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4. Der Begriff des Dämonischen

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Religiöse Symbole weisen auf das Unbedingte hin, das sie alle transzendiert. Da sie als Symbole teilhaben an dem, auf das sie hinweisen, neigt der menschliche Geist dazu, sie an die Stelle dessen zu setzen, worauf sie nur hinweisen sollen, d.h., er verabsolutiert sie. Tillich bringt diese Gefahr, der nicht nur religiöse Symbole, sondern auch die Religion als Ganze verfallen kann, mit dem Begriff des Dämonischen in Zusammenhang, ein Begriff, den er wieder in die religionsphilosophisch-theologische Diskussion einführte, nachdem Goethe und Kierkegaard ihm erste Konturen gegeben hatten. Tillich scheint sich dieser Bedeutung auch selbst bewusst gewesen zu sein, hat er doch später seinen großen Aufsatz über „Das Dämonische“ von 1926 (G VI, 42–71) „als einen der wenigen wirklich originalen Beiträge“ bezeichnet, die er seinem Empfinden nach zustande gebracht hat.43

Die Bedeutung dieses Begriffs variiert bei Tillich, und auch seine Abgrenzung zu verwandten Begriffen wie Sünde, Übel usw. ist sehr schwierig und nicht immer eindeutig. Bei allen Problemen der Interpretation kann aber festgehalten werden, dass Tillich das Dämonische als metaphysische Perversion und nicht als ethischen Mangel versteht und dass er – entgegen dem Schelling der „Freiheitsschrift“44 – das Dämonische nicht in Gott selbst verankert. Das Dämonische ist zwar ein mögliches Symbol für die Abgrund-Dimension am Grund-Abgrund des Unbedingten, aber es ist nicht selbst mit dieser Abgrund-Dimension identisch. Tillich ist weit entfernt von einem metaphysischen Dualismus, was in der Literatur so manches Mal falsch gesehen wird.45

Wenn auch in Tillichs Gottesbegriff zwei kaum miteinander vereinbare Traditionen zusammenfließen, die augustinisch-scholastische, die von der Einfachheit und Unveränderlichkeit Gottes ausgeht, und die über Böhme zu Schelling führende, die einen dialektischen Gottesbegriff entwirft, so dürfte sich Tillich letztlich doch für den unveränderlichen Gott entschieden haben, wenn er davon spricht, dass es in Gott als Gott keinen Unterschied zwischen Potentialität und Aktualität gibt (vgl. S I, 280). In der postum erschienenen Vorlesung Tillichs mit dem Titel „The Demonic in Art“, die er 1956 am „Drew Theological Seminary“ gehalten hat, wird diese Sicht bestätigt. In Bezug auf das Symbol vom „Zorn Gottes“ macht Tillich hier ausdrücklich darauf aufmerksam, dass dies nicht bedeute, dass Gott zornig wird, da dies eine Dämonisierung Gottes implizierte, die er so nicht teilen könne.46

Neben der Tiefenpsychologie und der marxistischen Gesellschaftsanalyse47 hat vor allem Tillichs Begegnung mit der Kunst der Primitiven und Asiaten eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Kategorie des Dämonischen (vgl. G VI, 42–44). In dem schon genannten Beitrag von 1926 versucht Tillich eine metaphysische bzw. ontologische Erfassung des Dämonischen. Unter der Überschrift „Die Tiefe des Dämonischen“ sucht er deutlich zu machen, dass das Dämonische „das relativ selbständige Hervorbrechen des Abgrundes’ in den Dingen“ ist. In jedem Ding wohnt nach Tillich „der Trieb zur Durchbrechung der eigenen, begrenzten Gestalt, die Sehnsucht, den Abgrund in sich zu verwirklichen“. „Dämonie ist gestaltwidriges Hervorbrechen des schöpferischen Grundes in den Dingen.“ (G VI, 47)

Diese Ausführungen Tillichs sind nicht immer ganz klar, zuweilen sogar recht dunkel, was nicht zuletzt auch daran liegt, dass die Terminologie nicht immer durchgehalten wird. Tillich scheint hier sagen zu wollen, dass das endliche Sein „an der Unerschöpflichkeit des Seins“ teilhat. Teilhabe bedeutet aber keine Identität. Das Dämonische besteht nun in dem Versuch, diese Unerschöpflichkeit des Seins in sich als einer endlichen Gestalt bzw. Form zu verwirklichen. Dadurch wird natürlich die endliche Form zerbrochen. Aber in diesem „Zerbrechen“ liegt selbst immer auch noch Form, also schöpferische Kraft. Das wird nach Tillich besonders an der Kunst der Primitiven und Asiaten anschaulich. Die Umsetzung in metaphysische bzw. ontologische Kategorien ist ein schwieriges Unterfangen, das Tillich an dieser Stelle nur begrenzt gelingt.

Diese Sicht wird auch noch einmal durch einen Blick auf Tillichs Vorlesung „Philosophy of Religion“ vom Frühjahr 1962 bestätigt,48 in der er dem Begriff des Dämonischen fast eine ganze Doppelstunde widmet.49 In einem ersten Schritt geht es Tillich hier darum, den Grund für eine Wiederentdeckung der Kategorie des Dämonischen im 20. Jahrhundert aufzuzeigen. Er nennt hier neben Schelling u.a. E. T. A. Hoffmann, Kierkegaard, Schopenhauer, Eduard von Hartmann, natürlich Freud, aber auch Baudelaire, Dostojewski, Oscar Wilde, Flaubert und Thomas Mann. In den Schriften dieser Männer kündigt sich nach Tillich das Dämonische in gewisser Weise an. Es kam jedoch erst wieder richtig in den Blick durch die Realität des Nazismus und Kommunismus. Auch in diesem Zusammenhang betont Tillich wiederum die Bedeutung der Tiefenpsychologie und der soziologischen Analyse für seine eigene Sicht des Phänomens.

In einem zweiten Schritt geht es Tillich um eine konzeptuelle Analyse des Dämonischen. Seine Kernthese lautet hier: Das Dämonische hat eine Struktur; allerdings handelt es sich hierbei um eine Struktur der Destruktion. Entscheidend ist die Einsicht, dass selbst die Destruktion immer nur auf der Grundlage einer Struktur ihr Werk der Zerstörung vollbringen kann. Das Negative kann immer nur auf etwas Positivem basieren, dessen Verzerrung (distortion) es bedeutet, da das rein Negative keinen Bestand hat.50 Und auf die Frage, woher die destruktive Macht kommt, antwortet Tillich mit einem Hinweis auf die Möglichkeit der Selbst-Erhöhung (self-elevation) des Endlichen zu Letztgültigkeit (ultimacy), die letztlich darin begründet ist, dass jedes Endliche zum Träger des Heiligen werden kann.

Dass nach Tillich das Dämonische nicht bis in den göttlichen Grund selbst hineinreicht, wird auch noch einmal durch seine Überlegungen zur „Zweideutigkeit“ des Lebens bestätigt. In jedem Lebensprozess sind Tillich zufolge Heiliges und Dämonisches untrennbar vermischt. Sieht er die Heiligkeit eines Lebensprozesses darin, dass dieser transparent ist für den göttlichen Grund, so ist gleichzeitig aber jeder Lebensprozess immer auch schon dämonisch verzerrt, „sofern er die Heiligkeit des Grundes mit seiner eigenen Heiligkeit vermischt, sofern er dasjenige, was transparent sein soll, untransparent macht und sich selbst verabsolutiert“. „Zweideutigkeit“ meint nach Tillich, „daß kein spezielles Element im Lebensprozeß das unzweideutig allein Heilige und unzweideutig allein Dämonische ist“.51

Da die religiöse Dimension die tiefste und die umfassendste ist, sind die Zweideutigkeiten in ihr sogar noch tiefer als in den anderen Dimensionen. Weil Religion Ausdruck dessen ist, was uns unbedingt angeht, ist sie „größer und tragischer als alles andere“ (G V, 41). „Da die Religion von der Dimension des Lebens zeugt, in der die Kämpfe um den Menschen entschieden werden, so ist sie mehr als irgendeine andere Funktion des menschlichen Geistes dem Dämonischen ausgesetzt.“ (G IX, 112) In diesem Sinne besteht die Versuchung aller Religion darin, sich selbst „zum Gott“ zu machen (R III, 24). Dieser ständigen Versuchung kann die Religion nach Tillich letztlich nur entgehen, wenn sie sich selbst dem Gericht unterwirft, das sie verkündet (vgl. G IX, 100).

36 Vgl. C. Danz (Hg.), Theologie als Religionsphilosophie. Studien zu den problemgeschichtlichen und systematischen Voraussetzungen der Theologie Paul Tillichs (= Tillich-Studien, hg. von W. Schüßler u. E. Sturm, Bd. 9), Münster 2004.

37 Vgl. Contra Academicos III, c. 11, n. 25 u. ö.

38 P. Tillich, The Encounter of Religions and Quasi-Religions, hg. von T. Thomas, Lewiston/Queenston/Lampeter 1990, 13.

39 O. Dibelius, Laudatio auf Paul Tillich, a.a.O. (Anm. 26), 14.

40 Ebd.

41 Vgl. H. Zahrnt, Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, München 1966, 436.

42 Vgl. dazu N. Ernst, Die Tiefe des Seins. Eine Untersuchung zum Ort der analogia entis im Denken Paul Tillichs, St. Ottilien 1988.

43 W. u. M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, a.a.O. (Anm. 1), 118.

44 Vgl. F. W. J. Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und ihre damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. von T. Buchheim, Hamburg 1997.

45 So z.B. bei W. u. M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, a.a.O. (Anm. 1), 118: „In Schellings Denken war er [sc. Tillich] zuerst auf die Idee des Dämonischen als einer irrationalen Möglichkeit in Gott selbst gestoßen, und dieser Schellingschen Interpretation blieb er treu.“ Auch V. R. Mallow, The Demonic. A Selected Theological Study. An Examination into the Theology of Edwin Lewis, Karl Barth, and Paul Tillich, Washington 1983, X u. 149f., scheint das Dämonische bei Tillich in Gott selbst verankern zu wollen. Vgl. ebenso G. Sauer, Tiefenpsychologie und Alte – Neue Ethik. Ethik im Spannungsfeld von Paul Tillich, Carl Gustav Jung und Erich Neumann, in: M. Viertel (Hg.), Gott und das Böse (= Hofgeismarer Protokolle, 313), Hofgeismar 1996, 45–62, 59f.

46 Vgl. P. Tillich, The Demonic in Art, in: Ders., On Art and Architecture, hg. von J. Dillenberger, New York 1987, 102–118, 109.

47 Vgl. P. Tillich and C. Rogers: A Dialogue, in: P. Tillich, The Meaning of Health, a.a.O. (Anm. 25), 194–202, 196f.

48 Tonbandaufzeichnungen, 11 Lectures: Deutsches Paul-Tillich-Archiv an der Universitätsbibliothek Marburg.

49 Nämlich den zweiten Teil von Lecture 10 und den ersten Teil von Lecture 11.

50 Vgl. Ende von Lecture 10.

51 P. Tillich, „Der Mensch im Lichte der Theologie und Existenzanalyse“: Gastvorlesung an der Freien Universität Berlin 1952, Vorl. vom 23. Juli 1952, unveröffentl.: Deutsches Paul-Tillich-Archiv an der Universitätsbibliothek Marburg.

Paul Tillich

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