Читать книгу Auswahlband 11 Top-Krimis Herbst 2018 - Thriller Spannung auf 1378 Seiten - A. F. Morland - Страница 6

III. Wenn die Kirche brennt

Оглавление

Kriminalroman

Personen

Bernd Jokisch (Joko): Brand-Sachverständiger im Vorruhestand

Helga Schmied: Eine Schülerliebe Jokos

Annegret Stengel: Eine Schuldfreundin von Helga Schmied

Carsten Steinfeld: Helgas Ehemann, vermisst seit einem Besuch einer Leipziger Messe zu DDR-Zeiten

Della Korbey: Klavierlehrerin und Freundin Helgas in Hattingen

Karin Heise: verheiratete Schwester der ermordeten Julia Hoppe und

heute Angestellte im Essener Schulamt

Gernot Finck: kurzzeitiger Freund von Julia und Karin Hoppe

Daniela Landmann, geborene Finck: Architektin in Kettwig und Vorsitzende eines Altschülerinnenverbandes

Peter Landmann: Dipl.Ing., Danielas Ehemann und ein Cousin von Jürgen Heise

Jürgen Heise: Lokaljournalist

Marlene (Lene) Schelm: Erste Kriminalhauptkommissarin im Tellheimer Referat R – 11

Ingo Baratsch: jüngster Kommissar im R – 11

Mia Hollweg: Kommissarsanwärterin im R – 11

Jürgen Sandig: Staatsanwalt in Tellheim

Egon Kurz: Leiter der Tellheimer Kriminaltechnik

Dr. Xaver Rupp: Gerichtsmediziner in Tellheim

Beate Lorenz: Kriminalhauptkommissarin beim Staatsschutz, eigentlich für alles nicht zuständig

Alle Namen und Taten, Personen und Ereignisse, Geschäfte und Organisationen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

An einem sonnigen Frühsommermorgen beschloss Joko spontan, seiner blonden Helga aus Schülerzeiten nicht länger in Gedanken nachzuhängen, sondern sie aktiv zu suchen. Er war Mitte fünfzig, rüstig und gesund und hatte es sich finanziell leisten können, vorzeitig in Rente zu gehen (oder, wie er das nannte, die „Tretmühle“ rechtzeitig vor dem ersten Herzinfarkt zu verlassen) Helga und er hatten kurz nacheinander Abitur gemacht; sie wollte Apothekerin werden und hatte begonnen, ein damals noch verlangtes Herbarium anzulegen, weswegen er mit ihr an vielen Wochenenden im Wald und auf Magerwiesen verschwand, um nach Kräutern, seltenen Pflanzen und Blüten zu suchen, die dann getrocknet, in ein dickes Buch eingeklebt und vor allem bestimmt werden mussten. Bei ihren botanischen Exkursionen begegneten sie nur selten anderen Pärchen, die sich meist durch ihre Anwesenheit eindeutig gestört fühlten.

Nach so einer Begegnung mit einem jungen Paar kicherte Helga: „Gerade mal siebzehn und schon mit einem Kerl im Wald unterwegs.“

„Kennst du sie? Und ihn?“

„Sie kenne ich. Julia Hoppe ist eine Klasse unter mir. Ihn kenne ich nicht.“

Sie trafen das Pärchen nie wieder. Später las er in der WAZ, dass eine Schülerin Julia H. spurlos verschwunden und von ihren Eltern und der Polizei gesucht werde. Als zum Schluss ein Foto der Vermissten Julia abgedruckt wurde, glaubte er, das Mädchen zu erkennen, das Helga und er mit dem unbekannten jungen Mann zusammen gesehen hatten.

Die Suchaktionen nach Pflanzen, Gräsern und Blättern und Blüten in meist menschenleere Wäldern, und an sonnigen Waldrändern ließen zwischendurch eigentlich Zeit für andere Tätigkeiten, an denen ihm gelegen war, an denen Helga Schmied allerdings nicht wirklich interessiert war – ihr reichte es, wenn man ihren schönen, züchtig verhüllten Busen aus anständiger Distanz bewunderte. Dass Männer und Frauen auch Unterleibe besaßen und manchmal von Hormonen angetrieben wurden, war ihr theoretisch bekannt, aber praktisch für sie jedoch ohne Bedeutung.

Joko hatte sich erst wieder an sie erinnert, als er im Fernsehen Bilder eines brennenden Kirchturms sah, in den ein Blitz eingeschlagen war. In diese katholische Kirche war sie jeden Sonntag gegangen, zur Freude ihrer ebenfalls erzkatholischen Eltern, die Joko mächtig verübelten, dass er Protestant war und nicht im Traum daran dachte, die Konfession zu wechseln. Ab und zu begleitete er die Tochter Schmied in die Messe, um bei ihr und den Eltern Punkte für eher unkirchliche Tätigkeiten zu sammeln, hielt den Rest aber für Hokus Pokus, und vermutete manchmal schon, sie ginge in erster Linie wegen des jungen, sehr gut aussehenden dunkelhaarigen und dunkeläugigen Priesters so regelmäßig in die Kirche mit dem hohen Turm. Ging. Pater Milan war Ausländer, sprach zwar ein perfektes Deutsch, aber predigte alle drei oder vier Wochen in einer Sprache, von der Joko nicht ein Wort verstand. An den Sonntagen waren alle Stellplätze rund um St. Hubertus mit Autos zugeparkt, die Kennzeichen aus allen möglichen Orten des Ruhrgebietes trugen. Die Gläubigen unterhielten sich in Sprachen, die Joko noch nie gehört hatte.

Am stärksten beeindruckte Joko an allen Sonntagen, die er Helga zur Messe begleitete, die Schulfreundin Annegret, eine sehr hübsche, frühreife und etwas ordinäre Freundin, die sich gerne ansprechen und einladen ließ und es offenkundig nie lang mit einem Freund aushielt. Ihre Hotpants waren aber auch geradezu eine Aufforderung, sie anzufassen und zärtlich zu kneifen, was sie sich meist auch gerne gefallen ließ. Joko hatte nie verstanden, wie sich zwei so unterschiedliche Mädchen so eng anfreunden konnten. Annegret liebte die Männer und ließ sich von ihnen gerne anfassen, später wuchs bei Joko der Verdacht, dass sie dafür auch Geld nahm. Er konnte seine Helga so oft wie nur denkbar in die Messe begleiten, über Küsse auf den schönen Busen kam er nicht hinaus. Annegret hätte ihm sicher mehr erlaubt, aber er fürchtete beste Freundinnen und ihre Neigung zu Tratsch und Klatsch.

Bis Essen-Bergerhausen brauchte Joko eine halbe Stunde, gerade lange genug, sich eine halbwegs überzeugende Ausrede dafür einfallen zu lassen, dass ein Grauhaariger mit beginnender Glatze eine früher einmal blonde Gleichaltrige suchte, die er schon vor vierzig Jahren aus den Augen verloren hatte.

Das Haus in der Richard-Wenger-Straße erkannte er sofort wieder, holte tief Luft und klingelte parterre bei Schulte. Die energische Frau, die an die Wohnungstür kam, war viel zu jung, um etwas zu wissen. Trotzdem spulte er sein Märchen herunter. „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung, mein Name ist Bernd Jokisch und ich suche in einer Erbschaftsangelegenheit eine Helga Schmied, die einmal in diesem Haus gewohnt hat.“

„Wann hat sie denn hier gewohnt?“

„Als letztes gesichertes Datum habe ich den August 1961.“

„Tut mir leid, wir wohnen erst seit 2000 hier.“

„Dann danke ich für ihre Hilfe und Entschuldigung für die Störung.“

„Bitte, bitte.“

Gegenüber kam ein grauhaariger Mann an die Tür gehumpelt, hörte sich Jokos Märchen geduldig an und musste passen: „Ob und bis wann hier eine Familie Schmied gewohnt hat, weiß ich leider nicht.“

„Pech.“

„Hat sie was geerbt?“

„Unter Umständen sogar einen ganzen Batzen.“

„Wenn Sie das Geld nicht loswerden, sind Sie herzlich eingeladen, mit dem Zaster wiederzukommen. Ein Kräuterschnäpschen gefällig?“

„Vielen Dank, nein, ich will noch meine Runde durch das Haus machen. Und da rieche ich besser nicht nach Alkohol.“

„Ganz, wie Sie meinen.“

Im ganzen Haus zog er nur Nieten.

Doch Joko war zäh, wenn er sich etwas vorgenommen hatte, schließlich hatte er noch zwei Asse in der Hinterhand. Das Erste war die Apotheke in der Mellinghauser Straße, in der sie nach dem Abi und vor Semesterbeginn gearbeitet hatte. Der Name hatte ihn schon damals amüsiert, ein Raubvogel, Adler, Falke oder Habicht oder so. Er lief die Richard-Wenger-Straße bis zur Kreuzung mit der Mellinghauser Straße und konnte von dort das Apothekenschild lesen, „Sperberapotheke.“ Apothekenpreise und Raubvögel passten irgendwie schon zueinander. Joko sprach kurz vor der Mittagspause die älteste Mitarbeiterin an, die sich aber an eine Helga Schmied nicht erinnern konnte. Also musste er seinen letzten Joker ausspielen.

Er hatte sie vor dem Abi ab und zu mit dem Auto in der Kurfürstenstraße abgeholt, aber das Viktoria-Gymnasium gab es nicht mehr, an der verriegelten und verrammelten Tür des alten Gebäudes baumelte nur ein Schild. „Das Viktoria-Gymnasium ist geschlossen, Auskünfte und Anfragen werktags von neun bis zwölf Uhr unter der Nummer …“

Das war nun echtes Pech, aber noch wollte Joko nicht aufgeben. Wie hatte diese Annegret noch geheißen? Blume, Blüte, Strauss, Rosen, nein, Stengel. Und Google half ihm, in der Sibyllastraße gab es einen Imbiss S. Stengel. Dort in der Straße hatte Annegret Stengel gewohnt, direkte Nachbarin von Rommenhöller-Kohlensäure. Imbiss klang nicht schlecht, er aß gerne frische Reibekuchen und hatte viele seiner Dienstreisen ins Ruhrgebiet auch nach Imbissen mit frischen Reibekuchen geplant. Sie schmeckten nur richtig, wenn man sie stehend im Freien aß und sich an den noch nicht ausgekühlten Reibeplätzchen Finger, Lippen und Zunge verbrannte. Nur Weicheier nahmen zur Kühlung Apfelmus statt Bier. Ob es bei Annegret diese Köstlichkeiten gab? Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Und etwas anderes hatte er für heute nicht vor. Gelegentlich packte ihn schon mal die Rentnerkrankheit Langeweile.

Joko hätte sie auf der Straße nicht wiedererkannt, sie war erschreckend alt geworden und von ihrer leicht ordinären, aber verführerischen Attraktivität war nichts mehr geblieben. Er betrat den Imbiss und sah sich um. Die Frau hinter dem Tresen schaute nach seinem lauten „Guten Tag“ hoch, zögerte und fragte endlich unsicher: „Joko?“

Wenn sie seinen alten Spitznamen nicht benutzt hätte, hätte er sie nicht erkannt.

„Ja. Stengelchen?“

„Genau. Was treibt dich in diese Gegend?“

„Erinnerungen, ich habe im Fernsehen den brennenden Turm von St. Hubertus gesehen. Jetzt wollte ich mir mal die Gegend ansehen und nach alten Bekannten und Freunden schauen.“

„Seit sie diese blöde Autobahn gebaut haben, hat sich das Viertel schwer verändert. Wer konnte, ist weggezogen.“

„Aber du bist geblieben.“

„Notgedrungen, dieser Bau ist alles, was uns noch geblieben ist. Den Rest hat mein Vater versoffen und verzockt.“

„Und was ist mit deiner Mutter?“

„Die hat schon vor zehn Jahren Selbstmord begangen.“

„Das tut mir leid, Stengelchen.“

„Besser, als wenn sie das ganze Elend hier noch erlebt hätte.“

„Hm.“

„Und wie ist es dir ergangen?“

„Ganz ordentlich. Ich konnte mich früher zur Ruhe setzen und lebe jetzt in Herdecke mit zwei Seen quasi vor der Haustür. Dem Hengstey- und dem Harkortsee. Vielleicht lerne ich noch mal segeln. Und wenn ich einen größeren Schritt über einen winzigen Bach mache, bin ich in der Nachbarstadt Wetter. Mir geht’s eigentlich sehr ordentlich, und jetzt habe ich Hunger. Ich bin schon den ganzen Vormittag unterwegs auf der Suche nach Helga Schmied. Habt ihr beiden noch Kontakt?“

„Nein. Sie ist schon vor Jahren weggezogen.“

„Und in welcher Apotheke hat sie gearbeitet?“

„Wieso Apotheke?“

„Sie wollte doch Pharmazie studieren.“

Annegret zog verächtlich die Nase hoch: „Studieren? Dass ich nicht lache. Sie wollte einen weißen Kittel tragen, mehr nicht. Das Studium hat sie schon nach der ersten nicht bestandenen Zwischenprüfung aufgegeben und hat lieber geheiratet.“

„Und wen? Fragte er gleichmütig. Die angeblich so dicke Freundschaft hatte also nicht lange gehalten.

„Du kennst ihn doch.“

„Wen?“

„Deinen Nachfolger. Carsten Steinfeld.“

„Nein, kenne ich nicht.“

„Das ging ruckzuck. Du warst gerade am Horizont verschwunden, da hatte sie sich schon den Steinfeld geangelt. Der war älter und verdiente schon gut. Kann ich dir was zu essen anbieten?“

„Was hättest du denn?“

„Hausgemachte Erbsensuppe mit Rauchspeck.

„Klingt gut. Nehme ich gerne.“

Er war der einzige Gast im Imbiss. Das Geschäft lief sichtlich nicht gut. Aber so konnten sie sich ungestört unterhalten.

Seine Helga musste Steinfeld gut ein Jahr nach dem Abi geheiratet haben. Carsten Steinfeld war fast zehn Jahre älter und arbeitete als Verfahrenstechniker bei Edelstahl Witten. Das Paar war nach Hattingen verzogen.

„Hast du eine Anschrift oder Telefonnummer?“

Sie senkte die Stimme, obwohl außer ihnen keiner im Raum war: „Die hat keiner.“

„Was soll das heißen, Stengelchen?“

„Er war von der Firma aus regelmäßig auf der Leipziger Messe. Und von einer Messe ist er nicht mehr in die Bundesrepublik zurückgekommen.“

„Warum denn nicht?“

„Auch das weiß keiner genau. Ich habe Helga Jahre später einmal zufällig in Dortmund-Romberg im Zoo getroffen. Und da hat sie mir erzählt, dass die Polizei vermute, er sei entführt worden und werde nun irgendwo in der DDR oder in der Sowjetunion gefangen gehalten.“

„Gab es denn dafür einen Grund?“

„Entweder eine der hübschen Messehelferinnen mit Stasiauftrag oder seine Kenntnisse als Stahlkocher. Sie wusste es nicht und wartete in ihrem Haus in der Feldstraße auf die Rückkehr ihres Helden.“

„Ganz alleine? Hatte sie dort denn Freunde oder gute Bekannte?“

„Wenn du unter Freunden auch etwas fürs Bett meinst, glaubte ich das nicht. Angefreundet hatte sie sich wohl mit einer Nachbarin, die im Rollstuhl saß und teilweise gelähmt war. Ohne Krücken oder Hilfe ging bei Della gar nichts mehr.

„Krebs? Und wieso Della. Du meinst wohl Bella.“

„Nein, Della. Nie gelesen oder gehört von Rechtsanwalt Perry Mason und seiner rechten Hand Della Street?“

„Nein, tut mir leid.“

„Es war auch kein Krebs, sondern ein Verkehrsunfall. Mit Della hat sie viel unternommen. Della hatte sich von dem schuldigen Fahrer vor Gericht das Geld für ein umgebautes spezielles Auto erstritten. Mit dem die beiden Frauen ordentlich herumgegurkt sind. Della schwamm sehr gut und viel und deine Helga hat mitgemacht. Schon beim Aussteigen und Einsteigen brauchte Della die Hilfe deiner Helga.“

„Sie ist und war nie meine Helga.“

„Aber du hättest nichts dagegen gehabt, wenn sie’s geworden wäre.“

„Gut möglich. Und was macht Helga heute?“

„Die hat ein paar Jahre in Hattingen auf ihren Carsten gewartet und ist dann ohne Abmeldung, ohne Piep und Kommentar, in eine andere Stadt gezogen. Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihr gehört oder gesehen.“

„Und was ist mit dieser Della? Wovon hat die gelebt?“

„Sie hat Klavierunterricht gegeben.“

„Also kein Lebenszeichen von deiner alten Schulfreundin Helga?“

„Mit Schulfreundin war bald nichts mehr. Du kannst dich noch an Pater Milan erinnern?“

„Kann ich.“

„Deine Helga war verknallt in ihn, aber man hat ihn mit mir in der Sakristei erwischt. Ich weiß nicht, was mit ihm daraufhin geschehen ist. Ich musste vom Viktoria runter und habe mich mit allen möglichen Jobs über Wasser gehalten.“

„Du bist nicht verheiratet?“

„Nein, ein katholisches Mädchen, das einen viel versprechenden jungen Priester verführt und dabei ertappt wird, hat es damit nicht so leicht.“ Sie seufzte: „Und wie ist es mit dir?“

„Seit jetzt über fünfzig Jahren Junggeselle. Nicht immer keusch, aber die Richtige ‚für auf Dauer‘ ist halt nicht vorbeigekommen.“

„Kann passieren. Was hältst du von einem ordentlichen Bier?“

„Gibt es hier denn noch gemütliche Kneipen?“

„Ich kann dir eine in der Eleonorastraße zeigen.“

„Läuft die denn gut?“

„Sie muss sich immer noch von dem Düsseldorfer Nichtraucherschlag erholen. Sonst können wir zu mir gehen. Da gibt es auch Bier und dazu Aschenbecher, ich weiß auch, wie man den Rauchmelder abschaltet.“

„Klingt gut, Stengelchen, machen wir.“

Bis zur Wallotstraße war es nicht weit. Und er war erschrocken, wie hässlich die Mellinghauser Straße geworden war. Verglichen damit lebte er in seinem Schnodderbusch wie im grünen Paradies. Annegret erzählte noch von ihrem einzigen Besuch in der Feldstraße, bei dem sie sogar Della kennengelernt hatte. Della – sehr dünn, streng und geduldig – gab nebenbei Klavierunterricht, und der unvergleichliche Carsten hatte gemeint: ‚Leicht an Kilos, aber schwer an Grips.‘ Ob sie dort noch lebte, wusste Annegret nicht. Sie behauptete, noch trinkbares Export im Keller zu haben. Mit dem deutschen Pils konnte man Joko jagen.

„Kannst du mir erklären, warum man Viktoria dicht gemacht hat?“

„Erklären? Nein. Es gab schon seit Jahren Gerüchte, dass die Schule nicht mehr zu halten sei, zu wenige Anmeldungen. Konkurrenz, was weiß ich. Weniger Spanisch gefragt, dafür mehr Computer. Mehr Pepp, weniger ‚Wir sind alle eine große Familie‘. Erklären kann ich es dir nicht.“

„Aber es gab doch sicher einen Altschülerinnenverein?“

„Den gibt es immer noch, den organisiert seit Jahren eine Architektin in Kettwig.“

„Du hast sicher den Namen, eine Adresse und eine Telefonnummer.“

„Habe ich alles, schreibe ich dir auf. Daniela Landmann und wenn ich dir einen guten Rat geben darf: Mail ihr lieber, sie ist so viel unterwegs, dass man sie kaum ans Telefon bekommt.“

„Kein Handy?“

„Doch, aber die Nummer behält sie für sich, sie wolle auch mal eine ruhige halbe Stunde haben, sagt sie.“

„Verstehe ich, das ginge mir auch so. Und die letzte Anschrift, die du von Helga kennst, war Hattingen Feldstraße 33?“

„Oder 44 oder 55. Das habe ich mir nicht gemerkt.“

„Ja, danke.“

„Du trauerst ihr immer noch nach?“

„Nein. Ich habe mich über die Art geärgert, wie sie mich auf der Straße verabschiedet hat, während er ihr grinsend das Händchen hielt, und das habe ich ihr bis heute nicht vergessen. Mehr ist da nicht.“

„Und warum suchst du sie dann so verbissen?“

„Verbissen?“

„Ja, sicher.“

„Nein, nicht verbissen, ich möchte nur gerne wissen, was aus ihr geworden ist. Neugier oder vielleicht auch Schadenfreude, wenn sich ihr Carsten wegen einer anderen verflüchtigt hat.“

So ganz glaubte sie ihm das nicht, und weil sie ihn das spüren ließ, lehnte er eine dritte Flasche Export dankend ab und fuhr nach Hause.

Er wusste genau, dass er hätte bleiben können, sie war nicht nur allein, sondern auch einsam; aber sein bequemes Bett war ihm wichtiger. Das wollte er ihr nicht sagen, das hätte sie natürlich beleidigt und es gab für ihn keinen Grund, sie zu kränken. Mit Pater Milan hatte sie eine Riesendummheit begangen, aber – so, wie es aussah – dafür auch mächtig gebüßt.

Am nächsten Morgen wachte Joko um acht auf und hatte bis neun Uhr gefrühstückt und eine ausführliche Mail an Daniela Landmann geschickt. Ab neun Uhr versuchte er eine halbe Ewigkeit, unter der Nummer, die an der Eingangstür vom Viktoria ausgeschildert war, jemanden zu erreichen, bis sich endlich ein Frau einstellte: „Schulamt der Stadt Essen, Heise ist mein Name. Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“

„Guten Morgen, Frau Heise, mein Name ist Bernd Jokisch. Ich möchte in einer etwas komplizierten Erbschaftssache eine ehemalige Schülerin des Viktoria-Gymnasiums finden, von der ich leider nur eine gesicherte Adresse aus dem Jahre 1961 habe.“

„Ach du meine Güte. Früher geht’s nicht?“

„Nein. Helga Schmied hat 1955 oder 1956 Abitur gemacht. Hilft Ihnen der Geburtstag?“

„Vielleicht.“

„15. September, in Essen oder in Düsseldorf.“

„Moment mal bitte!“ Joko hörte das leise Tasten-Klappern eines Computer-Terminals. „Ja, die Schülerin hat es auf dem Viktoria Gymnasium gegeben.“

„Prima. Haben sie die heutige Adresse und ihren neuen Namen? Sie hat geheiratet, das habe ich schon herausgefunden.“

„Den neuen Familiennamen und die aktuelle Adresse habe ich nicht. Die dürfte ich Ihnen auch nicht herausgeben. Wie war Ihr Name noch einmal?

„Bernd Jokisch. Abitur auf dem Helmholtz.

„Tut mir leid. Da müssen Sie sich zum Einwohneramt bemühen.“

„Ich habe heute Frau Daniela Landmann gemailt. Sie organisiert den Altschülerinnen-Verein …“

„Ich weiß.“

„Sie hat aber noch nicht geantwortet.“

„Lieber Herr Jokisch, selbst wenn ich alle meine Vorschriften missachten wollte, ich kann Ihnen nicht helfen, weil ich die Anschrift nicht habe. Tut mir echt leid.“

„Schade, da lässt sich nichts machen. Vielen Dank für Ihre Mühe.“

Eine Mail-Antwort von Daniela Landmann gab es noch nicht. Aufgeben?

Nicht so schnell. Ein, zwei Tage konnte er noch dranhängen. Unmittelbar nach dem Ausscheiden aus der Firma hatte er noch Aufträge für Gutachten angenommen, aber das war ihm zu lästig geworden. Vor allem der ewige Termindruck machte ihm immer mehr zu schaffen. Und Skat oder Schach halfen über ein, zwei Abende hinweg, waren aber für ihn auf Dauer auch keine Lösung.

Gegen Mittag klingelte Olga Paschke. Als Haushaltshilfe war sie eine Perle, als Gesprächspartnerin die Pest.

„Sie stören, Herr Jokisch. Sie hatten mir doch versprochen, Sie wären heute unterwegs und würden mir nicht immer vor die Füße laufen oder über den Staubsauger stolpern.“

„Meine Versprechen halte ich, Frau Paschke. Ich fahre nach Hattingen.“

Die Erfindung des Navis war vielleicht doch nicht so schlecht. Er hätte mithilfe einer Straßenkarte nie auf Anhieb die Feldstraße gefunden. 33 oder 44 oder 55. An jeder Haustür spulte er – gestatten, Bernd Jokisch – in höflichster Manier sein Märchen von der möglichen Erbschaft einer Helga Schmied herunter, die nach ihre Heirat Steinfeld hieß und hier in der Straße mal gewohnt haben sollte. „Wissen Sie zufällig, wohin das Ehepaar umgezogen ist?“

Er handelte ich drei Nieten ein und wunderte sich. Stengelchen hatte auf ihn nicht den Eindruck gemacht, als wolle sie ihn veräppeln oder täuschen. Das Rathaus hatte wohl schon geschlossen, das Einwohneramt konnte er auch noch morgen heimsuchen. Er aß schlecht zu Mittag, der falsche Hase schmeckte nach nichts, nicht einmal nach Schrot- oder Pfefferkörnern; nur halb gesättigt bummelte durch die Stadt, wobei er den Eindruck hatte, dauernd beobachtet zu werden, bis er ein Straßen-Café fand, das für ihn noch einen unbesetzten Tisch im Schatten freigehalten hatte. Die Auskunft verband ihn mit der Zentrale der Edelstahlwerke Witten und dort musste er immer wieder erklären, was er wollte. Mit einer Stelle sprechen, die ihm Auskunft über einen ehemaligen Mitarbeiter Carsten Steinfeld geben konnte. Endlich hatte er ein kratzbürstige, heisere Frau an der Strippe: „Was wollen Sie denn von Carsten Steinfeld?“

Joko fand, dass sie das eigentlich nichts anging, und log deshalb höflich: „Ich schulde ihm noch dreitausend Euro, die wollte ich ihm jetzt geben.“

„Mein Gott, ein ehrlicher Schuldner. Das gibt’s noch?“

„Ein Mann, ein Wort. Er hat mir mal für dreitausend Euro während einer Leipziger Messe seine Begleiterin und sein Hotelzimmer überlassen. Sie war das Geld wert, das Zimmer weniger.“

Damit hatte er wohl überzogen, die heisere Kratzbürste legte wortlos auf.

Als er nach Hause kam, packte seine Putzfee Olga gerade zusammen: „Herr Jokisch, Sie brauchen unbedingt neue Bettwäsche.“

Und als sie sein verzweifeltes Gesicht bemerkte, tröstete sie: „Wenn Sie wollen, fahre ich mit Ihnen mal nach Dortmund zum Einkaufen.“

„Das wäre großartig. Zum perfekten Hausmann fehlt mir doch noch viel, wie?“

Sie nickte zustimmend und schaukelte in ihre Nuckelpinne davon. Olga Paschke hatte es nicht leicht gehabt. Ihren Mann hatte es zur See gezogen und er war bei der Besetzung Norwegens mit seinem Zerstörer auf den Grund eines Fjords gegangen. Danach hatte Olga gelernt, Granaten zu drehen, was nach dem Mai 1945 nicht mehr so gefragt war. Als Putzfrau, Haushälterin und Aushilfe hatte sie es geschafft, ihrer Tochter eine Ausbildung als Fremdsprachen-Sekretärin zu ermöglichen. Die jetzt verheiratete Tochter lebte in Neuseeland und erinnerte sich allenfalls zu Weihnachten mit einer Karte an ihre Mutter.

Joko setzte sich nach dem Rentnerschlaf über Mittag an den Computer und schrieb noch drei Absätze seines Artikels „Brandschutz im Alltag“ für Heim und Haus , und verlor dann alle Lust an dem Thema. Das vereinbarte Honorar war auch nicht so, dass es massive Unlustgefühle besiegt hätte.

Zum Glück lief eine Mail ein, die ihn ablenkte. Daniela Landmann antwortete: Lieber Herr Jokisch. Danke für Ihre Mail. Leider kann ich Ihnen nicht wirklich helfen. Helga Schmied hat mir noch gemailt, dass sie nach ihrer Heirat jetzt Steinfeld heiße und mit ihrem Mann nach Hattingen ziehe. Ihre dortige Adresse hat sie mit nicht mehr mitgeteilt. Vor zwei Jahren hat sie noch einmal gemailt, sie trete aus dem Altschülerinnenverein aus, weil sie auswandere. Keine Ahnung, keine Silbe, wohin. Seither habe ich von ihr oder über sie nichts mehr gehört. MfG Daniela Landmann.

In Wetter hatte Joko einen Laden entdeckt, der selbstgebrautes Bier verkaufte. Es schmeckte und enthielt so viel Alkohol, dass er nach der zweiten Flasche gut abgefüllt zu Bett sank und traumlos tief schlief.

Der nächste Morgen war nicht so angenehm. Irgendein Arschloch hatte in der Nacht aus allen vier Reifen seines Autos die Luft gelassen. An Wegfahren bis zu seiner Werkstatt war nicht zu denken.

Der Meister war ganz seiner Meinung: „Ich schicke Ihnen heute Morgen einen Angestellten mit Pressluft vorbei. Hoffentlich reicht es bis zur Werkstatt. Aufladen kann ich Ihren Wagen nicht, der Lader ist unterwegs mit einem Kundenauto. Vier Ersatzreifen für Ihren Typ habe ich auch nicht vorrätig.“

„Danke, Meister, ich verlasse mich ganz auf Sie.“

„Sie meinen, Ihre Reifen seien noch okay? Nichts zerschnitten oder aufgebrochen?“

„Mein Laienauge meint – nein, nur die Luft ist weg.“

„Sehr gut, anders wäre es ein teurer Spaß geworden, Herr Jokisch.“

Wenn man Brandschutz-Sachverständiger war und Fernsehen schaute, dachte man natürlich auch an Brandstiftung, und dann hockte er hier, im jetzt fast trockenen und brennenden Wald regelrecht in einer Falle. So hatte der Brandsachverständige Bernd Jokisch sein Refugium noch nicht betrachtet.

Umba, wie er sich selber nannte, kam eine Dreiviertelstunde später und hatte alles dabei. Pressluftflasche, Druckmesser und Schläuche mit den passenden Aufsatz- und Mundstücken. Er machte sich an den Reifen zu schaffen und sagte dann in seinem immer noch putzigen Deutsch zu Joko: „Füße jetzt gut, aber Meister möchte sehen, ob nicht doch Löcher und Risse.“

„Okay, ich fahre hinter Ihnen her.“

„Aber ganz langsam, Herr Bernd.“

Im Schneckentempo schlichen sie zur Werkstatt, wo der Meister den Wagen auf die Hebebühne rangierte. Alle vier Reifen abmontierte und mit ihnen nach hinten zur Luftdichteprüfung verschwand. Als er zurückkam, machte er ein ernstes Gesicht: „Die Reifen sind alle okay, Herr Jokisch. Aber an allen Rädern waren die Schrauben gefährlich weit gelockert. Da fehlte nicht mehr viel. Haben Sie Feinde?“

„Wenn ja, dann kenne ich Sie nicht.“

„In Zukunft gut aufpassen.“

Umba schien sich mehr über Jokos Händedruck zu freuen als über das üppige Trinkgeld.

Jokisch steuerte zuerst einen Baumarkt an und kaufte einen zweiten Feuerlöscher, dazu ein schwer zu knackendes Vorhängeschloss für sein Garagentor. „Nein, da ist mit einem normalen Bolzenschneider nichts zu machen. Da hilft nur ein Schweißbrenner.“

Im Autosalon zuckten alle die Achseln. „Ein Warngerät, das beim Anlassen anzeigt, ob alle Radschrauben fest angezogen sind? Nein, tut uns leid, so was führen wir nicht.“

Joko beendete seine Einkaufstour, befestigte im Haus den neuen Feuerlöscher in der Nähe der Haustür und räumte alle Gegenstände zur Seite, die bei einer Flucht im Dunklen an die Haustür behindern konnten. Weil er keine Lust hatte, essen zu gehen oder aufwendig zu kochen, begnügte er sich, wie so oft, mit Spiegeleiern und Tiefkühlspinat, dazu trockenes Vollkorn-Brot. Am Nachmittag gelang es ihm, den Artikel für Heim und Haus fertig zu schreiben und an die Redaktion zu mailen. Vor dem Landgericht Münster fand mal wieder eine Gutachter-Schlacht zum Thema „Heißer Abbruch“ statt; die Anfrage der Kammer, ein Obergutachten zu schreiben, lehnte er sofort ab und las am Nachmittag einen neuen Wälzer mit interessanten Spekulationen über den großen Hamburger Brand von 1842, der immerhin Platz für ein repräsentatives Rathaus geschaffen hatte. – Man lernte nie aus, und Spekulationen fand er unterhaltsam, weil er sie nicht beweisen oder widerlegen musste. Man hatte auch ihn gefragt, ob er sich als Sachverständiger zum Reichstagsbrand äußern wolle. Er hatte dankend abgelehnt und sich lieber mit dem Fall des Schiffsjungen Richard Schmidt beschäftigt, der zwar zugegeben hatte, das Feuer auf der Bremen gelegt zu haben, bei seinem Geständnis aber laut Presseberichten Einzelheiten erwähnte, die ein einfacher Schiffsjunge eigentlich nicht wissen konnte. Das unvollendete Manu schlummerte in Form einer CD in Jokos Schreibtisch.

In der Nacht geschah nichts Ungewöhnliches, aber als er sich an seinen Schreibtisch setzte, um wie jeden Tag nach seinen Mails zu schauen, beschlich ihn das unbehagliche Gefühl, jemand habe seinen Computer und den Bildschirm verschoben, nicht viel, aber für ein Gewohnheitstier wie Joko eben doch bemerkbar. Er schaute flüchtig nach, aber es schien nichts zu fehlen. Haus und Heim bestätigten den Eingang des Artikel, und versicherten, man werde das Honorar unverzüglich anweisen. Fromme Wünsche sollte man nicht bremsen.

Die Post war nicht der Rede wert, Bettelbriefe, Werbung, Empfehlungen von Pflegeheimen und die Ankündigung einer Altenakademie, die für heute einen hörenswerten Vortrag über die sogenannte Dortmunder Fehde versprach, der Joko schon interessiert hätte, aber Arnsberg war ihm zu weit. Über Mittag rief Olga Paschke an; „Morgen ist Schluss mit der Drückebergerei, Herr Jokisch, wir fahren nach Hagen und kaufen Bettwäsche ein.“

Wer wollte einer auf vollen Touren laufenden Olga Paschke widersprechen? Ihm stand ein harter Tag bevor, und deshalb gönnte er sich am Abend ein gutes Restaurant, das berühmt war für seine Pfannkuchen, gefüllt oder belegt mit bergischen Spezialitäten. Und die unbekannte Frau am Nebentisch, die ihn immer wieder Mal aufmerksam musterte, war hübsch. Er zögerte etwas zu lange; sie war gegangen, als er sich entschloss, sie anzusprechen. Zum Trost gab es Bier einer kleinen Brauerei, die sich noch nicht dem Einheitsgeschmack unterworfen hatte, und Joko fuhr gut gesättigt und etwas mehr alkoholisiert als erlaubt nach Hause, stellte den Karren in die Garage und betätigte das Super-Vorhängeschloss. Jemand hatte unter seiner Haustür einen Briefumschlag durchgeschoben, ohne Anschrift, Absender oder Briefmarke: Verschwinde schnell oder wir kriegen dich. Es gab leere und alberne Drohungen.

In der Nacht verlangte seine Blase, von dem vielen Bier erlöst zu werden, was er auch unverzüglich tat. Weil auch sein Darm überflüssiges Gas freizusetzen wünschte, öffnete er die Haustür und trat einen Schritt ins Freie, um zu lüften. Fast sofort gab es einen hellen Knall und dann hinter ihm ein scheußliches Klirren zerspringenden Glases. Erschrocken fuhr er herum, der von innen beleuchtete Glaskasten der Hausnummer war zersprungen und dunkel. Es knallte noch einmal und er machte, dass er ins Haus kam und die Haustür abschloss und verriegelte. An Einschlafen war nach dem Schreck erst mal nicht zu denken. Er schluckte endlich zwei Baldriantabletten und döste gegen Morgen, als es dämmerte, doch noch einmal ein. Ausgeschlafen war er nicht, und seine Putzfee mit dem scharfen Blick grinste schadenfroh: „Na, gestern gesumpft?“

„Ein klitzeklein wenig, Frau Paschke.“

„Im Alter lässt alles nach. Ich gehe dann mal einpacken, was wir besorgen müssen.“

Sie fuhren in ihrer Nuckelpinne, und weil die besonders heftig über eine Schwelle hüpfte, stöhnte er laut auf. Sie sah ihn missbilligend von der Seite an: „Musste es unbedingt ein so junges Ding sein? Dem sind Sie doch körperlich gar nicht mehr gewachsen.“

„Was reden Sie denn da? Wem nicht mehr gewachsen?“

Bevor sie antwortete, fuhr Olga Paschke in eine Parkbucht, holte ihre Handtasche von der Rückbank und wühlte einen winzigen roten Spitzen-BH hervor.

„Den habe ich heute zwischen Ihren Betttüchern versteckt gefunden.“

„Das kann doch nicht wahr sein, den habe ich nie gesehen.“

Ihr Blick sprach Bände; sie glaubte ihm keine Silbe: „Sehen Sie sich mal die Körbchengröße an. Das ist ein BH für eine junge Frau, eher noch für ein Mädchen.“

„Von BHs verstehe ich nichts. Und verstecke auch keine in meinem Wäscheschrank.“

Sie blickte ihn an, als habe sie ihn nie vorher gesehen: „Männer!“

Er schwieg, aber nicht von ihrem Ton und Unglauben beeindruckt, sondern mit einem Gedanken beschäftigt. Er hatte doch selbst den Eindruck gehabt, da sei jemand an seinem Schreibtisch und am Computer gewesen. Nun konnte man einbrechen, um etwas aus der Wohnung, aus dem Haus herauszuholen, aber genauso gut konnte man dort etwas verstecken, was den Bewohner in Schwierigkeiten bringen würde. Aber wann und wo hatte er es mit einer jungen Frau zu tun gehabt, der ein BH gestohlen oder gewaltsam weggenommen wurde? Wer hatte ihm die Luft aus allen vier Reifen gelassen, sodass er sich nicht fortbewegen konnte.

Olga Paschke hielt sein Schweigen für eine Art Eingeständnis und sagte nichts mehr. Der gemeinsame Einkauf verlief zäh und unerquicklich. Beide waren sie froh, als sie es hinter sich hatten und über die Ruhrbrücke nach Herdecke zurückfuhren. Sie kümmerte sich um die neu erworbene Bettwäsche und er versuchte, übers Internet und Telefonauskunft eine Klavierlehrerin mit dem ausgefallenen Vornamen Della in der Hattinger Feldstraße zu finden. Internet und Auskunft konnten ihm nicht helfen. Also fuhr er direkt nach Olga Paschke los und parkte fünfzehn Minuten später so, dass er möglichst viele Hauseingänge in der Feldstraße beobachten konnte. Seine Geduld und sein Sitzfleisch wurden auf eine harte Probe gestellt. Erst gegen halb fünf verließ eine jüngere Frau an Unterarmstützen ein Haus und stakste vorsichtig auf ein Auto zu, das vor dem Haus parkte. Das Einsteigen und vorher das Verstauen der Krücken war eine akrobatische Nummer, die sie aber bewundernswert gut meisterte.

Als sie dann losfuhr, folgte Joko ihr. Sie fuhr langsam und vorsichtig, aber nach seinem Eindruck nicht ängstlich. Ihr Kennzeichen hatte er sich als Erstes notiert. Die Fahrt dauerte, er schaute mehrfach besorgt auf seine Tankanzeige, und endete erst in Xanten auf dem gut besetzten Parkplatz eines Cafés. Dort wartete schon eine Frau auf Della und half ihr aus dem Auto. Joko verschlug es fast den Atem. Das war Helga Schmied, verheiratete Steinfeld. Kein Zweifel möglich. Er wollte schon lossprinten, um sie zu begrüßen, erinnerte sich aber im letzten Moment an die unfreundliche Art, wie sie ihn an der Mündung von Seeckt in die Richard Wenger Straße hatte abfahren lassen, weil sie Hand in Hand mit einem anderen spazieren ging. Keine Wiederholung, er ließ die beiden Frau ziehen, die in das Café gingen. Er wollte nicht, dass Helga ihn zufällig sah und erkannte, und auch mit Della ließ sich leichter sprechen, wenn sie ihn nicht schon kannte. Er notierte sich Helgas Krefelder Kennzeichen und fuhr langsam nach Hause zurück. Sie lebte also noch und hatte noch Kontakt zu ihrer alten Freundin und Nachbarin Della. Wollte er eigentlich noch mehr erfahren?

Super war zwar billiger geworden, aber ein voller Tank verlangte immer noch ein sehr volles Portemonnaie. Ob Stengelchen an dem Ergebnis seiner Recherche interessiert war? Zu Hause kochte er Kaffee und rief Annegret Stengel an: „Ich habe sie gefunden. Sie lebt in Krefeld.“

„Und wo da?“

„Die genaue Anschrift habe ich noch nicht. Bis jetzt nur ihr Autokennzeichen. KR-AA 999. Ein hellblauer Mercedes.“

„Dann scheint es ihr ja besser zu gehen als mir.“

Der Jammerton missfiel ihm und deshalb machte er rasch Schluss.

In der Glaskanne der Kaffeemaschine gab es noch genug Flüssigkeit, also setzte er sich mit einem zweiten Becher an den Schreibtisch und wählte eine Nummer, die er immer noch im Schlaf auswendig wusste. Wilhelm, Willy genannt, war noch im Büro und wollte gerade gehen, war aber zu einem Plausch aufgelegt: „Na, zieht es dich wieder in die Tretmühle?“

„Ganz und gar nicht. Mich zieht es heute zu dem Kollegen oder der Kollegin, die Zugang zum Kfz-Bestand hat.“

„Privatim oder dienstlich?“

„Halbe, halbe, Willy. Die Frau hat mir sehr gut gefallen, aber bevor ich sie anreden konnte, stieg sie in ihr Auto und rauschte davon. Krefeld zweimal Anton plus dreimal die neun.“

„Kann ich dich zurückrufen?“

„Mit Vergnügen, Willy.“

Ganz legal war das nicht, aber für eine Versicherung recht praktisch. In einen Großteil der zu regulierenden Schadensfälle waren Autos verwickelt und schnelle Auskünfte über Halter immer hilfreich.

Willy meldete sich schon nach einer Viertelstunde: „Sie heißt Helga Schmied-Steinfeld, Krefeld, Luisenstraße 28. Eine hübsche Frau?“

„In den Augen eines Mitte Fünfzigjährigen allemal.“

„Dann müsstest du erst einmal deine Nachfolgerin kennenlernen.“

„Gibt dir keine Mühe, Willy. Ich bin und bleibe ein freier Mensch. Helga Schmied-Steinfeld, Krefeld, Luisenstraße 28“, wiederholte er laut.

„Genau. Kennst du Krefeld?“

„Nein.“

„Das Seidenmuseum liegt da ganz in der Nähe.“

„Danke, und grüße meine hübsche Nachfolgerin von mir.“ Frauen rückten ja mittlerweile in alle Positionen vor. Wenn es Feuerwehrfrauen gab, warum dann nicht auch weibliche Brandsachverständige?

Das nachdrücklich und an mehreren „kritischen“ Stellen befragte Internet verriet ihm schließlich, dass er in der Hattinger Feldstraße nur bei einer Della Klavierunterricht bekommen konnte. Della Korbey stellte sich auch ein, und Joko gefiel ihre Stimme auf Anhieb.

„Guten Abend“, sagte er höflich, „mein Name ist Bernd Jokisch, aber seit meiner Schulzeit nennt man mich nur Joko. Ich war vor dem Abitur mit ihrer Nachbarin und Freundin Helga Schmied, spätere Schmied-Steinfeld befreundet. Vielleicht hat sie meinen Namen mal erwähnt?“

„Vielleicht. Und was wollen Sie von mir?“

„Von Ihnen würde ich nur gerne hören, warum Helga von Hattingen nach Krefeld verzogen ist, und warum Sie sich mit ihr in Xanten treffen.“

„Da können Sie lange warten.“ Und – rums – hatte sie aufgelegt. Na ja, nicht jeder Versuch glückte.

In der Nacht wurde er brutal aus dem Schlaf gerissen. Eine Horde Verrückter stürmte gewaltsam sein Haus, schlug die Haustür mit einem Beil oder einer Axt ein. In allen Parterre-Zimmern klirrten zerbrechende Fensterscheiben, seine Schlafzimmertür wurde aufgebrochen und danach tobte eine Horde schwarz vermummter Helmträger in das Zimmer und brüllte „Polizei“ oder so ähnlich. Joko war übel vor Schreck, sein Herz raste und in seinem Kopf dröhnte ein Dampfhammer. Er kam nur mit letzter Kraft aus dem Bett auf die Füße, aber dann reichte die Luft doch noch aus, die Männer anzubrüllen: „Seid ihr Arschlöcher vom Affen gebissen?“

Ein junger Mann in einem dunklen Trainingsanzug kam in das Zimmer gestürmt und baute sich vor Joko auf, versuchte ihn in das Bett zurück zu schubsen: „Halt’s Maul, Opa und setzt dich!“ Er konnte nicht wissen, dass er drei Fehler gleichzeitig beging, nämlich den Rentner Bernd Jokisch anzufassen, zu duzen und nicht daran zu denken, dass auch ein alter, gereizter Mann sich wehren konnte und wollte. Joko riss das Knie hoch und traf den forschen Flegel genau da, wo es zwischen den Beinen sehr schmerzen kann. Trainingsanzug ging brüllend zu Boden und krümmte sich schreiend und wimmerte, worauf die Horde auf Joko einzuschlagen und einzutreten begann. Der glaubte schon, sein letztes Stündlein sei nahe, als die Tür noch einmal gegen die Wand knallte, das Deckenlicht angeknipst wurde und ein Frau mit vor Wut überschnappender Stimme brüllte: „Aufhören, ihr Schwachköpfe!“ Die Prügel und Schläge hörten sofort auf, dafür breiteten sich kaum erträgliche Schmerzen über seinen ganzen Körper aus. Joko ließ sich erleichtert in die Schwärze fallen, die ihn jetzt umgab. Die Frau telefonierte laut und heftig, bestellt einen Notarztwagen. Sie machte es sehr dringend und Joko wehrte sich nicht länger gegen die Ohnmacht, die ihn überfiel.

Bernd Jokisch wachte auf und wusste nicht, wo er war. Eines stand fest, das war nicht sein Bett und nicht sein Zimmer, es roch fremd und draußen rauschten keine Bäume, sondern klingelten pausenlos Glocken in allen Höhen und Lautstärken. Und wer hatte ihm den rechten Arm eingegipst, verbunden und dann mit einer Tuchschlinge an eine Art Galgen neben dem fremden Bett gehängt? Er lag zweifellos in einem Krankenhaus, aber wie und warum er hierhergekommen war, wusste er beim besten Willen nicht. Dann erinnerte er sich, in einem Krankenhauszimmer gab es einen Knopf, mit dem man einen hilfreichen Geist herbeizaubern konnte. Der Geist ließ sich etwas Zeit, war dann aber hübsch anzusehen, nannte sich Petra und staunte: „Sie können sich an nichts erinnern?“

„Nein.“

„Man hat Sie schwer zusammengeschlagen und mit einem Notarztwagen zu uns gebracht.“

„Und wo ist das ‚zu uns‘?“

„Uni-Klinik Bochum.“

„Schwester Petra, ich muss mal an einen Ort, wohin Sie mich nicht begleiten können.“

„Das ginge schon aus verschiedenen Gründen nicht.“

„Wie meinen Sie das?“

„Außer Ihrem rechten Arm hat auch Ihr linker Fuß gelitten. Sie werden sich schon mit der Ente begnügen müssen.“

Machte sie sich lustig über ihn?

Bei der Visite am nächsten Morgen erklärte ihm eine nicht zu Scherzen aufgelegte Ärztin, was alles an Fuß und Arm entzwei gegangen war. Beeindruckend.

„Und wie lange muss ich hier aushalten?“

„Rechnen Sie mal mit drei bis vier Wochen.“

„Nein!!!“

„Doch!“

„Aber nur in einem Einzelzimmer. Nicht mit diesem Rekordschnarcher neben mir.“

„Ich will mal sehen, was wir für Sie tun können.“

Zu ihrem Glück war sie klug genug, nicht auf Schwesternart zu fragen: „Haben wir nicht gut geschlafen?“

Sie hätte es nach Jokos festem Willen nicht überlebt.

Am Nachmittag bekam er Besuch von einer sehr ansehnlichen Frau mit einer hellen Stimme, die es gewohnt war, zu befehlen und sich nichts gefallen zu lassen, was Joko imponierte.

„Schön, dass wir uns ungestört unterhalten können. Zuerst muss ich mich bei Ihnen entschuldigen. Es waren meine Leute, die Sie grundlos überfallen und verprügelt haben. Ach so, ich heiße Beate Lorenz, Kriminalhauptkommissarin beim Staatsschutz.“

Jokos Arm und ein Fuß hatten gelitten, aber nicht sein Kopf. Bei dem Wort „Staatsschutz“ schaltete er sofort. „Carsten Steinfeld?“

„Ja.“

„Mit Leipzig, und mit der Entführung oder seiner Messe-Affäre plus einem Seitensprung habe ich nichts zu tun.“

„Aber Sie haben davon gewusst?“

„Jein, Helga Schmied hat einer alten Schulfreundin erzählt, was unsere zahlreichen Staatsschützer für möglich halten und diese Annegret hat es mir weiter erzählt.“

„Annegret?“

„Annegret Stengel oder Stengelchen.“

„Herr Jokisch, wenn ich noch ausreichend Kaffee organisiere und für uns beide ein Abendessen, das den Namen verdient, erzählen Sie mir dann die ganze Geschichte schön chronologisch von Anfang an? Ich habe einen tüchtigen Rekorder und ausreichend Masse mitgebracht.

Die hielten beide Wort: „Es beginnt mit einem schweren Gewitter, das über das Ruhrgebiet zog, ein Blitz ist in einen Kirchturm geschlagen und hat bei mir Erinnerungen geweckt. Unter anderem an eine alte Schülerliebe namens Helga Schmied, spätere verheiratete Steinfeld.“

Es kam schon eine Menge an Details zusammen und es war gut, dass die KHK Lorenz die Krankenhausvorschriften missachtet und eine Literflasche Rivaner in sein Zimmer geschmuggelt hatte, und es war schlecht, dass sie es bei einer Flasche belassen hatte. Reden und gleichzeitig Stenografieren macht sehr durstig.

„Toll“, sagte sie zum Schluss. „Wir haben Sie tatsächlich für einen von der Stasi Beauftragten gehalten, der Helga Steinfeld aufscheuchen und unter Druck setzen sollte. Wir sind nicht immer zimperlich, aber ich gebe Ihnen mein Wort, sogar mein Ehrenwort, dass wir nie Luft aus Ihren Autoreifen gelassen und Schrauben an Ihren Autorädern gelockert und auch nie auf Sie oder ihr Haus geschossen haben. Wir verstecken auch keine Spitzen-BHs in fremden Kleiderschränken. Gibt es das gute Stück noch? Ich würde es gerne von Fachleuten untersuchen lassen.“

„Da muss ich erst nachsehen. Sonst weiß meine Putzfee Olga Paschke, wo das gute Stück geblieben ist.

„Bitte Olgas Anschrift und Telefonnummer.“

„Sofort! Wenn Sie mit ihr sprechen, ich bräuchte meinen Bademantel, meinen Rasierer und meine Zahnbürste, Zahnpasta und Seife. Und Handy mit Ladegerät würden den Komfort abrunden.“

„Ihre Olga hat Schlüssel zu Ihrem Haus?“

„Braucht Sie die noch, nachdem Ihre Leute meine Haustür geöffnet haben?“

„Den Spott habe ich verdient. Dann telefoniere ich mal mit Ihrer Fee.“

Als sie ins Zimmer zurückkam, machte sie ein ernstes Gesicht. „Ihre Bestellung wird morgen Vormittag frei Krankenhaus geliefert. Und ich bekomme den BH. Lieber Herr Jokisch …“ Sie lächelte, etwas verkrampft, aber immerhin. Und ihren Blick wagte er nicht zu deuten.

„Dann schon lieber Joko …“

„Okay. Künftig muss ich wohl mit offenen Karten spielen. Vor zwei Wochen haben wir die Leiche einer jungen Frau, eines Mädchens, im Schellenberger Wald gefunden, der man nach der Ermordung die Wäsche vom Leibe geschnitten hat. Wir haben die Tote noch nicht identifiziert, aber wir haben eine jetzt etwa dreißig Jahre alte Vermisstenanzeige eines jungen Mädchens. Die Eltern haben uns seinerzeit Wäschestücke ihrer Tochter übergeben, als Identifikationshilfe und für die Spürhunde. Die DNA-Technik hat seitdem solche Fortschritte gemacht. Vielleicht können wir DNA von der Leiche gewinnen und mit möglichen DNA-Spuren von einem roten Spitzen-BH und asservierten Wäscheteilen vergleichen.“

Joko blieb der Mund offen stehen. „Das nenne ich eine echte Blitzkarriere. Eben noch Opfer eines übergeschnappten Staatsschutzes und Objekt zahlreicher Mordanschläge und nun Mordverdächtiger in einem dreißig Jahre alten Mordfall. Wer die Polizei zum Freund hat, braucht in der Tat keinen Feind mehr.“

„Vorsicht, Joko, noch habe ich Sie nicht meinen Freund genannt. Aber wenn Sie Wert darauf legen …“

„Da hätte ich ja wohl auch ein Wörtchen mitzureden.“

„Das entscheidet der Staatsanwalt.“

Warum an sich nette Frauen immer so garstig sein konnten.

Etwas erschöpft und enttäuscht erkundigte er sich: „Sagen Sie bloß, Sie haben all die Jahre über Helga Schmied, verheiratete Steinfeld beobachtet und überwacht.“

„Nein, so viel Personal haben wir nicht. Es hat gereicht, alle Stellen immer mal zu informieren, unbedingt Alarm zu schlagen, wenn sich bei ihnen jemand nach Helga und Carsten Steinfeld erkundigen sollte.“

„Schule, Nachbarn, Freundinnen, Altschülerverein.“

„Und noch mehr Stellen.“

„Tut mir leid, dass ich Sie so lange habe warten lassen, aber der Blitz ist halt nicht früher eingeschlagen.“

„Das machen ich Ihnen auch nicht zum Vorwurf, mein Freund.“

„Glauben Sie denn immer noch, die Ehefrau habe irgendwie Kontakt mit dem abgängigen Ehemann gehalten?“

„Lieber Joko, man hat schon Pferde kotzen sehen, und das direkt vor der Apotheke.“

„Sie meinen jetzt nicht die Sperberapotheke an der Mellinghauser Straße am S-Bahn-Haltepunkt Essen-Süd?“

„Das wird sich noch herausstellen. Wir haben viel Zeit; wie schön für mich, dass Sie mit ihrem Arm und Fuß nicht weglaufen und Spuren verwischen können.“

Trotzdem träumte er angenehm von der KHK Beate Lorenz. Das konnte am ungewohnten Wein oder auch an der Person der Kriminalbeamtin liegen. Aufgefallen war ihm schon, dass sie keinen Ehering trug. Ein Brandsachverständiger lernte, auf die kleinsten Details zu achten …

Olga Paschke kam, wie versprochen und machte ein Gesicht, als hätte sie ihn lieber in der U-Haft aufgesucht.

Beate Lorenz ließ sich viel Zeit, kam nicht vorbei und rief nicht an. Bernd Jokisch hatte sich von Schwester Petra eine ganze Taschenbuch-Bibliothek aus dem Kiosk am Eingang besorgen lassen und mit mäßigem Vergnügen gelesen, bis Beate Lorenz ihn wieder besuchte.

„Hat sehr lange gedauert, tut mir leid, Joko. Aber die Mediziner und Biologen haben ewig gebraucht, bis sie die DNA-Vergleiche vornehmen konnten. Kein Zweifel, unsere Tote hat den roten BH getragen und der hat einer als vermisst gemeldeten Julia Hoppe gehört. Ihre DNA haben wir in den Wäschestücken gefunden, die uns die Eltern seinerzeit überlassen hatten.“

„Woher kenne ich den Namen Julia Hoppe?“ Und dann erleuchtete ihn ein gewaltiger Geistesblitz: „Auf welche Schule ging das Mädchen?“

„Viktoria, Essen, an der Kurfürstenstraße.“

„Dann musst du – Entschuldigung dann müssen Sie – Helga Schmied- Steinfeld befragen. Wenn ich mich nicht irre, haben die Mädchen sich gekannt.“

„Danke, Joko, lass uns beim Du bleiben, einverstanden?“

War er ohne nachzudenken.

Sie schoss davon, wie von der Tarantel gestochen. Joko las einen mäßig unterhaltsamen Roman zu Ende, sah sich die Tagesschau an und war einigermaßen genervt, als sie endlich zurückkam. Ihm lagen einige flapsige Bemerkungen auf der Zunge, die er sich nach einem Blick auf ihr Gesicht verkniff. „Ist was passiert?“

„Ja, leider, wir sind zu spät gekommen. Heute Vormittag in ihrer Wohnung in Krefeld erschossen.“

„Gibt es einen Hinweis auf den Täter oder die Täterin?“

Sie schüttelte müde den Kopf. „Nichts. Aber die Spurensicherung hat etwas gefunden, was du vielleicht behalten möchtest.“

Das vertrauliche Du überraschte ihn mehr als das Foto, das er vor Ewigkeiten zum letzten Mal gesehen hatte. Er stand mit einer jungen blonden Frau vor einem einmotorigen Flugzeug. „Unsere Cessna 172“, murmelte er melancholisch.

„Dein Flugzeug. Bis du früher geflogen?“

„Ja. Die Maschine gehörte dem Areo-Club, nicht mir.“

„Und die Blonde ist Helga …?“

„Ja, Helga Schmied. Ich durfte sie einmal zu einem Rundflug über Essen mitnehmen. Für sie war es der erste Flug ihres Lebens und für ihre Eltern der letzte unumstößliche Beweis, dass sie den Umgang mit einem so leichtsinnigen Menschen aufgeben müsse. Nur ein Motor! Nicht auszudenken, was da passieren konnte. Damals flog noch nicht jeder in den Urlaub.“

„Fliegen war damals aber auch ein teurer Sport?“

„O ja. Es sei denn, man machte Fudenzu.“

„Bitte was?“

„Segelfliegen. Nach 1918 hatten die Siegermächte Deutschland das Fliegen und Bauen von Motormaschinen verboten. Findige Köpfe haben daraufhin das Fliegen ohne Motor ins Leben gerufen. Fudenzu: ‚Für um die Entente zu uzen.‘“

„Hatten deine Eltern so viel Geld für den Motorflug?“

„Nein, aber die Krankenkassen.“

„Das verstehe ich nicht.

„Die Kassen finanzierten in einigen Fällen sogenannte Keuchhustenflüge. Den Kindern hat’s geholfen und wir armen Piloten bekamen die vorgeschriebene Zahl von jährlichen Starts und Landungen in unserem Flugbuch bestätigt.“

„Fliegst du immer noch?“

„Nein. Das habe ich mit Beginn des Studiums aufgegeben. So, und jetzt kannst du mir mal eine Frage beantworten, Frau Hauptkommissarin.“

„Wenn schon, dann Bea.“

„Okay. Joko möchte gerne von Bea wissen: Helga ist ermordet worden, und ich sollte umgebracht werden. Gibt es da einen Zusammenhang – abgesehen von dem Mord an Julia Hoppe?“

„Das müssen wir noch prüfen.“

„Die alten Schulunterlagen des Viktoria verwaltet die dir bereits bekannte Karin Heise.“

„Geborene Hoppe – schau nicht so verblüfft. Die Schwester der ermordeten Julia. Ein Journalist hat sich sehr um den Fall gekümmert und die Schwester geheiratet.“

„So hat doch jedes Ding zwei Seiten“, rutschte ihm heraus.

Sie zwinkerte ihm zu „Danke für den Hinweis. Und jetzt halte mir bitte den Daumen, dass ich nicht am Steuer einschlafe.“

Joko schlief gut und lange, und erhielt zum Frühstück eine erfreuliche Neuigkeit. „Gleich kommt unser Krankengymnast zu Ihnen. Sie können den Fuß wieder vorsichtig belasten.“

„Prächtig. Ich würde gerne Gewichtheben trainieren.“

„Geben Sie nicht so an, Herr Jokisch.“

Am Ende der Reha-Folterstrecke konnte er das Wort „Geduld“ nicht mehr hören und war heilfroh, als Bea ihn aus dem Krankenhaus abholte. Sie fuhr mit ihm in Richtung Ruhr-Uni und parkte vor einem bebauten Grundstück.

„Was sollen wir hier?“

„Du bist doch in Essen aufgewachsen?“

„Ja.“

„Hier sind zwei Kultfiguren des Potts entstanden.“

„Häh?“

„Kumpel Anton und sein Freund Cervinski. Hier hat der Autor gewohnt.“

„Hm. So eine Art zweites Bergbaumuseum.“

„Warst du da schon mal drin?“

„Mehr als einmal. Ein Brandsachverständiger weiß, was schlagende Wetter sind und warum die Kumpel unter Tage so viel Respekt vor denen haben.“

„Anton, sächt de Cervinski für mich. Weißt du, warum wir jetzt nach Kettwig fahr‘n?“

„Nein.“

„Weil’s da ’nen Familientreff gibbet un’ wi’ einladen sin.“

Viel später gestand Bea, dass sie das „Treffen“ organisiert und sich selbst eingeladen hatte. In der liebevoll wieder hergerichteten Jugendstil-Villa nicht weit von der Ruhr wartete man schon auf sie.

„Darf ich Ihnen Bernd Jokisch vorstellen, seit Schulzeiten besser bekannt als Joko. Vor Jahren gut befreundet mit Helga Schmied, die später einen Carsten Steinfeld geheiratet hat und vor wenigen Wochen in Krefeld ermordet worden ist.“ Alle japsten erschrocken auf, das war neu für die meisten. „Unsere Gastgeberin, Daniela Landmann, geborene Finck. Schwager respektive Bruder Gernot Finck. Peter Landmann, sein Cousin Jürgen Heise, seine Ehefrau Karin Heise geborene Hoppe, ist die Schwester der ermordeten Julia Hoppe. Della Korbey, eine Freundin und Nachbarin Helgas aus Hattingen, Annegret Stengel, eine Schulfreundin Helgas aus Essen.

Joko hatte allen brav die Hand gegeben und „Guten Tag“ gemurmelt. Daniela Landmann hatte gelächelt: „Wir kennen uns ja schon vom Telefon.“ Fast dieselben Wörter benutzte Della Korbey. Stengelchen grinste breit: „Nicht verbissen, sondern nur neugierig, wie?“ Nur einmal hatte Joko etwas gezögert, aber Gernot Finck hatte nicht so getan, als kenne er Joko und erinnere sich an ihn.

„So, mich kennen die meisten ja schon. Ich habe jahrelang vergeblich versucht herauszufinden, was mit Carsten Steinfeld während oder nach einer Leipziger Messe zu DDR-Zeiten geschehen ist. Dann beginnt ein mir völlig unbekannter Mann, sich nach Helga Schmied respektive Steinfeld zu erkundigen. Auf diesen Mann werden nun mehrere Mordanschläge verübt. Er findet Helga an ihrem neuen Wohnort Krefeld, wenig später wird sie dort umgebracht.

Annegret kramte ihre letzten religiösen Erinnerungen heraus. „Joko, ein Todesengel?“

Bea knurrte ablehnend: „ich glaube eher, Helga und Joko drohen einem Menschen gefährlich zu werden, der die lästigen Zeugen beseitigen will. Der Gedanke hat mir immer besser gefallen, und siehe da, wir haben auch eine passende Leiche gefunden, Julia Hoppe, die Schwester von Katrin Hoppe, heute verheiratet mit Jürgen Heise, einem Vetter von Peter Landmann.“

„Also alles eine große, glücklich Familie“, spottete Joko leise, dem eine Idee gekommen war: „Ich glaube, wir haben uns schon zweimal vor heute gesehen, Herr Finck.“

„So?“

„Sie haben einmal einen kleinen Jungen, der fürchterlich unter Keuchhusten litt, zum Flugplatz gebracht. Und der Junge war todunglücklich, weil ich ihm in seinem Zustand nicht erlauben wollte, sich neben mich zu setzen.“

Finck schien sich an etwas zu erinnern, in seinem Gesicht arbeitete es, er sagte aber nichts.

„Und ein oder zwei Wochen später sind wir uns im Heissiwald begegnet. Sie waren in Begleitung eines Mädchens, von dem meine Begleiterin Helga Schmied behauptete, Julia Hoppe gehe auch auf das Viktoria-Gymnasium: ein Mädchen, dessen Leiche erst vor Kurzem gefunden worden ist.“

„Und die eine schulbekannte Herumtreiberin mit einem enormen Freundesverschleiß war“, ergänzte Stengelchen scharf.

„Und in der Zwischenzeit hatte sich die Rechtslage verändert“, unterbrach Bea. „Mord verjährt danach nicht mehr.“

„Blödsinn!“, knurrte Finck.

„Vielleicht doch nicht“, warf Bea Lorenz ein. „Joko hat ein gutes Gedächtnis, und als ich mir daraufhin mehrmals seine Version der Mordanschläge angehört habe, ist mir etwas aufgefallen: Er hat viel gemailt und oft telefoniert. Beides abzuhören ist nicht so einfach, wie sich viele das vorstellen. Aber beim Telefonieren spricht man ja.“ Moment!

Sie kramte in ihrer riesigen Handtasche und legte ein kleines Plastikkästchen auf den Tisch. „Das nennt man umgangssprachlich eine Wanze, ein Mikrofon mit einem Miniatursender. Durch Jokos Erzählungen aufgescheucht, haben wir sein Haus noch einmal gründlich unter die Lupe genommen und dieses Gerät in der Decke seines Arbeitszimmers gefunden. Es ist in Deutschland nicht zugelassen, stammt aus China und wird in einigen Geschäften und im Darknet verkauft, das sich auf – sagen wir – verbotene Dinge spezialisiert. Wir haben uns die Mühe gemacht, mehrere Dutzend Läden abzuklappern und Bilder vorzuzeigen. Und wir hatten Glück, zwei Angestellte haben zweifelsfrei den Käufer einer solchen Wanze erkannt.“

„Was für Bilder und woher hatten Sie die?“, wollte Heise wissen.

„Aus der Sammlung eines Präsidiums. Darunter auch ED-Aufnahmen von Gernot Finck. Sie wissen doch alle, dass er wegen Belästigung und sexueller Übergriffe von mehreren Mädchen und Eltern angezeigt worden war.“ Die Stille in der Runde nach dieser Eröffnung sagte mehr als ein langes Gerede.

„Das könnte ja auf Hunderte zutreffen“, bemerkte Heise abwertend.

„Stimmt, aber vor fast vierzig Jahren, als wir nach einer vermissten Julia Hoppe suchten, hat die Schwester Karin zu Protokoll gegeben, den Namen des neuesten Freundes kenne sie nicht, Julia habe immer nur gesagt: ‚Jetzt gehe ich zu meinem Vogel vögeln.‘“

„Das stimmt doch, Frau Heise?“, drehte sich Bea Lorenz plötzlich zu Karin Heise um. „Sie haben nicht gewusst, wer dieser Vogel war!“

Karin Heise nickte nur verzweifelt und begann zu schluchzen.

„Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, ihr neuer Freund Gernot Finck könne jener Vogel sein, mit dem sich Julia eingelassen hatte und der sie umgebracht hat?“

„Doch“, sagte Heise unvermutet, „sie ist mit ihrem Verdacht zu mir gekommen, ich hätte doch Beziehungen zur Kripo. Aber ich habe, soweit man mir Auskünfte gegeben hat, keinen Hinweis darauf gefunden, dass die Polizei Gernot Finck verdächtigt hat.“

Die bisher schweigsame Della meldete sich unerwartet: „Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass Karin nicht wusste, dass ein Finck ein Vogel ist, dessen Namen nicht mit -ck endet. Vögel – bekannt: Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar – Fehlanzeige.“

Bea schniefte missbilligend und schüttelte den Kopf, als Della fortfahren wollte.

„Danke, Herr Heise. Wir sind uns einig, dass Sie von diesem Gespräch nur verwenden, was Ihnen die Pressestelle des Präsidiums Essen später freigibt? Sie würden sonst durch die Verbreitung von Täterwissen die Aufklärung und Anklage des Mörders behindern.“

„Alles klar, Frau Lorenz.“

„Prima, dann können wir ja Schluss machen.

Auf der Fahrt zu ihr fragte Joko: „Und was geschieht mit der ganzen Bande? Die haben doch alle gewusst oder zumindest geahnt, was Gernot auf dem Kerbholz hatte.“

„Das ist nicht mein Bier, Joko. Dafür sind jetzt andere zuständig, Ich habe meinen Carsten Steinfeld immer noch nicht gefunden.“

„Das Stahlkochen hat sich seitdem ziemlich geändert. Wir können morgen in aller Ruhe ausschlafen.“

„Meinst du? Kaffee oder Tee?“

„Viel Kaffee.“

Epilog

Gernot Finck wurde wegen zweifachen Mordes an Julia Hoppe und Helga Schmied-Steinfeld angeklagt. Julias Schwester Karin konnte nicht mehr als Zeugin vernommen werden; sie hatte den Gedanken nicht ertragen, dass sie – wenn auch unwissentlich – ein Verhältnis mit dem Mörder ihrer Schwester eingegangen war. Die Staatsanwaltschaft verzichtete darauf, Anklage gegen Daniela Landmann zu erheben, die ihren Bruder hätte belasten müssen, der Daniela bruchstückweise die Tat gestanden hatte. Stengelchen und Della Korbey trafen sich nach dem Prozess gegen Finck häufiger und freundeten sich an. Stengelchen lernte noch schwimmen und wurde eine begeisterte Schwimmbadbesucherin: Della half trotz ihrer Behinderung gelegentlich im Imbiss aus.

Carsten Steinfeld blieb verschwunden und wurde fast dreißig Jahre nach seinem Abgang amtlich für tot erklärt.

Bernd Jokisch und Beate Lorenz sprachen zwar häufiger darüber, den Standesbeamten zu beschäftigen, beließen es dann aber bei dem Kauf breiterer Betten für sein Häuschen in Herdecke und ihr Haus, das sie in der Bochumer Altstadt geerbt hatte. Olga Paschke hieß diese Regelung erstaunlicherweise gut.

Jürgen Heise schrieb ein kleine Serie über die späte Klärung eines Mordfalles, und sein Chefredakteur ließ sich nach der Lektüre des ersten Teiles zu dem zweischneidigen Kompliment hinreißen: „Donnerwetter, Heise, Sie können ja sogar schreiben.“

Ende

Auswahlband 11 Top-Krimis Herbst 2018 - Thriller Spannung auf 1378 Seiten

Подняться наверх