert, dem Psalter; Lesungen und Gesänge gestalteten die Gebetsstunden aus. Wer die späteren, bis zur Kälte rationalen Schriften eines Wilhelm von Ockham liest, muss sich immer wieder vor Augen halten, dass dies der selbstverständliche spirituelle Hintergrund ist, vor dem er lebte, dachte und arbeitete.

Nicht nur diese Gebetsformen, die die Franziskaner mit den anderen monastischen Gemeinschaften des Mittelalters verbanden, dürften ihn geprägt haben, sondern auch die besonderen Züge franziskanischer Frömmigkeit: die intensive Christusliebe und die ihr entsprechende Haltung frommer Demut. Bei allen Streitigkeiten, die sich um die Frage der Armut im Orden entwickelt haben und die im Laufe von Ockhams Leben noch zu einem gewichtigen Thema wachsen sollten, war und blieb der Franziskanerorden doch der Orden der Armut. Einfache Häuser und Kirchen prägten das Äußere, das Leben wurde so schlicht wie möglich gestaltet.

So schlicht und einfach wie möglich – das ließ viele Möglichkeiten offen, und die Polemik von außen und auch von innen hat den Franziskanern immer wieder vorgeworfen, es mit der Armut nicht wirklich ernst zu meinen. Gleichwohl wird man, auch wenn vielleicht nicht jede strikte Forderung aus dem Testament des Franz von Assisi befolgt wurde, doch davon ausgehen dürfen, dass das Leben, das Ockham kennen lernte, von großer Schlichtheit geprägt war. Für ihn mag dies rein äußerlich kein großer Schritt gewesen sein, kam er doch aus einem bäuerlichen Milieu und damit ebenfalls aus äußerlich armen Verhältnissen. Und doch ist der Schritt nicht unerheblich: Es war der Wechsel von der aufgenötigten, sozial bedingten zur freiwilligen Armut, von einem Untertanenverhältnis zur Christusnachfolge. Die Vorzeichen der Existenz und der Tätigkeit Ockhams änderten sich mit seinem Eintritt in den Orden. Mag es eigener Wille gewesen sein, fremde Anregung oder gar fremder Druck: Die Bezeichnung der Ordensleute als religiosi drückt aus, was hier auch existenziell mit Ockham geschah. Aus einer funktionalen Stellung innerhalb der mittelalterlichen Erwerbsgesellschaft kam er in eine hervorgehobene Sonderstellung, die sich durch ihre Tätigkeit an der Gesellschaft und für die Gesellschaft in der Nachfolge Christi und im Angesicht Gottes auszeichnete.

Dabei stand für die Franziskaner nicht mehr wie für die älteren Orden das fürbittende Gebet im Vordergrund, sondern die Tätigkeit an den Menschen, die in ihrem Umfeld lebten und die ihnen anvertraut waren. Dies war einer der wichtigsten Gründe dafür, dass die Franziskaner ein städtischer Orden geworden waren. Die Einsamkeit etwa eines Zisterzienserklosters, die Ausdruck der strengen Askese war, hätte den funktionalen Ansprüchen eines den Menschen zugewandten Franziskanerklosters nicht genügt. Der Weg sollte nicht von der Welt und den Menschen fortführen, sondern zu den Menschen hin.

Neben den Aufgaben, die im Kloster anfielen, war daher die wichtigste Aufgabe die Seelsorge. Gerade weil der Bettelorden nicht mehr die Aufgabe hatte, sich seinen eigenen Lebenserwerb zu sichern, sondern unter völliger Armut auch verstanden wurde, dass man keiner produzierenden Tätigkeit nachging, bestanden Zeit und Freiheit, sich den Menschen zuzuwenden. Die Franziskaner waren herausragende Beichtväter und Seelsorger, vor allem auch Prediger. Prinzipiell stand allen Franziskanern, wenn der Ortsbischof es zuließ, das Recht auf Predigt zu, nicht nur, wie sonst, Klerikern. Dass Ockham gepredigt hätte, ist nicht belegt. Reizvoll wäre es, einmal eine Predigt von ihm zu lesen, die einen Zugang zu einer Dimension seines Lebens böte, die uns aufgrund der Überlieferungslage fast völlig verschlossen ist. Den Glauben nicht nur zu durchdenken, sondern auch zu verkündigen – welche Aufgabe für einen Mann, der sich später in dem Versuch, die Möglichkeiten Gottes bis ins Letzte auszuloten, sogar zu dem Gedanken steigerte, Gott könne dem Menschen gebieten, ihn zu hassen.

Wilhelm von Ockham

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