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a) Zwischen Existentialismus und Essentialismus

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Den Existentialismus hält Tillich für die entscheidende Bewegung des 20. Jahrhunderts. Dabei beschränkt er diese nicht auf eine philosophische Schule, sondern Existentialismus ist für ihn „eine kulturelle Bewegung, die sich im Tanz und in der Bildhauerkunst ebenso wie in der Malerei, der Musik, der Poesie und im Drama manifestiert“ (G IV, 174). Ihre Systematisierung hat sie in der Existenzphilosophie gefunden, die nach Tillich „Antworten auf die dringendsten Fragen der menschlichen Existenz“ gibt (ebd.).

Der Existenzphilosophie zufolge liegt das wirkliche Sein und seine Fülle nicht im „Objekt der Verstandes-Erfahrung (cognitive experience)“ (G IV, 146), sondern in der Wirklichkeit, wie sie unmittelbar erfahren wird. Es geht den Philosophen der Existenz nicht um das „denkende Subjekt“ im Sinne Descartes’, sondern um das „existierende Subjekt“ (G IV, 154); es geht ihnen um die „Innerlichkeit“ bzw. um die „schöpferischen Quellen des Lebens in der Tiefe der menschlichen Erfahrung“ (G IV, 171). „Wenn die Erfahrung dieser Schicht des Lebens ‘mystisch’ ist,“ schreibt Tillich, „dann kann man die Existenzphilosophie den Versuch nennen, den Lebenssinn mit Hilfe ‘mystischer’ Begriffe wiederzugewinnen, nachdem er sowohl in den kirchlichen wie in den positivistischen Begriffen verloren gegangen war“ – wobei allerdings nach Tillich in dieser Form der Mystik „mehr protestantisches als katholisches Erbe“ zu finden ist (G IV, 170).

Dem Existentialismus stellt Tillich den Essentialismus gegenüber, unter dem er eine Philosophie versteht, „die auf das Wesen der Dinge, ihr Was’, platonisch gesprochen auf ihr eidos, ihr ewiges Bild, christlich gesprochen auf ihre schöpfungsmäßige Natur gerichtet ist“. In Hegels System sieht er „das vollkommenste, wenn auch keineswegs das reinste Beispiel einer Essentialphilosophie“ (G IV, 134f.).

Nun ist es aber nicht so, dass für Tillich Essential- und Existentialphilosophie unvereinbare Gegensätze wären, denn selbst bei Platon finden sich Momente von beiden: „Sein Reich der Ideen oder Essenzen ist ein Reich des Essentialismus, essentialistischer Beschreibungen und Analysen. Sein Existentialismus erscheint dagegen in seinem Mythus von der Seele, die aus dem Reich der Essenzen in den Körper herabkommt und hier wie in einem Gefängnis lebt, bis sie wieder aus dieser Höhle befreit wird.“ (E II, 203f.)

Essentialphilosophie ist Wesensphilosophie. Sie fragt nach dem Wesen einer Sache, nach ihrer „ousia“. Tillich verdeutlicht das am Beispiel des Menschen. Was macht den Menschen zu dem, „was er in jeder Gestalt ist, die den Namen ‘Mensch’ verdient?“ Die klassische Antwort, der Mensch sei ein „animal rationale“, bewegt sich im Rahmen dieser Wesensphilosophie. Wenn es auch dem Nominalismus, der Prozessphilosophie, dem philosophischen Empirismus oder der Existenzphilosophie nicht um die Wesensfrage geht, so können diese philosophischen Positionen nach Tillich letztlich doch nicht dieser Frage ausweichen. Denn „immer bleibt es eine Aufgabe des Denkens, das Wesen des Menschen in seinen essentialen Strukturen zu bestimmen, sei es in statischen oder dynamischen Begriffen.“ (G V, 224)

In einer existentialistischen Analyse geht es nach Tillich demgegenüber um „eine Beschreibung des antiessentiellen, d.h. entfremdeten Zustandes des Menschen und seiner Welt“ (G V, 226). Bezieht sich die Essentialanalyse auf das Wesen einer Sache, so die Existentialanalyse auf die konkrete Situation. Beide Methoden dürfen nicht vermengt werden, sie ergänzen sich aber. So ist Ausgangspunkt der Existentialanalyse in Bezug auf den Menschen „das unmittelbare Bewußtsein des Menschen von seiner Situation“. „Daher hat die Existentialanalyse diejenigen Elemente innerhalb einer Erfahrung zu beschreiben, in denen der Gegensatz zwischen dem, was der Mensch wesenhaft ist, und dem, was er in seinem aktualen Dasein ist, zum Ausdruck kommt. Die Existentialanalyse spricht z.B. von der Endlichkeit, die nur im unmittelbaren Gewahrwerden innerhalb der Situation selbst erfaßt werden kann. Die Endlichkeit ist die Erfahrung meiner Endlichkeit im Gegensatz zu einer Endlichkeit, die ich objektiv wahrnehme.“ (Ebd.) Es geht also um die eigene existentielle Situation, die sich als Angst beschreiben lässt, im Unterschied zur objektivierenden essentialistischen Analyse.

Aber der reine Existentialismus kann nach Tillich keine Antworten geben. Zwar wird hier die menschliche Situation gut analysiert: seine Angst, seine Endlichkeit, seine Zeitlichkeit, sein Sterben-Müssen, seine Schuld, seine Verzweiflung oder seine Sorge. Aber in dem Moment, wo dieses Denken über die fragende Analyse hinausgeht und versucht, Antworten zu geben, versagt es Tillich zufolge notwendigerweise.33

Das heißt, der Existentialismus braucht nach Tillich etwas, das über die reine Frage, über die reine Analyse der Existenz hinausreicht: Er braucht Kriterien und Normen. Die Antwort kann also nicht wiederum selbst aus der existentialistischen Philosophie kommen. So greift beispielsweise Heidegger in seinem Spätwerk auf die mystische Tradition zurück, Jaspers auf den klassischen Idealismus. D.h., die Antworten, die gegeben werden, sind somit nach Tillich nicht abgeleitet vom Existentialismus selbst, sie kommen vielmehr von anderen Traditionen her. Doch haben diese existentialistischen Analysen der Theologie einen großen Dienst erwiesen, da sie den Bereich der menschlichen Fragen aufgeschlossen haben; ja sie haben gezeigt, dass der Mensch selbst diese Frage „ist“, ob er sie nun explizit stellt oder nicht. Und indem der Existentialismus das getan hat, hat er uns nach Tillich damit gleichzeitig die Bedeutung der großen Antworten aus der Vergangenheit aufgewiesen.34

Paul Tillich

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