Читать книгу Auswahlband 11 Top-Krimis Herbst 2018 - Thriller Spannung auf 1378 Seiten - A. F. Morland - Страница 4
I. Meike wirbelt Staub auf
ОглавлениеKriminalroman
Personen
Meike Stumm: Vor vierzehn Jahren entführt worden, jetzt plötzlich vor ihrem Elternhaus
Vera Stumm: Meikes Tochter
Liane Stumm, geborene Grote: Meikes Mutter
Alexander Stumm: Meikes Vater
Elmar Stumm: Meikes Großvater
Ulrike Stumm: Meikes verstorbene Tante, Schwester ihres Vaters
Markus Demel: Trauzeuge von Meikes Eltern und Schulfreund von Alexander Stumm
Malte Sobiok: Meikes vier Jahre älterer Ex-Schwarm auf dem Reiterhof Schlüter
Uwe Sobiok: Zehn Jahre älterer Bruder von Malte
Sylvia Köhler: Im Jahr 2004 Uwes (berufsmäßige) Freundin
Erwin Grote: Lianes Vater, Meikes Großvater
Kurt Venna: Verwalter im Bienenkorb
Marlene (Lene) Schelm: Erste Kriminalhauptkommissarin im Tellheimer Referat R – 11
Ingo Baratsch: jüngster Kommissar im R – 11
Mia Hollweg: Kommissarsanwärterin im R – 11
Jürgen Sandig: Staatsanwalt in Tellheim
Egon Kurz: Leiter der Tellheimer Kriminaltechnik
Dr. Xaver Rupp: Gerichtsmediziner in Tellheim
Alle Namen und Taten, Personen und Ereignisse, Geschäfte und Organisationen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Die Handlung spielt im Jahr 2018 ff.
Erstes Kapitel
Viele Menschen sahen ihr neugierig, einige auch empört nach. Ihre feuerroten langen Haare waren ungekämmt, verfilzt und mussten unbedingt geschnitten und gewaschen werden. Ob die Jeans modische Löcher und Risse aufwiesen oder aus Altersgründen ausfransten, blieb das Geheimnis der vielleicht dreißig Jahre alten, an sich hübschen, langbeinigen, aber ungepflegten und leicht verlotterten Frau, die nicht in das „feine“ Quellenviertel passte. Sie trug einen schreiend bunten Kunststoff-Rucksack über der linken Schulter und zerrte ein vielleicht sechs oder sieben Jahre altes Mädchen hinter sich her, das häufig stolperte und langsamer gehen wollte, aber das Tempo mithalten musste.
Die Rothaarige und das Kind steuerten auf die Villa Lendersweg 11 zu und sie klingelte dort. Keine Minute später öffnete eine elegante Frau die Haustür, warf einen indignierten Blick auf die Rothaarige und das greinende Kind und sagte fest: „Wir geben nichts.“
„Guten Tag, Liane. Ich wollte dir nur deine Enkelin Vera vorstellen und ich muss mal ganz dringend in mein altes Bad.“ Damit drängte sie sich an der vor Überraschung erstarrten Frau vorbei, warf den Rucksack in der Diele auf den Boden und lief eilig die Treppe hoch in das Obergeschoss. Die mit Liane angesprochene Frau nahm das kleine Mädchen an die Hand, brachte es in ein Speisezimmer, setzte es auf einen Stuhl und sagte freundlich: „Du wartest hier.“ Im Bad oben rauschte schon die Dusche und die Frau rief laut: „Kommen Sie sofort da raus oder ich hole die Polizei.“
„Das ist eine gute Idee, Mutter. Ich glaube, die Polente brauchen wir ohnehin.“
So wurde Marlene, genannt Lene, Schelm keine zehn Minuten später von einer vor Erregung stotternden und stammelnden Frau angerufen.
„Schelm.“
„Guten Tag, Frau Kommissarin. Hier ist Liane Stumm. Sie erinnern sich noch an mich?“
„Aber ja. Was ist passiert, Frau Stumm?“
„Stellen Sie sich vor, eine junge Frau mit einem kleinen Kind an der Hand klingelt an der Haustür und sagt: „Ich wollte dir nur deine Enkelin Vera vorstellen und jetzt muss ich einmal dringend in mein Bad.“
„Enkelin? Dann war das Ihre Tochter Meike?“
„Ich weiß es nicht sicher. Es ging alles so schnell. Die Ähnlichkeit ist groß, und sie kennt sich im Hause aus. Sie wusste auch meinen Vornamen. Aber sicher bin ich mir nicht. Was soll ich denn jetzt machen?“
„Ich muss mich bei meinem Kommissar vom Dienst abmelden, dann komme ich sofort zu Ihnen. Okay?“
„Vielen Dank, Frau Schelm.“
Vor vierzehn Jahren, 2004, war die damals sechzehnjährige Meike Stumm entführt worden und nicht mehr aufgetaucht. Lene Schelm hatte damals die Sonderkommission geleitet, die das Mädchen gesucht, aber keine Spur von ihm gefunden hatte. Elf Jahre nach ihrem Verschwinden, 2015, war die heute dreißigjährige Meike Stumm amtlich für tot erklärt worden.
Die Polizei hatte spät, zu spät, von der Entführung erfahren.
Die Hauptkommissarin Lene Schelm wurde an einem Sonntagvormittag vom KvD zur Burgruine Falkenweide geschickt. Spaziergänger hatten am Fuße der Burgmauern, unterhalb der als Kemenaten-Balustrade bezeichneten Brüstung, eine männliche Leiche gefunden. Der Tote konnte schnell identifiziert werden, Alexander Stumm, Lendersweg 11. Der Gerichtsmediziner legte sich sofort fest. Stumm war am Vortag gegen 23 Uhr erschossen worden. Was hatte er bei Dunkelheit in oder an einer Ruine zu suchen, die zu betreten wegen Einsturzgefahr verboten war?
Lene war in den Lendersweg gefahren und hatte dort zwei Frauen angetroffen, die Ehefrau Liane Stumm geborene Grote, und die ledige Schwester des Toten, Ulrike Stumm, die eine Mittelmeerkreuzfahrt abgebrochen hatte und erst vor einer Stunde zurückgekommen war.
„Entschuldigen Sie, wer sind Sie?“
„Stumm, Ulrike Stumm. Meine Nichte Meike ist am vorigen Montag entführt worden. Bitte lesen Sie doch einmal diese beiden Briefe.“
Beide Schreiben waren wohl mit einem Laserdrucker auf normales weißes DIN A4-Papier gedruckt worden: „Wir haben Ihre Tochter Meike entführt und verlangen eine Million in kleinen, gebrauchten, nicht markierten und nicht fortlaufend nummerierten Scheinen. Keine Presse, keine Polizei. Geldübergabe und Freilassung am Freitag dieser Woche ab 22 Uhr. Nähere Einzelheiten zur Übergabe schriftlich rechtzeitig. Achtung, es gibt nur einen Übergabeversuch. Sonst kaufen Sie besser eine Grabstelle.“
„Das kann jeder Idiot getippt haben“, sagte Lene etwas verärgert und versuchte sich zu erinnern, woher sie den Namen Stumm kannte.
„Ja. Mein Mann hat diesen Brief am Montagabend in unserem Hausbriefkasten gefunden. In dem Umschlag lag auch Meikes Ausweis für den Reiterhof Schlüter. Dort war sie am Montagnachmittag nach der Schule zum Reiten gewesen und von dort ist sie nicht mehr nach Hause gekommen.“
„Am Montagabend?“
„Ein unbekannter Mann hat gegen 21 Uhr angerufen und gesagt: ‚Schauen Sie in Ihren Hausbriefkasten‘.“
„Am Montag?“
„Ja.“
„Ja. Mein Bruder Alexander hat diesen Brief am Montagabend in seinem Hausbriefkasten gefunden. In dem Umschlag lag auch Meikes Ausweis für den Reiterhof Schlüter. Dort war sie am Montagnachmittag nach der Schule zum Reiten gewesen und von dort ist sie nicht mehr nach Hause gekommen.“
„Am Montag? Und warum erfahren wir das erst jetzt?“
„Weil mein Bruder und meine Schwägerin sofort entschlossen waren zu zahlen. Und erst gestern traf mit der normalen Post vormittags das zweite Schreiben ein.“
Wieder die Kopie eines per Laser ausgedruckten Briefes auf normalem DIN A4-Papier.
„Bringen Sie das Geld in einem verschlossenen Metallkoffer zur Ruine Burg Falkenweide. Auf der Außen-Galerie an der Kemenate finden Sie einen roten Leinenbeutel der Firma Oppeln. Darin liegen die Schlüssel zum Versteck der Meike Stumm und natürlich eine Wegbeschreibung und die Adresse.“
„Ihr Bruder wollte das Geld selbst überbringen?“
„Ja.“
„Wir haben an der Falkenweide kein Geld und keinen roten Beutel gefunden. Auch keine Spur von einem Mädchen.“
Beide Frauen brachen erneut in wildes Schluchzen aus. Lene veranlasste noch, dass die Spurensicherung Material sicherstellte, damit die Hunde eine Spur aufnehmen konnten oder – aber das verschwieg sie lieber – später bei einer Mädchenleichte mittels DNA zweifelsfrei festgestellt werden konnte, ob es sich um Meike Stumm handelte. Die Kollegen würden Bilder und Fotos einsammeln. Jetzt lag das Kind im Brunnen, und jetzt machte es wenig Sinn, der Mutter und der Tante vorzuwerfen, dass sie nicht sofort zur Polizei gegangen waren. Wer jetzt die Gefangene Meike freiließ, riskierte, dass die sich genug gemerkt hatte, um ihre Entführer wegen Mordes lebenslang hinter Gitter zu bringen.
Die beiden Briefe waren durch zu viele Hände gegangen, um noch hilfreiche Spuren zu sichern.
Wenn Meike jetzt wirklich in ihr Elternhaus zurückgekehrt war, musste sie amtlich wieder zum Leben erweckt werden. Wo hatte sie die ganze Zeit über gesteckt? Vor einigen Monaten war eine Geschichte durch die Presse gegeistert, dass eine Vermisste aus Niedersachsen nach dreißig Jahren durch puren Zufall in Düsseldorf von der Polizei entdeckt worden war. Lene Schelm konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, ob diese junge Frau auch amtlich für tot erklärt gewesen war. Die meisten Vermissten kehrten nach einigen Monaten zu ihren Familien zurück, einige – zum Glück nur wenige – wurden später als Leichen gefunden und durch moderne DNA-Methoden identifiziert. Liane Stumm hatte nie glauben wollen, dass ihre Tochter tot sein könnte und hatte sich mit der Hauptkommissarin Lene Schelm wahrscheinlich so gut verstanden, weil die das auch nicht wahrhaben wollte. Anders als Lianes Schwiegervater Elmar Stumm, der ziemlich schnell überzeugt schien, Meike würde nicht mehr zurückkommen, bitter – aber damit müsse man sich abfinden. Lene und die Kollegen aus der SoKo Meike hatten sich dieser Vermutung widerwillig angeschlossen, weil sie sich die Hacken krumm gelaufen, aber kein Motiv gefunden hatten, warum Meike aus dem Elternhaus weggelaufen sein sollte. Das Mädchen war geistig, körperlich und seelisch gesund gewesen, hübsch, umschwärmt und beliebt, eine gute Schülerin mit vielen Freunden und Freundinnen, ohne erklärte Feinde. Ob jemand ein Motiv hatte, sich an ihren Eltern zu rächen, blieb ungeklärt, und von einer großen überwältigenden Liebe, die alle Dummheiten erklären würde, war nichts bekannt. Tante Rike formulierte das so: „Meike interessiert sich mehr für vierbeinige Pferde als für zweibeinige Esel.“ Für den Millionär Elmar Stumm war das Hauptproblem gewesen, in so kurzer Zeit so viel Bargeld in der vorgeschriebenen Stückelung aufzutreiben. Nach Wochen intensiver Recherche blieb ein bis dahin unbekanntes Verbrechen die logischste Erklärung, und als sich Liane Stumm nicht länger gegen diese Erklärung sträuben konnte, hatte sie einen Selbstmord versucht. Lene Schelm hatte sie gerade noch rechtzeitig gefunden.
Liane Stumm kam an die Haustür, als Lene klingelte, weinte und umarmte die Kommissarin.
„Schön, dass Sie gekommen sind.“
Lene Schelm hatte die lebende Meike Stumm nie gesehen, was die Mutter natürlich wusste. „Wo ist sie, Frau Stumm?“
„Hier bin ich“, sagte eine helle Frauenstimme. Die junge Frau Ende zwanzig kam an die Haustür; sie hatte geduscht und trug noch immer einen hellen Bademantel und ein zu einem Turban gebundenes Handtuch über den feuchten Haaren.
Lene gab ihr die Hand: „Guten Tag, Sie sind also Meike Stumm. Ich heiße Lene Schelm. Und habe Sie vor vierzehn Jahren lange erfolglos gesucht.“
„Und ich bin Vera Stumm“, piepste das kleine Mädchen, das sich an die Beine der Mutter klammerte, aber furchtlos die fremde Frau musterte. „Und wer bist du?“
„Entschuldigung, Vera“, sagte Lene zerknirscht. „Ich heiße Lene Schelm und kenne deine Oma schon seit vielen Jahren.“
„Kommen Sie doch herein. Wir haben frischen Kaffee gekochte.“ Meike fischte in der Diele aus einem Häufchen getragener Kleidung einen Rucksack hervor und holte aus einer der aufgesetzten Taschen einen Personalausweis heraus, den sie Lene in die Hand drückte.
„Meike Stumm.“
„Danke. Den bringen Sie morgen bitte ins Präsidium mit und dazu alle Urkunden und Dokumente zu Ihrer Person und zu Vera.“
„Glauben Sie mir nicht, dass ich Lianes Tochter bin?“
„Ich möchte Sie auf keinen Fall beleidigen, aber Urkunden wie Perso und EC-Karten kann man finden oder klauen oder von gewerbsmäßigen Dieben beschaffen lassen.“
„Sie sind Polizistin, stimmt’s?“
„Ja.“
„Ewiges Misstrauen als Voraussetzung für den Beruf?“
„So ähnlich, ja. Lassen Sie sich mal von Liane Stumm erzählen, was wir vor vierzehn Jahren alles unternommen haben, um Sie zu finden. Außerdem sind Sie seit Jahren amtlich tot, und wir müssen Sie amtlich wieder zum Leben erwecken. Es gibt also noch eine Menge zu tun.“
Danach erstarb die Unterhaltung. Der Kaffee im Hause Stumm war wie früher von erlesener Stärke, Vera trank Milch, als würde sie vom Bauernverband für die Ankurbelung der darniederliegenden Milchviehwirtschaft bezahlt. Alle warteten wortlos darauf, dass sich vielleicht Meikes Großvater Elmar Stumm noch melden würde. Als Elmar Stumm erschien, winkte er seiner Enkelin nur zu; „Hei, Meike.“
Sie antwortete genau so lässig: „Hallo. Opa.“
Für seine Schwiegertochter Liane hatte er nicht einmal ein „Guten Tag übrig“, aber für die Besucherin Lene Schelm, die gerade gehen wollte, hatte er etwas parat: „Na, zufrieden?“
„Worüber sollte ich zufrieden sein?“
„Dass Sie und meine Schwiegertochter recht behalten haben, Meike lebt noch. Merkwürdig, dass Sie meine Enkelin damals nicht gefunden haben.“
In seinen Worten schwang ein Unterton mit, der Lene daran erinnerte, dass sie damals schon gedacht hatte, Elmar Stumm und seine Enkelin Meike verstünden sich so wenig wie – nach Aussagen vieler Zeugen – Alexander Stumm mit seiner Tochter Meike und seiner Frau Liane. Elmar Stumm und Marlene Schelm würden auch jetzt keine Freunde mehr werden. Seine inzwischen verstorbene Tochter Ulrike schien es geahnt zu haben; sie war um Klassen freundlicher und angenehmer zu ertragen als ihr Bruder Alexander. Warum diese kluge, hilfsbereite und bis ins hohe Alter schöne Frau ledig und ohne festen Freund geblieben war, begriff Lene bis heute nicht.
Also stand sie auf: „Okay, dann lasse ich Sie jetzt mal alleine. Meike, wir sehen uns morgen Vormittag im Präsidium. Denken Sie bitte an Ausweise und Dokumente! Tschüss Vera und schlaf’ gut.“
„Tschüss, Tante Lene.“
Donnerwetter, die Kleine hatte ja ein bombiges Gedächtnis. Uropa Elmar hatte sie nicht weiter beachtet. Ein Egozentriker und Narziss wie er wurde von einer Enkelin ja nur gestört, erst recht, wenn sie einmal im Mittelpunkt stand. Lene überlegte auf der Fahrt, wie schlecht das Verhältnis Elmar Stumm zu seiner Schwiegertochter Liane sein musste, wenn er für sie kein Wort der Begrüßung oder Freude über die unerwartete Rückkehr einer Totgeglaubten hatte. Familienbande sind eben auch eine solche, wie schon Karl Kraus gefunden hatte.
Kommissar Ingo Baratsch war seit vielen Jahren der erste Mann im R – 11, (Gewaltsamer Tod und Entführung). Lene hätte gerne wieder eine junge Frau in ihr Team geholt, doch Kriminalrat Karl Dembach, Leiter der Abteilung Eins (Gewaltkriminalität) im Tellheimer Präsidium, hatte auf einen Mann „fürs Grobe und die Prügeleien“ bestanden, was Lene Schelm ihm lange Zeit verargt hatte. Dabei wurde sie angenehm enttäuscht. Nach Dembachs Worten hatte sie sich einen jungen, hitzigen Raufbold vorgestellt, der schneller schießen als denken konnte. Doch Ingo Baratsch entpuppte sich als ein muskulöser und gut durchtrainierter, zuverlässiger Kollege der eher bedächtigen Art und als loyaler Mitarbeiter, der seine eigenwillige und oft launenhafte und manchmal sogar boshafte Chefin gutmütig ertrug, auch wenn sie ihn gelegentlich wie einen grünen Anfänger behandelte. Baratsch war an die zwanzig Jahre jünger als Marlene Schelm, die er an sich bewunderte. So richtig warm waren sie bisher miteinander nicht geworden; sie redete ihn mit „Baratsch“ an; er sagte „Frau Schelm“ oder auch mal „Chefin“ und wenn er Trost im oft grauen Berufs-Alltag suchte, war er bei ihrer jüngsten Kommissarsanwärterin Mia Hollweg fündig geworden, die wie ein süßes unbedarftes Püppchen aussah, aber Leininger Landesmeister im Judo war, sehr gut schoss und eine steile sportliche Karriere im Polizei-Fechtclub begonnen hatte. Zudem besaß sie eine große Klappe und ließ sich nichts gefallen, was Ingo schon hatte lernen müssen.
„Na, Chefin, wie war Ihr Tag? Viel Ärger?“
„Jein, Mia. Ich habe ein echtes Wunder erlebt.“
„Einen ehrlichen Betrüger? Lassen Sie mal hören!“
„Nein, eine seit Jahren amtlich tote Frau ist heute mit einer kleinen Tochter an der Hand wieder in ihrem Elternhaus erschienen.“
„Toll! Wie wär’s mit einigen Einzelheiten, Frau Schelm?“
„Die müssen Sie sich selber besorgen, die stehen alle in der Akte Meike Stumm und diese Akte schlummert schon im Archiv. Mia, Sie müssen die Akte ohnehin weiterführen. Lesen Sie also gründlich und vertrauen Sie einer geübten Aktenleserin: Rotwein, mäßig genossen, beflügelt das Verständnis.“
„In Maßen genossen?“
„Natürlich. Sagt Ihnen der Name Theophrastus Bombastus von Hohenheim etwas?“
„Paracelsus, nicht wahr: Allein die Menge macht, dass ein Ding ein Gift sei.“
„Denken Sie daran!“
Auf dem Weg zu Marcello ging Lene die fast groteske Szene nicht aus dem Kopf: Der Großvater erscheint und hat für seine seit vierzehn Jahren vermisste Enkelin nur ein „Hallo“ übrig und kein Wort für seine Schwiegertochter oder seine Urenkelin. Lene war eine geübte Egozentrikerin und mochte deshalb keine Egozentriker oder Egoisten und hielt Narzissmus eigentlich für einen erlaubten Mordgrund.
Als Meike verschwand, lebte Tante Rike noch, eine Schwester ihres Vaters Alexander, und die hatte Lene erzählt, dass es zwischen ihrem Bruder Alexander und seiner Tochter Meike häufiger heftig gekracht und gekriselt hatte. Wenn Mutter Liane nicht mehr vermitteln oder schlichten konnte, war Meike häufiger zu Tante Rike gelaufen, hatte sich dort ausgeweint und auch schon mal in Tante Rikes Haus übernachtet.
Schon aus diesen Gründen war das zuständige Referat anfangs davon ausgegangen, dass es sich um einen nicht seltenen Fall eines schweren pubertären Vater-Tochter-Konflikt handelte: Die Tochter hatte einen dicken Kopf und der Vater vertrug keinen Widerspruch. Doch Meikes Vater Alexander hatte noch einen Vater Elmar, der das Familienvermögen angehäuft hatte und in Tellheim Einfluss besaß und ausübte. Eine ganze SoKo für ein sechzehnjähriges Mädchen, das vermisst wurde und von dem niemand wusste, in wen es sich vielleicht unsterblich verknallt hatte? Unter Umständen zu einem heißgeliebten Klassenkameraden gelaufen war und Trost und Liebe unter seinem Deckbett gesucht hatte? Bis dann R – 11 zu einer Leiche am Fuße der Burgruine Falkenweide gerufen wurde und die Kripo von der Entführung der Meike Stumm erfuhr, für deren Freilassung der Vater mit dem Lösegeld zur Falkenweide unterwegs gewesen war.
Einen Heißgeliebten hatten sie damals nicht gefunden, den hat es wohl auch nicht gegeben. Tante Rike hatte es ja ausgedrückt: „Meike liebt eben vierbeinigen Pferde mehr als zweibeinige Esel.“ Immerhin hatte Tante Rike durchgesetzt, dass Meike die Pille nahm und regelmäßig zur Frauenärztin ging. Nein, die SoKo war weniger Meikes wegen entstanden als auf diskreten Druck ihres Großvaters Elmar Stumm. Stumm & Sohn war damals größter Arbeitgeber und der größte Gewerbesteuerzahler am Ort. Elmar Stumm war ein Studienfreund der Oberbürgermeisterin Irmgard Messing, wichtigster und großzügiger Mäzen in der Stadt, Multi-Millionär, wichtiger Parteispendenzahler. Lene kniff noch heute der Magen, wenn sie in einer Mischung aus Zorn über den Misserfolg ihrer SoKo und ihrer Wut über die demütigende Verachtung zurückdachte, mit der Elmar Stumm sie behandelt hatte. Die Kollegen hatten nur einen billigen Trost für sie: „Alle Menschen sind gleich, aber einige eben gleicher als andere.“
Lene war mehrfach mit Elmar Stumm zusammengerasselt, und seine Art änderte sich erst, als sie am Ende eines wüsten Gebrülls drohte: „Ich werde alles, was mir bei Ihnen auffällt und komisch vorkommt, dem Finanzamt melden.“ Für diese haltlose Drohung gab es keinen Anlass, bis auf eine Bemerkung ihres Freundes Arne Wilster, der ebenfalls früher dienstlich mal mit Elmar Stumm zusammengestoßen war: „Ein Widerling, Lene. Ein Macho ohne Manieren und ein menschenverachtender Schürzenjäger, der aber stets mächtig um seinen guten Ruf und seine saubere Weste besorgt ist.“
Welchen heiklen Punk Lene mit ihrer aus der Luft gegriffenen Drohung getroffen hatte, blieb unbekannt, aber danach änderte Elmar Stumm seinen Ton.
Marcello war sehr beunruhigt: „Sie sind so still heute, Signora. Stimmt was mit dem Essen oder dem Wein nicht?“
„Nein, Marcello. Alles so perfekt wie immer. Habe ich Ihre neue Mitarbeiterin richtig verstanden? Heißt sie wirklich Despina? Passen Sie nur auf, dass Sie nicht krank werden.“ Marcello teilte mit Lene die Liebe für die Oper. Deswegen erwiderte er beruhigt: „Keine Sorge, ich gehe dann in eine Klinik und übernehme dort die Küche.“
Zweites Kapitel
Gegen elf Uhr rief die Pforte bei Lene Schelm an: „Eine Meike Stumm und ihre Tochter Vera möchten mit Ihnen sprechen.“
„Danke. Bringen Sie Mutter und Tochter bitte hoch?“
Mia Hollweg, ihre jüngste Kommissarsanwärterin, hatte bereits die Mikrofone und Aufzeichnungsgeräte vorbereitet und brachte nun Vera in die Präsidiums-Kita und organisierte für das Kind ein Mittagessen. Danach übernahm sie die Papiere und Urkunden, die Meike Stumm mitgebracht hatte, und verteilte sie an die Kollegen, die sie nun kopieren und prüfen sollten. Lene setzte sich mit Meike Stumm in das Vernehmungszimmer, Mia würde sie durch den Einweg-Spiegel aus dem Nebenraum beobachten können.
„Na, wie war die erste Nacht im Elternhaus?“
„Zu kurz, weil der Abend davor zu lang und zu feucht war. Wir hatten uns natürlich eine Menge zu erzählen.“
„Klar.“
„Und als Erstes sind Vera und ich heute Morgen zum Grab von Tante Rike gegangen.“
„Sie wussten nichts von dem Tod Ihrer Tante Ulrike?“
„Nein. Seit vierzehn Jahren hatte ich keinen Kontakt mit meiner Familie, habe nur einmal im Fernsehen mitbekommen, dass das alte Rathausviertel abgebrannt ist und auf dem Gelände der alten Feinmechanischen Fabrik Stumm & Söhne Wohnungen gebaut werden sollen.“
„Ja. Würden Sie mir bitte einmal erzählen, wie Sie und wo Sie entführt worden sind?“
„Ich wollte vom Reiterhof mit dem Fahrrad nach Hause fahren, und über eine Steigung zum Steg habe ich das Rad geschoben. Drüben stand ein Mann, der eigentlich ganz freundlich aussah: ‚Wenn du willst, bringe ich dich nach Hause? Du wohnst doch im Lendersweg, nicht wahr? Wir haben ein Haus in der Winkelgasse gemietet, sind also jetzt Nachbarn.‘“
„Hatten Sie den Mann schon früher mal gesehen?“
„Ja, glaube ich wenigstens. Auf dem Lendersweg.“
„Können Sie ihn beschreiben?“
„Ja, so etwa. Ich würde denken um die dreißig, ein Meter achtzig bis fünfundachtzig groß, schlank, helle Haare, braune Augen.“
„Er sprach Deutsch?“
„Ja, ohne Akzent oder Fehler.“
„Wir werden uns später Fotos ansehen müssen. Trauen Sie sich zu, nach der langen Zeit ein Phantombild anzufertigen?“
„Doch ja.“
„Wunderbar. Wie ging’s weiter?“
„Er hat mein Fahrrad in den Kofferraum gelegt, und ich bin eingestiegen.“
„Haben Sie Autotyp, Farbe und Kennzeichen behalten?“
„Leider nein, Autos haben mich nie interessiert. Ein hellbrauner Kombi mit einem Kennzeichen aus Lörrach.“
„Das haben Sie behalten?“
„Ja, ich habe mir noch gedacht: Da muss er den Karren aber bald ummelden, sonst gibt’s Ärger.“
„Bis Sie losfuhren hatte er Sie aber noch nicht bedroht oder zu etwas gezwungen oder sexuell belästigt?“
„Nein. Dann fiel mir auf, dass er nicht die kürzeste Strecke zum Lendersweg fuhr. Ich habe ihm gesagt: ‚Wir hätten eben nach links abbiegen müssen.“‘Er hat nur geknurrt: ‚Wir nehmen noch jemanden mit. Sie will uns helfen, Gardinen aufzuhängen.‘“
„Sie?“, vergewisserte sich Lene
„Ja, in der Pelkerstraße stand eine junge Frau auf dem Bürgersteig und wartete auf uns. ‚Das ist Sylvia‘ hat er gesagt, ‚rutsch mal rüber.‘ Ich saß hinten rechts und bin dann auf den Sitz hinter ihm gerutscht. Die junge Frau hat die Tür aufgemacht und ist eingestiegen. ‚Du bist also die Meike.‘“
„Ich habe mich etwas gewundert, dass sie meinen Namen kannte.“
„Freut mich, dich kennenzulernen. Ich heiße Sylvia und wir machen jetzt eine kleine Spazierfahrt.“
„Ich wollte nicht durch die Gegend kutschieren, ich wollte nach Hause. Und diese Sylvia gefiel mir nicht. Rötlichbraune Haare mit vielen kleinen Locken. Sie roch und benahm sich wie eine billige Hure. Ich wollte aussteigen und habe ihm auf die Schulter getippt, er hat nicht reagiert und sie hat mich an den Haaren zurückgezogen und mir etwas feuchtes, ekelhaft süßlich Riechendes auf Mund und Nase gedrückt. Und dann wurde es ganz schnell dunkel um mich herum. Ich bin erst wieder zu mir gekommen, als die beiden mich auf einer Liege aus einer Garage ins Haus geschleppt haben. Die Treppe in den ersten Stock musste ich rauflaufen. Mir war schwindelig und kotzübel. Oben habe ich es gerade noch ins Bad geschafft und gereihert wie ein Weltmeister. Gemeinsam haben sie mich in ein Schlafzimmer gebracht und auf ein Bett gelegt. Geschlafen habe ich wie eine Tote. Und wissen Sie, was mich geweckt hat?“
Lene schüttelten den Kopf.
„Das Krähen eines Hahnes. Wie auf einem Bauernhof. Mich haben schon manche Geräusche aus dem Schlaf gerissen, aber noch nie ein Hahn. Wie im Märchen oder im Kino!“
„Also waren Sie auf einem Bauernhof gelandet.“
„Das glaube ich eigentlich nicht. Es war ein modernes Haus, mit Zentralheizung und fließend warmem Wasser. Aber die Bewohner hielten Tiere, Hühner und Schafe als Rasenmäher-Ersatz und zwei Pferde.
Auf der Stute durfte ich später sogar reiten.“
„Hat diese Sylvia fest in dem Haus gelebt?“
„In den ersten Tagen – ja.“
„Wissen Sie auch, wie der Mann hieß, der den Wagen gefahren hat?“
„Sie hat ihn mit Malte angeredet. Seinen Nachnamen habe ich nie erfahren.“
„Was haben die beiden beruflich gemacht?“
„Sie war Helferin in einer Arztpraxis in Tellheim, ist morgens pünktlich um neun Uhr weggefahren und abends meist zwischen achtzehn und neunzehn Uhr zurückgekommen.“
„Sylvia hatte ein Auto?“
„Ja, einen blauen VW-Polo.“
„Haben Sie sich das Kennzeichen gemerkt?“
„Ja. T-SK 555. Ganz stolz hat sie mir erzählt, dass sie für diese Kombination richtig gekämpft hat. SK wie Sylvia Köhler.“
„Und die 555?“, fragte Lene amüsiert?
„Die Zahlen waren ihr egal, so alt würde sie auf keinen Fall werden.“
„Und wie war das mit Malte?“
„Der ist auch jeden Tag wenigstens einmal weggefahren und nachmittags zurückgekommen, aber nicht so regelmäßig wie Sylvia. Was er in der Zeit gemacht hat, weiß ich nicht.“
„Aber das Kennzeichen seines Wagens haben Sie sich gemerkt?“
„Das hat häufiger gewechselt!“
„An dem hellbraunen Kombi?“, staunte Lene ungläubig.
„Ja, mal ein Kennzeichen aus Lörrach, dann mal aus Ludwigshafen oder auch aus Tellheim.“
„Hat er mal eine Erklärung dafür gegeben?“
„Nein.“
„Frau Stumm, wenn die beiden das Haus verlassen hatten, hätten Sie doch leicht fliehen können – oder?“
„Nein. Der Letzte, der ging, hat im Parterre und im ersten Stock alle Rollläden heruntergelassen und alle Türen nach draußen elektrisch verriegelt. In der ersten Woche habe ich tagelang im Dunkel gesessen, bis einer der beiden zurückkam.“
„Telefon gab es nicht?“
„Nein. Und mein Handy hatten Sie mir am ersten Tag weggenommen und vor meinen Augen zertreten. Außerdem wusste ich monatelang nicht, wo ich war. Weit und breit keine Häuser, auch keine Straße. Waren Sie schon mal so gefangen?“
„Ja“, sagte Lene zögernd, die sich nicht gern daran erinnerte.
„Zum Glück hatten meine Entführer das Wasser und den Strom für Fernseher und Radio nicht abgestellt. Aber ich war fast verhungert, als meine Kollegen mich endlich gefunden haben.“
„Scheußlich“, kommentierte Meike mitleidig.
„Wie war das bei Ihnen?“
„Der Kühlschrank war immer gut gefüllt. Aber ich habe mich lange nicht getraut, mir was zu kochen.“
„Und warum nicht?“
„Ich hatte und habe eine wahnsinnige Angst vor Feuer. Ich wäre in dem verschlossenen Haus wohl bei lebendem Leibe gegrillt worden. Türen und Fenster waren ja fest verschlossen.“
„Und wenn Sie mal was brauchten, Wäsche, was zum Anziehen oder Medikamente?“
„Habe ich das abends gesagt und am nächsten Tag hat mir einer etwas mitgebracht.“
„Zum Bespiel?“
„Die Pille etwa.“
„Apropos Pille, waren Sylvia und Malte eigentlich ein intimes Paar?“
„Nein, glaube ich nicht. Sie kannten sich gut, aber ich glaube nicht, dass sie miteinander geschlafen haben. Aber dann muss was passiert sein – man spürte förmlich, wie es zwischen den beiden knisterte. Warum, das weiß ich allerdings nicht. Und danach verschwand sie. Am Tage danach haben Malte und ich zum ersten Mal miteinander geschlafen.“
„Ihre erste sexuelle Erfahrung?“
„Ja. Es war toll. Unvergesslich. Und zwei Tages später ist ein Mann mit einem VW-Bus gekommen und hat Sylvia abgeholt und ihre Sachen mitgenommen. Malte hat ihn noch gesehen, und nur gemeint: ‚Mit Uwe ist sie ja bestens versorgt. Mehr hat sie auch nicht verdient.‘“
„Malte kannte also diesen Uwe?“
„Ja.“
„Könnten Sie auch von Sylvia ein Phantom anfertigen?“
„Ja. Ich hatte an dem Tag, an dem Sylvia auszog, das komische Gefühl, dass sie sich alle drei eigentlich gut kannten.“
„Woher – das wissen Sie nicht?“
„Nein, Malte hat Uwe und Sylvia nie mehr erwähnt.“
Lene holte tief Luft: „Frau Stumm. Haben Sie abends mal ferngesehen?“
„Ja.“
„Welches Programm?“
„Entweder das Landesprogramm Leiningen oder SWR Baden Württemberg.“
„Sehr gut.“
„Frau Schelm. Ich würde jetzt gerne gehen. Ich habe einen Termin bei „Cosimo“, um diese scheußliche Farbe aus den Haaren zu bekommen und mir von ihm eine ordentliche Frisur verpassen zu lassen. Ich komme dann später wieder. Einverstanden?“
„Natürlich. Es gibt keinen Grund, Sie hier zurückzuhalten.“
„Prima. Dann biete ich Ihnen an, dass ich gleich nach „Cosimo“ zurückkomme, wenn wir noch nicht fertig sein sollten.“
„Einverstanden. Wir werden uns Fotos anschauen müssen, und Sie wollen versuchen, Phantombilder herzustellen, von Malte und Uwe. Und von Sylvia.“
„Hab ich nicht vergessen. Kann ich Vera so lange bei Ihnen lassen?“
„Klar. Ich sage nur meiner Kollegin Bescheid, dass sie frischen Kaffee kocht.“
„Danke.“
Meike zwickte sich in die Ohrläppchen: „Frau Schelm, ob ich wohl noch einen Kaffee bekommen könnte, bevor ich zu Cosimo abzische?“
„Na klar. Bin gleich wieder da.“
Mia hatte nebenan wohl gut zugehört; denn als Lene hereinkam, füllte sie schon gemahlenen Kaffee in die Filtertüte: „Das ist ja eine richtige Räuberpistole, Chefin.“
„Ja, und ich habe so ein Gefühl, die dicksten Hämmer kommen noch.“
Mia brachte ein paar Minuten später eine Thermoskanne herein.
„Danke für den Kaffee.“
„Bitte, bitte.“
„So, und nun möchte ich Cosimo nicht länger auf Sie warten lassen.“
Lene hatte ihren Kaffee langsamer getrunken und vorerst nichts mehr gefragt. „Bis nachher dann.“ Man musste nicht alles glauben, was man in einem Polizeipräsidium oder auf einem Revier zu hören bekam, war aber auch nicht verpflichtet, alles grundsätzlich für gelogen oder gezielte Irreführung zu halten. Außerdem hatte Lene keinen Grund, Meike Stumm vorzuladen und amtlich zu befragen. Sie war weder eine Zeugin, noch eine Beschuldigte oder Verdächtige. Und die amtliche Auferstehung von den amtlich für tot Erklärten war auch nicht Lenes Aufgabe. Darum sollten sich ein Rechtsanwalt der Familie und der Staatsanwalt kümmern. Lene musste Meike Stumm bei Laune halten, damit die freiwillig weiter aussagte. Sie sollte also ein Vertrauensverhältnis herstellen.
Sie verabredete sich mit dem Tom Heilmann, der an dem elektronischen Puzzlegerät für Phantombilder brillierte und auch die Lichtbildersammlung des Präsidiums verwaltete. Er besaß das – wie Lene es nannte – peinliche Gedächtnis: Er vergaß nie eine Gesicht, aber oft den Namen der Person auf dem Foto. Er war tüchtig, aber auch selbstbewusst.
Heilmann maulte auch prompt: „Gleich zwei oder drei, Frau Schelm?“
„Die Zeugin ist um die dreißig, sieht sehr gut aus, ledig, hat eine kleine Tochter, die aus dem Gröbsten schon raus ist, nachts durchschläft, und stammt aus einem reichen Elternhaus. Welche Chance für einen jungen, ledigen, attraktiven Landesbeamten mit Aufstiegschancen.“
„Sie schrecken auch vor nichts zurück, was?“
„Sie haben mich durchschaut.“
Lene lud die Akte „Vermisst – Meike Stumm“ auf den Bildschirm und telefonierte mit Staatsanwalt Jürgen Sandig: „Sie müssen eine nur amtlich Tote wieder zum Leben erwecken.“
„Wie schön, dass Sie mir das zutrauen. Bitte in Stichworten wen, warum und wann? Bei Gelegenheit dann mündlich ausführlich.“ Sandig war jung, eifrig und trat irgendwie immer etwas forsch auf, aber er war auch tüchtig und gewissenhaft – man konnte sich auf ihn verlassen, was auch schon lange nicht mehr die Regel war.
Meike Stumm blieb fast zweieinhalb Stunden fort. Als sie mit mehreren Einkaufstüten zurückkam, pfiff Lene laut vor Bewunderung und etwas Neid: „Toll sehen Sie aus. Ich hätte Sie kaum wiedererkannt.“
„Also gefalle ich Ihnen so?“
„Und ob.“
„Cosimo ist sein Geld wert, das stimmt. Schließlich muss ich heute noch zu meinem cholerischen Großvater Elmar und einen guten Eindruck auf ihn machen.“
Lene seufzte – mit Elmar Stumm war sie nicht gut ausgekommen, aber vielleicht war er in vierzehn Jahren mit seiner Enkelin und Urenkelin nachsichtiger und vor allem geduldiger.
„Viel Glück, Frau Stumm. Sie haben also, wenn ich richtig gerechnet habe, knapp sechs Jahre mit Malte zusammengelebt? Nach Sylvias Auszug wurden Sie doch tagsüber nicht mehr eingesperrt? Warum sind Sie dort geblieben?“
„Stimmt, ich hätte weglaufen können.“
„Was hat Sie bei Malte gehalten?“
„Das Bett, die Liebe und die Erinnerung daran, dass die Atmosphäre in meinem Elternhaus auch nicht so prickelnd gewesen war. Dann stellte ich eines Tages fest, dass ich schwanger war und habe mir ausgerechnet, dass ich bei Malte irgendwo auf dem Lande wohl besser aufgehoben war als im Lendersweg in Tellheim.“
„Wo haben Sie mit Malte gelebt?“
„Zuerst in einem Wochenendhaus am Lantener See, das seinem Bruder Uwe gehörte. Dann begann Malte als Makler gut zu verdienen, und hat uns ein Haus am Schlichsee gekauft. Dort fühlten wir uns wohl und glücklich.“
„Und? Waren Sie das?“
„Die ersten Jahre ganz sicher. Ein hübsches Haus, nette Nachbarn, Vera lernte schwimmen. Also auch eine Sorge weniger.“
„Okay, ich verstehe. Wo ist Vera geboren worden?“
„In der Lumerusklinik in Braakenfeld.“
„Dort auch beim Standesamt registriert?“
„Ja.“
„Haben Sie die Geburtsurkunde zufällig dabei?“
„Nein, die habe ich heute Morgen mit allen anderen Papieren Ihrer Kollegin Hollweg gegeben. Sie wollten die Papiere doch prüfen lassen.“
„Richtig.“
„Ihrer Kollegin habe ich meine und Veras Geburtsurkunde gegeben.“
„Warum sind Sie dann doch von Malte Sobiok fortgelaufen?“
„Maltes heiße Liebe zu mir und seiner Tochter Vera hat nicht lange genug gehalten. Nach drei Jahren Ehe begann er fremdzugehen auf seinen vielen Geschäfts- und Besichtigungsreisen. Ich hatte Vera und wusste nicht, wohin sonst.“
„Zu Ihren Eltern wollten Sie nicht zurück?“
„Eigentlich nicht. Übrigens wusste ich nicht, dass mein Vater inzwischen gestorben war. Aber wohin sonst? Mit einem kleinen Kind ohne Schulabschluss, ohne Beruf und ohne Geld. Also habe ich eines Tages alles Wichtige in einen Rucksack gepackt, mich von meiner Stute verabschiedet, Vera genommen und wir sind querfeldein losgelaufen. Ein Lieferwagen hat uns schließlich nach Tellheim mitgenommen und im Quellenviertel abgesetzt.“
„Sind Sie eigentlich vom Reiterhof immer über den Lonsesteg in den Lendersweg geradelt?“
„Meistens, aber nicht immer.“
Lene bemerkte, dass Meike langsamer und müde wurde.
„Ich würde sagen, wir machen für heute Schluss. Unser Phantombildner wartet. Wenn Sie Zeit haben, wäre es schön, wenn Sie morgen noch einmal hereinkommen könnten. Bis dahin habe ich einiges erledigt.
Jetzt schaute Lene diskret auf die Uhr. Es wurde Zeit.
Laut sagte sie in den Raum: „Haben die Kollegen alles kopiert und untersucht?“
Mia antwortete prompt über Lautsprecher: „Liegt alles bereit, Chefin.“
„Dann besuchen wir jetzt noch den schönen Tom.“
KK Thomas Heilmann war von Meike Stumm so beeindruckt, wie Lene das erhofft hatte. Sie machten sich auch sofort an die Arbeit. Lene ging an ihren Schreibtisch und räumte auf. Schon wenig später rief Tom Heilmann an: „Chefin, es hat keinen Zweck mehr, sie schläft mir gleich vor dem Gerät ein.“
„Trotz Ihres Charmes?“
„Sie hat Sehnsucht nach einem Bett, groß und alleine für sich, ich würde da nur stören.“
„Okay, machen wir Schluss für heute.“
Meike Stumm rief gegen elf Uhr im Präsidium an und hörte sich ziemlich verschlafen an.
„Wie war der Abend mit Opa Elmar?“, wollte Lene wissen.
„Anstrengend.“
„Wie das?“
„Großvater hat die wieder auferstandene Enkelin vielen seiner Freunde und Bekannten vorgestellt, und mit jedem musste ich ein Schlückchen auf die glückliche Heimkehr trinken. Ich war noch nie so betrunken wie gestern Abend. Vor allem, alles durcheinander: Champagner, Cognac, Wein und Calvados. Liane musste mich wie ein Kleinkind ins Bett bringen.“
„Und jetzt brummt der Kopf?“
„Wie eine große Glocke. Brauchen Sie mich heute noch einmal?“
„Ja, wir haben doch noch einige Fragen und mindestens zwei Phantombilder vor uns. Könnten Sie so gegen achtzehn Uhr im Präsidium sein? Und ein, zwei Stunden Zeit für meinen Kollegen und mich mitbringen?“
„Wenn’s denn sein muss – okay. Vielleicht wirken bis dahin ja auch die Tabletten.“
Auch Tom Heilmann würde Überstunden machen müssen, wenn seine „Kundin“ wirklich wacher war als gestern.
Am Nachmittag war Lene – wie Sandig es nannte – zu Kaffee und Kuchen in die Staatsanwaltschaft eingeladen. Der Staatsanwalt hörte aufmerksam zu und meinte zum Schluss: „Eine verrückte Geschichte.“
Lene zuckte hilflos die Achseln.
„Schicken Sie die junge Dame mit alle Papieren zu mir. Amtlich ist sie in kürzester Frist wieder unter den Lebenden.“
„Vorsicht, Herr Staatsanwalt, es sind zwei junge Damen: eine dreißig, die andere sieben oder acht.“
„Das heißt, ich muss mein Zimmer aufräumen und alles wegschließen, wenn ich hinterher noch was wiederfinden will.“
„Wäre zu empfehlen, ja. Die Kleine ist lebhaft, intelligent und sehr selbstbewusst.“
„Oh je.“
„Ich hätte noch eine Bitte. Könnten wir die amtliche Wiederauferstehung einer Toten vorerst unter der Decke halten, damit ich in Ruhe, ohne Presse und Neugierige an den Hacken, noch einiges recherchieren kann?“
„Einverstanden, Frau Schelm, Sie geben Laut wenn Sie so weit sind?“
„Mach ich.“
Sandig grinste, war aber von einer Sekunde auf die andere wieder ernst: „Wem wollen Sie eigentlich ans Leder?“
„Eigentlich dem Großvater Elmar Stumm.“
„Alte Blutrache? Gekränkte Eitelkeit oder nicht zu verzeihende Beleidigung?“
„Hauptsächlich Letzteres!“
„Dann lassen Sie mal hören.“ Er war ein Kaffeesäufer wie Lene, und die Thermoskanne war zum Glück sehr groß. „Amtlich und juristisch sehe ich keine Möglichkeit, dem alten Stumm was ans Zeug zu flicken.“
„Ich auch nicht“, stimmte sie zu. „Aber ich verlasse mich oft auf mein Bauchgefühl. Und das sagt mir: Da ist noch was vergraben, das ich den Stumms zu gerne an die Backe kleben möchte.“
„Der deutsche Kriminalbeamte verachtet private Rachefeldzüge.“
„Und der deutsche Staatsanwalt unterstützt ihn dabei.“
„So ist es, Frau Schelm.“ Sandig sah ihr etwas besorgt nach. Man hatte ihn gewarnt: Eine Lene Schelm sei immer für eine Überraschung gut. Und simple Fälle kenne sie gar nicht, sie zöge Komplikationen an wie ein Magnet die Eisenspäne.
Drittes Kapitel
Mia Hollweg war tüchtig, zäh und ausdauernd. Bis tief in die Nacht und seit heute Morgen ab Dämmerung hatte sie die Tonbänder abgetippt, korrigiert und ausgedruckt.
Lene war begeistert: „Toll, Mia! Und wenn Sie von diesem Marathon ausgeschlafen sind, versuchen Sie doch bitte herauszufinden, wo dieses Haus liegt, in dem Meike Stumm untergebracht war und später gelebt hat – und die Kennzeichen zu identifizieren. Eine Bedingung: Es soll nicht bekannt werden, dass die entführte Meike Stumm lebendig wieder aufgetaucht ist.“
„Alles klar, Chefin.“
Hoffentlich hatten sie diesmal Glück mit ihrer Strategie. Seit Jahren gab es irgendwo im Präsidium eine undichte Stelle; immer wieder sickerten Details durch, die sie aus guten Gründen (meist als verräterisches Täterwissen) geheim zu halten wünschten.
Meike Stumm erschien pünktlich, ausgeschlafen und mit klarem Kopf.
Kollege Heilmann war angenehm überrascht, dass Meike seinen Namen behalten hatte und warf sofort seine Maschine an. Lene ließ sie beruhigt alleine. Kollege Tom würde jetzt nach Meikes Anweisungen gespeicherte Elemente zu einem Gesicht zusammensetzen: Vollbart dicht, Vollbart schütter, Schnurrbart, Gesicht runder oder ovaler. Ohren größer oder kleiner, abstehend oder enger anliegend, der Apparat erfüllte fast alle Wünsche und dass Meike dicht an den Kollegen Tom heranrücken musste, um den Bildschirm gut zu sehen, störte ihn und sie eindeutig auch nicht. Lene grinste und verzog sich wortlos in ihr Zimmer, wo sie sich fast zwei Stunden mit Mias Protokoll beschäftigte; bis das Telefon klingelte.
„Wir sind fertig, Frau Schelm, wollen Sie mal kommen und unsere Arbeit bewundern?“
„Schon unterwegs.“
Sie hatten es tatsächlich geschafft, zwei Phantombilder herzustellen, von Malte und Sylvia. Lene betrachtete sie ausgiebig. Ein hübscher junger Mann Anfang zwanzig und eine etwas verblühte Frau Mitte vierzig.
„Großartig, Tom.“
„Danke, Chefin.“
Mit der gewünschten Geheimhaltung möglichen Täterwissens klappte es wieder nicht. Der Morgenblick, ein in Tellheim und Umgebung verbreiteter BILDzeitungsverschnitt, machte am nächsten Morgen mit der Schlagzeile auf: „Nach vierzehn Jahren wieder daheim.“
Warum gelang es DIE, der Dienststelle Interne Ermittlungen, nicht, die undichte Stelle zu finden? Gegen den Blick vorzugehen, hatte der Präsident verboten, der sich schon einmal mit Ermittlungen gegen eine Zeitung bös die Finger verbrannt hatte. Abgedruckt war im Morgenblick ein Archiv-Foto der damals fünfzehn- oder sechzehnjährigen Meike Stumm; das war schon ärgerlich, aber noch störender war, dass der Blick-Schreiber gründlich in die Archiv-Unterlagen geschaut hatte, nicht nur die Familiengeschichte der Stumms und ihre Vermögenslage detailliert schilderte, sondern auch daran erinnerte, dass bei der Geldübergabe der Vater des Mädchens ermordet worden war.
Sandig rief Lene an: „Schon den Morgenblick gelesen?“
„Nein, das tue ich mir morgens nicht an.“
„Dann möchte ich Sie hiermit dienstlich anweisen, heute eine Ausnahme zu machen.“
Lene hatte gewaltige Bauchschmerzen, als sie in die Kantine schlich und Pfefferminztee bestellte. Die Phantombilder hatte sie im Tresor des R – 11 eingeschlossen. Und Tom Heilmann hatte ihr geschworen, dass er die gestrigen Dateien in seinem Puzzle-Apparat gelöscht hatte, und die CD, die er vorher zum Speichern benutzt hatte, seitdem ununterbrochen in seinem Besitz gewesen war. „Nein, auch Meike hatte keine Ausdrucke mit nach Hause genommen.
Der Pfefferminztee begann eben zu wirken, als sie sich entschied, ihr Glück bei Tom Heilmann zu versuchen: Der Vorname Sylvia war so häufig nicht und die Pudelfrisur noch seltener.
Kollege Tom hatte die Bildersammeldatei bereits aufgerufen und gab nun vier Suchbegriffe ein: weiblich, Sylvia, Anfang vierzig, Pudellocken. Und sie landeten Treffer.
Bei dem dritten Foto, das auf dem Bildschirm erschien, sagten Lene und Heilmann unisono: „Treffer.“ Die Ähnlichkeit mit dem Phantombild war verblüffend. Sylvia Köhler, Eigentümerin des Beautysalons Mona in der Langen Straße.
„Ausdrucken, Chefin?“
Heilmann nannte alle Frauen, für die er eine Arbeit an seinen Geräten erledigen musste, „Chefin“, was manchmal sehr verwirrend war. „Ja, bitte, Tom.“ Mit den Ausdrucken suchte Lene ihren Freund Arne Wilster im Archiv des Präsidiums auf.
Dessen Hilfe Anja Stich beherrschte einen verbotenen Trick, sich in Dateien aller Referate umzuschauen, ohne dass dieser „Besuch“ automatisch protokolliert wurde. Aber Lene fragte sich nicht zum ersten Mal, warum sich das Präsidium ein teures EDV-System leistete, wenn es einen Arne Wilster im Archiv sitzen hatte: Ein Blick reichte ihm: „Unser Pudel Sylvia. Ist sie wieder im Geschäft?“
„Was für ein Geschäft?“
„Sie hat mit einem schwulen Partner ein Fotostudio betrieben!“
„Was für Fotos?“
„Nackte Frauen, die sich von nackten Männern anfassen und ablichten ließen. Oder umgekehrt. Gegen Honorar natürlich.“
„Nein, daran bin ich nicht interessiert. Hat sie mal längere Zeit mit einem festen Freund zusammengelebt?“
„Das weiß ich nicht. Das musst du die Nadel fragen!“
„Ich bin hinter dem Mann her.“
Anja Stich hatte derweil elektronisch ein ansehnliches Dossier gesammelt und ausgedruckt. Sylvia Köhler hatte es häufiger mit der Justiz zu tun gehabt: Betrug, Urkundenfälschung, uneidliche Falschaussagen, Diebstahl, Konkursverschleppung.
Lene bedankte sich und ging an ihren Schreibtisch zurück, blätterte noch einmal das von Mia so vorbildlich getippte und zu einer Akte zusammengestellte Protokoll durch und griente in sich hinein: Sie hatte sich nicht getäuscht. Keine bleibenden Rotweinschäden.
Viertes Kapitel
Anneliese Schlüter war in den vergangenen vierzehn Jahren sichtbar gealtert. Sie bewegte sich langsam an einem Rollator. Die Arbeit im Stall und mit den Pferden hatte sie aufgeben müssen, aber ihr Gedächtnis hatte nicht gelitten: „Frau Schelm. Sie kommen sicherlich wegen Meike Stumm, nicht wahr?“
„Das haben Sie also schon gehört?“
„Im Morgenblick gelesen. Da steht ja nicht viel drin, aber das Wenige ist dafür so groß gedruckt, dass sich eine alte Frau mit Brille noch informieren kann.“
„Wegen Meike Stumm bin ich hier. Ich möchte Sie bitten, sich diese beiden Phantombilder anzuschauen. Erkennen Sie die Frau oder den jungen Mann?“
Mit einer gewissen Umständlichkeit, die ihr Spaß zu machen schien, holte sie eine Brille aus der Kitteltasche, sah sich die Ausdrucke gründlich an und seufzte: „Können wir uns setzen? Das wird eine etwas längere Geschichte, Frau Schelm. Der junge Mann heißt mit Vornamen Malte und hat oder hatte einen älteren Bruder Uwe. Uwe Sobiok. Und dieser Uwe Sobiok hatte bei uns eine Stute untergestellt, Anni, ein sehr schönes Tier, um das er sich aber kaum gekümmert hat. Angeblich aus Zeitmangel. Nun steht ein Pferd nicht gern den ganzen Tag in der Box herum. Meike hat sich um Anni gekümmert, sie nach draußen geführt, auch geritten, gestriegelt, gefüttert und die kleinen Wunden und Blessuren versorgt. Sie mochten sich, Meike und Anni, und eines Tages ist dieser Uwe Sobiok mit Meike Stumm zu mir gekommen. Er war ein sehr schöner und sehr höflicher Mann: ‚Hallo, Frau Schlüter, alle auf dem Hof erzählen mir, dass sich Meike rührend um Anni kümmert. Sie darf Anni selbstverständlich so oft reiten, wie sie wünscht.‘ Und dann hat er zu Meike gesagt: ‚Und wenn du mal Sorgen oder Probleme hast, rufe mich an, ich helfe dir, so gut ich kann. Parole Anni Schlüter.‘“
„Wunderbar. Er hieß Sobiok, Uwe Sobiok?“
„Ja. Parkallee und ein Wochenendhaus am Lantener See, Röhrichtdamm.“
„Sie haben mir sehr geholfen, Herzlichen Dank, Frau Schlüter. Ach, und was ist aus Anni geworden?“
„Sobiok hat sie zum Züchten verkauft, sie ist in sehr gute Hände gekommen, fünf gesunde Fohlen, Frau Schelm, eines schöner als das andere. Sie reiten nicht?“
„Nein. Ehrlich gesagt, sind Pferde mir zu hoch und mit der Zeit würde es auch nicht gut aussehen.“
„Schade.“
Weil der Lonsesteg für Autos gesperrt war, fuhr Lene durch Steingraben in das Quellenviertel zum Präsidium im Krötengraben. Uwe Sobiok wohnte immer noch an der Parkallee 29. Malte Sobiok fand sie nicht, darum musste sich Mia morgen kümmern; Lene legte ihr einen Zettel neben das Telefon.
Auf der Treppe begegnete ihr der Kollege Tom Heilmann, der sich halb stolz, halb verlegen umschaute.
„Einen schönen Abend, Frau Schelm.“
Frau Schelm und nicht Chefin – Heilmann hatte also seine Arbeit für das R – 11 abgeschlossen. „Danke, ebenfalls.“
Nach der Beerdigung von Alexander Stumm hatte sich Lene ausführlich mit Stumms Schwester Ulrike unterhalten. „Durch Alexanders Tod war viel in der Stummschen Planung durcheinandergeraten. Alexander hätte von seinem Vater Elmar die Hälfte des Stummschen Vermögens erben sollen. Die andere Hälfte geht an mich. Aber Liane damals und Meike jetzt haben keine Lust, die Leitung der Stumm & Söhne KG zu übernehmen. Aber eben das ist die größte Sorge meines Vaters: Wer hält das Unternehmen nach seinem Tod zusammen?“
„Sie haben kein Interesse?“
„Nein. Vom Geschäft und der Feinmechanik verstehe ich auch nichts. Ich kann Geld stil- und würdevoll ausgeben, aber nicht verdienen.“
„Aber die Hälfte von Stumm & Söhne gehört doch Ihnen – oder?“
„Ja. Das ist bereits testamentarisch geregelt. An ihrem 33. Geburtstag erhält die Tochter von Liane Grote und Alexander Stumm meine Hälfte des Stummschen Vermögens.“
Lene hatte sich über die eigenartige Formulierung gewundert, sie notiert und das Blatt in der Akte abgelegt. Der Zettel musste noch in der Mordakte „Alexander Stumm“ abgeheftet sein.
„Und wer führt nun die Firma weiter?“ So ein ähnliches Problem hatten sie mit dem Unternehmen ihres Vaters gehabt, das der Sohn und Bruder erfolgreich weiterführte und seine Schwester am Gewinn beteiligte.
Ulrike Stumm war etwas rot geworden und hatte gekichert: „An der Lösung arbeiten wir noch.“
„Wie meinen Sie das?“
„Mein Bruder hatte einen erfolgreichen Schulfreund, Markus Demel, der die Geschäftsführung übernehmen könnte. Tüchtig ist er, er hat nur einen Fehler.“
Lene sah Rike Stumm groß an.
„Markus stammt aus kleinen Verhältnissen und hat sich hochgearbeitet. Nach dem Abitur hat er sich sehr um mich bemüht; wer weiß, was daraus geworden wäre, wenn mein Vater nicht eingegriffen hätte: ‚So ein Hungerleider und Erbschleicher kommt mir nicht in meine Familie.‘ Mein Vater verachtet Markus immer noch, und Liane und ich arbeiten ausdauernd daran, seine Meinung in diesem Punkt zu ändern.“
Auch das hatte sich Lene ausführlich notiert. Zwar schien es auf der Hand zu liegen, dass Meikes Entführer den Lösegeldüberbringer aus welchen Gründen auch immer erschossen hatte, aber nach Lenes Erfahrung war eine anscheinend logische oder konsequente Erklärung nicht immer die richtige.
Jahre später, als Großvater Elmar Stumm seine Meinung geändert und Markus Demel die Geschäftsführung von Stumm & Söhne übernommen hatte, war Markus Demel in die Villa der inzwischen verstorbenen Ulrike Stumm gezogen. Lene hatte sich mit Ulrike Stumm sehr gut verstanden und war einmal zu einem Sommerfest in ihre Villa am Kappenberg eingeladen worden. Das war mehr als eine protzige Villa, das war schon ein modernes Anwesen, für das eine Putzhilfe und eine Köchin nicht ausreichten, dafür brauchte man wie zu Kaisers Zeiten Personal, das unter dem Dach wohnte. Allein der Garten beschäftigte eine halbe Kompanie Gärtner und zum wöchentlichen Reinigen des Swimmingpools rückte eine Firma aus Guntersburg an. Lene hatte sich nie ein Haus gewünscht, sie wusste aus ihrem Elternhaus, wie viel Geld und Zeit man dafür aufwenden musste. Das Geld hätte vielleicht keine Rolle gespielt, aber die Zeit fehlte, seit sie von der Schutz- zur Kriminalpolizei gewechselt war. Leise vor sich hin pfeifend marschierte sie an der Villa vorbei und erkannte im letzten Moment die Besucherin, die eifrig klingelte. Ob der Mann, der ihr schließlich öffnete, Markus Demel war? Sie küssten sich heiß und ausdauernd: Eine Miteigentümerin der Firma besuchte offenbar nicht nur den Geschäftsführer; Lene grinste und ging weiter. Als sie im R – 11 anfing, hieß die Erste Hauptkommissarin Caroline Heynen, und Caro strapazierte einen Lieblingsspruch: „Bei dem ersten Blick kann jeder irren, deswegen schaut eine gute Ermittlerin immer zweimal hin.“ Mit einem anderen Spruch nervte sie ihr Team regelrecht: „Was du heute kannst besorgen, verschiebe nicht auf morgen.“
Aber nicht mehr heute.
Am nächsten Morgen ergänzte Lene die Akte um alles, was sie gestern erfahren hatte, und dachte wieder an Caro Heynen: „Auch der beste Ermittler bleibt nicht von Krankheiten oder Unfällen verschont: Warum sollen die Kollegen dann wieder bei Null anfangen?“
Sie schnappte sich Mia und verschwieg ihr, dass ihre Hauptaufgabe darin bestehen würde, auf ihre Chefin zu warten. „Wir müssen in die Parkallee 29 zu Uwe Sobiok.“ Mia fuhr gerne Auto und fuhr auch gut.
Fünftes Kapitel
Parkallee 29 war zu einer Zeit erbaut worden, als man sich in Tellheim noch Grundstücke leisten konnte. Der Marmor in der Halle war echt, der Aufzug groß genug für zehn Personen, Uwe Sobiok stand in der offenen Wohnungstür und kraulte seinen prächtigen, schwarzen Vollbart: „Sagen Sie nichts, Sie sind die Hauptkommissarin Marlene Schelm und kommen wegen der nun doch lebendigen Meike Stumm.“
„Ja. Woher wissen Sie das, Herr Sobiok?“
„Anneliese Schlüter hat mich angerufen.“
„Sie haben also Meike Stumm gekannt?“
„Natürlich. Sie hat sich rührend um meine Anni gekümmert und das Tier jeden Tag bewegt, und dafür gesorgt, dass während ihrer Ferien einer vom Schlüterhof das gegen Bezahlung erledigt.“
„Herr Sobiok, Sie haben Meike Stumm angeboten, sich an Sie zu wenden, wenn sie mal Sorgen oder Nöte hätte. Hat Meike Sie deswegen an dem Tag angerufen, als sie entführt wurde?“
Sobiok lachte leise. „Frau Schelm, ich will ihnen alle meine Geheimnisse verraten, aber das würde – wenn der Morgenblick noch rechnen kann – jetzt vierzehn Jahre zurückliegen. Da kann ich nur ehrlich sagen, ich weiß es nicht mehr.“
„Schade; ich hätte aber noch zwei weitere Fragen an Sie. Kennen Sie die Personen auf diesen beiden Phantombildern?“
Sobiok schrak sichtlich zusammen und zerrte an seinem gepflegten Vollbart. „Das ist doch mein Bruder Malte – oder?“
„Möglich, wir kennen den Namen und die Anschrift des jungen Mannes nicht, würden aber gerne mit ihm sprechen.
„Er wohnt in Wedel, Lorenzstraße 48.“
„Erkennen Sie auch die Frau?“
Er stöhnte auf: „Sylvia. Eine schreckliche Jugendtorheit, Frau Kommissar.“
„Wissen Sie, wo ich sie heute finde?“
„Nein, tut mir leid, wir haben uns schon vor Jahren getrennt und wohin sie dann gezogen ist, weiß ich nicht.“
„Verraten Sie mir noch Ihren Namen?“
„Sylvia Köhler.“
„Diese Sylvia kennt Ihren Bruder Malte?“
„Natürlich. Es tut mir leid, Frau Schelm, aber ich muss jetzt unbedingt fort.“
Lene war verblüfft, dass er es plötzlich so eilig hatte, ließ sich aber nichts anmerken.
„Sie sind mich schon los, Herr Sobiok. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
Von Sobioks Wohnungstür lief sie eine Treppe hoch und telefonierte oben mit Mia.“
„Mia, da kommt gleich ein Mann mit einem wunderschönen dunklen Vollbart aus dem Haus gelaufen. Wenn er mit seinem Auto losfährt – hinterher. Nicht eingreifen, ich brauche nur das Kennzeichen und die Adressen, bei denen er anhält. Alles klar?“
„Geht in Ordnung, Chefin.“
Eine Viertelstunde später verließ Lene das Haus Parkallee 29 und bummelte zum Rendel-Park. Es war sonnig und warm, sie setzte sich auf eine schattige Bank und notierte ihr Gespräch mit Uwe Sobiok. So ein gepflegter, dunkler Vollbart war doch was Schönes, besonders für einen Polizisten, der den Bartträger verfolgen sollte.
Eine halbe Stunde später rief Mia an. „Chefin, er hat seinen Wagen in der Auerstraße geparkt und ist in das Bürohaus Nummer 22 gegangen. Vorher war er immer nur für Minuten in der Löbelstraße 55 und der Karanderstraße 24.“
„Sehr schön, Mia. Fahr ruhig ins Präsidium. Ich trödele noch etwas durch die Stadt.“
Wenn sie sich richtig erinnerte, lag die Löbelstraße im Zoo-Viertel, und vom Rendel-Park waren es bis zum Zoo nur gut zehn Minuten zu Fuß.
Das Zoo-Viertel war noch vor wenigen Jahren eine sogenannte „Gute Adresse“ gewesen, und die Löbelstraße so etwas wie die Paradestraße oder wie die Tellheimer spotteten, unser Boulevard „unter den Linden“. Die Linden gab es immer noch, gesunde Bäume mit reichlich Tröpfchen, zum Ärger der Parker. Nummer 55 war ein gut erhaltenes vierstöckiges Haus, in dem nicht nur Wohnungen lagen, sondern auch, wie die Messingschilder neben dem Eingang verrieten, Büros und Arztpraxen.
Auf der anderen Straßenseite lag ein kleines Restaurant, das mutig ein Menü aus Gazpacho und Zwiebelkuchen mit Speck und Kapern anbot. Lene beschloss, es zu riskieren, es würde auf jeden Fall besser und einfallsreicher schmecken als die Präsidiumskantine.
Dazu gab es einen einjährigen Müller-Thurgau Leininger Burgberg, der es nie unter die deutschen Spitzenweißweine bringen würde, aber frisch und leicht säuerlich gut zum Zwiebelkuchen passte. Lene beschloss, sich eine kurze Auszeit zu gönnen und nachher eine Tortur zu wagen: Sie brauchte neue Sommersandalen und bedauerte jetzt schon sich und die arme Verkäuferin. Dass sie zwischendurch immer mal wieder einen Blick auf den Hauseingang Löbelstraße 55 warf, war schlicht eine dienstliche Angewohnheit. Irgendwann fielen ihr die vielen jungen Frauen und Mädchen auf, alle in luftigen Kleidchen, die an der Tür 55 klingelten und sich nur wenige Minuten im Haus aufhielten. Lene zahlte und rief im Büro an: „Liebe Mia, schau doch mal im Computer nach oder in der alten Akte Meike Stumm, woher mir die Anschrift Karanderstraße so bekannt vorkommt.“
Mia beeilte sich: „Vor vierzehn Jahren wohnte in der Karanderstraße 24 Erwin Grote, Meike Stumms Großvater mütterlicherseits.“
„Großartig. Ich ziehe jetzt los, um mir das Haus noch einmal anzuschauen.“
Mia schnaufte, sagte aber nichts.
Neben der Haustür Löbelstraße entdeckte Lene zwei Firmenschilder, Messing, blankpoliert, die sie interessierten: Fotostudio K. Venna und eine Castingagentur S. Köhler GmbH. Sie notierte sich die Namen und Telefonnummern. Auch eine Landesbeamtin mit Pensionsanspruch konnte in die Lage kommen, sich einen neuen Job suchen zu müssen. Sie wusste, dass eine Castingcouch kein Beichtstuhl war.
Der Sandaleneinkauf verlief wider Erwarten schnell und für beide Seiten fast stressfrei.
Danach nahm Lene ein Taxi vom Kaiserplatz zur Karanderstraße, um wenigstens vor sich selbst zu rechtfertigen, dass sie den ganzen Tag nicht verbummelt, sondern zwischendurch auch gearbeitet hatte. Das Schicksal belohnte diese positive Einstellung umgehend. Als sie zahlte und vor der Nummer 24 hielt, sprang vor ihnen ein bärtiger Mann aus einem teuer aussehenden Coupé, sauste zur Haustür Nummer 24 und klingelte Sturm. Die Tür wurde sofort aufgerissen, als habe der Bewohner im Windfang schon auf seinen bärtigen Besucher gewartet. Der brüllte auch sofort los: „Jetzt haben wir die Scheiße.“
„Was soll das heißen?“
„Ich hatte Besuch von einer Bullin.“
„Meint der Sie?“, erkundigte sich der Taxifahrer empört, der auf seiner Seite die Scheibe heruntergelassen hatte und so eifrig lauschte, wie Lene durch die halb geöffnete Hintertür. Dabei war Lauschen gar nicht nötig, die beiden Männer brüllten sich an wie bei einem schlechten Straßentheater.
„Na und?“
„Ich hatte dich gewarnt. Die lügt, wenn sie den Mund aufmacht, weil sie gar nicht weiß, was Wahrheit ist.“
„Aber du hast es natürlich sofort gewusst, du Klugscheißer.“
„Ach, leck mich doch … Ich schaue jetzt selber nach, für euch Schwachköpfe halte ich meinen Kopf doch nicht hin.“ Damit machte der Bärtige kehrt, sprang regelrecht in seinen Wagen und startete, dass Lene für die Reifen und den Asphalt fürchtete.“
„Los, hinterher“, sagte sie ungeduldig und zog ihre Tür ins Schloss.
„Sind Sie wirklich eine Bulette?“
„Wenn wir die nächste rote Ampel lebend erreichen, zeige ich Ihnen meinen Dienstausweis.“
Uwe Sobiok raste wie ein Verrückter, aber Lenes Taxi hielt mit. Die Fahrt ging Richtung Innenstadt, anscheinend zum Hauptbahnhof.
Doch unmittelbar nach der Brücke über den Stichkanal bog Sobiok in die Kanalstraße ab, die Reifen dröhnten auf dem alten Kopfsteinpflaster, halbhoch links über ihnen kreischten die Bremsen eines ICs, um die vorgeschriebene Höchst-Geschwindigkeit zu Beginn des Bahnsteigs zu erreichen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Vor Ihnen lag der Bienenkorb. Früher konnte man durch die Fenster der einfahrenden Züge direkt in die Bienenwaben schauen, in denen leichtbekleidete Damen ihrem uralten Gewerbe nachgingen, bis im Zuge der Kampagne „Unsere Stadt muss sauber werden“ Sichtblenden vor die Wabenfenster gebaut wurden. Die Einfahrt von Süden nach Tellheim Hauptbahnhof hatte an Attraktion verloren, aber der Bienenkorb florierte nach wie vor. Sobiok wurde langsamer und blinkte nach links, bog in eine Einfahrt ein, dort hob sich eine Schranke, die sich hinter Sobiok sofort wieder schloss. Lenes Taxifahrer musste hart in die Eisen steigen und stand noch nicht richtig, als sich ein stämmiger Mann neben die Fahrertür stellte.
„Verpiss’ dich“, begrüßte er einen potentiellen Honigkäufer laut und unfreundlich. Lene hätte Ärger machen können, aber hatte keine Lust mehr: „Okay, fahren Sie weiter, zum Krötengraben. Jetzt bitte keinen Ärger mehr.“
Der Fahrer hätte sich gerne mit dem Stämmigen auf ein Gefecht eingelassen, aber die Kundin war schließlich Königin.
Lene ärgerte sich, für diese Rundfahrt durch Tellheim hätte sie sich ein zweites Paar modischer Sandalen kaufen können. Aber nun war es zu spät, und sie hatte immerhin eine Menge Informationen eingesammelt.
Im R – 11 waren alle Zimmer dunkel, sie setzte sich an ihren Computer und tippte alle Informationen in die Datei: „Meike“, bevor sie nach Hause fuhr.
Sechstes Kapitel
Am nächsten Morgen traf sie die Kollegin Jutta Lenz, die Leiterin des R – 17, auf der Treppe.
„Hast du ein paar Minuten Zeit für mich?“
„Natürlich, was gibt es denn?“
„Du kennst den Bienenkorb in der Kanalstraße?“
„Aber sicher.“
„Wem gehört der Schuppen?“
„Soviel wir wissen, zwei Männern, Erwin Grote und Uwe Sobiok.“
„Uwe Sobiok kenne ich schon. Was macht er beruflich – außer Honig abzuschöpfen?“
„Er ist Geschäftsführer der Garten Eden Paradies KG.“
„Die sitzen in der Auerstraße nicht wahr?“
„Ja.“
„Und Erwin Grote?“
„Von dem weiß keiner so genau, nicht einmal das Finanzamt, womit er seine Brötchen verdient. Wenn du mich fragst, ist er ein berufsmäßiger Stiller Teilhaber für Leute, die anonym bleiben wollen, und dazu Geldverleiher.“
„Aber der Bienenkorb hat nichts mit dieser Eden Paradies zu tun?“
„Soviel ich weiß, nein, abgesehen davon, dass der Paradies-Geschäftsführer auch an dem Bienenkorb beteiligt ist.“
Lene stieg in die Akten, sie hatten vor vierzehn Jahren Erwin Grote befragt, weil er einer von Meikes Großvätern war. Er wusste damals von nichts, bestritt später auch entschieden, an der Lösegeldsammlung für Meike beteiligt gewesen zu sein, Lene hielt ihn für einen Lügner, aber er war höflicher als Elmar Stumm. Und danach war ihr Grote „beruflich“ nicht mehr über den Weg gelaufen.
Lene rief ihn an und kündigte an, dass sie über Mittag bei ihm in der Karanderstraße vorbeikommen werde, was ihm hörbar nicht gefiel, was er aber schlecht verweigern konnte.
Uwe Sobiok machte es kurz: „Ja, ich hatte einmal ein Wochenendhaus am Lantener See. Ja, die alten Schlüssel habe ich noch, ich hinterlege sie bei meiner Sekretärin, und Sie entschuldigen mich, ich habe für heute eine – wenn Sie so wollen – Vorladung ins Finanzamt bekommen und das kann dauern. Und teuer werden, wenn man sie nicht beachtet.“
Lene suchte ihr kleines Besuchswerkzeug zusammen und nahm Ingo Baratsch mit.
Die Schlüssel lagen bereit, die Vorzimmerfee sah gut aus und duftete gut, strahlte allerdings eine gewisse Überheblichkeit aus. Der Lantener See gehörte als eine Art Exklave zum Tellheimer Stadtgebiet. Er wurde von vielen kleinen Zuflüssen aus den Hügeln und Erhebungen am Ostrand des Grabenbruches gespeist und war bis weit in den Hochsommer lausig kalt, kein Seeschwimmen und wer als Segler über Bord fiel oder kenterte, tat gut daran, einen Neoprenanzug zu tragen
Warum der Abfluss aus dem See Lonse hieß und nicht Lante, erschloss sich einem aus Baden-Württemberg zugewanderten Menschen wie Lene Schelm auch nach Jahrzehnten noch nicht.
Den Röhrichtdamm zu finden und daran das Wochenendhaus Uwe, war nicht schwer. Aber mit dem kleinen Besuchsbesteck kamen sie nicht weit. Haus Uwe hatte unerwünschten Besuch gehabt, den viele Hausbesitzer fürchteten, Obdachlose und Vandalen, die die Tür aufgebrochen und die kalte Jahreszeit hier drin verbracht hatten, häufig war zum Abschied als „Dankeschön“ drinnen alles verwüstet worden. Ob die Bewohner von Haus Uwe wiederkommen wollten? Das Schloss der Haustür war aufgebrochen, aber die Haustür später mit Riegel und Vorhängeschloss gesichert worden; Lene und Baratsch schufteten gemeinsam eine halbe Stunde, bis sie alle Schrauben aus dem Holz gedreht oder gebrochen hatten; drinnen sah es aus, als ob hier über Monate eine Horde Schweine gehaust hätte, es gab kein Fleckchen sauberen Boden mehr, schmutziges Geschirr war zu waghalsigen Stapeln aufgetürmt, und weil der Strom wohl schon vor Monaten abgestellt worden war, hatten die Vandalen im Wohnzimmer auf dem Boden gegrillt. Der hilfsbereite Baratsch brachte erst einmal die Steine nach draußen, um nicht dauernd über diese rußschwarzen Hindernisse zu stolpern. Lene sah sich lange um und resignierte. In diesem Chaos hier etwas zu finden, was Meike vor Jahren zurückgelassen hatte, war wohl schlicht zu blauäugig gewesen.
Der Meinung war Baratsch auch, aber er hatte eine Idee: „Frau Schelm, schauen Sie sich doch einmal diesen Kitsch an.“
Ein röhrender Hirsch stand bei Sonnenuntergang in Imponierstellung vor einem Waldstück. Kleine weiße Atemwölkchen umhüllten seine vierzehn oder sechzehn Geweihspitzen.
„So was Kitschiges vergisst man doch nicht!“
„Großartig, Baratsch, nehmen Sie den Prachtschinken mit.“
„Und wohin fahren wir jetzt?“
„Ins Quellenviertel. In den Landersweg.“
Die Haustür von Nummer 11 öffnete ein junger Mann in Badehosen mit einem Frotteelaken in der Hand, das er vor Staunen fallen ließ. „Was machen sie denn hier, Frau Schelm?“
„Ich schnüffele Ihnen nach, Kollege Heilmann. Um diese Zeit sollten Sie doch schon lange im Büro sein.“
Eine Frauenstimme entschuldigte ihn: „Wir haben verschlafen, Frau Schelm.“ Meike Stumm sah nicht so aus, als habe sie lange geschlafen, ihr dünnes Outfit legte den Verdacht nahe, dass sie und Tom hellwach gewesen waren. „Darf ich Ihnen meinen Kollegen Ingo Baratsch vorstellen? Er hat Ihnen, Meike, zur Erinnerung etwas mitgebracht.“
Baratsch hielt den röhrenden Hirschen hoch, sodass Meike ihn gut sehen konnte. Ein Blick genügte, und ihr Gesicht verriet, dass sie das Bild wiedererkannt hatte. Meike seufzte und Lene sagte fast mütterlich besorgt. „Wollen wir uns nicht setzen und Sie ziehen sich etwas über und bieten mir und meinem Kollegen einen Kaffee an – bleiben Sie ruhig, Kollege Heilmann, es geht Sie auch an. Außer Kaffee hätten wir auch bitte eine von Vera gebrauchte Zahnbürste. Wo ist Vera übrigens?
„Meine Mutter hat sie über Nacht zu ihrem neuen Liebhaber mitgenommen.“
Lene riskierte einen Schuss ins Dunkle: „Neuer? Sie kennt Markus Demel doch schon seit Ewigkeiten. Um festzustellen, wie gut, brauchten wir von Ihnen etwas Spucke auf dieses saubere Tempotuch. Den Rest holen wir uns nachher von Demel, wenn Sie ausführlich gebeichtet haben. Das vor vierzehn Jahren war keine Entführung?“
„Nein. Mein Vater Alexander hatte mich in der Nacht wieder so überfallen, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe. Ich bin zu Liane gelaufen, aber die lag nicht alleine in ihrem Bett.“
„Sondern mit Markus Demel?“
„Ja, natürlich. Vorgestern hat sie mir gestanden, dass sie vor Jahren vor Alexander Stumm mit Markus Demel befreundet gewesen war. Sie habe es nicht sicher gewusst, aber manchmal schon befürchtet, dass sie von Markus schwanger war, als sie mit Alexander zum Standesamt ging. Vor vierzehn Jahren wollte ich nur weg, wusste aber nicht, wohin. Tante Rike machte eine Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer und ich erinnerte mich, dass mir Uwe Sobiok Hilfe versprochen hatte, also habe ich ihn angerufen und er hat nach einer Viertelstunde zurückgerufen, er persönlich habe keine Zeit, aber er habe mit seinem Bruder Malte telefoniert und der würde mich nach dem Reiten am Lonsesteg erwarten und in ein sicheres Versteck bringen. Dort könnten wir dann weitersehen.“
„In dem Wochenendhaus am Lantener See wartete dann Sylvia Köhler auf Sie beide?“
„Ja. Was gar nicht nötig war. Ich hatte keine Angst vor Malte, im Gegenteil.“ Weil sich Tom Heilmann etwas anzüglich räusperte, wurde sie zart-rot. „Am Ende der ersten Woche verschwand Sylvia dann. Malte hat zuerst uns, dann mich versorgt und auf meine Bitte hin bei Tante Rike angerufen. Sie war zurück und hat Malte gesagt, ihr Bruder Alexander sei in der Nähe von Burg Falkenweide ermordet worden.“
Lene erinnerte sich: Eines dieser Lecks im Präsidium, von denen am meisten der Morgenblick profitierte. Wahrscheinlich zahlte er am besten. Für Lene und die Kripo war am gemeinsten , dass der Morgenblick der sachlichen Meldung, man habe bei Falkenweide die Leiche von Alexander St. gefunden, den Satz hinzugefügt hatte: „Seitdem ist die Tochter Meike St. verschwunden“, was schon rein zeitlich falsch war. Aber Spekulationen wachrief.
So entstanden Blutrachen. Lene verschob ihren Ratschlag an Meike, jetzt einmal über Rufschädigung und Schadensersatz nachzudenken: „Und als diese Sylvia das Weite gesucht hatte, sind Sie fröhlich zu Malte Sobiok ins Bett gestiegen?“
„Ja, nicht sofort, aber bald.“
Sie war keine Frau, die allein leben konnte. Wahrscheinlich auch nie gewesen.
„Eine dumme Frage: Wovon haben Sie und Malte eigentlich gelebt?“
„Malte hat doch für seinen Bruder Uwe gearbeitet und ist von ihm bezahlt worden.“
„Wusste Malte zu der Zeit, dass seinem Bruder der Bienenkorb zum Teil gehörte?“
„Ja. Aber nicht der ganze Bienenkorb, sondern nur ein Drittel.“
„Wem gehören oder gehörten die restlichen Drittel?“
„Das wusste Malte nicht, und wenn doch, so hat er es mir nie verraten.“
„Frau Stumm, wir fahren jetzt zu Markus Demel und holen uns von ihm, Ihrer Mutter und ihrer Tochter eine Speichelprobe für einen DNA-Abgleich. Und Sie, Kollege Heilmann, versetzen sich jetzt in einen Zustand, in dem man Sie auf die Straße mitnehmen kann.“
Natürlich hatte Meike Stumm mit ihrer Mutter telefoniert, als Lene, Baratsch und Heilmann bei Markus Demel eintrafen.
„Sie hat mir schon alles gestanden“, schluchzte Liane Stumm. „Auch dass die Entführung nur vorgetäuscht war. Selbstverständlich bekommen Sie von mir und Markus Speichelproben. Wir wollen ja selbst endlich Gewissheit.“
Vera kam quietschvergnügt ins Zimmer geschlendert: „Hei, Tante Lene. Und wer seid ihr?“
„Wir heißen Thomas Heilmann und Ingo Baratsch und arbeiten bei deiner Tante Lene.“
„Prima. Könnt Ihr Memory spielen?“
„Schlecht“, räumte Baratsch ein.“
„Umso besser für mich. Zehn Cent pro Spiel?“ Unternehmergene machten sich halt früh bemerkbar.
Heilmann und Baratsch verzogen sich mit Vera zu einer anstrengenden und kostspieligen Spielstunde. Lene erhielt ihre Proben und erreichte Staatsanwalt Jürgen Sandig am Telefon.
„Ich hoffe, Sie haben noch etwas Hunger. Dann treffen wir uns in einer Stunde in der Spätlese. Ich lade Sie zum Essen ein.“
„Frau Stumm, Sie wissen, dass ihre Tochter Meike mit meinem Kollegen Heilmann schläft?“
„Ja, sie hat es mir gestanden. Obwohl – was heißt: gestehen! Sie ist dreißig und volljährig.“
Auch Dr. Rupp hatte noch etwas Appetit, nahm von Lene mehrere DNA-Proben entgegen und versprach, sich zu beeilen. Alle drei ließen sich zu Leberknödel in Weinsauce und zu einer Maultasche in der Brüh’ überreden. Der Silvaner floss reichlich und Lene hatte, was ihr immer gefiel: aufmerksame Zuhörer. Einzig Sandig goss Wasser in den guten Wein: „Und wer hat nun Alexander Stumm erschossen und beraubt?“
„Um das festzustellen fahren Mia Hollweg und ich morgen nach Wedel, das liegt an der Elbe bei Hamburg.“
Sandig lachte: „Erweitern Sie den kulinarischen Horizont der jungen Dame durch Verabreichung von Labskaus. Es sieht etwas merkwürdig aus, aber man kann es essen.“
Siebtes Kapitel
Die Fahrt nach Norden wurde zu einer reinen Strapaze. Es gab einfach zu viele Autos und vor allem Brummis. Die Frauen wechselten sich mehrfach ab. Trotzdem war Mia noch wach genug, ein echtes Segelschiff und ein echtes altes Frachtschiff zu besichtigen. Es war gut, dass eine Kollegin Lenes aus dem LKA für sie zwei Zimmer in einem Hotel direkt über der Elbe bestellt hatte. Am nächsten Morgen nahmen sie die S-Bahn nach Wedel und stiegen dort in ein Taxi zur Lorenzstraße.
Malte Sobiok hatte sich den Vormittag für sie freigeschaufelt.
„Wir können uns manches sparen“, begann Lene zielstrebig. „Meike hat uns schon alles gestanden, was die angebliche Entführung betrifft. Und die emotionale Annäherung des Versorgers am Lantener See.“
„Die hatte schon früher begonnen.“
„Ach nee.“
„Meike und ich haben uns auf dem Reiterhof Schlüter kennengelernt, aber damals hat sie mir einen gewaltigen Korb verpasst.“
„Lassen Sie mich mal raten: ‚Zurzeit ist mir ein vierbeiniges Pferd lieber als ein zweibeiniger Esel.‘“
„Ich hätte sie gerne geheiratet, als sie schwanger geworden war. Aber sie meinte, eine gute Beziehung sei heutzutage auch ohne Trauschein möglich. Es hat auch geklappt bis zum verflixten siebten Jahr, da bin ich bei einer neuen Kollegin schwach geworden und liebe, von ihr abgewiesene Kollegen haben es Meike sofort gesteckt.“
„Zu der Zeit haben Sie noch für Ihren Bruder Uwe gearbeitet?“
„Nein.“ Malte wurde sichtlich verlegen, und Lene strahlte ihn an: „Herr Sobiok, wir wissen schon länger, das Uwe Teileigentümer des Bienenkorbs in der Kanalstraße ist. Hatte Ihre Tätigkeit bei Ihrem Bruder etwas mit dem Bordell zu tun?“
„Nein. Um den Bienenkorb und die fleißigen Immen hat sich ausschließlich ein Kurt Venna gekümmert.“
So ganz glaubte Lene ihm das nicht, aber weil sie die auskunftsfreudige Stimmung nicht trüben wollte, wechselte sie das Thema. „Wer sind oder waren die anderen Teilhaber am Bienenkorb?“
„Ich kenne nur einen Namen – Erwin Grote.“
„Das glaube ich nun nicht. Meikes Großvater?“
„Ja.“
„Sie haben ihr das je verraten?“
„Nein, nie.“
„Was machte Grote damals beruflich?“
„Wie er das offiziell nannte, weiß ich nicht. Illegal verlieh er Geld zu Wucherzinsen, Geld auch ohne Sicherheiten. Und Uwe brauchte dringend Geld.“
„Wissen Sie noch, wofür?“
„O ja. Über Nacht waren die Brandschutzbestimmungen verschärft worden. Das hieß teurer Umbau und große Investitionen.“
„Das traf auch den Bienenkorb?“
„Und wie, der Umbau wurde natürlich teurer als veranschlagt, Uwe musste sich Geld leihen.“
„Ist er deswegen auf die Idee mit der angeblichen Entführung gekommen?“
„Vermutlich. Aber gesagt oder erklärt hat er nie was.“
„Hm. Sie erinnern sich noch an Sylvia Köhler?“
„Aber ja.“
„Woher kam sie, was macht sie und wohin ist sie von Ihrem Bruder aus gegangen?“
„Gemacht hat sie nichts, sie war eine berufsmäßige Freundin und kam von Erwin Grote, der sie leid geworden war. Auch Uwe meinte oft, sie habe bald ihr Verfallsdatum erreicht, aber sie wollte eine Art Abfindung, doch die kann ich mir im Moment nicht leisten.“
„Augenblick, Herr Sobiok. Meike hat mir erzählt, dass Sylvia eine Woche nach der vorgetäuschten Entführung aus dem Wochenendhaus am Lantener See verschwunden ist.“
Er überlegte gut zwei Minuten: „Stimmt.“
„Das war doch genau zu dem Zeitpunkt, als Alexander Stumm an der Falkenweide erschossen wurde.“
„Richtig.“
Da würde Sylvia Köhler einiges zu erklären haben.
„Wissen Sie, wo wir Sylvia heute finden?“
Sobiok schüttelte den Kopf. „Nein. Uwe hat sie vor Monaten einmal zufällig in der Löbelstraße getroffen. Mehr weiß ich nicht.“ Aber Lene wusste, wo sie sich jetzt erkundigen musste. Sobiok versprach, das von Mia abgetippte Wortprotokoll so schnell wie möglich zu unterschreiben und zurückzuschicken.
Mia fragte schüchtern: „Müssen wir sofort wieder zurück nach Tellheim?“
„Nein, warum?“
„Jetzt sind wir schon mal in Hamburg. Ob wir Zeit für eine Hafenrundfahrt haben?“
Lene ließ sich breitschlagen, und staunte über ihre Binnenlandratte, als sie an zwei Containerriesen vorbeifuhren. Mia gestand, dass es einer ihrer größten Wünsche war, einmal eine Kreuzfahrt möglichst in die Karibik zu machen; Lene wäre nie freiwillig in ein schwimmendes Gefängnis gegangen, aber die Geschmäcker waren halt verschieden: „Was meinst du, sollen wir versuchen, einen Tagesausflug nach Helgoland zu buchen?“
„Das wäre toll, Chefin.“
Mithilfe der Rezeption gelang ihnen das auch, das Wetter blieb schön und der Katamaran schwankte und schlingerte nur sanft und erträglich. Lene staunte über ihr Küken, das nach dem Frühstück an der Rezeption geduldig einen Routenplan organisierte, wie man vom Hotel durch den Elbtunnel nach Süden fahren konnte. Auf der anderen Seite – das Küken und Lenes Navi verstanden sich auf Anhieb ausgezeichnet, was bei Lene nicht der Fall war. Die Rückfahrt war sehr viel angenehmer als die Hinfahrt und zum Dank nahm Lene die aufgekratzte Mia mit zu Marcello, und weihte sie dort in die Vorzüge von Antipasto Romagna und die Qualität eines speziellen Rotweins aus der Toskana ein. Lene machte es Spaß, anderen eine Freude zu bereiten – sie hatte keine Kinder, und Nichte und Neffe wurden von ihrem Bruder und der Schwägerin schon genug verwöhnt.
Während Mia das Protokoll ihres Ausflugs tippte, erstattete Lene bei Staatsanwalt Sandig Rapport.
„Sie wollen also weitermachen?“
„Wissen Sie, unter Trinkern gibt es einen bemerkenswerten Spruch: ‚Halb besoffen ist rausgeschmissenes Geld.‘“
„Wer war es denn nun?“
„Uwe Sobiok brauchte aus zwei Gründen Geld. Er musste den Bienenkorb umbauen und er wollte seine Geliebte Sylvia Köhler auszahlen.“
„Warum hat er sie nicht einfach weggeschickt?“
„Ich vermute, sie wusste zu viel von seinen Geschäften.“
„Die Idee mit der angeblichen Entführung ist ja nicht schlecht. Ob diese Sylvia davon wusste?“
„Ich werde sie fragen.“
„Viel Glück.“
Auch Dr. Xaver Rupp verbreitete Optimismus. „Also: Der Markus Demel ist mit 99,9 Prozent Sicherheit der Erzeuger der Meike Stumm. Die wiederum ist ohne jeden Zweifel die Mutter der kleinen Vera. Den Vater zu Vera kann ich nicht bieten.“
„Warum haben Sie denn das untersucht?“
„Verehrte Frau Hauptkommissar, dank des komplizierten deutschen Erbrechts hängt an solchen Kleinigkeiten oft viel Geld in Form von Pflichtteilen.“
„Nach einem Todesfall.“
„Na klar doch. An dem der Erbende nicht aktiv beteiligt sein darf.“
Lene erinnerte sich an die merkwürdige Formulierung im Testament der Ulrike Stumm. Auf der anderen Seite bestimmte das Erbrecht auch, dass ein Kind als ehelich galt, wenn die Eltern eine bestimmte Frist vor und nach der Geburt amtlich verheiratet waren und zusammen gelebt hatten. Aber das zu klären, war nicht ihre Aufgabe. Auf der Treppe ging sie langsamer. Irgendwie tröstete sie der Gedanke, Alexander Stumm könne gewusst haben, dass Meike ein Kuckuckskind war und er nicht seine leibliche Tochter missbraucht hatte. „O Lene“, stöhnte sie vorwurfsvoll, „du und deine Moral.“
Achtes Kapitel
Von der Löbelstraße zum Bienenkorb in der Kanalstraße waren es höchstens fünf Minuten Fußmarsch, aber KK Ingo Baratsch meinte, es sei auf jeden Fall besser, ein Auto dabei zu haben. Und seine Rostlaube auf vier abgefahrenen, praktisch profillosen Reifen würde kein Mensch als ein Auto der Kriminalpolizei erkennen. Das Büro des Bordells war schon besetzt und eine junge Dame erklärte ihnen, ihr Chef Kurt Venna sei wohl noch zu Hause.
„Löbelstraße 55, ich weiß“, sagte Lene träge. „Wir beobachten ihn schon länger.“
Der keine Trick funktionierte, als sie gegenüber dem Haus einparkten, verließ eine junge Frau eilig das Haus.
„Moment mal“, sagte Baratsch aufgeregt, „die kenne ich doch.“
„Wen?“
„Die Brünette in den engen, gestreiften Hosen da drüben.“
„Und woher“, fragte Lene so neugierig wie indiskret.
„Mia hat sie mir gezeigt … ich weiß wieder, wo und wer. Sie heißt Sofia mit Vornamen und arbeitet als EDV-Technikerin in der Einsatzzentrale im Krötengraben.“
„Na prima“, sagte Lene energisch. „Hinterher! Mit Venna werde ich allein fertig.“
Der kam in aller Seelenruhe an die Wohnungstür geschlurft und weil er keine Spur von Überraschung zeigte, vermutete Lene, dass die junge Frau aus dem Bordellbüro ihn angerufen hatte. Er wollte nicht einmal Lenes Dienstausweis sehen. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich möchte mit Sylvia Köhler sprechen, Herr Venna.“
„Sylvia wohnt schon lange nicht mehr hier.“
„Und wo finde ich sie jetzt?“
Er holte ein zerknittertes Merkbuch aus einer Hosentasche und blätterte. Lene grinste verstohlen. Sie glaubte dem schlechten Schauspieler keine Sekunde, dass er die Adresse erst nachschlagen musste.
„Pelzerstraße 39.“
Die lag am Stadtrand und Lene ärgerte sich, dass sie Baratsch mit dem Auto fortgeschickt hatte und nun wieder Taxi fahren musste.
Die Pelzerstraße 39 war ein kleines Reihenhaus mit einem bunten Vorgarten und einem leeren Carport. Lene klingelte mehrmals vergeblich und ging zur Straße zurück. Dort wartete ein vielleicht zwölfjähriger Junge auf sie: „Wollten Sie zu Sylvia Köhler?“
„Ja.“
„Da haben Sie Pech, die ist verreist!“
„Woher weißt du das?“
„Vor einer Viertelstunde ist sie mit einem großen Koffer aus dem Haus gekommen und da hab’ ich sie gefragt, ob sie verreist. Sie hat ‚Ja‘ gesagt, den Koffer hinten ins Auto gelegt und ist losgefahren.“
„Hm. So ein heller Junge wie du weiß doch bestimmt, was für ein Auto sie fährt und welche Farbe das hat.“
„Na klar“, sagte er stolz. Ein VW Polo himmelblau, Baujahr 2014.“
„Sag’ bloß, du weißt auch noch das Kennzeichen.“
„Aber sicher. T-SK 1413.“
„Ich danke dir, du hast mir sehr geholfen.“
„Bitte, bitte.“
Lene rief sofort in der Einsatzzentrale an. „Gesucht wird eine Sylvia Köhler, unterwegs in einem himmelblauen VW Polo ungefähr Jahrgang 2014. Kennzeichen T-SK 1413. Zu mir ins Präsidium zwecks Vernehmung.“
Die Frau antwortete gelassen: „Geht in Ordnung, Frau Schelm.“
Lene bestellte sich ein Taxi und saß gerade an ihrem Schreibtisch, als die KvD anrief: „Sie haben sich eben nach einer Sylvia Köhler erkundigt?“
„Ja.“
„Wir haben sie, respektive ihren Polo. Sieht aber nicht sehr gut aus.“
„Was soll das heißen?“
„Unfall mit Fahrerflucht, Mainzer Landstraße Höhe der Alzeystraße.“
„Bitte einen Wagen.“
„Der wartet schon auf Sie.“
Lene schnappte sich Mia, die sich verfärbte, als ihre Chefin sie anblaffte: „Verdammt, Mädchen, wo hast du deine Waffe?“ Mia hatte Angst vor der Pistole, aber das wollte sie nicht zugeben.
Die beiden Wagen waren genau in der Mitte der Kreuzung zusammengestoßen. Ein Tankwart hatte den Unfall beobachtet: „Der kleine Blaue ist bei Rot ungebremst in die Kreuzung gefahren. Der Lieferwagen hatte keine Chance zu bremsen oder auszuweichen.“
„Was ist mit dem Fahrer des Lieferwagens?“
„Den musste die Feuerwehr aus dem Trümmerhaufen herausschneiden.“
„Wird er überleben?“
„Vielleicht.“
„Und was ist mit dem Fahrer des blauen Polo?“
„Der Fahrerin“, verbesserte der Kollege. „Der ist wohl wenig oder gar nichts passiert. Die soll über das Feld da Richtung Wald gelaufen sein.“
Nach dem Unfall noch gelaufen? Das grenzte an ein Wunder.
Lene ging vorsichtig auf das Wrack zu und schaute hinein. Keine Spur von einem Koffer. Doch der Deckel des Kofferraums war aufgesprungen und da lag ein beachtlich großer Metallkoffer aus Aluminium.
„Kollegen“, rief Lene laut. „Dieses gute Stück bitte unbedingt sofort in die KTU. Wahrscheinlich ist da drin der Grund verborgen, warum sie wie eine Verrückt gerast ist. Hinter diesem Koffer bin ich her.“
„Etwas groß für Sie, finden Sie nicht auch?“, fragte ein Neuling, der noch nicht wusste, wann man der Hauptkommissarin nicht mehr dumm kommen durfte.
Aber Lene schwieg, nahm Mia an die Hand und ging mit ihr quer über das Feld auf den kleinen Wald zu. Es begann zu dämmern. „Auch wenn Sylvia sich nichts gebrochen hat, ohne Prellungen ist es bestimmt nicht abgegangen und dann kommt sie nicht weit.“
„Sollten wir nicht auf eine Hundestaffel warten?“
„Bis die da ist, wird es dunkel.“ Vor ihnen tauchten dunkle Gebäude auf. „Ein verlassener Hof. Gerade richtig, um sich zu verstecken und auf Hilfe zu warten.“
„Woher soll hier Hilfe kommen.“
„Mia, sie wird ein Handy haben.“
Die Haustür stand weit offen. Lene und Mia gingen vorsichtig hinein und setzten sich so, dass sie die Haustür und den Flur beobachten konnten, solange es noch hell war. In dem alten Gebäude knackte und knisterte es bedrohlich. Nach einer knappen Stunde hörten sie, dass ein Auto auf dem Hof bremste, zwei Türen klappten, Schritte kamen näher. Lene hatte keine Ahnung, warum Mia plötzlich zu keuchen und zu stöhnen und zu ächzen begann und dann wie aus heiterem Himmel die Nerven verlor, ihre Waffe zog, durchlud und hysterisch schrie: „Polizei! Stehen bleiben, oder ich schieße.“ In der Küchentüröffnung erschien eine dunkle Gestalt. Kam auf sie zu und Mia Hollweg schoss, traf auch, die Gestalt fiel nach vorn in die Küche und schrie dabei vor Schmerzen. Mia greinte und wimmerte, Lene erwachte aus ihrer Erstarrung, alarmierte die Kollegen und rief einen Notarzt. Staatsanwalt Sandig erschien auch und knurrte: „Schlafen Sie erst einmal aus!“ Lene konnte Kriminalrat Dembach zur Seite nehmen: „Seien Sie nett zu ihr. Das war wie ein hysterischer Anfall. Da steckt mehr dahinter als ein Kurzschluss einer Kollegin mit wenig Einsatzerfahrung.“
„Keine Sorge, Frau Schelm, wir werden Mia Hollweg fair behandeln.“
Lene schlief nur kurz und schlecht und wäre vor Wut fast geplatzt, als sie ins Büro kam und die Kolleginnen vor dem Radio antraf, wo Meike Stumm ihrer alten Klassenkameradin Karin, heute Redakteurin bei Stadtradio Tellheim, ein Interview gab, in dem Meike Stumm es offenbar darauf anlegte, möglichst viel Porzellan zu zerdeppern oder ihren hagestolzen Großvater Elmar zum Schlaganfall zu treiben.
„Nein, Karin, ich bin nicht entführt worden. Ich bin weggelaufen, weil mein Vater – oder genauer – der Mann, den ich damals für meinen Vater hielt, mich mehrmals vergewaltigt hat. Meine Mutter wollte mir nicht glauben, weil sie mit einem Freund und Geliebten beschäftigt war, von dem ich heute weiß, dass er mein Erzeuger ist. Großvater, den ich auch um Hilfe gebeten habe, hat mir Prügel angedroht, wenn ich weiter so ungeheuerliche Lügen über seinen Sohn verbreiten würde. Ich habe jemanden um Hilfe gebeten, von dem ich nicht wusste, dass er in Geldnöten steckte. Er hat mich in seinem Wochenendhaus verborgen und eine Entführung vorgetäuscht. Die Familie wollte die geforderte Million zahlen und hat einen Geldboten zur Falkenweide geschickt.“
„Moment mal, Meike. Das war doch der Mann, den du damals für deinen Vater gehalten hast?“
„Richtig. Und der bestimmt noch mehr gezahlt hätte, um zu verhindern, dass die Polizei nach den wahren Gründen forschte, warum die Tochter fortgelaufen war.“
Lene gab im Büro Bescheid, dass sie heute Morgen gleich zu einer Recherche losfahre. „Natürlich habe ich mein Handy dabei.“
Markus Demel war noch nicht ins Büro gekommen, hatte aber längst erfahren, dass eine Hauptkommissarin Marlene Schelm, die vor vierzehn Jahren mit einer Sonderkommission vergeblich nach Meike Stumm gesucht hatte, über die Rückkehr der verlorenen Tochter informiert war.
„Was wollen Sie wissen? Wenn Sie nichts dagegen haben, sollten wir uns in den Garten setzen. Das Wetter ist wunderschön und ich muss heute noch einen Haufen reicher, aber bornierter Männer davon überzeugen, mehrere Millionen in ein Projekt zu investieren, das einigen nicht gefällt.“
„Aber Ihnen.“
„Ja, sehr sogar, wenn ich an mein Honorar denke.“
„Kann man uns draußen belauschen?“
„Nein.“
„Ich würde gerne etwas mehr über Ihren Freund Alexander Stumm erfahren.“
„Freund?“ Demel lachte bitter und böse. „Das habe ich auch mal geglaubt. Aber das ist lange her; inzwischen bin ich klüger geworden. Alexander wusste gar nicht, was Freundschaft ist, geschweige denn Liebe. Ich durfte ihn bewundern – ja – auch beneiden. Aber er hat mich ausgenutzt. Denn dazu waren anderen Menschen seiner Meinung nach ja da.“
„Er dachte also genau wie sein Vater.“
„Richtig.“
„Und wie hat seine Schwester Ulrike gedacht?“
„Haben Sie sie denn noch gekannt?“
„Ja.“
„Rike mochte mich, und ich mochte sie. Aber als mein sogenannter Freund Alexander und sein Vater Elmar bemerkten, dass aus dem „Mögen“ mehr zu werden drohte, bekam ich Hausverbot bei den Stumms. Was war ich denn? Ein kleiner Abiturient aus sehr bescheidenen Verhältnissen, der sich abstrampeln musste, seine erst Million zusammenzubringen. So einer war es doch nicht wert, sich Hoffnungen auf eine Ulrike Stumm zu machen.“
„Nicht wert?“
„Ja, so haben sich Vater und Sohn ausgedrückt.“
„Und für diese Kränkung haben Sie sich gerächt?“
„Gerächt? Wie denn. Wann denn?“
„Sie waren Trauzeuge bei Alexander Stumm und Liane Grote.“
„Richtig. Die Kränkung sollte vor meinen Augen quasi amtlich Brief und Siegel erhalten.“
„Sie kannten Liane Grote?“
„Sie müssen anders herum fragen: Welcher junge Mann aus Tellheim kannte Liane Grote, die Miss Leiningen mit der preisgekrönten Figur nicht? Wer hatte den schönen Busen noch nicht gestreichelt?“
„Sie haben kurz vor der Hochzeit mit Liane Grote geschlafen und sie geschwängert, so kurz vor der Hochzeit, dass Meike als Alexanders Kind durchging, also als Kuckuckskind aufwuchs.“
„Woher wollen Sie das wissen? Das ist doch Blödsinn.“
„Von Ulrike Stumm weiß ich das, indirekt. Sie hat in ihrem Testament eine ganz ungewöhnliche Formulierung gewählt. Sie vermache ihr Vermögen der Tochter von Alexander Stumm und Liane Grote, nicht einfach ihrer Nichte Meike. Hatte Rike was bemerkt?“
Demel bohrte mit einem Zeigefinger in seinem Ohr. „Ja. Und sie war wütend, dass ich sie so rasch vergessen konnte und das ausgerechnet mit diesem Flittchen Liane.“
„Hat Alexander Stumm gewusst, dass er nicht der leibliche Vater von Meike ist?“
„Keine Ahnung.“
„Hat Meike etwas gewusst? Ist sie deswegen fortgelaufen?“
„Auch das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Meike ihre Mutter und mich kurz zuvor hier bei mir im Bett überrascht hat.“
„Schlafen Sie heute noch mit Liane Stumm?“
„Ab und zu, ja. Zwischen ihr und Alexander lief schon seit Jahren nichts mehr.“
„Dann ist Ihre Rache für die Kränkung im Hause Stumm ja zu hundert Prozent gelungen.“
Demel verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Es betrübte ihn nicht sehr, dass Lene gleich danach aufbrach.
Sie schaltete, was sie selten tat, auf der Fahrt in den Lendersweg das Autoradio an und hörte so von dem Großbrand in der Kanalstraße, die für den Durchgangsverkehr gesperrt wurde. Alle Bewohner und Besucher des Bienenkorb genannten Bordells hatten rechtzeitig und unverletzt das Gebäude verlassen können.
Im Lendersweg öffnete Meike Stumm die Tür ihres Elternhauses.
„Haben Sie eine Stunde Zeit für mich?“
„Warum? Ist was passiert?“
„Ja und nein, Frau Stumm. Wir müssen nur noch ein paar Lügen und Ausflüchte aus dem Weg räumen.“
„Was soll das heißen?“
Neuntes Kapitel
Marlene Schelm, Karl Dembach und Jürgen Sandig drehten an allen erreichbaren Knöpfen, um Mia Hollweg einen Prozess zu ersparen, nachdem Sylvia Köhler an den Folgen des Bauchschusses gestorben war. Mia verriet bei der internen Untersuchung ihr „Geheimnis“, für das sie sich so lange geschämt hatte: Sie war als Schülerin vergewaltigt worden und in dem dunklen Bauernhof mit den sich nähernden Schritten war die Erinnerung wieder über sie hereingebrochen. Sie schied aus dem Polizeidienst aus, und Ex-Kollege Ingo hielt ihr so lange die Treue, bis sie bereit war, mit ihm zum Standesamt zu gehen. Meike Stumm und Kollege Heilmann trennten sich, was Lene sehr recht war. Markus Demel änderte sein Testament und vermachte sein inzwischen beachtliches Vermögen seiner „leiblichen Tochter“ Meike Stumm. Nachdem eindeutig feststand, dass der Metallkoffer aus Sylvias Auto einmal Alexander Stumm gehört hatte, wurde der Mordfall Alexander Stumm offiziell abgeschlossen. Auf Uwe Sobiok wartete eine Anklage wegen Nötigung, Vortäuschen einer Straftat und Erpressung. Kurt Venna wurde arbeitslos. Den Bienenkorb riss man nach den Brandschäden ab, Erwin Grote verlor viel Geld. Malte Sobiok verlegte seine Firma nach Tellheim und zog mit Meike Stumm zusammen, genau wie ihre Mutter Liane und Meikes Erzeuger Markus Demel. Am härtesten – so würde er es wohl empfinden – traf es Erwin Grote; das Finanzamt interessierte sich rückwirkend für seine Geschäfte und errechnete eine Steuerschuld, die jedem Betroffenen die Tränen in die Augen trieb. Die sich anschließende Geldstrafe ruinierte ihn gänzlich. Sofia Bartels verlor ihren Job in der Einsatzzentrale am Krötengraben und traf, als sie ihren Kummer ertränken wollte, den ebenfalls am Boden zerschmetterten Erwin Grote. Man traf sich im gemeinsamen Leid und beschloss, dass vier Schultern mehr tragen konnten als zwei. Kurt Venna wurde nicht nur arbeitslos, sondern fing sich eine Freiheitsstrafe ein, weil er in seinem „Erotischen Fotostudio“ Minderjährige beschäftigt hatte.
Für Lene Schelm war der „Entführungs“-Fall Meike Stumm endgültig abgeschlossen, als sie eines Sonntags im Stadtpark an der großen Fontäne Elmar Stumm begegnete, der höflich grüßte und stehen blieb: „Ich möchte mich für eine Unhöflichkeit vor vierzehn Jahren bei Ihnen in aller Form entschuldigen, Frau Schelm. Vera kennen Sie ja schon. Wir verstehen uns von Tag zu Tag besser. Manchmal gewinne ich sogar schon eine Partie Memory.“
Ende