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2. Das Pariser Erbe: die Lehrverurteilung von 1277

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Das Denken des Duns Scotus selbst ist allerdings nur aufgrund einer sehr spezifischen Pariser Situation erklärbar, deren grundsätzliche Folgen für das Verhältnis von Theologie und Philosophie auch für das Oxforder Klima zur entscheidenden Rahmenbedingung wurden: „Häufige, von Glaubenseifer eingegebene Berichte bedeutender und vertrauenswürdiger Personen haben uns zur Kenntnis gebracht, dass einige Lehrer der freien Künste zu Paris die Grenzen ihrer eigenen Fakultät überschreiten und es wagen, die offensichtlichen und verabscheuungswürdigen Irrlehren oder vielmehr Eitelkeiten und falschen Hirngespinste, die in der Rolle beziehungsweise den Blättern enthalten sind, die diesem Schreiben beigefügt sind, als an der Universität behandlungswürdiges Problem abzuhandeln und zu disputieren.“34

So heißt es in dem Prolog eines denkwürdigen Dokumentes. Unter dem Datum des 7. März 1277 ließ Etienne Tempier, Bischof von Paris, 219 Thesen verurteilen, von denen es hieß, sie seien an der artes-Fakultät der Pariser Universität gelehrt worden. Grenzüberschreitung war der Vorwurf, und später in dem Prolog hieß es noch: „Sie sagen …, diese Irrlehren seien wahr im Sinne der Philosophie, aber nicht im Sinne des christlichen Glaubens, als gebe es zwei gegensätzliche Wahrheiten.“35 Die Einheit des Wissens und mit ihr die Einheit der mittelalterlichen Universität also schienen dem Pariser Bischof gefährdet.

Es war nicht das erste Mal, dass die aristotelische Philosophie von einem Lehrverbot betroffen war – man kann sogar sagen, dass Aristoteles, seit man seine Ethik und seine Metaphysik für das christliche Europa wiederentdeckt hatte, unter permanenter kritischer Beobachtung stand. Durch die Konfrontation mit seinen materialen philosophischen Schriften war man zu einem merkwürdigen Autoritätenkonflikt gekommen. Eben der Philosoph, dem man in logischen Dingen zu folgen gewohnt war, hatte ein philosophisches System entworfen, das offenkundig von Christus keine Kenntnis besaß, ja möglicherweise mit dem christlichen Glauben überhaupt nicht vereinbar war. Diese Alternative ist es, die den Umgang mit Aristoteles in der Folgezeit markierte: entweder Akzeptanz als zwar heidnische, aber in Vernunftdingen doch geduldete Autorität oder Verwerfung als heidnischer Irrlehrer.

Das große Verdienst des Albertus Magnus ist es, den Durchbruch für ein solides Aristotelesstudium an den Hochschulen gebracht zu haben.36 Doch war dieser Erfolg nicht von Dauer, ja er war vielleicht gerade deswegen möglich, weil Albertus Magnus auf eine systematische Lösung des Mit- oder Gegeneinanders von Aristoteles und christlicher Lehre verzichtet hatte: In seiner Kölner Lehrtätigkeit von 1248 bis 1254 hatte er sich ganz auf den Aristoteles beschränkt und auf im engeren Sinne theologische Vorlesungen verzichtet. Den systematischen Entwurf, der beides verband, bot erst sein Schüler Thomas von Aquin – doch erkaufte er die Harmonie von weltlich-heidnischer Vernunft und christlicher Wahrheit auch dadurch, dass er Aristoteles so umdeutete, dass er seinem theologischen System eingepasst wurde.

Dieser Weg war für einen Theologen gangbar. Ganz anders musste sich das Problem für Wissenschaftler stellen, die die artes-Fakultät nicht als Durchgangsstation in die Welt hinein oder zu einem Studiengang an einer der höheren Fakultäten verstanden, sondern die sich die Lehre der artes zur Lebensaufgabe machten. Ihnen lag es weit weniger nahe als Thomas, die philosophischen Texte zu verfremden, sondern ihre Aufgabe an der artes-Fakultät bestand gerade darin, den Aristoteles so präzise wie möglich aufzuarbeiten. Es ist dieser Hintergrund, der in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 13. Jahrhunderts für Aufsehen an der Pariser Universität sorgte. Die herausragenden Gestalten dieser philosophischen Richtung, die nicht mehr darstellte als einen vorurteilsfreien, konsequenten Aristotelismus, waren Boethius von Dacien († vor 1284) und Siger von Brabant (ca. 1240–ca. 1284). Ihr Bemühen um präzise Aristoteleslektüre musste unweigerlich auch zu den Punkten vorstoßen, an denen sich Aristoteles mit dem christlichen Weltbild nicht mehr ohne weiteres vereinbaren ließ. Das Modell seiner Kosmologie mit einer unendlichen Bewegung von Schalen war schwerlich mit den christlichen Schöpfungsvorstellungen nach Gen 1 oder gar Gen 2 zu verbinden, die weniger von einem unbewegten Beweger als von einem höchst aktiv in die Weltgeschehnisse hineinregierenden Gott sprachen und die auch keine Ewigkeit der Welt voraussetzten, sondern ihren Anfang in der Zeit: Für das Vakuum vor der Schöpfung (Gen 1,2 Vulgata: „terra autem erat inanis et vacua“; hebr.: Tohuwabohu) war im aristotelischen Denken kein Platz. Und auch im Blick auf die Erkenntnislehre Aristoteles’ musste sich zumindest an den Unklarheiten, die der Stagirite hinterlassen hatte, Streit entzünden: Konsequent weitergedacht, musste seine Vorstellung von einer einheitlichen Vernunft zu einer Gefährdung der individuellen Seele des Menschen und damit seiner individuellen Verantwortlichkeit führen. In einer nicht ganz klaren Aussage hatte Aristoteles in seiner Schrift „De generatione animalium“ die Göttlichkeit des νους, der Vernunft37 , behauptet: „Es ist klar, dass diejenigen Prinzipien, deren Tätigkeit körperlich ist, unmöglich ohne einen Körper bestehen können … Übrig bleibt also, dass nur der νους von außen eintritt und er allein göttlich ist. Denn mit seiner Tätigkeit ist keine körperliche Tätigkeit verbunden“ (736 b 22). Hieraus hatte schon der arabische Aristotelesausleger Averroes (Ibn Rushd; 1126 – 1198) die Konsequenz gezogen, dass der νους, wenn er denn göttlich sei, einer für alle Menschen sei, dass die Menschen also an dieser Vernunftseele lediglich partizipierten, sie selbst aber überindividuell sei. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen nun auch die konsequenten Aristoteliker in Paris, weswegen ihnen auch bald das Etikett des „Averroismus“ angeheftet wurde, das noch bis in das vergangene Jahrhundert an ihnen klebte. Das Problem für die Zeitgenossen war, dass mit einer solchen Annahme einer überindividuellen Seele in der Tat, insofern auch die ethische Entscheidung des Menschen zumindest aus dem Zusammenwirken von Vernunft und Wille resultierte, das Personzentrum des Menschen entindividualisiert würde und sich damit auch die Frage individuellen Lohns und individueller Strafe neu stellen würde.

Bei der Entfaltung solcher Thesen agierten die konsequenten Aristoteliker freilich äußerst zurückhaltend. Gerade die brisantesten Thesen stellten sie nur als Auslegung des Aristoteles vor, nicht aber als ihre eigene Lehre, so dass sie sich jederzeit darauf zurückziehen konnten, lediglich fremde Auffassungen referiert zu haben. Gelegentlich gingen sie sogar so weit, die aristotelische These und die christliche Gegenthese schroff nebeneinander zu stellen – bei oberflächlicher Lektüre konnte man so tatsächlich zu der Vermutung kommen, hier werde ein doppeltes Spiel mit der Wahrheit getrieben, werde die Entscheidung für die christliche Wahrheit bewusst vermieden.

Dass dies nicht die Intention der konsequenten Aristoteliker war, hat die moderne Forschung zur Genüge herausgearbeitet – doch für ihre geistesgeschichtliche Stellung war gerade entscheidend, dass sie durch ihre Lehren, seien sie auch noch so zurückhaltend formuliert, die Konsequenzen des Aristoteles derart deutlich vor Augen gestellt haben, dass noch einmal die Frage nach der Legitimität der Philosophie ganz neu zu stellen war. Aristoteles war für das mittelalterliche Denken nicht ein Philosoph neben vielen, sondern der Philosoph schlechthin, und wenn eine konsequente Aristoteleslektüre zu Ergebnissen kam, die dem Christentum widersprachen, stellte dies ganz generell die Leistungen der menschlichen Vernunft im Angesicht der göttlichen Offenbarung in Frage.

So kam es bald zu einer doppelten Form von Kritik an den konsequenten Aristotelikern: Während der Franziskaner Bonaventura, der in seiner auch mystisch geprägten Geistigkeit ohnehin nicht zu den Freunden des Aristoteles gehörte, das Auftreten der radikalen Aristoteliker nutzte, um in mehreren Predigten 1266 / 7 allgemein die Grenzen der Vernunft aufzuzeigen, sah Thomas in den harten Konfrontationen zwischen Aristoteles und christlicher Überzeugung, die die konsequenten Aristoteliker aufwiesen, auch sein eigenes Projekt der Harmonisierung von Aristoteles und Christentum gefährdet. Er versuchte, ganz im Gegensatz zu Bonaventura, aufzuzeigen, dass die konsequenten Aristoteliker gerade nicht repräsentativ für die Vernunft insgesamt waren, sondern eine individuelle und falsche Form der Aristoteleslektüre vortrugen. So ging er gleichermaßen philologisch und philosophisch gegen sie vor: Es war Thomas, der Wilhelm von Moerbeke (ca. 1215–ca. 1286) zu einer neuen Aristoteles-Übersetzung veranlasste, weil er es für nötig erachtete, Aristoteles möglichst präzise in lateinischer Sprache zugänglich zu machen. Aber er nahm eben auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Siger und seinen Gefährten auf. 1270 verfasste er eine eigene Schrift, „De unitate intellectus“, die der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Erkenntnis- und Seelenlehre gewidmet war. Eben darin findet sich auch die infame Einordnung der Pariser Aristoteliker als „Averroistae“. Sie sollten mit dem islamischen Gelehrten auf eine Stufe gestellt werden – deutlicher konnte Thomas nicht machen, dass er in ihnen nicht „die“ Philosophie, sondern nur eine philosophische Richtung repräsentiert sah, gegen die aus der Warte der christlichen Philosophie zu kämpfen war. Übrigens hat Siger diesen Kampf durchaus aufgenommen: Im Zuge seiner Schriften zeigt sich, wie flexibel er auf die Kritik des Thomas reagierte und seine Seelenlehre immer stärker in christlichem Sinne überarbeitete.

Damit konnte er aber nicht verhindern, dass die Polemik in Predigten und Traktaten auch die Kirchenbehörde auf den Plan rief. Schon am 10. Dezember 1270 kam es zu einer ersten Verurteilung durch Tempier38 , und dies war nur der Auftakt für weiteres Vorgehen des Bischofs gegen die Philosophen. Am 23. November 1276 wurde Siger vom Inquisitor Simon du Val für den 18. Januar 1277 zu einer Gerichtsverhandlung vorgeladen39 , vermutlich entzog er sich wie auch Boethius durch Flucht.

Der entscheidende Schlag erfolgte aber am 7. März 1277: Tempier verurteilte 219 Thesen, welche die von der Gruppe um Siger ausgehenden Gefahren skizzierten, in deren Schriften aber nicht durchweg nachweisbar sind.40 Das Dokument wirkt recht ungeordnet, obwohl es von einer gelehrten Kommission vorbereitet wurde, zu deren bedeutendsten Köpfen der Pariser Theologieprofessor Heinrich von Gent (ca. 1217 – 1293) gehörte. Die Leitlinien der Verurteilung lassen sich trotz der etwas chaotischen Gliederung leicht erkennen: Neben der Abwehr einer Einheitsseele spielt vor allem die Kosmologie eine Rolle. Es geht dabei nicht nur um den Schöpfungsakt und das Verbot der ihm widerstreitenden Annahme einer Ewigkeit der Welt, sondern vor allem darum, dass das aristotelische Schalenmodell der Freiheit Gottes und des Menschen keinen ausreichenden Raum ließ: Immer wieder werden Sätze betont, die in irgendeiner Weise die Notwendigkeit des Geschehens in der Welt auszudrücken scheinen und damit den radikalsten Widerspruch zur biblischen Überzeugung von einem frei handelnden Gott darstellen.

Diese Lehrverurteilung, so unbefriedigend sie denkerisch sein mag, ist doch ein entscheidendes Dokument der mittelalterlichen Geistesgeschichte, das die Voraussetzung für alle nun folgenden Entwicklungen des Denkens darstellt. Mit der Lehrverurteilung von 1277 war gewissermaßen ex negativo ein Modell markiert, das philosophisch denkbar, aber aus Gründen des christlichen Glaubens abzulehnen war. Dies gab für die zukünftigen Generationen von Denkern – und das hieß für all jene Engländer, die in Oxford im Schatten des Duns Scotus Theologie zu treiben lernten – die Regeln für den rechten Umgang mit Aristoteles vor. Entweder musste man weiter wie Thomas fortfahren, Aristoteles zurechtzubiegen – obwohl die verurteilten Thesen stets an die immanenten Möglichkeiten des aristotelischen Systems erinnerten –, oder man musste vonseiten der Theologie Modelle entwerfen, die den Status der Philosophie begrenzten und reduzierten, ohne doch gleich wie Bonaventura die Philosophie und Vernunft insgesamt zu diskriminieren. Diesen letzteren Weg ging vor allem Duns Scotus, und ihm folgend dann Wilhelm von Ockham. Ihm war das Dokument von Paris, auch wenn er es nicht sehr oft zitierte, durchaus bekannt – doch stand er schon längst nicht mehr in direktem Gegenüber hierzu, sondern hatte die neuen Denkwege von anderen, eben Duns Scotus, aber auch Heinrich von Gent, vermittelt bekommen.

Wilhelm von Ockham

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