Читать книгу Auswahlband 11 Top-Krimis Herbst 2018 - Thriller Spannung auf 1378 Seiten - A. F. Morland - Страница 5
II. Lene und der Keltenkönig
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Personen
Peter Korn (Peko): Vorbestrafter Schlosser
Brigitte Berger (BB): Blonde Ethnologin, Pekos Nachbarin
Cornelius Ritter (Cori): Kaufmann am Bühler Markt und Mäzen mit einem Herz für Arme und Schwache
Uwe Lochner (Sprosse): Schmächtiger Berufseinbrecher mit auffälligen Sommersprossen
Karin Lochner: Uwes Schwester, feuerrothaarige Freundin Brunners, angestellt bei Kuno Traube „Ankauf und Verkauf“
Martin Lochner: Uwes Bruder, mehrfach vorbestraft wegen Einbruch
Ulrich Scheuren: Vizepräsident der „Leininger Handelsbank“ (LHB)
Axel Brunner: EDV-Leiter bei der „Leininger Handelsbank“ (LHB), Freund von Uwes Schwester Karin
Kuno Traube: Bärtiger Händler „Ankauf und Verkauf“ in der Feuerstraße und Hehler
Christian Weise: Wegen seiner dünnen und lichten Haarpracht verspottet als „Geheimratsecke“ oder „Zwerg Nase“, Tellheimer Stadtabgeordneter der Leininger Volkspartei (LVP)
Irmgard Messing: Langjährige Oberbürgermeisterin von Tellheim
Werner Baumeister: Leiter des Tellheimer Amtes für Kultur und Tourismus
Martin Walberg: Organisiert die Tellheimer Tafel (Teta)
Dr. Jens Klaproth: Ehemaliger Kustos des Tellheimer Museums für Leininger Landesgeschichte, jetzt im Ruhestand
Marlene (Lene) Schelm: Erste Kriminalhauptkommissarin im Tellheimer Referat R – 11
Ingo Baratsch: Jüngster Kommissar im R – 11
Mia Hollweg: Kommissarsanwärterin im R – 11
Jürgen Sandig: Staatsanwalt in Tellheim
Egon Kurz: Leiter der Tellheimer Kriminaltechnik
Dr. Xaver Rupp: Gerichtsmediziner in Tellheim
Tom Bürger: Kollege Lenes aus dem Achten
Alle Namen und Taten, Personen und Ereignisse, Geschäfte und Organisationen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Erstes Kapitel
Martin Walberg lehnte sich zufrieden grinsend zurück und begann, leise vor sich hin zu summen, was er immer tat, wenn er etwas Erfreuliches erlebte, zum Beispiel einen Partner, den er gerade über den Tisch gezogen hatte oder einen hilfsbereiten Menschen, der bereit war, ohne Lohn für ihn zu arbeiten, wie etwa diesen Peter Korn, der ihn anstarrte, als habe Walberg was zu verschenken.
„Wunderbar, Sie wollen sich also bei der Teta engagieren. Darf ich fragen, wie Sie auf uns gekommen sind?“
„Fabian Lausen habe mir geraten, irgendwas Vernünftiges zu tun, statt den ganzen Tag vor der Glotze zu hocken und zu viel Bier zu trinken.“
„Sehr vernünftig. Wer ist Fabian Lausen?“
Peko entschied sich, lieber von Anfang an mit offenen Karten zu spielen: „Mein Bewährungshelfer. Ich bin auf Reststrafenbewährung draußen.“
„Aha. Und was hat Sie hinter Gitter geführt – wenn Sie mir diese indiskrete Frage erlauben?“
„Warum nicht. Diebstahl, Betrug, Unterschlagung und Urkundenfälschung.“
„Donnerwetter, das hat sich ja gelohnt. Was haben Sie gemacht?“
„Ich bin gelernter Schlosser und hatte ein kleines Geschäft in der Münstergasse von meinen Eltern geerbt.“
„Mit dem es offenbar nicht gut gelaufen ist.“
„Das Geschäft lief sogar recht ordentlich, aber ich habe gespielt Automaten, Poker in Hinterzimmern, Black Jack. Und dann war eines Tages die Kasse leer, die Lieferanten verlangten Bezahlung, die Bank wollte keinen Kredit mehr geben, das Finanzamt hielt die Hand auf und die BfA begann zu mahnen. Danach ging es wie bei einer Schussfahrt auf der Piste bergab.“
„Hat dieser Lausen Teta empfohlen?“
„Nein, ich habe im Wochenblatt gelesen, dass die Tellheimer Tafel Helfer sucht, Fahrer, Beifahrer, auch mal Packer und Träger.“
„Haben Sie einen Führerschein?“
„Ja.“
„Darf ich den bitte mal sehen?“
Der Führerschein war in Ordnung.
„Kennen Sie sich in Tellheim aus?“
„Ich bin hier geboren, zur Schule gegangen und habe hier meine Lehre gemacht. Ein wenig kenne ich mich hier also aus.“
„Haben Sie gesundheitliche Beeinträchtigungen, wie etwa Bandscheibenvorfälle, Arthrose oder Arthritis oder Rheuma? Verstehen Sie mich bitte richtig, auch Beifahrer müssen mal ran und eine schwere Kiste schleppen. Rückgrat, Gelenke und die Pumpe hier“, er deutete auf seine linke Brustseite , „sollten schon in Ordnung sein.“
„Keine Probleme damit, Herr Walberg.“
„Alkohol? Drogen?“
„Nein. Ich muss noch Schulden abstottern. Da bleibt für so was nichts übrig.“
Das war nun glatt gelogen. Peko war zwar wegen der Folgen seiner Spielsucht in den Kahn gekommen und war immer noch spielsüchtig, als er auf Reststrafenbewährung entlassen worden war, aber er ging nicht mit leeren Taschen aus der JVA, sondern mit erbärmlich wenigen Kröten, die er in der Werkstatt der JVA Lensen verdient hatte. Und weil bei ihm Geld alle Taschen verbrannte, hatte er die Kohle sofort ausgegeben, für Lotto, Toto, Glücksspirale, Klassen- und Dombaulotterie, eben für alles, was irgendwie einen möglichen großen oder kleinen Gewinn versprach. Und das Schicksal hatte „ein Einsehen“ gehabt. Er gewann gleich mit mehreren Einsätzen, konnte seine Schulden zurückzahlen und sich den Gang zum Sozialamt sparen.
Aber weil er nicht wollte, dass man sich amtlicherseits für seine finanzielle Lage interessierte, hatte er es vorgezogen, auch bei seinem Bewährungshelfer weiter den armen Mann zu spielen, der dennoch bereit war, anderen Bedürftigen zu helfen. Die Teta brauchte Unterstützung, einmal nahm die Zahl der Bedürftigen immer noch zu, und andererseits hatten die anfangs sehr freigiebigen Geschäfte angefangen, genauer zu rechnen und nicht immer so viel zu bestellen, dass abends reichlich für die Tafel übrig blieb. Die Teta hatte anfangen müssen, Abgabezeiten einzurichten. Eine Gruppe konnte sich montags, mittwochs und freitags anstellen. Die andere Gruppe hatte Ausweise für dienstags, donnerstags und samstags. Die Einnahmen deckten nicht einmal die unvermeidlichen Betriebskosten wie Strom, Wasser und Versicherungen. Spenden waren nach wie vor unerlässlich. Noch musste der jetzt sparsam wirtschaftende Peko nicht daran denken, sich ebenfalls um einen Zugangsausweis zu bewerben.
„Wann könnten Sie anfangen. Herr Korn?“
„Wenn Sie wollen, morgen Abend.“
„Prima. Morgen um siebzehn Uhr hier auf dem Betriebshof? Am besten in einem feste Blaumann und rutschfesten Arbeitsschuhen, und wenn Sie zufällig etwas Pflaster und Verbandszeug neben Seife und einem Handtuch mitbringen könnten, wäre das sehr hilfreich. Ach so, jetzt brauche ich von Ihnen noch Anschrift und Telefon, falls Sie haben.“
Peko hielt Walberg inzwischen für ein selbstverliebtes Arschloch, musste aber einräumen, dass er sich ernsthaft für die Tafel einsetzte und wahrscheinlich sogar ein guter Organisator war.
Fabian Lausen hatte ihm eine winzige Zweiraumwohnung in der Bertoldstraße 25 besorgt, in der sich Peko wie in seiner Lensener Zelle eingesperrt fühlte. Aber sie war so klein, dass kein fieser Mitarbeiter der „Agentur für Arbeit“ ihn auffordern konnte, in eine noch kleinere und noch billigere Wohnung umzuziehen, die gab es nicht. Um keinen Ärger zu bekommen, hatte Peko darauf verzichtete, Hartz-Vier zu beantragen. Sein Bewährungshelfer hatte ihm schon den richtige Rat erteilt; diese langen Tage in dieser Puppenstube für Zwerge waren auf Dauer stinklangweilig und wenn sein Magen bei Bier und harten Sachen mitspielen würde, hätte Peko sicher schon oft zur Flasche gegriffen – leisten konnte er es sich ja.
Nach seiner Verurteilung hatte er von einem Tag auf den anderen keine Freunde mehr und einige Bekannte von früher grüßen ihn nicht einmal mehr, wenn sie sich auf der Straße begegneten; seine Freundin hatte ihm in den Knast geschrieben, sie möchte ihn nie wiedersehen und ziehe zu einem altem Klassenkameraden nach Spanien.
Peko freute sich darauf, durch die Tafel wieder unter Menschen zu kommen und ohne Geldsorgen was Vernünftiges zu tun. In der Haft hatte er abgenommen, Arbeitsschuhe und Blaumann passten noch, und das metallene Verbandskästchen hatte er aus seiner alten Werkzeugtasche gerettet und nach der Haft neu aufgefüllt. Das Haltbarkeitsdatum der Desinfektionssalbe war noch nicht einmal überschritten.
Am nächsten Tag fand er sich pünktlich auf dem Betriebshof der Spedition Walberg ein. Vier Männer erwarteten ihn schon, einer stellte sich als Onko vor und bestimmte, dass Peko heute zuerst mit zwei Teta-Mitarbeitern per Autobus zum Bühler Markt in den Supermarkt Cornelius Ritter (Cori) fahren sollte. „Wir müssen dich erst vorstellen, Ritter ist einer der größten Spender, möchte aber natürlich wissen, wer sich in seinem Geschäft und in seinem Lager herumtreibt.“
„Völlig klar.“
Cornelius Ritter (Cori) war ein riesiger Supermarkt im Zentrum des Stadtteils Bühl und besaß einen ungewöhnlich großen Parkplatz hinter dem Ladengeschäft, den auch die Kunden der direkt neben Cori liegenden Filiale Bühler Markt der Leininger Handelsbank (LHB) benutzen konnten. Die Kunden-Eingänge von Bank und Supermarkt führten auf die Bühler Marktstraße, was auch den Teta-Leuten das Leben erleichterte, weil sie hier in aller Ruhe auf der Rückseite des Supermarktes einladen konnten und nicht auf einer belebten Straße in der zweiten Reihe parken mussten, weil die Ladezonen meistens mit Dauerparkern zugestellt waren. Bei Cori begrüßte der recht junge Filialleiter Peko und stellte ihn den anderen Mitarbeitern vor, die schon angefangen hatten, zusammenzuräumen, was die Teta-Leute mitnehmen sollten. Es waren aber noch viele Kisten und Kästen und Kartons nach hinten an die Rampe zu schleppen und eine Viertelstunde später in den weißen Sprinter einzuräumen, mit dem Peko und seine Begleiter noch vier weitere Geschäfte abklapperten, den neuen Mitarbeiter vorstellten, einräumten, in den Lieferwagen schleppten und an der angemieteten Doppelgarage, die sie in Eigenarbeit zur Tafel-Ausgabe umgebaut hatten, wieder ausräumten, in Regale packten oder manche Sachen auch in den beiden übergroßen Kühlschränken oder in die Tiefkühltruhen verstauten, die der ganze Stolz der Teta-Organisation waren, bezahlt aus Spenden. Peko machte noch eine Tour zum sogenannten Bauernmarkt am Lonsepark mit, und als er dann vor seinem Haus in der Bertoldstraße abgesetzt wurde, spürte er alle Muskeln, Knochen und Gelenke wie früher nach einem harten Tag auf Montage; er gönnte sich eine Flasche Malzbier und schlief wie ein Toter durch bis in den hellen Vormittag und wurde auch dann nicht richtig wach. Die abrupte Beschleunigung von Null auf Hundert forderte ihren Preis …
Die nächsten Wochen arbeitete Peko jeden Tag, oft auch am Wochenende, für die Teta, lernte alle Geschäfte und Unternehmen kennen, die für die Tellheimer Tafel spendeten und nicht verkaufte Waren abgaben. Das Angebot, im „Verkauf“ zu arbeiten, lehnte Peko höflich, aber standhaft ab; seine Fähigkeit, mit anderen Menschen geduldig umzugehen, war nicht sehr ausgeprägt, wie er genau wusste.
Es erstaunte ihn nicht, dass der Supermarkt Cori die Tageseinnahmen von zwei Wachmännern in der Bank nebenan ablieferte. An manchen Tagen hätte sich ein nächtlicher Einbruch wirklich gelohnt.
Dann lernte er durch seine Tätigkeit für Teta, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte, seine Wohnungsnachbarin, eine junge Frau, kennen. Und zwar durch den sogenannten Kräutermarkt, auf dem von Erzeugern regionale Spezialitäten anboten wurden, zum Beispiel ökologisch gezogene Küchenkräuter. Er staunte nur, was es da alles gab. Seine Kenntnisse beschränkten sich bis dahin auf Petersilie und Schnittlauch, Dill und Liebstöckel, auf sehr ungeliebte Wacholderbeeren und Lorbeerblätter, die immer bei ihm auf dem Teller landeten. Zitronenmelisse, Borretsch, Kurkuma und Sauerampfer hatte er bewusst noch nie gegessen oder eingekauft. Zwei Stände weiter verkaufte eine in Bolivien aufgewachsene Deutsche das „Gold der Anden“. Peko las ungläubig die Namensschildchen Arakacha, Ulloca, Oca, Naranjilla, Nuna, Quinoa, Cherimoya, Patatas y Batatas. Es hätte für ihn auch Alt-Butukudisch sein können. Aber der Andrang war groß, selbst noch, als Teta kam, um Reste einzusammeln. Am Stand nebenan packte eine junge Frau mit traurigem Gesicht ihr unverkauftes Gemüse zusammen. Peko blieb stehen: „Nicht so gut gelaufen, wie?“
„Heute ganz und gar nicht.“
„Verraten Sie mir, was das ist? Das kenne ich überhaupt nicht.“
„Das sind Artischocken.“
„Habe ich noch nie gegessen. Kompliziert zu kochen?“
„Das erste Mal geht es mit einiger Sicherheit schief.“
Sie tat ihm leid, und er wollte ihr gerne helfen, weil sie trotz ihres Kummers freundlich und hilfsbereit blieb.
„Macht nichts. Wenn Sie ein Rezept dazu haben, nehme ich vier Stück – nein, die bezahle ich Ihnen selbstverständlich.“
Peko zog mit seinem Einkauf in einer durchsichtigen Plastiktüte davon. Onko staunte: „Ein Feinschmecker in unseren Reihen. Artischocken. Man soll’s nicht glauben. So etwas essen meine Frau und ich höchstens im Urlaub.“
Peko erregte noch einmal Aufmerksamkeit. Auf dem Flur vor seiner Wohn-Schuhschachtel begegnete ihm seine blonde, auffallend hübsche Nachbarin, die einen begehrlichen Blick auf die Plastiktüte warf und dann hörbar seufzte: „Artischocken. Laden Sie mich ein?“
„Lieber nicht. Die Verkäuferin meinte, beim ersten Mal ging es mit einiger Sicherheit schief. Und für mich ist es das erste Mal.“
„Eine kluge Frau. Aber für mich ist es nicht das erste Mal. Wenn Sie mich einladen, zeige ich Ihnen, wie man es macht. Wozu habe ich in Aix en Provence und in Paris studiert. Voraussetzung ist allerdings, dass Sie einen großen Topf besitzen. In dem alle vier nebeneinander dünsten können.“
„Daran soll es nicht scheitern. Was trinkt man dazu?“
„Ich bevorzuge einen kühlen Rosé. Und kleine Scheiben geröstetes Baguette.“
„Damit kann ich leider nicht dienen.“
„Das besorge ich. Der Supermarkt drüben hat noch bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet.“
„Großartig. Ich heiße übrigens Peter Korn, aber alle Welt nennt mich nur Peko.“
„Sehr erfreut. Brigitte Berger.“
„Hm. Und Sie haben in Frankreich studiert? Ich wette, man hat sie dort BB genannt.“
„Hören Sie bloß auf“, sagte sie fast wütend, „wenn meine Eltern wüssten, was sie mir damit angetan haben. Und dann bin ich auch noch blond geraten.“
Peko verschluckte bei ihrem Ton lieber, was ihm noch auf der Zunge lag. Nicht nur in puncto Haarfarbe konnte sie einen Vergleich mit der Bardot durchaus bestehen. An jedem ihrer Finger zappelten bestimmt zehn Verehrer. Sie schien zu ahnen, was ihm durch den Kopf ging, drehte sich rasch um und sauste zur Treppe. „Bin gleich wieder da.“ Die engen Jeans standen ihr gut. Peko stöhnte leicht in sich hinein. Sie mochte gut zehn Jahre jünger sein als er, aber neben ihr fühlte er sich dreißig Jahre älter.
BB hielt Wort, und während sie Peko in seiner Zwergenküche in die Geheimnisse der Kräuter-Senf-Vinaigrette einweihen ließ, verdunstete der Inhalt der ersten Flasche Rosé im Handumdrehen. Kochen konnte sie perfekt und sie hatte einen großartigen Wein mitgebracht.
„Sie haben also in Frankreich studiert? Darf ich fragen, was?“
„Anthropologie und Afrikanistik.“
„Und was macht man damit beruflich?“
„Das frage ich mich mittlerweile auch.“ Sie grinste ohne Selbstmitleid. „So, und nun beichten Sie mal.“
„Ich bin gelernter Schlosser und hatte einen kleinen Betrieb in der Münstergasse geerbt, mit dem bin ich pleite gegangen, und muss nun Schulden abstottern.“ Von seinen dreißig Monaten Haft musste er ja nicht gleich am ersten Abend erzählen. „Und bis ich einen vernünftigen Job gefunden habe, helfe ich bei der Tellheimer Tafel.“
„Sehr vernünftig.“
„Und was hat Sie nach Tellheim getrieben?“
„Eine alte Studentenliebe meiner Pariser Professorin, sie hat mich an ihren Harald vermittelt, bei dem ich jetzt promoviere.“ Und weil sie sein ratloses Gesicht bemerkte, übersetzte sie fröhlich: „Meine Doktorarbeit schreibe.“
„Über?“, fragte er ungewollt schroff.
„Die Fernstraßen in der Sahara.“
„Jetzt nehmen Sie mich aber auf den Arm.“
„Kein Gedanke, Peko. Natürlich nicht vierspurig asphaltiert und mit Standstreifen. Aber Kaufmannskarawanen ziehen seit Jahrhunderten durch die Sahara. Meistens haben sie Salz transportiert, aber ab und zu auch Sklaven.“
Peko staunte sie an. Seine Bildung, wenn man so etwas überhaupt auf einer Hauptschule erwarb, war lückenhaft, und in seinem Beruf ging man selten auf die Walz; er hatte mal eine Freundin gehabt, die als Zimmerer auf der Walz gewesen war und so viel erzählen konnte, dass er richtig neidisch geworden war. Er war über die Grenzen des kleinen Bundeslandes Leiningen nicht hinausgekommen und vermisste manchmal etwas, so wie jetzt, als sie von ihren Recherchereisen erzählte. „Was spricht man eigentlich in der Sahara?“
„In großen Teilen Westafrikas kommt man mit Französisch immer noch gut durch und überall dort, wo die Menschen dem Islam angehören und den Koran befolgen, mit Arabisch.“
„Respekt“, knurrte er unterdrückt, Artischocken-Dip und Arabisch. Dazu noch nett und sexy. Sie wurde ihm fast unheimlich „Den Boden kann man nicht essen?“
„Besser nicht.“
„Ich habe aber noch Hunger.“
„Ich auch“, gestand sie.
Er überlegte einen Moment und schlug dann vor: „Auf der Heusingerstraße gibt es ein Steakhaus, das über Nacht bis in den frühen Morgen geöffnet hat. Was halten Sie davon?“
Er war dort noch nie gewesen, aber mit einem blond gelockten Brigitte-Bardot-Abbild würde man sie dort zu jeder Abend- und Nachtzeit freudig empfangen, auch um diese Zeit noch. Als er noch sein Geschäft betrieb, ernährte er sich vorwiegend von Bratwurst und Pommes rot-weiß. Salat war nun mal giftig und für Kaninchen gedacht. Und das Knastessen machte niemanden zum Feinschmecker. Er nahm sich vor, seine Kochkünste, die sich bis jetzt auf Spiegeleier und fettige Bratkartoffeln ohne Kruste beschränkten, durch regelmäßiges Üben zu verfeinern. Zum Glück besaß er genug Geld auf der Leininger Handelsbank, nachdem die Südwestdeutsche Klassenlotterie zu seinen Gunsten einen Hauptgewinn abgedrückt hatte.
Vor ihrer Wohnungstür fragte sie: „Womit kann ich mich revanchieren, Peko? Das Steak war großartig.“
„Wenn es Ihre Zeit erlaubt, könnten Sie mir die Anfangsgründe des Kochens beibringen.“
Die Arbeit bei Teta am nächsten Tag wurde anstrengend, weil er viel zu wenig geschlafen hatte und seine Leber mit dem ungewohnten Rosé nicht so gut klargekommen war. Er hatte, quasi zur Selbstbestrafung, den Kartondienst übernommen. Viele der älteren Tetakunden zogen es vor, die sperrigen Kartons und Verpackungen im Geschäft zurückzulassen, und Teta offerierte den kostenlosen Service, das Material zu zerkleinern und wegzuschaffen, zusammenzupressen und spät abends bei einer Altpapiermühle in Braakenfeld abzuliefern. Cornelius Ritter hatte ein Herz für bedürftige Menschen, Tiere und die Umwelt. Er war großherzig und großzügig, aber nicht leichtsinnig. Er konnte sehr wohl kalkulieren und wirtschaften. Seine Devise lautete: „Eine offene Hand macht sich immer bezahlt.“ Diese Meinung teilte Peko nun nicht, aber dazu zwang ihn auch keiner.
Peter Korn war mittlerweile ein allseits geschätzter Mitarbeiter der Tellheimer Tafel geworden. Ab und zu traf er seine Nachbarin BB, die aber auch, wie sie ihm einmal auf dem Flur erzählte, einen langen Tag in der Uni hatte, seit sie Deutschunterricht für Flüchtlinge aus islamischen Staaten gab. Wann immer sie Zeit fand, kochten sie gemeinsam. Peko drang derweil hartnäckig in die Feinheiten der süddeutschen Küche vor und versuchte sich geduldig an einem Blatt nach dem anderen in dem Kochbuch, das er sich gekauft hatte. Er hätte auch jetzt nie von sich behauptet, er könne kochen, meinte aber, das von ihm Zusammengebrutzelte ließe sich von Tag zu Tag besser essen. Er scheiterte allerdings kläglich mit seinem ersten Versuch, Spätzle vom Brett zu schaben, daraufhin klingelte er nebenan und lud BB zum Essen beim Italiener ein.
Das Rimini war wie immer gut besucht. Nicht weit von ihnen saßen zwei Mulatten, und Peko erkundigte sich neugierig bei BB: „Verstehen Sie, was die sprechen?“
Sie musste einen Moment aufmerksam lauschen und schüttelten dann den Kopf: „Nein, das ist Portugiesisch. In der Sprache kann ich nur „Bitte“ und „Danke“ sagen und „Ich möchte zahlen.“
Als sie zu ihren gestapelten und abschließbaren Schuhkartons zurückbummelten, folgten ihnen die beiden Dunkelhäutigen mit großem Abstand und bogen in eine Nebenstraße ab, sobald Peko seine Haustür aufgeschlossen hatte.
„Vielen Dank für Einladung, Peko. Ich habe noch eine Bitte.“
„Heraus damit.“
„Könnten Sie mich einmal auf so einer abendlichen Teta-Runde mitnehmen?“
„Ich denke schon.“
Keiner hatte was dagegen einzuwenden. Pekos Ansehen bei den anderen Helfern stieg sprunghaft an, und dass sich ihre wenigen abendlichen Treffen nur um Blanchieren, Köcheln, Würzen und Braten drehten, glaubte ihm keiner der Männer, und dass sie sich immer noch siezten, hielten sie für Theaterspielerei. BB half manchmal, in der Verkaufshalle die Regale einzuräumen.
„Ihr Männer schmeißt alles einfach hin und rein.“
„Na und?“
„Das Auge kauft auch mit ein. Auch bei Leuten mit wenig Geld.“
Aber an diesem Punkt scheiterte BB mit ihren Bekehrungsversuchen.
Nach wie vor war der Supermarkt Cori am Bühler Marktplatz ihr größter Sach-Spender. Aber Pekos durch Nachbarin BB und eigene Kochversuche geschärftem Blick fiel auf, dass sich das Angebot merklich veränderte und Teta bald Konkurrenz bekamen. Dass immer mehr Menschen containerten, wie das euphemistisch hieß, wussten sie, aber die Zahl der auf der Straße sitzenden Bettler wuchs beängstigend schnell. Alt eingesessene Geschäfte und Kleinbetriebe schlossen und als Peko durch Zufall den Mann traf, der seinen alten Betrieb gekauft hatte, klagte der, er werde wohl auch bald schließen müssen. Es wunderte Peko nicht. Ein Handwerker konnte sich von seinem Stundenlohn keinen Handwerker mehr leisten. Ohne Do-It-Yourself und Zweitjob ging es bei vielen gar nicht mehr.
Doch das Tageblatt berichtete im Lokalteil auch von immer neuen Spezialitäten-Restaurants, Bars und Bistros, die alles andere als preiswert waren. Woher kam eigentlich das viele Geld, das dort ausgegeben wurde? Zumindest war es offenbar sehr ungleich verteilt. Dass Peko für sein angelegtes Geld kaum noch Zinsen bekam, erregte ihn schon lange nicht mehr, aber dass er nun Strafzinsen an die Bank zahlen sollte, brachte das Fass zum Überlaufen. Warum für das Alter sparen? Die Inflation und die Strafzinsen fraßen doch alles auf; nur die Jahresboni für die Oberen und die Diäten für die Politiker stiegen. Peko begann wieder zu spielen, und jetzt, wo er es nicht brauchte, zeigten die einarmigen Banditen, Spielautomaten oder Würfelbänke Großzügigkeit, gemäß der bösen Regel: „Wer hat, dem wird gegeben.“
Die Arbeit bei der Tellheimer Tafel behielt er bei, schon, um seinen Bewährungshelfer, den er ab und zu bei Behörden brauchte, bei Laune zu halten. Ihm erzählte er auch nicht, dass er wie vor seiner Haft abends durch die Spielhallen in der Kanalstraße zog. Zu seiner Verblüffung begegneten ihm gelegentlich die beiden Mulatten, die BB und ihm mal vom Rimini aus gefolgt waren. Er sprach sie nicht an und sie wollten offensichtlich nichts von ihm. Peko – immer noch ohne Auto, also Bus- und Straßenbahnfahrer, wälzte noch so eine elementare Frage: Kaum stiegen Leute ein, holten sie ein Handy heraus und begannen zu erzählen, was sie alles erlebt hatten. Woher nahmen sie die Zeit, um alles zu erleben, was sie dann unbedingt anderen mitteilen mussten, und zwar je belangloser, desto dringender.
BB begegnete er in letzter Zeit, außerhalb ihrer Kochstunden, selten, bis sie eines Abends bei ihm klingelte, eine Flasche Rosé auf den Tisch stellte und sofort zur Sache kam: „Ich wollte mich verabschieden, Peko.“
„Wieso? Ziehen Sie aus?“
„Nicht sofort. Ende der Woche fahre ich zu meinen Eltern nach Saarlouis. Und anschließend mache ich eine Tour unter anderem über die Schnellstraßen der Sahara und eine Kreuzfahrt auf dem Niger.“
Er sagte nicht, dass er sie vermissen werde, und brachte nur ein steifes „Viel Glück. Viele Erfolg!“ heraus. „Und kommen Sie heil wieder!“
„Ich werde mir Mühe geben. Bis dahin – nicht vergessen: Nudeln grundsätzlich nur in kochendes Wasser.“
„Ich werde hoffentlich daran denken. Alles Gute.“ Er sagte nicht: „Auf Wiedersehen oder auf bald.“
„Ich schaue noch einmal kurz rein, bevor es am Samstagvormittag losgeht.“
Doch daraus wurde nichts. Am Samstag klingelte sie mehrfach vergeblich bei Peter Korn und erst als sie sich bückte, um zu klopfen, bemerkte sie, dass die Wohnungstür nur angelehnt und nicht ins Schloss gezogen war. Sie stieß sie auf und ging hinein, wobei sie rief: „Peko, wo sind Sie?“ Keine Antwort und erst als sie in den Wohnraum trat, bemerkte sie ihn; Peko lag auf dem Rücken und starrte blicklos zur Decke. Links neben ihm hatte sich auf dem Boden eine dunkle feuchte Lache gebildet. BB hatte in Afrika mehr als eine Leiche gesehen, um zu wissen, dass Peko tot war. Das geronnene Blut stank widerlich.
Sie trat nicht näher an den Körper heran, nahm ihr Handy und tastete die 110.
„Guten Morgen, mein Name ist Brigitte Berger. Ich habe gerade meinen Nachbarn Peter Korn tot in seiner Wohnung gefunden. Ja, Korn wie Getreide, Bertoldstraße 25 … Brigitte Berger … nein, ich fasse nichts an … natürlich warte ich auf Sie. Bis gleich.“
Ihr Vater war betrübt, als sie ihm am Telefon mitteilen musste, dass sie wenigstens vierundzwanzig Stunden später kommen würde, und reagierte entsetzt, als er erfuhr, warum.
Was dann folgte, hätte aus einem Fernseh-Tatort stammen können. Die einzige Abweichung war die energische Frau, die das Kommando führte. Um die vierzig, wie BB schätzte, ausgesprochen hübsch und selbst in Jeans, Shirt und Laufschuhen fast elegant angezogen. Sie stellte sich als Marlene Schelm vor, „Hauptkommissarin in der Abteilung, die im Fernsehen immer Mordkommission genannt wird.“ Sie war in Begleitung einer ebenfalls sehr attraktiven Beamtin, der BB nur übelnahm, dass sie auch kurze naturblonde Locken hatte. Der Mann, der sie begleitet hatte, kam nach drei Minuten aus der Wohnung heraus: „Steckschuss im rechten Lungenflügel. Verblutet. Exitus gestern gegen zweiundzwanzig Uhr. Ich nehme die Leiche gleich mit.“
„Okay, Dr. Rupp. Ist ein Kampf voraufgegangen?“
„Nach dem ersten Augenschein zu urteilen, nein. Sieht eigentlich so aus, als sei er ahnungslos zur Wohnungstür gegangen, um zu öffnen. Vielleicht hat sein Besucher sofort geschossen. „Korn ist wohl noch nach rückwärts gestolpert und in dem Wohnraum auf den Rücken gefallen.“
„Und wann ist das geschehen?“
„Gestern um einundzwanzig Uhr fünfundvierzig spätestens. Er hat auf keinen Fall noch länger als fünfzehn Minuten nach dem Treffer gelebt.“
„Du hast’s gehört“, sagte die Kommissarin zu einem kleinen, beleibten Mann, der an eine Kugel erinnerte. „Die Nachbarn gestern zwischen einundzwanzig Uhr fünfundvierzig und zweiundzwanzig Uhr dreizig. Wenn er oder sie einen Schalldämpfer aufgesetzt hatte, sind wir gekniffen. Egon, ich verlasse mich mal wieder ganz auf dich. Und Sie, Frau Berger, müssen uns leider aufs Präsidium begleiten.“
Zweites Kapitel
Es wurde eine mehrstündiger Sitzung: „Er hat Ihnen gesagt, dass alle Welt ihn Peko nenne?“
Lene Schelm, Erste Kriminalhauptkommissarin im Tellheimer Referat 11 (Gewaltsame Todesfälle und Entführungen) schaute voller Wohlwollen auf die hübsche blonde Zeugin Brigitte Berger, die leise seufzend erzählte, wie sie durch Artischocken mit dem Nachbarn Peter Korn bekannt geworden sei, und wie daraus eine Kochenlernbeziehung wurde.
„Nicht mehr, Frau Berger? Er war doch in Ihrem Alter und sah lebend eigentlich ganz gut aus.“
„Ja. Aber es ist bei beschichteten Bratpfannen und Pflanzenfett geblieben.
„Seit wann kannten Sie Peter Korn?“
BB erzählte noch einmal ausführlich die Artischocken-Episode. Lene aß auch gerne Artischocken und kannte noch einige Dips mehr als BB. Verbal-Kulinarisch kam man sich rasch näher.
„Wussten Sie, was Peter Korn beruflich machte?“
„Er war gelernter Schlosser und zurzeit arbeitslos. Und weil er sich langweilte, hat er bei der Tellheimer Tafel ausgeholfen und mit meiner bescheidenen Hilfe eben auch angefangen, Kochen zu lernen.“
„Also war er nicht verheiratet?“
„Nein.“
„Und was machen Sie beruflich?“
„Ich habe in Frankreich studiert und schreibe nun hier in Tellheim an meiner Dissertation.“
„Würden Sie mir verraten, bei wem und worüber.“
„Über die Handelsstraßen in der Sahara, bei Professor Stierle.“
„Dem Geografen?“ Lene gluckste.
„Ja. Kennen Sie ihn?“
„Die Welt ist manchmal sehr klein, und Tellheim nicht wirklich groß. Ja, ich kenne ihn und seine Frau privatim. Und war auch zur Hochzeit der Tochter nach Florenz eingeladen. Kommen Sie aus einer größeren Stadt?“
„Ich denke, das kann man von Saarlouis nicht wirklich behaupten.“
„Sie sagten eben, Sie hätten in Aix en Provence und in Paris studiert.“
„Ja.“
„Wie kommt man von Paris ausgerechnet nach Tellheim.“
„Das will ich Ihnen gerne erzählen, wenn Sie mir versprechen, es geheim zu halten. Frau Stierle darf es auf keinen Fall erfahren.“
„Keine Angst. Ich werde schweigen, aber vermute, sie weiß es längst. Man kann vor Annika Stierle wenig geheim halten. Aber trotzdem. Wir Frauen müssen zusammenstehen. Ich werde also schweigen.“
„Harald Stierle hat einige Semester in Paris studiert und dabei eine sehr hübsche und sexy Schwarzafrikanerin aus dem Senegal kennengelernt.“
„Also wohl nicht nur kennengelernt?“ Lene seufzte. „Ich liebe den Bois de Boulogne auch.“
„Hm, anzunehmen. Bei dieser Schönheit, sie heißt übrigens Yvonne Dubois – habe ich Examen gemacht. Yvonne Dubois hat für ihre Dissertation nach der großen Dürre eine lange Recherchereise durch den Sahel unternommen und dabei einige seltsame Phänomene entdeckt, an denen heute keiner mehr zweifelt. Aber bis heute gibt es keine überzeugende Erklärung für das, was sie da herausgefunden hat. Ich habe ihre handschriftlichen Notizen, Tabellen, Karten und mehrere tausend Fotos in den Computer übertragen, Madame Dubois geht in den Ruhestand und will sich noch einmal an das große Rätsel wagen – was ist nach oder während der Dürre im Sahel passiert? Aber weil sie die Originale nicht aus der Hand geben will, habe ich für sie DVDs angefertigt, die sie an Freunde und Kollegen verschickt.“
„Unter anderem an Harald Stierle?“
„Nein, dem habe ich die DVD statt Blumen überreicht. Er hat mir die Wohnung in der Bertoldstraße besorgt und mir das Dissertationsthema verschafft. Vor allem Reisegeld, um bald auf den Spuren seiner Yvonne zu wandeln.“
„Auf Bitten von Yvonne Dubois?“
„Ja, alte Liebe rostet nicht.“
Lene lachte leise. Ihrer Erfahrung nach war es hilfreich, mit wichtigen Zeugen vorher eine Art Vertrauensverhältnis herzustellen; und dass Lene das Ehepaar Stierle privat gut kannte, war wirklich ein seltener Glücksfall.
„Hat Peter Korn mal erwähnt, was er früher gemacht hat?“
„Er hatte von seinen Eltern einen kleinen Laden geerbt und – wie ich mir das zusammengereimt habe – finanziell wohl vor die Wand gefahren. Mir hat er mal gestanden, dass er noch Schulden zurückzahlen müsse.“
„Waren Sie eng befreundet? Entschuldigung – wirklich nicht intim?“
„Nein, nein, weder eng befreundet und erst recht nicht intim.“
„Aber doch so gut, dass Sie zu ihm gegangen sind, um ihm zu sagen, dass Sie zu Ihren Eltern fahren würden und von dort nach Afrika aufbrechen würden?“
„Ja, sicher. Kochen verbindet. Noch mehr als gemeinsames Essen.“
„Hatte er viele Besucher, Freunde, Bekannte, alte Kumpel?“
„Nein, überhaupt nicht. Wenn Sie mich fragen: Er war ein Einzelgänger und diese Arbeit bei der Tafel war auch ein Ersatz für fehlende soziale Kontakte.“
„Keine Freundin? Keine Frauen?“
„Nicht in seiner Wohnung. Ob er in einen Puff ging, weiß ich nicht, über so etwas haben wir nie gesprochen.“
„Aber über die Menge an Kardamom und Kurkuma und Kreuzkümmel für ein gutes Curry?“
„Ja, alles will gelernt sein.“
„Sie haben also keine Ahnung, Verdacht oder Vermutung, wer ihn warum erschossen hat?“
„Nein. Keinen Schimmer.“
In diesem Moment kam eine sehr junge Frau ins Zimmer und Tine Dellbusch legte wortlos vor Lene einen Zettel ab, die ihn stumm las und dann BB überraschte: „Wir haben einen Peko in einer unserer Dateien. Wussten Sie, dass er auf Reststrafenbewährung aus dem Gefängnis entlassen worden war?“
„Nein.“
„Er hat Ihnen gegenüber gesagt, er lebe bescheiden, weil er noch Schulden zurückzahlen müsse?“
„Ja.“
„Die Kollegen haben in seiner Wohnung Kontoauszüge gefunden, danach hatte Peko fast 90.000 Euro auf seinem Konto und bezog aus irgendwelchen Anleihen oder Anlagen regelmäßig Zinsen oder Dividenden. Er war für einen Junggesellen ein reicher Mann.“
„Nicht zu glauben. Dann hat er mich die ganze Zeit über an der Nase herumgeführt?“
„Sieht ganz so aus. Ob dieses Geschichte von der Tellheimer Tafel überhaupt stimmt?“
„Also, er hat mich einmal mitgenommen und seinen Tafelfreunden vorgestellt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles nur vorgetäuscht und vorgespielt war.“
„Hat er mal den Namen Fabian Lausen erwähnt?“
„Nein. Wer soll das sein?“
„Sein Bewährungshelfer.“
„Nein, den kenne ich nicht.“
„Als Peko Sie mal auf die Tafelrunde mitgenommen hat – wo ist es losgegangen?“
„Auf dem Betriebshof einer Spedition Walberg. Dort wurden über Nacht die Transporter abgestellt. Ich glaube, dieser Walberg erledigt die ganze Organisation und den unvermeidlichen Papierkrieg.“
„Hm. Schreiben Sie mir doch bitte mal auf, welche Geschäfte Sie auf dieser Begleitrunde für die Tafel aufgesucht haben.“
„Wir waren auch auf dem Kräutermarkt am Lonsepark, aber die Namen der Stände habe ich nicht behalten.“
„Macht nichts, das kriegen wir mühelos heraus. Eine letzte Frage noch, Frau Berger: Besitzen Sie eine Waffe?“
„Nein, habe auch nie eine gehabt.“
Lene ließ sie, nachdem BB Fingerabdrücke und ein Haar mit Wurzel zum Spuren-Abgleich abgegeben hatte, zu ihren Eltern fahren und setzte sich beim „Abendgebet des R – 11“ enttäuscht zu den Kolleginnen Ellen König, Jule Springer und Christine Dellbusch. Tine Dellbusch hatte BB noch gesehen, als die ging: Sie heißt Brigitte Berger und hat in Frankreich studiert? Eine echte Blondine?“
„Ich glaube, ja.“
„Jede Wette, dann hat man sie dort BB genannt.“
„Du kennst die Bardot noch?“, staunte die ebenfalls blonde Jule.
Die sehr ernste und ziemlich humorlose Elle König lenkte in dienstliche Bahnen zurück: „Bis auf diese Tafel keine Bekannten, Verwandte, Freunde. Freundinnen?“
„Nein, nichts. Sagt BB. Niemand hat am Freitagabend einen Schuss oder einen lauten Streit in der Bertoldstraße 25 gehört, trotz dieser papierdünnen Wände.“
„Freunde, Freundinnen?“
„Bis jetzt Fehlanzeige.“
Sie verteilten noch die Aufgaben für den kommenden Montag und dann lud Lene ihre Kolleginnen zum Essen in die Spätlese ein. Der Pächter des Lokals, Fido Lorch, war ein ehemaliger Kripo-Kollege und zurzeit mit Tine Dellbusch liiert.
Wie immer in der Spätlese, das Essen war so gut wie der Wein, es wurde fröhlich-laut und spät. Lene hatte keine Rufbereitschaft, sie schlief ungestört gut und lange und konnte beim Frühstück über die merkwürdige Geschichte nachdenken, die sie gestern von der blonden BB aus Saarlouis gehört hatte. Die Bertoldstraße war keine wirklich schlechte Adresse, aber beileibe keine gute. Eine laute, verkehrs- und feinstaubreiche Straße in einem citynahen Viertel, das – freundlich ausgedrückt – zurzeit schwer herunterkam.
Kurz vor zwölf rief sie Harald Stierle an: „Ich habe gestern eine deiner Doktorandinnen kennengelernt.“
„Ach nee.“
„BB. Einer ihrer Nachbarn ist am Freitag in seiner Wohnung ermordet worden, und sie hat tags darauf die Leiche gefunden.“
„Arme Brigitte.“
„Ein sehr hübsches Mädchen, mit langen gerade Beinen; für ältere Herren, deren Kinder aus dem Haus sind, nicht ganz ungefährlich.“
„Psst. Das sagt Annika auch. Ich lebe in permanenter Verteidigungsposition und in Erklärungszwang. Eine schwarze Französin aus dem Senegal habe sie sozusagen als Studentensünde zu den Akten genommen, aber dass die mir nun eine blonde Saarländerin als Platzhalterin oder so ähnlich schicken, gehe eigentlich zu weit.“
„Armer Mann.“
„Hat BB was mit dem Mord zu tun?“
„Sie hat das Opfer gekannt und mit ihm kochen geübt. Von Artischocken-Dips über Curry, Chutney und gefüllte Avocados bis zu ordinären Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Speck.
„Alles will gelernt sein.“
„So hat sie es mir auch begründet.“
„Ich sagte doch, eine so hübsche wie lernfähige und intelligente Frau. Und auch sexy, was ich gar nicht leugne.“
„Grüß Annika von mir.“
„Mach ich, danke. Und wenn du was Neues von oder über BB erfährst, lass es mich bitte wissen.“
„Versprochen. Und noch ein schönes Wochenende für euch.“
Drittes Kapitel
Am nächsten Montag gab es große Aufregung bei der Tellheimer Tafel. Der Parkplatz hinter Cori und der LHB-Bankfiliale Bühler Markt war abgesperrt; die Polizei ließ sie nicht durch. Erst der Geschäftsführer des Supermarkts konnte es ihnen erklären: „Übers Wochenende hat jemand beide Tresore der Bank leer geräumt. Die Kripo sucht immer noch nach Spuren.“
Onko entschied, zuerst ihre anderen „Lieferanten“ zu besuchen. Vielleicht waren gegen Mittag der Parkplatz und damit der Platz an der Cori-Rampe wieder freigegeben.
Lene Schelm hatte nach der montäglichen Wochenbeginn-Konferenz der Referatsleiter Dr. Xaver Rupp besucht. Ihr Rechtsmediziner hatten sich Pekos Leiche schon vorgenommen. „Sie werden es nicht glauben, nach wie vor erschossen, Lungensteckschuss. Projektil zur KT unterwegs.“
„Todeszeit unverändert?“
„Ja. Schätzungsweise am Freitagabend gegen zweiundzwanzig Uhr.“
„Sofortiger Exitus?“
„Nein, er hat etwas gebraucht, um innerlich zu verbluten. Aber spätesten nach zwanzig Minuten war er mausetot.“
„Und die Waffe?“ Lene verstand sich nicht sehr gut mit Dr. Xaver Rupp und beschränkte deswegen selbst ihre Fragen auf ein unerlässliches Mindestmaß.
„Normales Kaliber, denke ich …“
Die Spurensicherung hat bis tief in die Nacht in der Wohnung gearbeitet und nichts Wichtiges entdeckt. Laut Nachbarin BB war die Wohnungstür nur angelehnt gewesen. Wollte der Täter/die Täterin, dass die Leiche möglichst früh gefunden wurde? Warum? BB hatte mehrfach bestritten, dass Korn ihr etwas von Feinden, Verfolgern oder Drohungen erzählt hatte und Lene war bereit, ihr das zu glauben.
Zur Wochenbeginn-Konferenz der Referatsleiter war Oberkommissar Tom Bürger vom 8. (Einbruch) verspätet erschienen und sagte hastig nach einem strafenden Blick des Vizepräsidenten, der die Konferenz leitete: „Tut mir leid, der Chef musste vor einer Minute raus, wir haben gerade einen ganz dicken Hund hereinbekommen.“
„Und welchen Hund, Kollege?“
„Der Kellertresor der Filiale Bühler Markt der Leininger Handelsbank (LHB) ist gestern oder in der Nacht bis auf den letzten Cent und das letzte Kundenschließfach leergeräumt worden.“
„Hinweise? Spuren?“
„Nach Meldung des Reviers – keine. Auch keine Spuren eines gewaltsamen Aufbruchs. Oder Sprengung. Sieht fast so aus, als hätten die Täter Schlüssel für den Keller gehabt und die PIN-Zahlen der beiden Schließanlagen gekannt. Weil die Schließfachtüren aufgebrochen worden sind, was mächtig Lärm gemacht haben muss, denken wir, der Bruch hat in der Nacht vom Samstag auf Sonntag stattgefunden.“
Im Saal brach ein großes Gesumme aus. Bankeinbrüche waren immer spektakulär und beschäftigten die Spurensicherung und die K-Technik fast einen ganzen Tag lang. Und bald würden sich auch die Versicherungen und die Chefs der LHB einmischen. Unter Umständen noch ärgerlicher: Ab einer bestimmten Schadenshöhe stand zu befürchten, dass eine Sonderkommission eingerichtet würde, für die alle Referate vorübergehend Personal abstellen mussten. Und ausnahmslos alle Referate klagten schon jetzt über Personalmangel und die Urlaubszeit lag erst noch vor ihnen.
Der Vizepräsident spulte das Programm routiniert ab.
„Kollegin Schelm?“
„Am Freitagabend in der Bertoldstraße. Ein auf Rest-Bewährung vorzeitig entlassener Häftling durch einen Schuss in seiner Wohnung getötet … nein, noch kein Hinweis auf Täter oder Motiv. Aber zahlreiche Ansatzpunkte.“
„Brauchen Sie Hilfe?“
„Danke nein, im Moment nicht.“
Die Kurden hatten am Wochenende friedlich demonstriert, die befürchteten Schlägereien mit Erdogan-Anhängern waren ausgeblieben und die Zahl der nachträglichen Anzeigen wegen Diebstahl und sexueller Belästigung hielten sich im Rahmen des Üblichen. Großen Ärger und eine sehr schlechte Presse versprachen eine tote Radfahrerin, erfasst von einem nach rechts abbiegenden Brummi, und ein auf einem Zebrastreifen umgefahrener Behinderter in seinem Rollstuhl. Die schuldigen Fahrer hatten ein verbotenes Autorennen veranstaltet. Viele Bürger würden wieder mal härtere Strafen verlangen, sich aber dagegen aussprechen, zusätzliche Polizisten einzustellen oder den Beamten das Recht zu verleihen, solche Raser auch mit Schüssen zu stoppen. Bei der Bergung des Rollstuhlfahrers waren die Sanitäter von angetrunkenen Raufbolden zuerst beleidigt, dann bespuckt und schließlich tätlich angegriffen worden. Eine Kollegin (S) lag noch im Krankenhaus.
Fabian Lausen hatte sein Büro im Kercherhof und betrachtete seine Besucherin Lene Schelm ausgesprochen beunruhigt.
„Ja, Peter Korn, Peko, kenne ich. Kleiner Fisch, spielt und hat deswegen seinen Betrieb gegen die Wand gefahren, Betrug, Diebstahl, Unterschlagung und Urkundenfälschung – also das „Übliche“, um die Katastrophe noch abzuwenden. Machen große Händler auch so, aber die haben meist die besseren Anwälte oder mehr Vitamin B zur Verfügung.“
Lene lächelte düster. Die Schere zwischen Zynismus und Realismus schloss sich immer mehr, anders als bei den Gehältern.
„Aber gleich Lensen …“
„Ja, mir hat man gesagt, die Nachbarländer hätten ihre Übernahme-Kontingente erfüllt. Was ist mit ihm?“
„Jemand hat ihn am vergangenen Freitagabend in seiner Wohnung in der Bertoldstraße erschossen.“
„Peko? Warum denn das? Der war doch völlig harmlos.“ Lene musterte ihn scharf, Lausen schien ehrlich verblüfft, erstaunt, aber nicht erschüttert. Ob er oft „Kunden“ verlor?
„Herr Lausen, Peko hat einem Nachbarn erzählt, er lebe so bescheiden, weil er noch Schulden abstottern müsse. Stimmt das?“
„Ja, er hatte Schulden nach dem Knast, das ist richtig. Und er war arbeitslos.“
„Wussten Sie, dass er über 90.000 Euro auf seinem Konto hat? Und nach den Kontoauszügen zu urteilen, die wir in seiner Wohnung gefunden haben, regelmäßig von irgendwoher Zinsen oder Dividenden bezog?“
Das war neu für Lausen, und das erschütterte ihn nun ehrlich. Lene dachte sich ihren Teil über die Erfolge solcher Bewährungshilfe, leierte Lausen eine alte Schuldenliste und Anschriften der Familie Korn aus dem Kreuz und verzog sich rasch.
Ihre nächste Station war das erste Geschäft, das BB auf ihrer „Besuchsliste“ notiert hatte, und hier wollte ein uniformierter Polizist sie nicht auf den Parkplatz lassen. Lene holte tief Luft, aber bevor sie explodieren konnte, kam ein älterer Polizist, der sie kannte zur Hilfe. „Tut mir leid, Frau Hauptkommissarin, aber der Kollege ist neu auf dem Revier und kennt Sie noch nicht.“
Lene besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Personen und Namen.
„Schon gut, Herr Michels. Was ist denn los?“
„Die Spusi arbeitet immer noch.“
„Die Spusi?“
„Der Kellertresor dieser Bank ist doch übers Wochenende ausgeräumt worden.“
Lene erinnerte sich. Der Supermarkt Cori, den der vorbestrafte Schlosser Peter Korn als Teta-Mitarbeiter oft besucht hatte, lag direkt neben einer ausgeraubten Bank. Zufall? Oder nicht? Schon eigenartig, dass Peko so kurz vor dem Einbruch in die Filiale der LHB getötet worden war? Hatte man da einen lästigen „Tippgeber“ vorsichtshalber beseitigt? Oder sah sie Gespenster?
Der Geschäftsführer von Cori hatte einen aufregenden Tag hinter sich und noch immer nicht organisiert, wo er über Nacht die Tageseinnahmen sicher lagern sollte. An Peko konnte er sich gut erinnern. „Ein sehr netter und hilfsbereiter Kerl, Frau Kommissarin. Wer soll so einen armen Mann ermorden? … Mit dem Einbruch nebenan was zu tun? … Unmöglich, ausgeschlossen, kann ich mir nicht vorstellen? Haben Sie mal mit seiner blonden Freundin gesprochen?“
BB hatte ihn, was er gar nicht leugnete, schwer beeindruckt; und als er registrierte, dass Peko und die Blonde sich noch siezten, hatte das seine Fantasie mächtig beflügelt. Gut verdienender Geschäftsführer in sicherer Position mit Aufstiegschancen, passabel aussehender Junggeselle, keine Alimenteverpflichtungen, bestens beleumdet, mit den Pfunden konnte man doch wuchern? Lene fuhr sehr nachdenklich ins Präsidium zurück. An diese Schiene hatte sie noch keinen Gedanken verschwendet, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass die Haarfarbe echtblond die Fantasie und die Begehrlichkeit bei Männern besonders anfeuerte. Was sie gar nicht verstand und stets konterte: „Die Brünetten halten doch, was die Blondinen bloß versprechen.“ Sie musste Harald und Annika Stierle befragen, ob denen ein potentieller und auf blond fixierter Liebeskranker aus der Uni bekannt war.
Das „Abendgebet“, die alltägliche Referatsbesprechung vor Dienstschluss, brachte nichts Neues in ihrem Mordfall Peko. Tine Dellbusch musste sich morgen darum kümmern, ob die Kontoauszüge tatsächlich bedeuteten, dass Peko seine Schulden zurückgezahlt hatte. Und woher kamen die regelmäßigen Überweisungen auf Pekos Konto ausgerechnet bei der LHB-Filiale Bühler Markt neben Cori.
„Wenn die Bank dir Schwierigkeiten macht, muss Dobbertin ran.“
Tine verzog das Gesicht, sie mochte den Staatsanwalt Frank Dobbertin nicht leiden, weil der versucht haben soll, ihr bei einem Fest in den Ausschnitt zu greifen, was Lene ihr nicht so recht glaubte. Zwar konnte Lene den Staatsanwalt Dobbertin auch nicht ausstehen, hielt ihn aber für ein Weichei, der sich krümmte und verbog, bis sein Rückgrat zu brechen drohte, nur um bei niemandem anzuecken. Auch eine kleine und junge Kommissarin konnte ihm im Zeitalter von „Me too“ viel Ärger bereiten, wenn sie behauptete, er habe sie sexuell belästigt. In einer zynischen gestimmten Minute hatte Lene allerdings auch überlegt, dass ein solcher Griff bei Tine Dellbusch sich eigentlich nicht lohnte. Aber das behielt sie lieber für sich. Manche Männer liebten halt solche knabenhaften Figuren. Vielleicht waren sie zu lange von ihren Müttern gestillt worden.
Viertes Kapitel
Lene hatte sich mit dem Kollegen Tom Bürger vom Achten immer gut verstanden und deswegen zog sie ihn ins Vertrauen. „Wenn ich jetzt mit den möglichen Querverbindungen Peter Korn und der LHB-Filiale Bühler Markt herausrücke, lege ich doch unfreiwillig en masse falsche Spuren.“
Bürger hörte die Glocken läuten: „Okay, fragen Sie, Kollegin.“
Nein, es gab noch keinen Hinweis auf den oder die Täter.
„Ein Einzeltäter ist möglich?“
„Durchaus. Das setzt allerdings voraus, dass der die PIN-Zahlen der beiden Tresortürenschlösser kannte … nein, die kann man nicht durch Ausprobieren herausfinden. Beim vierten Fehlversuch schaltet sich die gesamte Elektronik aus, die Türen sind nicht mehr zu öffnen und Sie müssen den Hersteller anrufen.“
Bürger hatte sich auch in eine schwierige Materie einarbeiten müssen, er nahm sich Zeit, zu erklären und Details aufzuzeichnen, wie mithilfe zweier kleiner, handelsüblicher elektronischer Bausteine eine einbruchsichere Tresortür-Schließanlage entstand. Für Lene, die nicht wusste, was ein Transistor oder ein Relais ist und den Unterschied zwischen Wechsel- und Gleichstrom nicht hätte erklären können, servierte er schwere Kost, wenn auch freundlich, geduldig und keine Spur überheblich.
„Wenn ich Sie richtig verstehe, Herr Kollege, musste der Täter die beiden PIN-Zahlen kennen, weil er sich beim Versuch, sie durch Ausprobieren herauszufinden, selbst ins Knie geschossen hätte.“
„Ja, genau so. Er hätte weder den Geldtresor noch die Tür zu den Schließfächern öffnen können.“
„Und wenn man die PIN-Zahlen ändern möchte?“
„Muss man bei unserem Fall die Tastaturen herausnehmen und dahinter neue Verbindungen löten. Das Herausnehmen der Tastaturen ist aber nur möglich, wenn beide Türflügel geöffnet sind.“
„Da biss sich also die Katze schmerzhaft in den Schwanz.“ Bürger nickte fröhlich: „Richtig, es bleibt dabei, der Täter musste zwei Mal die richtigen Zahlen in der richtigen Reihenfolge eingeben. Hinter einer Tür lacht Bargeld Sie an und hinter der anderen liegen Schließfächer, für die jeder Mieter noch einen separaten Schüssel besitzt. Und diese Fächer sind alle aufgebrochen und geleert. Die Bank weiß natürlich nicht, was sich in den einzelnen Schließfächern befunden hat. Der Mann hat sich Zeit genommen und alle Fächer entweder mit einer Brechstange oder einem Wagenheber aufgebrochen. In der Nacht von Samstag auf Sonntag gibt es keinen Wächter in dem Gebäude, der Einbrecher konnte sich also ruhig Zeit nehmen und Krach machen.“
„Ist es möglich, dass er das Öffnen der Tresortüren über eine Kamera oder ein Loch, einen Spalt im Beton oder so, mal beobachtet hat?“
„Unwahrscheinlich. Aber Sie wissen ja, der Teufel ist ein Eichhörnchen. So genau weiß man ja nie, wo es sich gerade aufhält und zuschaut.“
„Kannten alle Bankangestellte die Funktionsweise der Tresortüren?“
„Nein. Aber die sind keine Staatsgeheimnisse. Ein Bastler kann sie jederzeit in einem frei verkäuflichen Buch mit elektronischen Schaltungen nachlesen und einen elektronischen Verschluss für seinen Barschrank basteln. Um Ehefrau, Kinder und einen durstigen Schwager fernzuhalten.“
„Ach nee. Verstehe ich Sie richtig? Der wirkliche Schutz besteht nur in der Kenntnis der geheimen PIN-Zahlen und ihrer Reihenfolge bei der Eingabe?“
„So ist es. Fast wie bei einem klassischen Tresor – ohne Zahlenkenntnisse kein Hereinkommen. Schlüssel kann man verlieren und nachmachen.“
Bürger schrieb ihr noch zwei Typenbezeichnungen elektronischer Bausteine auf, die er ICs nannte, mit denen die erstaunte Lene von Tellheim nach Stuttgart oder Frankfurt/M fuhr, wenn ihr Auto mal streikte; und mit dem Zettel in der Hand marschierte sie zu Egon Kurz, dem Leiter der Kriminaltechnik. Egon, auch der kurze Egon oder kleiner Napoleon genannt, war ein etwas rundlicher Typ mit einem sehr eckigen Temperament, tüchtig und sorgfältig, aber schnell aufbrausend und ganz und gar nicht geduldig. „Egon, der Sklaventreiber“, schwärmte heimlich für Lene Schelm, was die genau wusste und gnadenlos ausnutzte.
„Was willst du. Zeig mal her. CD 4066 und ein Zählerbaustein 7493. Seit wann arbeitest du im Achten?“
„Wie kommst du darauf?“
„Weil mir Tom Bürger das hier gebracht hat, am Bühler Markt aus einer Tresor-Schließanlage ausgebaut.“
Lene wusste, dass man diese hellbraunen Kunststoffplatten mit den kupfern-glänzenden Metallstreifen Platinen nannte. Über ein Drahtgewirr waren diese Metallstreifen mit einem Tastenpaket verbunden, das Lene an das Tastenfeld ihres Telefons erinnerte.
Egon deutete auf zwei kleine rechteckige Kästchen, die fest auf der Platine saßen. „Das sind deine CD 4066 und das ist ein Zählerbaustein TTL 7493, der die Fehlversuche zählt, notfalls zuschlägt und über dieses komische Ding, einen Transistor und ein Relais, den Strom abschaltet, den man zum Beispiel für die Schließmotoren der Tür benötigt. Woher deine unerwartete Neugier für Elektronik?“
„Ich war bei Bürger, um mir so was erklären zu lassen.“
„Und was willst du dann noch bei mir?“ Egon konnte seine Eifersucht schlecht verbergen.
„Mich vergewissern, dass ich ihn richtig verstanden habe. Wenn man die PIN-Zahl verändern will, muss man diese Drähte an dem Tastenfeld anders verlöten?“
„So ist es noch bei diesem Modell, liebe Lene. Und diese Lötstellen sind frisch, was heißt, die PIN-Zahlen sind vor nicht langer Zeit verändert worden.“
„Vor wie lange, lieber Egon?“
Auch beim lieben Egon läuteten nun die Glocken; „Lieber Egon“, bekam er von Lene nicht oft zu hören.
„Die Chemiker sind noch dabei, Lene. Schätzungsweise vor etwa vier Wochen“, sagt ganz privat der ehemalige Amateurfunker auf Kurzwelle, der sich seine Empfänger und Sender noch selbst gebaut hat.
„Warst du erfolgreich und berühmt in diesem Metier?“
„Was soll das heißen?“
„Schließlich hat man es nach dir benannt. Kurzwelle.“
„Klingt doch besser als Egonwelle.“
„Nein, du denkst jetzt an Herrn Nocke und seine Wellen. So weit habe ich es auf der Ruhmesleiter nicht gebracht. Man kann heute ohne Kurzwelle, aber nicht mehr ohne Nockenwelle leben.“
„Danke. Egon, du bist der Größte.“ Bei allen anderen schönen Frauen im Hause – und davon gab es in letzter Zeit immer mehr – hätte er gefürchtet, hinter dem Kompliment verstecke sich auch viel Spott auf einen unsportlichen Endvierziger. Aber nicht bei der schönen Lene. Als sie aufstehen wollte, hielt er sie am Arm fest: „Bleib' noch einen Moment. Dann beantworte ich dir auch deine noch nicht gestellten Fragen.“
„Da bin ich aber gespannt.“
„Wer kannte diese PIN-Zahlen?“
„Stimmt.“
„Natürlich der Chefkassierer.“
„Anzunehmen.“
„Der wird krank oder auf dem Weg zur Arbeit überfahren.“
„Oder macht Urlaub.“
„Eben. Und in der Zeit ruht der Betrieb der Filiale?“
„Natürlich nicht.“
„Also hat er mindestens einen Stellvertreter, der die beiden PIN-Zahlen ebenfalls kennt.“
„Anzunehmen“, wiederholte sie sich.
„So, und in so einer Bankfiliale wird vieles elektronisch erledigt, also werden die am Bühler Markt mit Sicherheit einen Mitarbeiter haben, der sich um den elektronischen Kram kümmert, wenn mal dein Computer abstürzt oder nicht so tut, wie es soll. Der oder die kennt dann auch die PIN-Zahlen und weiß, wie man sie verändert, wenn der eine sie vergessen oder den Zettel verlorenen hat, auf dem er sich verbotenerweise Zahlenkombinationen notiert hat. Die Bank kann es sich nicht leisten, jedes Mal den Hersteller anzurufen, damit der wie jetzt die Türen ausbaut. Die Bank muss ihren Tresor benutzen und die Filialen müssen weiter arbeiten können.“
„Klingt logisch, aber warum erzählst du mir das?“
„Weil ich dasselbe dem Kollegen Bürger verklickert habe. Ihr müsst also herausfinden, wer hat offiziell die Zahlen gekannt, und wer von denen hat sie weitergegeben oder für sich zwecks Aufbesserung seines Gehalts benutzt.“
„Ganz einfach, was?“
„Immer noch leichter zu kapieren als zu verstehen, wie ein kompliziertes IC oder simples Flipflop funktioniert.“
„Egon, du bist unersetzlich.“
„Du auch, meine Liebe. Ich freue mich immer, dich zu sehen.“
Lene eilte beflügelt in die Staatsanwaltschaft im Gebäude des Amtsgerichts. Frank Dobbertin hatte eigentlich mit Kollegen zum Essen gehen wollen, aber auch er überlegte es sich, eine Lene Schelm zu düpieren und zurückzuschicken. Über sie kursierten viele gerade ihn vorsichtig stimmende Gerüchte im Präsidium. Angeblich waren sie und ihr Freund mit dem langjährigen kommissarischen Leiter der Tellheimer Kripo und seiner damaligen Lebensabschnittsgefährtin, der Rechtsmedizinerin Professor Nadine Golowski, eng befreundet gewesen. Damals hatten es sich auch der Leitende Oberstaatsanwalt Hornvogel gut überlegt, ob er sich mit Marlene Schelm anlegen sollte. Das waren heute alles Geschichten, geblieben war eine gewisse Abneigung gegen die Leiterin des R – 11, die immer wieder zu verstehen gab, dass sie zwar an ihrem Beruf und an den Kolleginnen hing, aber auf diesen Job finanziell nicht angewiesen war.
Im Telegrammstil unterrichtete sie Dobbertin, was sich bisher im Fall Peter Korn ergeben hatte, erwähnte aber Pekos Tätigkeit für die Tafel in räumlicher Nähe zu einer spektakulär bestohlenen Bankfiliale so wenig wie ihren elektronischen Nachhilfe-Unterricht bei den Kollegen Bürger und Kurz, auch nicht die Tatsache, dass der ermordete Peko ein wohlgefülltes Konto bei eben der bestohlenen Bankfiliale besessen hatte, sondern ließ nur ihren Wunsch einfließen, das Nachlassgericht möge einen versierten Nachlassverwalter für Pekos Erbe einsetzen.
„Ihr Wunsch ist mir natürlich Befehl“, versuchte sich Dobbertin in forschem Selbstbewusstsein. „Noch keine direkten Verwandten aufgetan?“
„Nein. Es soll da eine Ex-Freundin geben, die mehr wissen könnte, aber die scheint in Urlaub zu sein, wir finden sie nicht.“
Dobbertin und Lene waren beide erleichtert, als sie gehen konnte. Tine hatte auch ohne Dobbertins Hilfe von der Bank alle nötigen Auskünfte bekommen. Das Geld stammte aus einem Lottogewinn und von einem Gewinn-Los in der Südwestdeutschen Klassenlotterie. Mithilfe eines seriösen Maklers hatte Peko mit dem Geld Container gekauft – die Firma hatte noch nicht Insolvenz angemeldet – und Anteile an einer Berliner Immobilienfirma erworben. „Absolut sauberes Geld, Chefin.“
„Prima, Tine; dann versuche doch bitte einmal, eine Ex-Freundin Pekos zu finden … Nein, leider keine Ahnung, wie sie heißen kann. Außerdem brauchen wir unbedingt Freunde und Bekannte Pekos, die uns etwas über ihn erzählen können.“
„Dann bin ich ja gut beschäftigt, Chefin.“
„Denke ich auch, vor allem eine Dobbbertinfreie Tätigkeit.“
Tine schluckte.
Annika Stierle wunderte sich, als sich Lene selbst zum Kaffee einlud, versprach aber, ihren leicht zerstreuten Göttergatten notfalls gewaltsam an den Kaffeetisch zu schleifen.
„Yoghurt-Kirschtorte mit Anissahne?“
„Mit Vergnügen, Annika.“
Fünftes Kapitel
Harald Stierle versuchte gar nicht erst, den Harmlosen zu spielen:
„Natürlich möchte Yvonne Dubois endlich herausbekommen, was damals zu der Stillen Migration geführt hat. Du weißt, welche Probleme die hohe Geburtenrate vielen afrikanischen Staaten bereitet?“
„Natürlich.“
„Yvonne hat bei ihren Recherchen nach Ende der großen Dürre festgestellt, dass in manchen Regionen die Geburtenrate signifikant gesunken ist, aus denen besonders viele Menschen aus bis jetzt unerklärlichen Gründen abgewandert sind.“
„Als Folge der Dürre?“
„Das hat sicher eine Rolle gespielt. Aber welche?“ Stierle musterte Lene amüsiert: „Vergiss die auf der Hand liegenden Gründe, regionale Seuchen und Epidemien, Kriege, Unwetter und dergleichen. Das hat Yvonne schon vor Jahren immer wieder geprüft. Aber sie hat erst vor Kurzem erfahren, dass ihre Recherchereise nach der großen Dürre vom französischen Außenministerium finanziert und bei den lokalen Behörden der Sahelstaaten organisiert worden ist, wahrscheinlich, damit sie als harmlose Doktorandin ahnungslos etwas untersuchte, woran die Pariser Politik zwar höchst interessiert war, das aber nicht zugeben wollte.“
„Ohne es ihr mitzuteilen?“
„Natürlich, Yvonnes Ahnungslosigkeit war doch die beste Tarnung, die sich Paris ausdenken konnte.“
„Und? Bist du dahintergekommen, was die französische Politik auf diesem Wege erfahren wollte?“
„Nein, noch nicht. Das wird, wenn überhaupt, auch noch etwas dauern. Stell dir mal vor, du gehst wegen undefinierbarer Beschwerden, Schlappheit und Müdigkeit zum Arzt und der soll nun den Grund herausfinden, kann und will aber aus Höflichkeit nicht fragen, ob du deine Leber nicht mit zu viel Rotwein verfettest. Deine Blutwerte sind alle in Ordnung, Darm- und Magenspiegelung haben nichts ergeben, keine Nieren- oder Gallensteine. Zähne, Augen in Ordnung, nun muss der arme Mann im weißen Kittel aus deinen wirren Erzählungen etwas herausfischen, was auf die Ursache deiner merkwürdigen Beschwerden hindeuten könnte.“
„Dafür wird er bezahlt.“
„Richtig, was aber, wenn es deine Beschwerden gar nicht gibt, sondern die meisten unter deinem Schädeldach entstehen und nur dort existieren?“
Lene wusste, dass man leicht in der Psychiatrie landen konnte, wenn die Ärzte mit ihrem Schulmedizin-Latein am Ende waren.
„Yvonne ist keine Medizinerin?“
„Nein, ihr Vater hat Tropenmedizin gelehrt. Seit Madame Yvonne ihre Arbeiten zu dieser stummen Migration publiziert hat, sind viele Menschen aus vielen nicht immer humanen Gründen hinter dem Geheimnis her.
„Und dieser arme Mann im weißen Kittel bist du im Moment?“
„Du sagst es, teure Lene. Angeblich hat sie auch andere ehemalige Verehrer und Schüler eingespannt. Wir werden gnadenlos ausgebeutet.“
Anika zwinkerte Lene zu. Was lernten Ehemänner als Erstes? „Lerne zu klagen, ohne zu leiden.“
Lene stimmte zu: „Wenn Männer die Kinder bekommen müssten, wäre die Spezies längst ausgestorben.“
Stierle entdeckte jeden Fettnapf zur rechten Zeit. „Sabine ist übrigens schwanger.“
„Großartig.“ Lene war Trauzeugin bei der Tochter Stierle gewesen.
„Sag mal, du armer Mann, dir ist doch sicher aufgefallen, dass diese BB recht hübsch ist?“
„Doch ja, etwas.“
„Kannst du dir vorstellen, dass die blonde Schönheit einem deiner Studenten so den Kopf verdreht hat, dass der sich eine Pistole und Schalldämpfer besorgt hat, um einen vermeintlichen Nebenbuhler aus dem Weg zu räumen?“
„Ausgeschlossen. So aktiv und zielstrebig sind meine Studenten nicht mehr. Werther ist Vergangenheit. Und Lotte hat Weimar vor dem Mauerbau besucht.“
„Prima, dann bedanke ich mich für eine wie immer ausgezeichnete Yoghurt-Kirsch-Torte und will nicht länger stören.“
Sechstes Kapitel
Lene Schelm hatte den Rest des Tages genutzt, um Namen und Anschriften zu sammeln. Sie war schon in der Tellheimer Zentrale der Leininger Handelsbank angemeldet, sodass alles für sie bereit lag, als sie dem Vizepräsidenten die Hand schüttelte. Der war ein gut aussehender Mann in ihrem Alter, der ihr gefiel.
„Das war ja wirklich eine böse Überraschung“, stimmte sie zu. „Wie viel haben der oder die Täter denn erbeutet?“
„Etwas über 180.000 Euro in bar. Was die von den Schließfachmietern eingelagerten Schätze wert sind oder waren, wissen wir nicht. Das binden uns die Kunden auch nicht auf die Nase.“
„Verstehe“, sagte Lene trocken. „Man soll keinen schlafenden Finanzbeamten aufwecken.“ Sie hatte sich einmal sehr unbeliebt gemacht, als sie bei einem Empfang des Bürgermeisters einen Witz erzählte, der ihr sehr gefallen hatte. „Mikado wurde von Beamten erfunden. Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.“ Sie war nie wieder ins Rathaus eingeladen worden, was sie nicht wirklich schmerzte.
Der Vize hüstelte nervös. „Der Fiskus macht uns im Moment die geringsten Sorgen.“
„Sondern wer?“
„Wir hatten als Beitrag der LHB zur Renovierung des Landesmuseums gebührenfrei den „Keltenkönig“ zur Verwahrung während der Bauarbeiten übernommen, und zwar in der Filiale Bühler Markt.“
„Um Himmels willen“, sagte Lene ehrlich entsetzt. Der „Keltenkönig“ war die wissenschaftlich völlig unbegründete, aber in Leiningen populäre Bezeichnung für einen fast ausschließlich aus Goldteilen bestehenden Grabfund, der bei Straßenbauarbeiten zufällig ans Tageslicht gekommen war. Ein fantasiereicher Journalist, der von Früh- und Vorgeschichte keine Ahnung hatte, war darauf gekommen, wegen der ungewöhnlichen Kostbarkeit der Grabbeigaben aus zweifelsfrei keltischer Zeit den Bestatteten zum „Keltenkönig“ zu befördern, und mittlerweile wurde der gesamten Fund als der „Keltenkönig“ oder King Lear südlich des Mains geführt. Er war der ganze Stolz des Museums für Leininger Landesgeschichte, das jetzt unbedingt renoviert werden musste, und für Leiningen so wertvoll wie mal die Krone und Zepter für alle Teile des Reiches. Lene kannte beruflich einen alten Kustos des Museums Dr. Klaproth, der sich in Tränen auflösen würde, sollte „sein Keltenkönig“ nicht wieder auftauchen. Er hatte gegenüber Lene den „Keltenkönig“ als eine Art Existenzberechtigung des Bundeslandes Leiningen bezeichnet.
„Sie verstehen, dass wir diesen Verlust gerne so lange wie möglich geheim halten möchten.“
„Das verstehe ich gut“, stimmte Lene ehrlich zu. „Aber helfen Sie mir bitte, so eine Rarität ist doch unverkäuflich. Jeder Fachmann, jedes Museum würde ihn doch erkennen.“
„Richtig. So was kann man nicht über einen Hehler verticken, aber das Land oder das Museum zum ‚Rückkauf‘ quasi erpressen.“
Lene wusste aus ihren Fachzeitschriften, dass der illegale Handel mit antiken Stücken oder Teilen – sei es aus Palmyra oder aus Bagdad – blühte. Inzwischen konnte man mit allem handeln und vor allem betrügen, Rauschgift, abgelaufenen Medikamenten, Kunst, Antiken oder Möbeln, Menschen, Mädchen, Waffen, Kreditkarten. Lene fand die alltägliche Welt langsam nicht mehr schön, auch die Tatsache nicht tröstlich, dass die meisten Objekte ihres Berufs das alles hinter sich hatten und dass Betrug und Betrüger überall lauerten. Sie leugnete nicht, dass ihr die Wiedereinführung der Prügelstrafe und des Prangers gelegentlich sehr willkommen wäre. Lene zitierte auch gerne ihre Version des Artikels Eins GG. „Die Würde des Betrügers ist unantastbar. Für das Opfer gilt Teil zwei: ‚Hätte besser aufpassen sollen‘.“
Der Vize räusperte sich und sie kehrte in die Leininger Gegenwart zurück: „Der oder die Täter müssen zwei PIN-Zahlen gekannt und Schlüssel für die Kellertüren besessen haben.“
„Ja, leider.“
„Ich brauchte die Namen und Anschriften aller, die die Zahlen kannten. Dazu bitte Namen und Anschrift des Mitarbeiters, der wusste, wie man die PIN-Zahlen verändert.“
„Steht auch hier auf der Liste.“
„Unsere Techniker behaupten, dass eine der PIN-Zahlen vor nicht allzu langer Zeit geändert worden ist.“
„Stimmt. Dem Filialleiter Bühler Markt ist der Dienstwagen geklaut worden, und darin lag dummerweise auch sein Merkbuch, unter anderem mit den PIN-Zahlen.“
„Ärgerlich.“
„Ja. Gestatten Sie mir bitte auch eine Frage?“
„Bitte, bitte.“
„R – 11 ist bei Ihnen doch Mord und Totschlag und Entführung.“
„Stimmt.“
„Was hat ein ausgeraubter Tresor in der Filiale Bühler Markt der LHB mit Mord und Totschlag zu tun?“
Lene musterte ihn verblüfft und schluckte erst einmal trocken, bevor sie schaltete: „Ich schlage Ihnen ein Tauschgeschäft vor. Die Kripo schweigt über den ‚Keltenkönig‘ und Sie lassen niemanden wissen, dass sich R – 11 für die Tresore am Bühler Markt interessiert.“
Der Vize raufte sich seine Haare und stimmte dann erleichtert zu.
Das war knapp, gab sie zu, als sie im Auto saß und hinter Alex Brunner her telefonierte, der auf dem LHB-Papier als Leiter der EDV bezeichnet wurde. Am Telefon meldete sich eine Frau mit „Hallo“.
Lene hasste diese Unart, sich nicht mit Namen einzustellen und knurrte deswegen nur. „Ich muss dringend mit Alex sprechen.“
„Der ist nicht da, der ist auf Arbeit.“
„Das kann ich mir denken, ich muss ihn trotzdem sofort sprechen.“ Die Frau schien aufzuwachen, „Wer sind Sie denn?“
„Ich heiße Gudrun und habe Alex versprochen, ihm einen Namen und eine Anschrift zu besorgen. Der Mann wartet jetzt auf seinen Anruf. Es ist eilig.“
„Und warum sagen Sie ihm das nicht selber direkt.“
Lene schielte auf die Liste. „Ich habe eine Handynummer, doch das Gerät ist wohl abgeschaltet.“
„Komisch.“
„Finde ich auch. Also, wo finde ich Alex jetzt?“
„Mir hat er nur gesagt, er müsse nach Braakenfeld fahren.“
„Danke, dann weiß ich schon, wo ich ihn finde.“
„Und Sie heißen Gudrun?“
„Ja, Gudrun Hallo.“
„Komischer Name.“
„Richtig, genau wie Ihrer.“
Lene rief ihre Kollegin Jule Springer an: „Ich habe hier eine Anschrift und eine Festnetznummer. Offiziell wohnt dort ein Alex Brunner. Ich brauche Namen und vor allem Fotos der Frau, die mit Brunner in der Wohnung lebt, was sie oder er aber nicht merken sollen.“
„Okay. Und wo kurvst du herum.“
„Ich fahre jetzt los nach Braakenfeld.“
„Viel Vergnügen.“
„Danke.“ Bis Braakenfeld brauchte sie fünfzehn Minuten. Wenn sie sich richtig erinnerte, gab es dort nur eine LHB-Filiale am S-Bahnhof, und da trieb sie auch Alex Brunner auf. Er war ein Riese, bestimmt zwei Meter groß, breitschultrig wie ein Kleiderschrank und mit einer brünetten Lockenpracht gesegnet, um die ihn manche Frau beneiden und mancher Friseur verwünschen mochte. Wie zu erwarten, machte er sich an der EDV zu schaffen und war über die nun störende Lene gar nicht erbaut.
Ja, dem Filialleiter hatten man nachts den Dienstwagen vor seinem Bungalow geklaut, und der gute Mann hatte natürlich gegen alle Vorschriften und Vernunft die beiden PIN-Zahlen in einem Merkbuch notiert, das er im Auto vergessen hatte.“
„Nein, am Bühler Markt haben wir noch ein älteres Modell, bei dem man die Tastaturen ausbauen muss, um die Öffnungszahlen zu verändern. Bei neueren Modellen können Sie das von außen erledigen.“
„Eine Sache ist mir immer noch unklar. Wie kommen denn der Kassierer und Sie an die Tastaturen heran?“
„Sie müssen durch zwei verschließbare Türen in den Keller gehen, da gibt es einen eigenen Raum für elektrische Sicherungen, Notstrombatterien und Schaltanlagen.“
„Verschließbare Türen?“
„Ja. Alle, aber das sind normale Sicherheitsschlösser. Gute Qualität, aber ein erfahrener Schlosser öffnet ihnen die in zwei, drei Minuten.“
„Ein erfahrener Schlosser“, wiederholte Lene bedrückt und dachte an Pekos Beruf.
„Ja, ein guter sollte es schon sein, damit keine Spuren zurückbleiben.“
„Herr Brunner, Sie haben also neue Kombinationen sozusagen eingelötet. Hat man Ihnen die Zahlen vorgegeben?“
„In diesem Fall ja.“
„Und wer kennt die neuen PIN-Zahlen jetzt?“
Der Hauptkassierer, der Filialleiter und die beiden jeweiligen Stellvertreter.“
„Und Sie.“
Brunner versuchte, sich einen größeren Teil seiner Lockenpracht auszureißen.
„Sie werden lachen, ich habe sie schon vergessen. Wollten Sie sie von mir hören?“
„Wäre schön gewesen, das Land zahlt seinen Beamten nicht gerade Spitzengehälter.“
„Die LHB auch nicht, Frau Schelm.“
„Dann können ja zwei arme und ausgebeutete Menschen offen miteinander reden. Ist diese Tresoranlage am Bühler Markt eigentlich das Modernste und Sicherste, was es zu kaufen gibt?“
Er lachte, ehrlich erheitert: „Nein, aber unser Modell reicht aus.“
„Und wer bestimmt, was ausreicht?“
„Am Ende die Versicherung mit ihrer Prämienhöhe.“
„Die auf keinen Fall die Boni der LHB-Oberen gefährden darf?“
„Sie sagen es. So, und wenn Sie nichts dagegen habe, würde ich mich gerne wieder an meine Arbeit machten. Zu Hause wartet meine Freundin, ich hab’ versprochen, heute pünktlich zu sein und sie groß zum Essen auszuführen.“
„Nix dagegen, wer wenig verdient, soll zumindest viel arbeiten. Vielen Dank für Ihre Unterrichtsstunde.“
Natürlich gehörte Brunner jetzt zu den Hauptverdächtigen, überlegte Lene auf der Rückfahrt; die Kollegen vom Achten würden ihm schon auf die Pelle rücken. Keine schöne Situation für Alex Brunner. Feststellen, ob Brunner die beiden PIN-Zahlen verkauft, verloren oder verraten hatte, war nicht ihre Aufgabe. R – 11 sollte den Mord an Peko aufklären, und dass der reiche Schlosser etwas mit dem großen Klau neben Cori zu tun hatte, war ja nichts weiter als eine fantasievolle Theorie und kühne Vermutung.
Lene zitierte noch vor dem Abendgebet Tine Dellbusch zu sich: „Bist du dir ganz sicher, dass die Summen auf Pekos Konto absolut sauber sind? Klassenlotterie und Lotto respektive Glücksspirale?“
„Absolut. Chefin.“
„Tu’ mir trotzdem einen Gefallen und prüfe es noch einmal nach!“
„Geht in Ordnung, Chefin.“
Beim Abendgebet wurde nur eine Neuigkeit bekannt. Eine frühere Nachbarin des Peter Korn behauptete, Pekos ehemalige Freundin heiße Anita Schuster und arbeite als Verkäuferin in einem Secondhandshop für Damenmode in der Silbergasse.
Jule ging früher, nachdem Lene ihr berichtet hatte, Alex Brunner, das brünette Lockenwunder, wolle heute seine Freundin ganz groß ausführen. „Ich verspäte mich vielleicht morgen, je nachdem, wie lange die beiden mich auf den Beinen halten.“
Siebtes Kapitel
„Bist du verrückt?!“, schnauzte der Bärtige los. „Wer soll das denn kaufen. Der kann sich doch gleich ein Schild um den Hals hängen. Geklaut, bitte die Polizei rufen. Wie bist du denn auf die hirnrissige Idee gekommen, das Zeugs mitgehen zu lassen.“
„Weil es da in einem Tresor herumstand, den ich geöffnet hatte. Ich wusste doch gar nicht, was in der Kiste war.“
„Also nur aus Neugier mal so mitgenommen?“
„Ja.“
„Dann nimm die Kiste gleich wieder mit. Ich habe niemanden an der Hand, dem ich das anbieten kann und der die Nachfrage für sich behalten würde. Es ist schon viel zu gefährlich, sich nach einem Abnehmer für dieses Zeugs zu erkundigen.“
„Willst du nicht mal einen Blick drauf werfen?“
„Nein, hau’ ab damit!“ Der Kleine mit den vielen auffälligen Sommersprossen seufzte. Die Kiste war sperrig und schwer und er hatte niemanden, der ihm beim Tragen half.
Jule Springer erkannte Alex Brunner sofort an dem wilden Lockengestrüpp auf dem Kopf, von dem Lene Schelm ihr erzählt hatte. Aber die aufgedonnerte Schöne mit dem tief ausgeschnittenen Kleid musste Brunners Freundin sein. Die beiden schienen im ersten Stock zu wohnen, denn dort waren alle Lichter erloschen, kurz bevor Brunner und die Superbusenfrau aus dem Haus kamen.
Jule hatte noch mehrere Fotos von dem Paar machen können. Die Haustür mit einem Dietrich zu öffnen, war ein Kinderspiel, der Rest ihres Auftrages auch. Denn an einem Hausbriefkasten im Flur zur Treppe klebte an dem Kasten mit dem Schildchen A. Brunner ein heller Pappstreifen unter einem Stück durchsichtiger Tesa: „K. Lochner.“
Jule überlegte, ob sie noch auf A. Brunner und K. Lochner warten sollte, aber dann knurrte ihr Magen vernehmlich und sie rief den Hoppelhasen an: „Ich bin schneller fertig geworden als befürchtet und jetzt habe ich mächtig Hunger. Was meinst du? In einer Viertelstunde in der Spätlese?“
Staatsanwalt Paul Hase, Jules Lebensabschnittsgefährte mit ernsten, bisher aber abgelehnten Absichten, war begeistert. „Aber ohne Autos. Denn ich habe nicht nur Hunger sondern auch schrecklichen Durst.“
„War dein Plädoyer so lang und so anstrengend? Wie viel soll er denn deiner Meinung nach kriegen?“
„Elf Jahre und anschließend Sicherheitsverwahrung.“
„Der arme Steuerzahler.“
„Ja, aber wenn du endlich ja sagen würdest, kämen wir in den hilfreichen und steuersparenden Genuss des Ehegattensplittings.“
„Frühestens nach dem Essen, Paul.“
Fido Lorch, der Pächter der Spätlese, hatte gerade seinen berühmten Winzerbraten und einen sehr trinkbaren Grauburgunder zu Jule Springer und Paul Hase an den Tisch gebracht, als zwei Männer die Spätlese betraten, der eine kraulte seinen prächtigen Vollbart, der andere mit den weit vorangeschrittenen Geheimratsecken zog seinen Begleiter rasch in ein Nebenzimmer.
„Was ist los?“, wollte der Bärtige wissen.
„Da sitzen zwei, die mich kennen.“
„Woher?“
„Der Mann ist Staatsanwalt Paul Hase.“
„Und die hübsche Blondine an seiner Seite?“
„Heißt Jule Springer, ist nicht nur seine Freundin, sondern auch Oberkommissarin bei der Kripo.“
„Ein wahrlich gefährliches Paar. Aber keine Sorge, du bist ein unbescholtener Stadtverordneter und gegen mich liegt zurzeit nichts vor, wird auch nicht ermittelt.“
„Was kann ich den Herren bringen?“
Der Bärtige schaute die junge Frau aufmerksam an. „Wir haben mächtig Durst. Einen trinkbaren Weißen und eine große Flasche Mineralwasser mit Gas.“
„Wenn Sie auf Schorle stehen, empfehle ich eine junge Scheurebe von der südlichen Weinstraße, aus Edenkoben. Auch die Speisekarte gefällig?“
„Danke nein, vielleicht später.“
Nach dem ersten Glas Schorle fragte der Geheimrat: „Was willst du mir vorschlagen?“
„Schau dir das mal an!“ Damit schob der Bärtige ein dünnes Heftchen mit vielen Buntfotos vor seinen Nachbarn hin. „Kennst du das?“
„Sicher, das ist der Keltenkönig. Warum fragst du mich danach?“
„Man hat ihn mir angeboten.“
„Zum Kauf oder Verkauf?“
„Zum Verkauf natürlich.“
„Das ist doch Blödsinn, so was kannst du doch nicht verticken. Wer hat ihn dir denn angeboten?“
„Ein guter alter Kunde, der Name spielt keine Rolle. Er hat einen Tresor ausgeräumt und wohl nur aus Neugier eine merkwürdige Kiste mitgehen lassen.“
„Und da war der Keltenkönig drin?“
„Ja.“
„Und was soll ich damit?“
„Verkaufen kann ich den Klumpatsch nicht.“
„Ich auch nicht.“
„Aber du weißt bestimmt, wen man unter Umständen ansprechen kann, bei der Stadt, beim Land oder beim Museum, damit einer den Klumpatsch zurückkauft. Still und heimlich, ohne Presse und Bohei.“
Und weil der Geheimrat schwieg, drängte der Bärtige: „Es soll dein Schaden nicht sein. Ich verspreche dir eine saftige Vermittlungsprovision. Natürlich wird dein Name nicht genannt.“
„Wie lange kann ich es mir überlegen?“ Geld konnte er gebrauchen, aber das Risiko war auch immens. Statistisch war jeder Einwohner von Tellheim wenigstens einmal im Museum gewesen und hatte sich den Keltenkönig angeschaut.
„Sagen wir – drei, vier Wochen?“
„Okay. Jetzt bekomme ich doch Hunger.“
„Da hinter dir ist ein Klingelknopf für die Bedienung.“
Tine überzeugte sie, dass nun zwei große Flammkuchen angebracht seien, und als sie den Nebenraum verließ und wie gewohnt ihre Hüften schwenkte, murmelte der Bärtige lobend: „Hübscher Arsch.“
„Stimmt, aber Vorsicht, der ist vergeben.“
„Verheiratet?“
„Nein, schlimmer, verliebt. In den Pächter des Lokals. Und der ist ein früherer Kripo-Mensch, der beim Einsturz der Osttribüne zu hartnäckig recherchiert hat, wer denn an der Schlamperei am meisten verdient hat. Und dein hübscher Arsch gehört einer Kriminalkommissarin, die hier ihrem Freund aushilft.“
„Mann Gottes, das ist ja ein richtig gefährliches Lokal. Alles Kröten hier?
„Der Krötengraben ist nicht weit weg.“ Es gab mehrere widersprüchliche Urteile, ob die öffentlich geäußerte Bezeichnung „Kröte“ für einen Tellheimer Polizisten schon eine Beamtenbeleidigung oder nur eine ortsübliche Umschreibung für seinen Arbeitsplatz sei.
„Aber der Wein ist gut.“
„Das stimmt.“
„Wie hieß der Ort noch mal?“
„Edenkoben.“
„Aha, ich kenne nur Maikammer da in der Kante.“
Als sie gingen, nahm der Bärtige das Heftchen über den „Keltenkönig“ mit; denn als er es vor dem Treffen im Museum gekauft hatte, war ihm sofort aufgefallen, dass sich auf dem glatten, versiegelten Einband Fingerabdrücke prächtig halten müssten. Fast noch mehr als die Kripo und die Kriminaltechnik fürchtete er den dummen Zufall.
Nur Lene Schelm aß allein und das ziemlich kärglich; sie hatte in ihrem fast leeren Kühlschrank noch eine Dose Heringsfilets in Senfsauce gefunden, deren Haltbarkeitsdatum bald abgelaufen war. Lene hasste es, Lebensmittel wegzuwerfen, und hatte deshalb die Dose entschlossen aufgerissen. Der Inhalt war keine kulinarische Offenbarung, auch mit frischen Zwiebelringen nicht, für die sie einige Tränen vergoss. Das lautstarke Treffen von Senf, Fisch, Zwiebeln und Rotwein in ihrem Magen störte etwas, aber nicht sehr, beim Einschlafen.
Nur Uwe Sommersprosse aß gar nichts; dass sich der bärtige Kuno schlicht geweigert hatte, auch nur einen Blick in die wertvolle Kiste zu werfen, hatte ihm allen Appetit verdorben, so sehr, dass er ernsthaft überlegte, sich einen anderen Abnehmer zu suchen. Aber das kündigte man in Ganovenkreisen, die etwas auf sich hielten, vorher nicht an, sondern schuf vollendete Tatsachen, aber Uwe hatte keinen neuen Hehler in Aussicht, der so widerspruchslos ihm bisher alles abgenommen hatte. Deshalb verstaute er die Kiste auf dem Dachboden hinter einer verschlossenen Abseite und verspürte danach Durst. Das Bier hatte die richtige Temperatur und war in befriedigender Menge vorhanden, zeigte allerdings auf nüchternen Magen bald Wirkung. Sommersprosse schlief fest und schnarchte wie eine Sägemühle, als ein Einbrecher, der sich im Haus auskannte, die Hintertür aufschloss, auf dem Dachboden zu suchen begann, und die Abseite öffnete, an der Spuren im dichten Staub verrieten, dass sich vor Kurzem jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Die Brüder hatten hier immer ihre Beute zwischengelagert. Die Kiste war tatsächlich nicht groß, aber schwer, was Gold nun mal so an sich hatte, und sperrig.
Achtes Kapitel
Um zehn Uhr trafen sich Lene und Jule in der Silbergasse vor Susis Shop. Lene hatte hier auch schon selten getragene Kleider zum Verkauf angeboten, aber der Erlös war immer so gering ausgefallen, dass sie heute ihre alten Sachen lieber einer kirchlichen Kleiderkammer schenkte. Anita Schuster erkannte sie sofort an der knusprig-braunen Hautfarbe, sie hatte in einem sonnenreichen Land Urlaub gemacht und war vor zwei Tagen zurückgekommen.
Pekos Tod erschütterte sie nicht sehr, sie hatte sich von ihm getrennt, als er zu Knast ohne Bewährung verurteilt worden war, und lebte seitdem mit einem Mann zusammen, den sie schon in der Berufsschule kennengelernt und den sie seinerzeit Pekos wegen abgewiesen hatte. Pekos Spielsucht entdeckte sie erst viel später, da ging es mit seinem Geschäft schon steil abwärts.
Lene und Jule entführten Anita in ein Café, in dem sie sich ungestörter unterhalten konnten. Bei Susis kam die Ladentür nicht zum Stillstand. Peko war ein netter Kerl gewesen, ruhig, fleißig und treu, sogar schon etwas langweilig. Freunde hatte er nicht, und als sie ihn mal fragte, warum eigentlich nicht, hatte er gestanden, dass er sich mit Freundschaften immer schon schwer getan hatte und heute gar nicht wusste, wo und wann er gleichaltrige Männer oder Frauen noch kennenlernen sollte. Sport war nicht, er musste schon lange und hart arbeiten und in Spielhallen neigten Besucher nicht zu langen Reden und Seelenergüssen. Vor den blinkenden und tönenden Apparaten blieb und verlor man allein.
„Er war also ziemlich einsam?“, fragte Jule fast besorgt.
„Ja, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass er wirklich nach Kontakten suchte. Er war’s ganz zufrieden so.“
„Ein Einzelgänger?“, setzte Jule nach.
„Ja, ein Eigenbrötler und dazu passte auch, dass er nur selten und ausgesprochen ungern aus seiner Vergangenheit erzählt hat.“
Lene riskierte einen Vorstoß: „Wussten Sie, dass er viel Geld im Lotto und in einer Lotterie gewonnen hatte?“
„Nein! Echt?“
„Über 90.000 Euro. Er hatte schon alle Schulden bezahlt, bevor er starb.“
„Nicht zu glauben.“
Anita grübelte einen Moment, hatte sie da was versäumt?, trank den letzten Rest ihres Kaffees aus und meinte nicht einmal unfreundlich: „Wenn das so ist, kann ich mir beim besten Willen keinen Menschen vorstellen, der Peko umbringen sollte. Aber wer weiß, im Knast begegnet man ja den seltsamsten Typen.“
Jule zeigte ihr noch auf dem Display ihres Handys die Aufnahmen, die sie gestern von Alex Brunner und seiner Freundin gemacht hatte, und Anita nickte, ohne zu zögern: „Ja. Die beiden kenne ich. Die kommen häufiger in den Laden und kaufen für die Frau ein. Sie ist nicht prüde und zeigt gerne, was sie hat. Er nennt sie Karin und sie ihn Alex. Die Nachnamen kenne ich nicht.“ Anita konnte auch nicht wissen, dass Brunner seine Karin ungern zu Susis Shop begleitete. Sie liebte offenherzige Kleider, die ihm nicht immer gefielen, und seit er herausgefunden hatte, dass sie häufiger ein „erotisches Fotostudio“ K. Venna in der Löbelstraße aufsuchte, fürchtet er, dass sie dort gegen Geld alle Hüllen fallen und sich anfassen und mit anderen Männern nackt fotografieren ließ. Beide ahnten sie wohl, dass ihr Verhältnis nicht mehr lange dauern würde.
Auf der Rückfahrt ins Präsidium war Lene sehr schweigsam und bemühte sich vergeblich, sich an einen Satz zu erinnern, den Anita so nebenbei ausgesprochen hatte. Da hatte es bei Lene zwar Klick gemacht, aber leider zu schwach, um in der Erinnerung haften zu bleiben.
Tine hatte noch einmal die Quellen von Pekos Reichtum nachrecherchiert und kontrolliert und war zu keinem anderen Ergebnis gekommen „Alles sauber und legal. Aber wissen Sie, was wirklich verwunderlich ist? Kaum ein Mensch will ihn gekannt haben.“ Da war er wieder, der Klick, und Lene atmete erleichtert auf: „Tine, ich habe noch eine Strafarbeit für dich.“
„O nein, bitte nicht. Ich soll bei Fido für die Abendkarte Auberginen und Sellerie würfeln.“
„O bitte doch: Hat Peko im Knast jemanden getroffen, der ihm ans Leder wollte? Wo hat Peko von wann bis wann gesessen. Und in jedem Fall eine Liste aller Mithäftlinge und du darfst markieren, wen Peko später getroffen haben kann. Es muss nicht unbedingt ein Mann sein, eine Karin tut’s auch.“
„Da bin ich ja Wochen beschäftigt.“
„Na, so lang wohl nicht. So lange und oft hat Peko ja nicht gesessen. Und wenn die Justizverwaltungen anderer Bundesländer nicht mitspielen wollen – du weißt ja, wer dir helfe kann und wird.“
Tine fuhr zurück und wurde rot: „Doch nicht der stramme Frank.“
Lene sah sie scharf an: „Hör mal, ich mag Dobbertin auch nicht leiden. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der so dumm ist, einer jungen Polizistin in den Ausschnitt zu greifen.“
„Hat er aber.“
„Hast du dich nicht gewehrt?“
„Nein, ich fand es ja ganz angenehm. Bis er zum Schluss so blöd fragte: ‚Ist das alles oder wächst der noch nach?‘ Da hätte ich ihm am liebsten eine geknallt.“
Lene blieb mühsam ernst: „Ich weiß ein Mittel gegen solche Übergriffe.“
„Was denn?“
„Ganz kleine, oder am besten gar keine Ausschnitte. Und Fido zieht dich doch bestimmt ganz aus. Dagegen hast du doch bestimmt nichts einzuwenden.“
Tine schluckte und zog mit feuchten Augen wortlos ab. Sie würde sich bei ihrem Fido ausweinen, der seine Tine so liebte, wie sie war. Diese Schelm hatte gut reden, Chefin, viel Geld und auch noch eine perfekte Figur.
Als Tine nach der Klinke fasste, fügte Lene noch hinzu. „Und wenn du die Liste mit den JVAs zusammen hast, dort anrufen, mit wem Peko zusammen in einer Zelle gelegen hat. Und mit wem er Ärger hatte.“
„Auch das noch“, stöhnte Tine in sich hinein, was Lene zwar nicht hörte, aber ahnte. Die junge Kollegin musste sich langsam entscheiden, ob sie Karriere bei der Polizei oder bei Fido Lorch machen wollte.
Trotzdem setzte Tine sich sofort an ihren Computer, um ihren Auftrag zu erledigen. Wo hatte Peko von wann bis wann gesessen? Und eine Liste der Mithäftlinge. Wann und zu welcher Adresse entlassen? Der Computer musste keinen Sellerie schälen und Auberginen waschen und mühsam von Hand würfeln, der arbeitete in der Regel unverdrossen, wenn man nicht den Stecker zog.
Sie kam noch rechtzeitig zum Küchendienst in die Spätlese. Die bunte Gemüsepfanne aus Auberginen, Sellerie und getrockneten Tomaten fand bei den Gästen allgemeinen Beifall und Fido, der unermüdliche Experimentator am Herd, verkündete, bevor er sich Tines Busenbeschwerden anhören musste, er habe eine weitere Idee, statt getrockneter Tomaten schöne reife Kapern.
„Fertige aus einem Glas, keine Angst.“
Tine Dellbusch ließ ihre zweite Beschwerde vom Stapel, und diesmal lachte Fido seine Tine aus: „Eine kluge Frau, deine Chefin.“
„Äh …?“
„Bei der Kripo muss man manchmal gegen den logischen Strich denken. Es geht doch um diesen ermordeten Peko?“
„Ja.“
„Wenn es nun umgekehrt war. Nicht Peko hat einen Tipp für einen Bruch verkauft, wie man in die Bank einbricht, sondern der Einbrecher befürchtet, Peko habe ihn erkannt.“
„Wann denn und wo denn?“
„Als der Einbrecher die Bank ausbaldowerte. Wann gab es Wächter? Wenn ja, liefen die feste Kontrollgänge?“
„Warum sollte Peko sich um einen vermeintlichen Einbrecher kümmern?“
„Was, wenn sie sich aus einer JVA kannten? Peko dachte: ‚Was macht der denn hier?‘ Der andere überlegte: ‚Will Peko etwa auch in diese Bank?‘“
„Hm.“
„Du hast doch selber recherchiert, dass Peter Korn ein Konto bei der LHB-Filiale Bühler Markt besaß. Also hatte er einen guten Grund neben der Tafel, dort häufiger aufzutauchen, und der Einbrecher, der die Bank ausbaldowerte, hat ihn erkannt.
„Oder umgekehrt: Peko hat einen alten Bekannten aus einer JVA getroffen.“
„Was nur noch zu beweisen wäre. Aber Peko können wir nicht mehr befragen.“
„So ist es mir doch auch ergangen. Der Mann, der angeordnet hatte, am Zement zu sparen, ist von der deswegen einstürzten Mauer erschlagen worden.“
„Womit ein gefährlicher Mitwisser ausgeschaltet war.“
Sie zog sich das Shirt über den Kopf und war gespannt, was die Chefin morgen zu dieser Idee sagen würde. Die Nacht verlief harmonisch und für beide sehr befriedigend. Fido war ein guter Liebhaber und sie hatte schon viel von ihm gelernt.
Neuntes Kapitel
Uwe Lochner bemerkte den Verlust der wertvollen Kiste mit dem „Keltenkönig“ erst nach zwei Wochen, als er einen Anruf von Kuno Traube bekam: „Was hattest du dir denn vorgestellt, was du für deine Kiste haben willst?“
„Keine Ahnung. Zumindest den Goldwert, denke ich.“
„Und wie hoch ist der?“
„Da muss ich erst einmal wiegen.“
„Tu’ das und dann telefonierst du mir das Gewicht ins Geschäft. Okay?“
„Alles klar.“ Die Frage, ob und wer da angebissen haben konnte, stellte man nicht am Telefon. Dazu war das Netz viel zu unsicher geworden, auch ohne Speicherung der Verbindungsdaten.
Uwe, die Sommersprosse, kletterte also auf den Dachboden und fürchtete, einen Herzinfarkt zu bekommen. Die wertvolle Kiste mit dem „Keltenkönig“ war weg, spurlos verschwunden, die Abdeckung der Abseite nur leicht beschädigt. Aber sonst deutete nichts auf einen Einbruch hin.
Kuno Traube traute seinen Ohren nicht: „Du machst doch einen schlechten Scherz, lieber Uwe.“
„Nein, leider gar nicht, das Ding ist weg. Ich kann nicht einmal sagen, seit wann.“
„So schlecht versteckt? Das ist ja nun mal ein Schuss ins Knie. Du darfst meine Anfrage gleich wieder vergessen, unter diesen Umständen kommen wir nicht ins Geschäft.“
Traube verabredete sich mit „Zwerg Nase“ zu einem Spaziergang im Stadtpark und geschützt durch das Rauschen der großen Fontäne erzählte er, dass sich der Schwachkopf namens Uwe die Kiste mit dem „royalen Inhalt“ hatte klauen lassen. „Zwerg Nase“ war schwer enttäuscht, was er aber nicht zeigte. Er hatte fest mit einer Provision gerechnet und würde nun einem ungeduldigen Partner erklären müssen, dass er die versprochene Einlage zum vereinbarten Termin nicht würde einzahlen können.
„Das ist ja ein Mist. Sag mal, bist du sicher, dass dein Uwe die Kiste aus der LHB-Filiale Bühler Markt mitgebracht hat?“
„Ja, bin ich.“
„Und warum steht davon nichts in der Zeitung?“
„Keine Ahnung. Der LHB wird es nur recht sein, wenn nicht bekannt wird, was alles man aus ihren angeblich so sicheren Tresoren mitgenommen hat.“
„Das ist eine Idee, lieber Christian.“
Und so bekam der Vizepräsident der LHB einen höchst unerfreulichen Anruf, als Tine noch, gespannt auf Lenes Reaktion, zum Dienst fuhr.
„Sie wollen was?“
„Nur ein halbe Million Euro, damit morgen nicht im Tageblatt steht, was alles aus dem Tresor am Bühler Markt geklaut worden ist.“
„Sie sind ja verrückt.“
„In engen Grenzen ist das sogar richtig.“
„Ich denke nicht daran, einem Unbekannten einfach so eine halbe Million hinzublättern.“
„Okay, das ist Ihre Entscheidung, wenn Sie es sich anders überlegen, setzen sie eine Kleinanzeige ins Tageblatt: „Leininger Heimatfreund sucht nach Geldgebern, um die Grabungen bei Stockenstein fortsetzen zu können.“ Bei Straßenbauarbeiten rund um das Nest Stockenstein war seinerzeit das Grab des „Keltenkönigs“ entdeckt worden.
„Stockenstein?“
„Ja, ich melde mich dann wieder.“
Er klappte das Handy zu und betätigte die Toilettenspülung. Sina hatte an der Tür gelauscht, aber nur den Namen „Stockenstein“ deutlich verstanden.
Er zog den Reißverschluss hoch und gab der Prostituierten Sina ihr Handy zurück: „Vielen Dank. Ich habe ihn auf Anhieb erreicht.“
„Beginnt dein Arbeitstag immer so früh?“
„Bei deinen Tarifen, meine Liebe – notgedrungen.“
Geschmeichelt ließ Sina ihre schweren Brüste hüpfen, was er unästhetisch fand. Aber er sagte nichts, er würde sich hoffentlich noch einmal ihr Handy ausleihen müssen.
Zehntes Kapitel
Christine Dellbusch war sofort zu Marlene Schelm gerannt, die sich aufmerksam anhörte, was Tine mit ihrem Fido im Schlafzimmer ausgekaspert hatte.
„Toll, auf deinem Mist gewachsen, Tine? Oder bei Fido mal wieder Dienstgeheimnisse ausgeplaudert?“
Nun wollte Tine gerne Eindruck bei der Hauptkommissarin schinden. Aber dieser Wunsch war nicht so groß, dass sie die elterlichen Lehren einfach über Bord geworfen hätte: „Man lügt nicht. Außerdem werden Lügen immer hart bestraft.“
„Nein, Fido hat mir demonstriert, dass man bei der Kripo auch mal gegen den logischen Strich denken müsse.“
Das „Gegen den logischen Strich denken“ fand Lene eine hübsche Formulierung: „Wenn du schon ausplauderst, was wir hier so treiben, lies mal die Akte Peter Korn und erzähle deinem Fido, dass der ermordete Peko bei der Teta ausgeholfen hat und deswegen fast jeden Tag zu Cori an den Bühler Markt gekommen ist.“
Lene wusste genau, so ungern die jungen Kollegen ausführliche Protokolle schrieben, so ungern und flüchtig lasen sie auch Akten. Die Vermutung, dass Tine sich die Akte Peter Korn nicht allzu genau angeschaut hatte, lag also nahe.
Auch Lene erhielt einen unangenehmen Anruf. Der LHB-Vizepräsident schilderte ihr, was man ihm und seiner Bank heute angedroht hatte und fragte einigermaßen hilflos: „Was soll ich tun, Frau Schelm?“
„Da kann ich Ihnen keinen Rat geben. Wir haben niemanden über den ‚Keltenkönig‘ informiert, und klipp und klar, Herr“ – wie zum Teufel hieß er bloß noch? … „Herr Scheuren, wir versprechen nicht, ob überhaupt und bis wann wir den ‚Keltenkönig‘ finden.“
„Das habe ich befürchtet. Können Sie sich vorstellen, dass ich schlicht und einfach Schiss habe, meinem Chef von der Erpressung zu berichten?“
„Das kann ich mir sogar sehr gut vorstellen, Herr Scheuren. Das ginge mir nicht anders.“
„Wir bleiben in Kontakt?“
„Aber ja.“
Der Tag hielt noch eine weitere Überraschung für Lene Schelm parat. Gegen siebzehn Uhr brachte der Pfortendienst ein junges Paar zu ihr. Die blonde BB kannte Lene ja schon, aber als BBs Begleiter seinen Beruf erwähnte – Lothar Goll, freier Journalist – beschlich sie ein sehr unbehagliches Gefühl.
„Ich wollte mich nur abmelden“, sagte BB fröhlich. „Lothar hat von seinen Eltern ein Haus in Hamburg-Wandsbek geerbt und das möchte ich mir unbedingt mal ansehen, bevor ich mich nach Afrika verkrümele. Außerdem kenne ich von Hamburg bisher nur den Flughafen vom Umsteigen. Da klafft eine Bildungslücke, die ich gerne schließen möchte. Wenn das Wetter mitspielt, will Logo mir auch Helgoland zeigen.“
Er legte ein Blatt vor Lene auf den Tisch: „Anschrift, Festnetztelefon, meine und BBs Handynummer, E-Mail und Fax. Schöne Grüße übrigens von Harald und Annika Stierle.“
„Irgendwas Neues von Peko?“, erkundigte sich BB noch und Lene erwiderte vorsichtig: „Nein, leider nicht.“
So plötzlich, wie sie aufgekreuzt waren, kratzten BB und Logo jetzt die Kurve, und Lene ging seufzend in ihr Babyzimmer, wo die jüngsten Mitarbeiter im R – 11 zu Anfang ihrer Karriere untergebracht wurden. Tine war noch fleißig bei der Arbeit, druckte aus, lochte und legte ab.
Als Lene sich räusperte, sagte Tine erleichtert: „Es läuft gut, bis jetzt musste ich Dobbertin noch nicht um Hilfe bitten.“
„Sehr schön, dann mach’ Schluss für heute, ich nehme die beiden Ordner mal zu mir.“
Sie würde Tine nie verraten dürfen, dass sie die Idee, die Fido seiner Tine so geschickt als seine verkauft hatte, schon lange vor dem Ex-Kollegen Fido Lorch gehabt hatte. Und weil brave Mädchen vielleicht nicht überall hinkamen, aber möglicherweise in den Himmel oder wenigstens auf den Olymp, brachte das letzte Blatt, ein Fax aus der JVA Lensen, das Tine obenauf abgelegt hatte, den richtigen und wichtigen Hinweis, dass Peter Korn drei Monate mit einem Uwe Lochner in einer Zelle gelegen hatte. Und Uwe Lochner, wegen seiner auffallenden Sommersprossen von den Mithäftlingen als „Sommersprosse“ verspottet, besaß ein Strafregister, das zum Träumen geradezu einlud. Einbruch, Diebstahl, Raub, räuberische Erpressung, Einbruch mit Körperverletzung, Lene überflog den jeweiligen Urteilstenor nur, ihrer Meinung nach drohte Lochner bei der nächsten Verurteilung Sicherheitsverwahrung. Wo zum Teufel hatte sie vor Kurzem den Namen Lochner gehört oder gelesen?
Geduldig pflügte sie sich durch die Akte – Zum Nachteil von Peter Korn. Die Kollegin Jule Springer hatte ein vorbildliches Protokoll verfasst und abgelegt. Eine K. Lochner lebte mit Axel Brunner zusammen, und Brunner war der EDV-Leiter der Leiningen Handelsbank (LHB), der für die LHB-Filiale Bühler Markt neue PIN-Zahlen der Tresortüren installiert hatte. Zufall? So selten war der Name Lochner nicht. Es konnte eine, aber musste keine familiäre Beziehung zwischen dem feuerrothaarigen Busenwunder Karin, wie Jule gespottet hatte, und der „Sommersprosse“ Uwe Lochner aus der JVA Lensen bestehen. Aber das konnte man recherchieren. Lene klappte die beiden Ordner zu und brachte sie in das „Babyzimmer“ zurück.
Tine verspätete sich etwas. Die Spätlese war schon rappelvoll, Fido sauste im Rekordtempo an den Tischen vorbei und nahm Bestellungen auf. Er freute sich aus mehreren Gründen aufrichtig, als Tine erschien, die trotz Lenes Rat ein weit ausgeschnittenes Oberteil angezogen hatte. Dobbertin war weit weg, und die Gäste würde es bei Laune halten.
Der Vizepräsident hatte langen gezögert und seinem Chef dann doch gebeichtet, was ein Unbekannter von der LHB verlangte und womit er der Bank drohte.
Den Präsidenten wollte der Schlag treffen. „Tun Sie mir das nicht an, Scheuren. Zuerst die Versicherung heute Morgen und jetzt das noch. Der Rufschaden für die Bank wäre unermesslich.“
Sie beschlossen gemeinsam, die Sache bei einem guten Essen und einem guten Wein in der Spätlese zu besprechen. Wenn schon Ärger, dann doch bitte auf Spesen. Da gab es ein Nebenzimmer, in dem man sich ungestört unterhalten konnte. Tine überredete sie, eine neuartige Gemüsepfanne mit Rauchspeck von einem schwarzen Schwein aus dem Alentejo zu versuchen. „Haben Sie portugiesisches Personal?“, fragte Scheuren interessiert.
„Nein, aber gelegentlich deutsche Rückkehrer aus dem Alentejo, die vor Jahren nach der Nelkenrevolution mal geglaubt haben, dort wäre das ewige Glück jetzt billig zu erwerben.“ Der Präsident lachte Tine an, auch er hatte über Jahre finanziell eine anarchistisch angehauchte Tochter unterstützen müssen, die mit Gleichgesinnten einen aufgelassenen Hof gekauft und festgestellt hatte, dass ohne Regen die Landwirtschaft schwierig war, die berühmten Schweine nur so langsam wuchsen wie die Korkeichen, die man nicht jedes Jahr schälen konnte, wozu guter Wille nicht ausreichte, sondern auch Erfahrung nötig war, die bezahlt sein wollte.
„Eine halbe Million nur für sein Schweigen?“
„Ja.“
„Und wo steckt der ‚Keltenkönig‘? Was will er dafür haben?“
„Zweimal – keine Ahnung.“
Der Präsident stöhnte laut: „Scheuren, ich fürchte, wir sollten zahlen. Sie glauben ja nicht, was die Schließfachkunden schon alles an Verlusten behaupten.“
An einem Tisch im Hauptraum berieten Dr. Ernst Klaproth, früher einmal Kustos des Tellheimer Museums für Leininger Landesgeschichte und Irmgard Messing, zwölf Jahre Oberbürgermeisterin von Tellheim, wie man am besten den 40. Geburtstag des Fundes des „Keltenkönigs“ begehen könne. Es war sehr fraglich, ob bis dahin die Renovierung des Museums abgeschlossen war.
„An einem anderen Ort ausstellen?“
„Ich werde mich umhören“, versprach sie.
Sie hatten sich vor Jahren im Förderverein für die Leininger Wasserkunst getroffen und waren Freunde geblieben, als sie in die Politik ging und dort Karriere machte. Sie wusste nur, dass der „Keltenkönig“ während der Umbauarbeiten in einem Banktresor lagerte.
Elftes Kapitel
Lene fuhr gut gelaunt ins Präsidium und „warf ihre Maschine an“.
Manchmal war PAPS, das Polizeiliche Personen-Auskunfts-System doch sehr hilfreich. Wem die Ehre zuteilwurde, in PAPS aufgenommen zu werden, wusste in der Regel nicht, dass er damit ein ganzes Dossier an persönlichen Daten in vielen anderen Quellen eröffnete.
Pekos Zellengenosse Uwe Lochner besaß tatsächlich eine Schwester Karin, die bisher polizeilich nicht aufgefallen war und als kaufmännische Angestellte bei einem Kuno Traube „Ankauf und Verkauf“ arbeitete, und einen Bruder Martin hatte, den Lenes Kollegen vom Einbruch sehr gut kannten. Martin Locher schien diese Zuneigung nicht zu teilen, es bestand ein Haftbefehl gegen ihn, weil er sich einer Ladung zum Antritt einer Haftstrafe durch Flucht entzogen hatte. Lene druckte aus, was PAPS zur Familie Lochner hergab, schaltete die „Maschine“ aus und besuchte mal wieder den Kollegen Tom Bürger im Achten.
„Was kann ich für Sie tun, verehrte Kollegin?“ So viel Höflichkeit war immer verdächtig.
„Sie können mir helfen, die offizielle Arbeitsstelle einer Karin Lochner zu finden. Karins Brüder Uwe und Martin sind in Ihrem Referat gut bekannt.
„Das weiß ich auswendig. Sie arbeitet bei einem Kuno Traube, ‚Ankauf und Verkauf‘ in der Feuerstraße.“
„Hehler?“
„Wahrscheinlich, aber es fehlt uns an Beweisen. Wollen Sie mir da was liefern?“
„Vielleicht. Im Moment suche ich aber einen Bruder Martin Lochner.
„Der ist zu einem Haftantritt nicht erschienen.“
„Ich weiß. Es gibt noch einen zweiten Bruder Lochner, Uwe. Der hat mit meinem Mordopfer Peter Korn vorübergehend in einer Zelle in Lensen gelegen.“
„Daher weht der Wind also“, meinte Bürger hörbar enttäuscht.
„Wenn es windstill geworden ist, habe ich bestimmt auch etwas für das Achte.“
„In Sachen LHB am Bühler Markt?“
„Ja. Aber vorher müsste ich mit Martin Lochner gesprochen haben.“
„Kann ich nicht garantieren.“
„Schade.“
Zwölftes Kapitel
Martin Lochner saß mit seiner Schwester Karin in der Palette, und die Aufmachung und Bekleidung der Feuerroten machten es schwer, sie nicht für eine Nutte zu halten. Martin wusste von den „Nebentätigkeiten“ seiner Schwester und besorgte ihr manchmal Kunden, die sich mit ihr im „Erotischen Fotostudio Venna“ ablichten ließen. Sie revanchierte sich, indem sie ihm Tipps gab, wo es sich wohl lohnen würde einzusteigen. Vor Jahren war die Zusammenarbeit noch viel enger gewesen. Da ließ sie sich über Nacht als Callgirl in Wohnungen mitnehmen, betäubte den Freier mit Drogen, schloss Bruder Martin die Türen von innen auf und half ihm, die Beute abzutransportieren. Auf diese lukrative Kooperation verzichteten sie erst, als sie sich bei einem Freier nicht genau genug nach Krankheiten und Allergien erkundigt hatte und der Freier an dem Betäubungsmittel starb. Spätestens danach konnten sie sich ausrechnen, dass die Kripo DNA-Material von Karin eingesammelt hatte.
Bruder Uwe wusste davon nichts. Martin und Karin Lochner hatten sich schon als Kinder immer besser verstanden als mit Bruder Uwe.
„Und was machen wir jetzt?“
„Erst mal nichts.“
„Über Kuno willst du nicht verkaufen?“
„Nein, dem traue ich nicht mehr. Ich muss erst einen neuen Abnehmer finden.“
Lene fuhr am nächsten Tag in die Feuerstraße zu Traube Ankauf & Verkauf.
Chef Kuno war nicht da und KHK Lene drang ins Büro zu Karin Lochner vor: „Haben Sie noch Kontakt zu Ihren Brüdern Uwe und Martin?“
„Ja, sicher, warum fragen Sie?“
„Hat Uwe Ihnen mal erzählt, dass er in Lensen mit einem Peter Korn in einer Zelle zusammen gelegen hat?“
„Mit Peko? – Ja, hat er. Was ist mit Peko?“
„Peko ist seiner Wohnung in der Bertoldstraße ermordet worden.“
„Schlimm. Und was hat das mit meinem Bruder Uwe oder mir zu tun?“
„Vielleicht gar nichts. Aber vielleicht gibt es doch eine Verbindung. Vielleicht kann er uns etwas erzählen, sodass wir Pekos Mörder finden.“
„Da bin ich aber gespannt.“
„Sie leben mit einem Axel Brunner zusammen?“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Wir beobachten ihn seit geraumer Zeit.“
„Geraum“ war ein dehnbarer Begriff und deshalb schon nicht gelogen.
„Ach nee. Und warum?“
„Die Naive spielen Sie sehr schlecht, Frau Lochner. Brunner ist der Leiter der EDV der „Leiningen Handelsbank“ und hat in der Filiale Bühler Markt die Öffnungselektronik der Tresore ausgewechselt.“
„Davon weiß ich nichts.“ Was sogar stimmen konnte.
„Und Brunner hat eine Freundin mit einem wegen mehrfachen Einbruchs vorbestraften Bruder, dem Sie die neuen PIN-Zahlen beschafft haben. Peko hat fast jeden Tag auf dem Parkplatz hinter der Bank für die Teta gearbeitet und hat Uwe erkannt, der das Bankgebäude nach Alarmanlagen und Wachpersonal ausbaldowerte.“
„Toll. Das alles hat Ihnen der tote Peko zu Protokoll gegeben“, höhnte sie. Lene fand, Karins Busen war keine schlechte Ablenkung. Man schaute unwillkürlich dorthin und übersah deshalb sehr leicht, dass Karin Lochner eine intelligente und eine nicht leicht einzuschüchternde, fast schon kaltschnäuzige Frau war.
„Nein“, sagte sie vorsichtig. „Natürlich nicht Peko, aber eine Zeugin.“ Dass die sich mit einem Freund zurzeit Richtung Norddeutschland und Afrika via Helgoland bewegte, strafte Lenes Worte nicht direkt Lügen. Sobald sie gegangen war, begann Karin Lochner zu telefonieren, was Lene, die draußen vor der Tür auf dem Gang lauschte, mit großer Freude vernahm.
Dreizehntes Kapitel
Die nächste Ausgabe des Tageblatts brachte eine Kleinanzeige: „Leininger Heimatfreund sucht nach Geldgebern, um die Grabungen bei Stockenstein fortsetzen zu können. KlAnz 18/4712“
Lene las die Anzeige beim zweiten Becher Frühstücks-Kaffee und rief sofort den Vizepräsidenten der LHB an: „Guten Morgen, Herr Scheuren. Ich lese gerade Anzeigen im Tageblatt.“
Er seufzte: „Guten Morgen, Frau Schelm. Wissen Sie, wir schmeißen Unsummen für schwachsinnige Werbung raus, die doch nichts bringt. Da ist diese halbe Million zum Schutze unseres Rufes ausgesprochen günstig angelegt.“
„Herr Scheuren, eine heikle Frage. Werden bei Ihnen alle eingehenden Telefonate gespeichert?“
„Regelmäßig? Sie wissen doch, das geht nur mit …“
„Herr Scheuren, ja oder nein?“
Er seufzte wieder. „Der Anruf kam von einem Handy.“
„Bitte die Nummer.“
„0138/5561789“
„Danke.“
Man hörte förmlich, wie Anja Stich am Telefon lächelte. „Sofort? Oder darf ich vorher noch einmal auf die Toilette?“
„Sogar mehrmals: Ich muss erst mit Arne was aushecken.“ Hauptkommissar Arne Wilster, Leiter des Polizeiarchivs, war Anjas Chef und seit Jahren mit Lene eng befreundet, was sogar Egon Kurz inzwischen akzeptiert.
„Wunderbar, dann sehen wir uns ja gleich.“
Anja Stich drückte ihr einen Zettel in die Hand, als Lene durch das Vorzimmer in Wilsters Reich vordrang.
„Liebe Lene, was kann respektive soll ich für dich tun?“
„Drei Überwachungen, lieber Arne. Ohne Anweisung des Chefs, ohne Wissen des Staatsanwaltes und ohne Zustimmung des für den Fall zuständigen Achten.“
„Die LHB am Bühler Markt?“
„Genau. Uwe Lochner, Martin Lochner und Karin Lochner. Die lebt mit einem Axel Brunner zusammen und der ist zufällig EDV-Administrator der LHB.
„Und die Person auf dem Zettel da? Anja war sehr eifrig nach deinem Anruf.“
„Aus Frauensolidarität, mein Freund. Die werdet ihr Männer nie verstehen? Um diese Frau kümmere ich mich selbst.“
Auch „Zerg Nase“ hatte die Anzeige im Tageblatt gelesen und war außer der Reihe zu Sina gefahren, die ihm wortlos noch einmal ihr Handy überließ und sich dann auszog.
Scheuren war einverstanden: „dreiundzwnazig Uhr an der Ruine Burg Falkenweide. Ein junger Mann mit der Parole „Stockenstein“.
In seinem Büro im Rathaus klingelte das Telefon, als er zurückkam. Wie er befürchtet hatte: Karin Lochner wollte ihn an ihre Verabredung erinnern. „Du weißt doch, übermorgen kommt Axel aus Wiesloch zurück. Und dann herrscht zwischen uns notgedrungen erst einmal Sendepause.“
„Ja, ich weiß, aber …“
„Aber was“, fragte sie böse.
„Ich kann heute Abend nicht.“
„Und warum nicht?“
„Das kann ich jetzt am Telefon nicht erklären.“
„Ist sie schon da und hört zu?“
„Wer soll das sein?“
„Die Neue, meine Nachfolgerin.“
„Du bist ja verrückt!“, platzte er heraus.
„Dann sag mir, warum ich nicht kommen soll.“ Sie brauchte dringend die 150 Euro. Aber das musste er nicht wissen.
„Weil sich bei mir unerwartet ein wichtiger Besucher angemeldet hat, den ich nicht versetzen kann.“
„Toll“, höhnte sie. „Wichtiger als dein wöchentlicher Drang?“
„Ja.“
„Wer ist es denn?“
„Sag’ ich dir später.“ Damit legte er auf. Karin Lochner kochte vor Wut. Das dachte der sich so, schließlich war sie kein Callgirl, das man bestellen und dem man auch einfach absagen konnte. Den „Besucher“ würde sie sich mal genauer anschauen.
Bis zum „Abendgebet“ des R – 11 hatten Arne Leute die drei privaten Autos von Lene Schelm, Ellen König und Jule Springer und ein unauffälliges beschlagnahmtes Auto für Christine Dellbusch präpariert. Jedem Wagen wurde ein spezielles digitales Funkgerät mit hoher Sendeleistung verpasst, die alle über eine nicht übliche Einrichtung verfügten; sie sendeten, sobald man in ein Mikrofon sprach und schalteten damit die anderen Sender ab und die Geräte auf Empfang, sodass immer alle hörten, was der andere sagte und keiner dessen Meldung stören konnte. Die digitale Übermittlung machte sie abhörsicher.
Kurz vor dem Beginn der Sitzung brachte Anja Stich die Zettel mit den Adressen vorbei. „Einer hat sich leider verflüchtigt, weil eine warme Zelle auf ihn wartet.“
„Macht nichts.“
„Morgen Vormittag legen wir los“, bestimmte Lene.
Karin Lochner fand sich gegen neunzehn Uhr vor dem kleinen Häuschen von Zwerg Nase ein und wartete mehrere Stunden vergebens. Kein Mensch klingelte an Christian Weises Tür, doch als es dunkel geworden war, öffnete sich Weises Garagentor von innen. Karin kicherte in sich hinein: „So hast du dir das also gedacht. Geschnitten, mein Lieber.“
Weise fuhr sehr langsam Richtung Helberberg. Was zum Teufel wollte er um diese Zeit und bei Dunkelheit an der Burgruine Falkenweide?
Tatsächlich stellte Zwerg Nase sich auf den Besucherparkplatz, stieg aus und bummelte Richtung Burg. Auch sie verließ den Wagen und suchte am Waldrand so lange, bis sie einen starken Knüppel fand, der an einem Ende einen nicht bewachsenen Teil besaß. Sie lauschte, hörte aber nichts, keine Schritte, keine Stimmen. Fast unheimlich – und dann noch diese Dunkelheit. Sie klapperte mit den Zähnen und schwor sich, dass Zwerg Nase für diese unheimlichen Minuten würde bezahlen müssen.
Dann hätte der Zwerg sie beinahe abgehängt. Sie hatte ihn nicht zurückkommen hören, erst als er die Fahrertür öffnete und dadurch das Innenlicht aufleuchtete, bemerkte sie ihn. Er zog die Hintertür auf und warf etwas auf die Rückbank; als er sich hinter das Steuer setzen wollte, hatte Karin ihn erreicht. „Na, du Arsch, was machst du denn hier, ist sie nicht gekommen?“ Weise fuhr herum, aber sie hatte den Knüppel schon hoch gehoben, schlug nun mit aller Kraft und Wut zu und traf besser, als sie gedacht hatte. Christian Weise war sofort tot und fiel neben seiner Fahrertür auf den Boden. Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Anoraktasche, öffnete damit die Hintertür des Autos und zog den Metallkoffer heraus, den Zwerg Nase auf die Rückbank gelegt hatte.
Vorsichtig öffnete sie erst zu Hause den Koffer und konnte ihr Glück nicht glauben: Ein halbe Million Euro. Wie gut, dass Alex noch auf Dienstreise war. Sie teilte nicht gern.
Vierzehnte Kapitel
Die aufwendig vorbereitete Verfolgungstour fand nicht statt. Lene saß noch beim Frühstück, als der KvD anrief: „Wir brauchen Sie, Frau Schelm. Eine männliche Leiche auf dem Parkplatz vor der Burg Falkenweide.“
„Nein, nicht schon wieder Falkenweide. Dirigieren Sie den Rest des R – 11 dorthin?“
„Mach’ ich, Frau Hauptkommissarin.“
Ellen König, eine sorgfältige Zeitungsleserin, erkannte den Toten: „Christian Weise, mit Spitznamen Zwerg Nase, ein Stadtverordneter der Leininger Volkspartei.“
Na prima. Verehrter Dr. Rupp. Todesursache?
„Man hat ihm den Schädel eingeschlagen; vermutlich mit dem Knüppel da.“
„Und wann so ungefähr?“
„Gestern Abend gegen dreiundzwanzig Uhr, denke ich.“
„Da war es doch schon dunkel.“
„Wie im Kohlenkeller ohne Lampe.“
„Was treibt einen Stadtverordneten in der Finsternis an diesen ungemütlichen Ort?“
„Die Hoffnung oder Erwartung, hier jemanden zu treffen, der oder die auch Wert darauf legt, nicht gesehen und erkannt zu werden.“
„Der oder die ist mit dem eigenen Auto gekommen und weggefahren?“, fragte Lene spitz.
„Anzunehmen, ja. Wenn es ein erotisches Treffen mit sexuellen Folgen gewesen sein sollte, werden wir Spuren in diesem Wagen finden.“
„Dann mal fröhliches Schaffen“, wünschte Lene und fuhr zum Amtsgericht. Staatsanwalt Dobbertin wollte gerade zu einer Verhandlung und sie machte es kurz. „Ja, Zwerg Nase kenne ich, nicht persönlich, sondern aus der Presse. Bis morgen dann, Frau Schelm.“
Bei diesem Toten wäre jeder Versuch, den Mord geheim zu halten, so sinnlos wie schädlich gewesen; die Pressekonferenz war so gut besucht wie schon lange nicht mehr.
„Tut mir leid, meine Damen und Herren, es gibt noch keine Einzelheiten, die ich Ihnen mitteilen könnte … Ja. Erschlagen … und bisher kein Verdacht, keine Vermutung, wer es gewesen sein könnte … ja, es war finster, wir vermuten auch, dass Weise dort mit jemandem verabredet war, und er oder die nicht wollten, dass man sie zusammen sah … keinerlei Hinweis auf einen Raub, keine Zeugen … wir hoffen, dass uns jetzt Weises Freunde und Parteigenossen weiterhelfen können.“
„Wenn die wollen“, bemerkte ein Kollege vom „Morgenblick“.
„Sein Tot löst bestimmt keine großen Trauer aus.“
Viel mehr wussten Lene und Staatsanwalt Dobbertin nicht mitzuteilen, dem, wie sie sich beim „Abendgebet“ ausdrückte, der Arsch auf Grundeis ging, weil er es nun möglicherweise mit einem politischen Motiv zu tun hatte. Und damit konnte man leicht anecken, was ein Mann wie Dobbertin besonders fürchtete.
Fünfzehntes Kapitel
K-Technik und Gerichtsmedizin halfen weiter. Im Verlauf der nächsten Tages stellte sich heraus, dass der Knüppel neben der Fahrertür tatsächlich die Mordwaffe war, das Blut an dem einen Ende gehörte zu Christian Weise, aber interessanter war, dass es am anderen Ende ein glattes Stück Stock gab, an dem menschliche DNA-haftete, die sich sichern und auswerten ließ. Ergebnisse allerdings erst in zwei, drei Tagen.
Natürlich berichteten alle drei in Tellheim erscheinenden Zeitungen, Landeszeitung, Tageblatt und Morgenblick ausführlich über den gewaltsamen Tod des Stadtverordneten Christian Weise, mit Spitznamen Zwerg Nase genannt wegen seines großen Riechkolbens und seiner Neigung, denselben in alles zu stecken, was ihn nichts anging. Beliebt war er nicht gewesen, weder im Rathaus noch in seiner Partei. Und eindeutig auch in den drei Redaktionen nicht.
Kuno Traube hatte nach der Zeitungslektüre eine Vermutung, was Zwerg Nase in dunkler Nacht zur Ruine Falkenweide getrieben haben mochte; aber er hütete sich, darüber zu sprechen, erst recht nicht mit der Polizei. Karin Lochner kam an diesem Tag nicht zur Arbeit; sie meldete sich über Mittag telefonisch krank. Zu ihrer Krankheit konnte oder wollte sie nichts sagen. Kurz nach Mittag rief Ulrich Scheuren bei Lene Schelm an.
„Hat das was mit unserem ‚Geheimnis‘ zu tun?“
„Wie kommen Sie darauf“, erkundigte sie sich verblüfft.
„Wir haben, wie verabredet, einen jungen Mann mit dem Geld zur Falkenweide geschickt, und der Mann, der dort auf ihn wartete, kannte die korrekte Parole. Er hat ihm den Aktenkoffer übergeben. Aber in den Zeitungen und im Radio wird nichts von einer halben Million erwähnt.“
„Und Sie meinen, der Geldempfänger war Zwerg Nase?“
„Ist doch möglich – oder? Immerhin war Weise auch Vorsitzender des Unterausschusses Kultur und Schulen.“
„Und wer hat Weise den Aktenkoffer später abgenommen?
„Er hatte nicht nur Freunde.“
„Freundinnen“, verbesserte Lene, die sich etwas umgehört hatte und jetzt vergeblich versuchte, das Blatt zu finden, auf dem sie einen mithilfe der Nadel herausgefundenen Namen und Adresse notiert hatte. Ah, da war er ja. Eine Kopie steckte schon in der Akte. Die Begriffe Papier und Polizei fingen beide nicht zufällig mit dem Buchstaben P an.
Sina kam erst an die Tür, nachdem Lene Sturm geklingelt hatte und knöpfte noch hastig einen dünnen Morgenmantel zu. Darunter war sie nackt und es bestand kein Zweifel, dass sie gerade ihrem Metier nachgegangen war.
„Ihr Kunde interessiert mich nicht“, beruhigte Lene. „Ich will nur wissen, ob Sie in den letzten Tagen einem Kunden ein- oder mehrmals Ihr Handy geliehen haben. Und den Namen.“
Sina lief rot an: „Aber ich kann doch nicht …“
„Wenn er zufällig Christian Weise heißt, kann ich Sie beruhigen. Er wird nicht mehr kommen, er ist ermordet worden.“
„Das ist doch ein schlechter Witz!“
„Mit dem Tod scherzt nicht einmal die Kripo. Haben Sie das oder die Gespräche belauscht?“
„Ich hab’s versucht, aber nur das Wort Stockenstein verstanden.“
„Stockenstein?“
„Ja. Ein Kunde, der nicht zahlen konnte, hat mir zwei Ferkel geschenkt, die jetzt auf dem Ökohof Bleicher aufwachsen.“
Lene hatte von dieser Geschäftsmethode schon gehört.
„Danke, Sina, das war’s schon.“
Vom Auto aus rief sie Ulrich Scheuren an: „Gute Nachrichten … nein, nicht am Handy. Heute Abend neunzehn Uhr in der Spätlese?“
„Ich freue mich.“
„Ich mich auch.“
Über diese drei Wörtchen sann sie lange nach. Sie hatte sie spontan gesagt, aber je länger sie darüber nachdachte, desto ehrlicher kamen sie ihr vor.
Zwei aufgeregte Männer überfielen sie am Nachmittag im Büro, Arne Wilster, humpelnd am Stock, und Egon Kurz, hüpfend wie ein Gummiball.
„Wir haben doch fremde DNA an dem Knüppel gesichert, mit dem Weise erschlagen worden ist. Stell dir vor, die kennen wir!“
„Nein.“
„Doch! Der Fall Gerhard Träger. Erinnerst du dich noch?“
Gerhard Träger war vor zehn Jahn morgens von seiner Haushälterin im Bett gefunden worden, gestorben an einer Überdosis eines Betäubungsmittels. Er musste eine Frau im Bett gehabt haben, die an einer Spritze Fingerabdrücke und DNA hinterlassen hatte. Während ihr Kunde starb, hatte das Callgirl entweder alleine oder wahrscheinlicher mithilfe eines Kumpanen die Wohnung leer geräumt.
DNA und Abdrücke des Callgirls waren nicht registriert, ein Pärchen, das mit dieser Methode arbeitete, hatten sie seinerzeit nicht gefunden. Nur ein Schmuckstück aus der Träger-Wohnung sollte auf einer Auktion versteigert werden. Ein Kuno Traube, An- und Verkauf in der Feuerstraße, hatte es von einem Kunden als Pfand angenommen, aber dieser Gregor Woslowski existierte wohl gar nicht oder war aus guten Gründen unter falschem Namen unterwegs.
Die Pressekonferenz in Sachen Weise wurde lebhaft und lang.
„Meine Damen und Herren, wir können etwas zu der Täterin sagen … ja, eine Frau, wahrscheinlich ein Callgirl, das wir schon vor zehn Jahren wegen Beihilfe zum Raubmord an Gerhard Träger gesucht und nicht gefunden haben … nein, daran besteht kein Zweifel. Aber zu dem Helfer beim Trägermord vor zehn Jahren gibt es einen neuen, anonymen Hinweis auf den Mittäter des Callgirls. Er soll Gregor Woslowski heißen, wegen Diebstahl und Betrug in der früheren DDR vorbestraft, ist im Moment aber auf freiem Fuß … nein, wir suchen ihn noch.“
Dann prasselten die Fragen nur so auf Lene herab, die sich tapfer schlug und nicht einmal die Wörter Bühler Markt aussprach oder hörte. Auch nach Peko erkundigte sich niemand.
Ausnahmsweise wurde die Konferenz im lokalen Vorabendprogramm des Leininger Rundfunk übertragen. Rein aus Langeweile hatte die angeblich so kranke Karin Lochner das Fernsehen eingeschaltet und machte sich vor Angst und Schrecken fast in die Hose, als der Name Gerhard Träger fiel. Sie hüpfte vor Panik fast unter die Decke, als in der Sekunde das Telefon klingelte. Auch Kuno Traube hockte vor dem Fernseher und hatte nicht vergessen, wie er den anonymen Käufer genannt hatte, der ihm angeblich ein Schmuckstück aus dem Hause Träger als Pfand gegeben hatte.
„Meinst du, du kannst morgen wieder ins Geschäft kommen? Wir müssen einiges wegbringen.“
Natürlich wusste sie schon lange, dass ihr Chef Kuno auch ein Hehler war.
„Hast du eine Idee, wohin?“
„Ich hatte an eure alte Schmiede gedacht, was meinst du?“
„Wenn meine Brüder davon was erfahren, musst du löhnen.“
„Ich bin auf alles gefasst.“
„Okay, neun Uhr in der Feuerstraße.“
Sie rief ihren Bruder Uwe an: „Kuno und ich müssen morgen etwas in die alte Schmiede bringen, weißt du, wo und wie ich Martin erreiche?“
„Lass mich das machen. Gegen Mittag in der alten Schmiede?“
„Okay.“ Sie wusste genau, dass sich Uwe und Martin nicht mehr trauten. Aber mit einer halben Million war sie vorläufig von keinem der beiden mehr abhängig. Und noch hatte sie Axel Brunner nicht den Laufpass gegeben. Man musste halt sehen, wo man blieb.
In der Spätlese trafen Lene Schelm und Ulrich Scheuren auf Bekannte. Dr. Ernst Klaproth und Irmgard Messing diskutierten mit einem Mann, den sie als Werner Baumeister vorstellten, im Tellheimer Rathaus Leiter der Abteilung K & T – Kultur und Tourismus. So erfuhr Lene, dass durch Scheurens Vermittlung die Leininger Handelsbank ihren Festsaal für das Jubiläum „Vierzig Jahre Keltenkönig“ zur Verfügung stellen würde. Die Renovierung des Museums würde länger dauern und sehr viel teurer werden als veranschlagt. Klaproth sollte einen Festvortrag halten: „Funde aus der Frühzeit südlich des Mains.“
Lene und Scheuren verzogen sich bald in das Nebenzimmer: „Sie sind leichtsinnig“, tadelte sie ihren Begleiter, den das gar nicht rührte.
„Ich bin sicher, du wirst mich nicht im Stich lassen, eine so tolle Frau wie du.“ Wegen des unerwarteten Duzens schaute sie ihn groß an, was er nicht bemerken wollte. „Ich habe dich heute im Fernsehen bewundert. Großartig, wie du meinen Kopf gerettet hast.“
Lene ließ sich gerne bewundern. Der Kalbsbraten in Kräuterkruste war ein Gedicht, der Aprikosen-Champagnerschaum als Dessert ein Traum und in dem Chardonnay hätte sie baden mögen. Welcher kluge Kopf hatte den richtigen Satz geprägt, dass Liebe durch den Magen geht? Beim Mokka waren sie längst bei Lene und Uli angekommen, und als sie sein Knie an ihrem Bein fühlte, rückte sie nicht zur Seite. Wenn sie dem R – 11-Team nicht versprochen hätte, morgen alles Versäumte nachzuholen, wäre Scheuren in der Colmarstraße die eine Treppe mit ihr hochgegangen. So trennten sie sich mit einem langen Kuss, der für die Zukunft viel versprach.
Sechzehntes Kapitel
Lene hatte jeder Kollegin einen zu Beschattenden vorgegeben, und sich selbst Karin Lochner ausgesucht. Ausnahmsweise hatte sie ihre Dienstwaffe und ein voll bestücktes Reservemagazin mitgenommen, das Fotohandy hatte die Nacht im Ladegerät verbracht, ein starkes Fernglas lag immer griffbereit im Handschuhfach und bei „Großeinsätzen“ nahm sie ein zweites Paar Handschellen mit. Ein dickes Fresspaket und ausreichend Mineralwasser waren nach der gestrigen Schlemmerei vielleicht sogar angebracht. Vor dem stundenlangen Sitzen fürchtete sie sich etwas.
Gegen neun wurde die rote Karin von einem bärtigen Mann mit dem Auto abgeholt, der mit ihr in die Feuerstraße fuhr und dort in die Einfahrt neben Kuno Traube, An- und Verkauf lenkte. Etwa zwanzig Minuten später erschien ein eher schmächtiger Mann mit auffallend vielen und großen Sommersprossen, die in puncto Farbenpracht kaum zu überbieten waren. Sie erinnerten Lene an die feuerroten Haare der Karin Lochner, und deswegen hielt sie den Mann für Karins Bruder Uwe, der mit Peko mal zusammen in einer Zelle gelegen hatte. Uwe ging ohne Zögern durch die Einfahrt auf den Hof des Traubeschen Trödelladens. Lene wagte nicht, auszusteigen und einen Blick auf den Hof zu werfen, wo – nach den Geräuschen zu urteilen – Kisten und Kästen, Säcke und Beutel in einen Lieferwagen geladen wurden.
Ihre Vorsicht zahlte sich aus, fünf Minuten später rollte ein dunkelroter Kastenwagen auf die Feuerstraße. Er gehörte, wie die Aufschrift verriet, Kuno Traube, An- und Verkauf. Lene gab über Handy an die Kollegin König durch, wem und welchem Auto sie gerade folgte. Dann begann sie leicht zu fluchen. Der Bärtige am Steuer schlug tatsächlich die Richtung zur Dauerbaustelle Kolzemer Brücke ein, bog dann – noch schlimmer – in letzter Minute zur Fähre ab, die nach dem Feuer unter der Brücke wieder eingerichtet worden war. Ursprünglich mal ein Geheimtipp für Ortskundige, war die nun als Ausweichstrecke über den Fluss genauso überlastet wie die Brücke, die im Richtungswechselbetrieb nur einspurig benutzt werden durfte. Lene hatte einmal in einem klugen Geschichtsbuch gelesen, Flüsse trennten nicht, sondern verbänden, aber da existierten auch noch keine Spannbetonbrücken, die ein brennender Produktentanker von unten regelrecht ausgeglüht hatte, bis Einsturzgefahr bestand.
Lene wartete direkt hinter Traubes Lieferwagen, wo sie in der langen Schlange nicht auffiel. Lene gehörte zu dem nächsten Pulk, der auf die Fähre durfte. Traube wurde nach vorne rechts gewinkt, sie musste auf der linken Seite bleiben, aber An- und Verkauf war groß genug, um ihn später wieder zu finden. Natürlich ging’s nicht gleich los, ein großer Schubverband hatte Vorfahrt. Zum Autofahren brauchte man immer mehr Geduld. Lene gab an das Büro durch, wozu das Schicksal sie verurteilt hatte, und Ellen König lachte herzlos und schadenfroh.
Seit dem Tankerunfall unter der Kolzemer Brücke kam Lene selten auf die linke Flussseite und kannte sich hier so gut wie gar nicht aus. Der Bärtige steuerte unverdrossen Richtung Westen, verschmähte Autobahnzubringer und mehrspurig ausgebaute Bundesstraßen. Die Landschaft war schön, es ließ sich gut fahren, weil die Sonne noch hinter dem Wagen stand und nicht blendete. Lene begann zu träumen und hätte um ein Haar verpasst, dass der An- und Verkauf nach links blinkte. Der Ort hieß Zöllingen, und der Bärtige durchquerte schnurstracks die Siedlung, bis er an einem Schild abbog „Zöllingen-Fischbach“ und nach rechts steuerte. Weil er merklich langsamer wurde, ließ sich Lene weiter zurückfallen und stand gedeckt durch mehrere Büsche, als zwei Männer und eine Frau den Transporter verließen und in ein halb verfallenes Haus gingen. Über der Tür verkündete ein verrostetes Schild „Huf- und Kunstschmied Adalbert Lochner“. Der niedrige Bau aus Feldsteinen war rußverschmiert und sichtlich baufällig.
Ellen König fragte ungläubig: „Wo bist du?“
„Ich stehe vor einer verlassenen Huf- und Kunstschmiede Adalbert Lochner in Zöllingen-Fischbach. Erkundige dich doch mal bitte bei den Kollegen, wem der Schuppen heute gehört und wer jetzt da drin wohnt. Ich warte auf deinen Rückruf.“
Minuten später begannen die drei auszuladen und alles Mögliche in die Schmiede zu tragen. Der Sommersprossige ging einmal um das Haus herum und öffnete wohl ein Wehr, Wasser begann zu rauschen. Ellen König rief zurück; Gebäude und Grundstück und Wasserrechte gehören den drei Kindern Uwe, Martin und Karin des verstorbenen Adalbert Lochner. Zurzeit wohnt dort niemand – „ach, weißt du, das alte Lied, einsturzgefährdet, aber unter Denkmalschutz; wenn du mal zu viel Geld hast, lass dir so was vererben.“
„Mein Bruder hat mal in einem alten Tattersall produziert.“
„Dann weißt du ja, wovon ich rede, hier ruft übrigens alle Naselang ein Ulrich Scheuren für dich an. Sympathische Stimme. Was Neues, Lene?“
„Vielleicht, ja.“
„Bis morgen dann.“
Nach einer Viertelstunde schienen Traube und seine Begleiter alles in das Haus getragen zu haben. Zu dritt ging sie mit einem großen Picknickkorb um die alte Schmiede herum und blieben dort längere Zeit. Als Letztes hatten sie eine offenkundig schwere Holzkiste mit zwei Tragegriffen an den Schmalseiten in die alten Schmiede geschleppt. Lene wollte eben in den Garten der Schmiede blicken, als hinter ihr ein Auto bremste. Mit viel Mühe konnte sie im Rückspiegel das Kennzeichen entziffern. LU-PK 333.
Als der Mann ausstieg, rief Ellen König schon zurück.
„Ein Leihwagen aus Ludwigshafen. Gestern gemietet von einem Otto Gräber.“
„Ein echter Name?“
„Glaube ich nicht.“
„Otto“ ging ohne Zögern um das Haus herum in den Garten, und nach wenigen Minuten kamen sie zu viert nach vorn und gingen in die Schmiede. Sie schienen sich zu kennen. Lene hatte alle vier knipsen können, als sie durch einen hell beleuchteten Streifen zum Eingang schlenderten. Dann passierte lange Zeit nichts – bis zu einem dumpfen Knall, den Lene für einen Schuss im Haus hielt. Sie sprang aus dem Auto und sauste zur Haustür. Ein zweiter Knall; von ihrer neuen Position war auch zu hören, dass mehrere Menschen lautstark miteinander stritten. Anschließend schrie eine Frau auf, dumpfe Schritte polterten eine metallische Leiter oder Treppe hoch. Lene bückte sich nach einer Latte, die neben der Haustür lag, und hob sie auf. Als jemand seinen Kopf ins Freie steckte, schlug sie mit aller Kraft zu. Der überrumpelte Bartträger ging zu Boden und wehrte sich nicht, als sie ihm Handschellen anlegte. Bevor sie sich ins Haus traute, holte Lene ihre Waffe plus Reservemagazin und das zweite Paar Handgelenkschmuck aus dem Auto. Im Hause hatte der Streit aufgehört, stattdessen schienen zwei Menschen laut zu stöhnen. Sie wusste genau, dass es purer Leichtsinn war, allein in das düstere Gebäude zu gehen. Aber sie gab dem inneren Druck nach. Der Boden der alten Schmiede war mit Gerümpel übersät. Nur an der linken Wand führte ein freier Pfad zu einem Treppenschacht, der jetzt geöffnet war. Die merkwürdigen Stöhngeräusche kamen von unten aus dem Keller. Dort brannte auch eine schwache Birne und verbreitete ein trübes Licht. Zwei Männer und eine Frau lagen am Boden. Die Männer waren ernsthafter verwundet, nach ihrem Stöhnen zu schließen, die Frau schien zu schlafen. Lene fesselte Karin Lochner und schleifte sie in einen Nebenraum, der mit Kisten und Kästen vollgestellt war. An der Tür stolperte sie fast über eine verschlossene Holzkiste mit zwei Tragegriffen, die sie kaum bewegen konnte, weil sie mit Blei gefüllt schien. Blei oder Gold? Hier unten konnte sie nichts nachsehen. Es brach ihr fast das Kreuz, das schwere Stück an die unterste Stufe der Treppenleiter zu ziehen. Ächzend und begleitet von dem Stöhnen zweier Männer schaffte sie es irgendwie, die Kiste Stufe für Stufe anzuheben, abzusetzen und nach einer Verschnaufpause die nächst höhere Stufe zu erreichen. Bis zum Auto konnte sie das schwere Stück noch schleifen, vor der Aufgabe, es in den Kofferraum zu hieven, kapitulierte sie und rief den Kollegen Timo Bürger an:
„Ich bin in Zöllingen-Fischbach an der alten Schmiede Lochner. Sie können die Beute aus der LHB-Filiale Bühler Markt abholen, müssen aber die Formalitäten mit Staatsanwaltschaft und örtlicher Polizei vorher selbst erledigen. Ich kann Ihnen nicht helfen, man hat versucht, mir das Rückgrat zu brechen, vor meinen Augen dreht sich alles.“
Erst danach alarmierte sie über 110 die Kollegen und schon nach Minuten herrschte an der Schmiede ein Betrieb, wie bestimmt nie zuvor. Lene suchte sich unter den Sanitätern einen wahren Hünen aus, der die Kiste in den Kofferraum wuchtete wie einen Kasten mit leeren Plastikwasserflaschen. Danach rief sie Ulrich Scheuren an: „Hast du eine Garage, in der man ungesehen etwas aus meinem Wagen in dein Auto räumen kann? Wo? Solgen, Pistoriusstraße 33. Dann warte dort auf mich, es wird aber bestimmt zweiundzwanzig Uhr werden.“
Inzwischen wurden die Verletzten in verschiedene Krankenhäuser abtransportiert. Uwe Lochner hatte eine Kugel im Oberschenkel, bei Martin Lochner steckte sie in einer Arschbacke. Karin Lochner war mit einem klassischen Ko-Treffer ins Reich der Träume geschickt worden, dem bärtigen Kuno Traube, der hatte fliehen wollen, hatte Lene eine scheußliche Platzwunde mit Gehirnerschütterung verpasst.
„Haben Sie hier eine Schießübung veranstaltet oder eine Übungsstunde Selbstverteidigung abgehalten?“
„Nein“, sagte Lene gar nicht amüsiert, „ich wollte nur den Knaben mit der Kugel in der Arschbacke auf seine Haft vorbereiten, die Kollegen bringen die Ladung zum Haftantritt gleich mit.“
„Sitzen auf einer harten Pritsche mit einer Kugel im Arsch ist verbotene Folter“, grinste der Arzt.
Lene wollte ihn loswerden: „Ich hatte auch auf seinen Hinterkopf gezielt. Aber bei dem schlechten Licht da unten …“
Sie war heilfroh, als endlich der ganze Tross aus Tellheim eintraf – Ellen König, Jule Springer und Tine Dellbusch, dazu Kriminalrat Dembach und Staatsanwalt Dobbertin. Polizei und Papier …
Tine seufzte wie eine Beamtin in den letzten Tagen vor der Pensionierung.
Als eine der letzten verließ Lene das Fischbacher Schlachtfest. Und weil sie sich tapfer geschlagen hatte, hatte das Schicksal ein Einsehen und schickte sie ohne Verzögerung über die einspurige Brücke auf das andere Ufer.
Scheuren zersprang schon fast vor Ungeduld. „Alles glatt gegangen?“
Sie klappte den Kofferraumdeckel auf: „Schau’ selbst.“
Er brach die Kiste auf, warf einen Blick auf den Inhalt und staunte ungläubig: „Lene, du bist unglaublich …“
„Hungrig und durstig“, ergänzte sie schnell.
„Gerne, aber du befindest dich in einem Junggesellenhaushalt.“
„Es gibt Pizzalieferdienste.“
„Ich weiß.“
„Allerdings wäre schön, wenn du einen trinkbaren Rotwein im Keller hättest. Dieses rote Spülwasser aus einem Tetrapack kriege ich heute nicht herunter.“
Scheuren holte einen genießbaren Dornfelder von der Ahr und bis zum Klingeln des Pizzaboten kämpfte Lene gegen den Schlaf, wurde nur einmal etwas wacher, weil sie es mit ihrer Aktion bis in die Tagesschau geschafft hatte. Danach zerriss es ihr die Mundwinkel vor Gähnen, und die erste Nacht im Bett ihres neuen Freundes verbrachte sie folglich in tadelloser, wenn auch schnarchender Keuschheit. Sie frühstückten im Café Lore, das im S-Bahnhof Solgen neu eröffnet hatte.
Siebzehntes Kapitel
Uwe und Martin Lochner würden überleben, Karin Lochner war noch nicht vernehmungsfähig und Lene gab vor Staatsanwalt Dobbertin und Kriminalrat Dembach ihre Heldentat zu Protokoll, „vergaß“ aber zu erwähnen, dass sie eine Kiste aus dem Keller der Schmiede in ihrem Kofferraum verstaut hatte, bevor die Tellheimer Kollegen in Zöllingen-Fischbach eintrafen. Die Mappe mit einer halben Million in bar, die Karin Lochner nach Zöllingen-Fischbach mitgebracht hatte, war beschlagnahmt worden, dazu sollte sich die LHB was einfallen lassen, wenn sie das Geld wiederhaben wollte. Lene war nicht für alles da. Dieser krumme Hund von Dobbertin hatte leider ein gutes Gedächtnis: „Jetzt müssen Sie nur noch den Mord an diesem Peter Korn aufklären.“
„Bin schon dabei, Herr Staatsanwalt.“
Einen großen Schritt dazu leistete drei Tage später Egon Kurz mit seiner Mannschaft; die Kugeln in Uwes Oberarm und in Martins Arschbacke stammten beide aus der Waffe, mit der Peko erschossen worden war.
Auf dem glatten Leder der Geldmappe mit der halben Million fanden sich nur Abdrücke der Karin Lochner und sobald der Amtsarzt ihre Verhandlungsfähigkeit attestierte hatte, ließ Lene sie in den Verhörraum des R – 11 bringen.
„Wir sind hier zuständig für Mord und Totschlag, Frau Lochner. Für den Raubmord an Christina Weise brauchen wir nicht einmal Ihr Geständnis, die Indizien und Beweise reichen schon für einen Haftbefehl und eine Mordanklage. Nein, ich habe sozusagen noch einen anderen ungelösten Mordfall auf meinem Zettel. Gerhard Träger. Der Trick war simpel. Sie haben sich als Callgirl mit in die Häuser und Wohnungen der Männer mitnehmen lassen, ihre Kunden dort betäubt und die Türen für Ihren Bruder Martin geöffnet, der dann in aller Ruhe alle Wertsachen eingesackt hat. Im Fall Träger war die Dosis zu hoch. Da Bruder Martin gleichwohl ausgeräumt hat, während Träger tot im Bett lag und Sie Spuren beseitigt haben, nennt man das Raubmord respektive Beihilfe dazu. Sie sind fällig, Frau Lochner. Und dann noch Peko, das bedeutet lebenslänglich und anschließende Sicherheitsverwahrung. Sie haben Ihr Leben hinter sich.“
„Spielen Sie sich nicht so auf. Sie sind nicht das Gericht, und mit Pekos Tod habe ich nichts zu tun. Das war ganz anders.“
„Ach nee. Wer, wo und wie war es denn dann?“
„Das werden Sie mir ohnehin nicht glauben.“
„Versuchen Sie’s doch mal. Üben kann nicht schaden, sie müssen mal eine große Strafkammer überzeugen.“
„Natürlich wusste ich, dass Axel Brunner als EDV-Mann bei der Leininger Handelsbank arbeitete. Er hatte, wie viele Männer, eine saudumme Angewohnheit. Er steckte automatisch alles in die aufgesetzten Hemdentaschen. Ich musste immer ausräumen, wenn ich seine Hemden waschen oder in die Reinigung geben wollte. Einmal habe ich einen ganz klein zusammengefalteten Zettel mit dem Aufdruck LHB gefunden und darauf standen zwei vierstellige Ziffern, wie die PIN-Nummern einer EC-Karte, wenn man am Automaten Geld holen will. Ich habe Axel gefragt, ob das die Geheimnummern seiner Schweizer Nummernkonten seien. Er wollte den Zettel wegwerfen, ich habe ihn mir wiedergeholt und am nächsten Tag meinem Bruder Uwe gezeigt, der war aus dem Knast entlassen worden und wollte sich von mir Geld pumpen. Er wurde ganz aufgeregt, als er hörte, dass Axel in der LHB-Filiale Bühler Markt gearbeitet hatte. Dann kam Uwe zu mir und erzählte, dass ein alter Knastkumpel sich jeden Tag an der Bank herumtreibe, Peko wirke zwar total harmlos, habe es aber faustdick hinter den Ohren. Uwe hat mir versprochen, Peko in Ruhe zu lassen. Aber das habe ich ihm nicht geglaubt. Uwe war schon immer rücksichtslos. Und von ihm habe ich den Spruch gelernt: ‚Ein toter Zeuge ist der beste Zeuge.‘ So war das.“
Lene sagte nichts. Sie kannte auch einen passenden Spruch: „Wenn nicht wahr, so doch gut erfunden.“ Und Karins Aussage hatten sie auf Tonband und Video, davon musste sie später erst wieder einmal runter.
Kuno Traube war tags darauf der nächste Kandidat. Die Platzwunde war fast verheilt und der Schlag gegen die Stirn hatte sein Denkvermögen nicht nachhaltig beschädigt. Ja, das Schmuckstück, das aus dem Bruch bei Träger stammte, hatte er von Karin Lochner mit der Bitte erhalten, es möglichst günstig für sie zu verkaufen. Dass daran Blut klebte, hatte das Luder, mit dem er nicht nur das Büro, sondern auch gelegentlich das Bett teilte, ihm verschwiegen.
Lene hörte wortlos zu. Reden war Silber, Schweigen Gold.
„Sie hatten ja eine recht gefährliche Frau unter der Bettdecke. Herr Traube. Können Sie uns im Mordfall Christian Weise weiterhelfen?“
Die Liebe zu langen Märchen schien die ganze Bande zu erfüllen. Lene störte es nicht, sie wurde fürs Zuhören bezahlt, aber die armen Mädchen, die den ganzen Scheiß abtippen mussten, taten ihr jetzt schon aufrichtig leid.
Da war also eines Tages die Sommersprosse Uwe Lochner zu Traube gekommen, um ihm etwas Besonderes anzubieten. Er – Traube – hatte entsetzt abgelehnt, so was konnte man nicht verkaufen, das kannte doch jeder Fachmann.
„Sie reden jetzt vom ‚Keltenkönig‘?“
„Ja.“
„Haben Sie einen Blick in die Kiste geworfen, um sich davon zu überzeugen?“
„Nein, nie.“
„Sie haben sich auf Uwes Wort verlassen?“
„Ja.“
„Er war also nicht das erste Mal zu Ihnen gekommen?“
„Nein.“
„Aber so, wie Sie das darstellen, hätte sich doch alles Mögliche in der Kiste befinden können.“
„Ja, Von Alteisen über Blei bis zu Feldsteinen.“
„Ich wollte es gar nicht wissen. Nachdem er das Wort ‚Keltenkönig‘ ausgesprochen hatte, war jedes Geschäft gestorben.“
„Wie ging’s dann weiter?“
„Uwe hat die Kiste wieder mit in sein Haus genommen und dort ist sie ihm geklaut worden.“
„Nein! Und von wem?“
„Von seinem Bruder Martin.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
„Weil ich Martin damit beauftragt und dafür bezahlt habe.“
Lene dachte, ihr fielen die Ohren ab: „Ich denke, das wäre viel zu heiß für Sie.“
„Stimmt, aber mir war ein Gedanken gekommen.“
„Und welcher?“
„Man könnte den Schmodder dem Museum, dem Land oder der Stadt zum Rückkauf anbieten.“
„Und an wen wollten Sie sich da wenden?“
„Das wollte Zwerg Nase für mich herausfinden. Gegen Honorar natürlich.“
Weise war tot, dem konnte man jetzt vieles in die Schuhe schieben.
„Martin hat Ihnen die Kiste besorgt?“
„Ja. Ich hab’ sie bei mir im Geschäft aufgehoben, bis Karin diesen Weise erschlagen und sich verdächtig gemacht hat. Da haben wir beschlossen, alle heißen Sachen in die alte Schmiede zu bringen.“
„Wer ist wir?“
„Karin Lochner, ich und ihre beiden Brüder.“
„Apropos Alte Schmiede. Was ist da eigentlich passiert? Einiges habe ich draußen hören können, aber natürlich nicht gesehen.“
Traube zögerte und Lene schubst ihn an: „Keine Sorge, wir wissen längst, dass mit der Pistole Peko erschossen worden ist.“
„Der Krach ging gleich los. Uwe brauchte unbedingt Zaster und wollte sofort wissen, was seine Schwester da in der Mappe hatte. Sie nahm die Pistole heraus und warf ihm die Mappe zu. Uwe jubelte und wollte gleich mit Geld abhauen. Damit war Karin nicht einverstanden und hat auf Uwe geschossen. Der ging zu Boden und Martin witterte seine Chance, schnappte sich die Mappe und wollte weg. Karin hat ihm in den Arsch geschossen. Daraufhin wollte ich nur weg und habe vorsichtshalber zuerst die Ballerlady k. o. geschlagen. Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie an der Tür mit einer Latte auf mich warteten.“
„Sehr schön, Herr Traube, machen wir Schluss für heute. Keine Sorge, ich komme wieder.“ Die Ankündigung erfreute ihn nicht.
Vieles war ja nun geklärt, aber eine wichtige Frage stand noch offen. Wer von der Bande hatte nun Peko in seiner Wohnung erschossen?
Bis weit nach Dienstschluss studierte Lene noch einmal die mittlerweile stattliche Akte … Zum Nachteil von Peter Korn. Das beste Motiv hatte Uwe Lochner, der befürchten konnte, dass Peko ihn auf dem Parkplatz hinter der LHB-Filiale gesehen und erkannt hatte. Ihm würde der nichtsahnende Peko auch die Wohnungstür geöffnet haben: „Hallo Peko, hier ist ein alter Kumpel aus Lensen.“
Jetzt musste Uwe nur noch die Tat vor Zeugen zugeben.
Die Ärzte ließen sich Zeit. Erst wenige Tage vor der Jubiläumsfeier „Vierzig Jahre Keltenkönig“ durfte Lene den verletzten Uwe Lochner verhören.
Staatsanwalt Dobbertin und Kriminalrat Dembach hatten sich mit in das Verhörzimmer gesetzt. Lochner verzichtete auf einen Anwalt und schaute Lene hasserfüllt an: „Nun schießen Sie schon los. Ich habe nicht unbegrenzt Zeit.“
„Sie haben mehr Zeit, als Sie sich vorstellen können. Oder zieht es Sie so in die Einsamkeit einer leeren Zelle in der U-Haft?“, gab Dembach zurück. Er hatte es schon selbst mit solchen Typen zu tun gehabt.
„Dazu braucht es ja wohl erst einmal einen Haftbefehl.“
„Der Antrag ist schon unterwegs. Wir fangen erst mal klein an, mit dem Einbruch in die Leininger Handelsbank.“
„Den weisen Sie mir erst mal nach.“
„Kinderspiel. Ihre Schwester hat bereits ausgesagt, wie sie an die PIN-Nummern gekommen ist und dass sie den Zettel an Sie weitergegeben hat.“
„Glaube ich nicht.“
„Karin hat nichts mehr zu verlieren. Der Raubmord an Christian Weise, vor einigen Jahren an Gerhard Träger, zweimal versuchter Totschlag an ihren Brüdern. Sie hat nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu gewinnen, wenn sie versucht, ihre Brüder zu entlasten“, mischte sich Lene ein. „Ein Staatsanwalt hat genug für eine wasserdichte Anklage. Mich interessiert im Moment viel mehr, was Sie uns zu Peter Korn erzählen können. Wann und wo haben Sie ihn kennengelernt?“
Uwe Lochner litt nach Tagen und Nächten in einem isolierten Krankenzimmer an Redestau. Und auf Peko hatte er sich hörbar vorbereitet. In Lensen hatte man ihm dieses Würstchen in die Zelle gelegt – nein, er kannte ihn nicht von früher, hätte auch keinen gesteigerten Wert darauf gelegt, ihn nach seiner Haftentlassung noch einmal zu treffen.
„Und dann sehen Sie ihn auf dem Parkplatz hinter Cori. Nicht nur einmal sondern fast täglich. Dass er von der LHB nichts wollte, wo er übrigens fast hunderttausend Euro auf seinem Konto hatte, kam Ihnen gar nicht in den Sinn, sondern, dass er bei der Teta half, war zu absurd, wie?“
„Heute traue ich es dem Schwachkopf zu. Hundert Riesen auf der Bank und für lau bei der Teta schuften.“
Dobbertin konnte sich nicht mehr beherrschen. „Bin mal gespannt, ob Sie noch je in die Lage kommen werden, die Hilfe der Teta in Anspruch nehmen zu müssen.“
Lene ließ sich nicht weiter unterbrechen: „Und eines Tages sind Sie ihm bis in die Bertoldstraße gefolgt.“
„Ja.“
„Und am Freitag vor dem geplanten Einbruch-Wochenende waren Sie noch einmal bei Peko in der Bertoldstraße und haben an seine Wohnungstür geklopft. Hat er sofort aufgemacht?“
„Er hat zuerst innen noch was Blödes gefragt, was ich nicht verstanden habe. ‚BB? Ich denke, Sie wollten sich morgen früh verabschieden.‘“
Das hatte nicht in der Zeitung gestanden. Das war Täterwissen, sie hatten ihn. Lene entspannte sich so sichtbar, dass es Lochner nicht entging. Er schüttelte den Kopf über sich und seine dumme Schwatzhaftigkeit und fiel in sich zusammen. Sie hatten ihn, Dembach wusste es und auch Dobbertin.
Achtzehntes Kapitel
Natürlich war Lene Schelm zur Jubiläumsfeier „Vierzig Jahre Keltenkönig“ im Festsaal der Leininger Handelsbank eingeladen. Und weil seit Wochen herum war, dass sie die neue Freundin des LHB-Vizepräsidenten Ulrich Scheuren war, fragte auch keiner, was eine Kriminalbeamtin in dieser Festrunde verloren hatte.
Werner Baumeister hatte ein ordentliches Programm organisiert, mit Kammermusik und einem launigen Festvortrag von Ernst Klaproth „Moderne Schatzsucher und diese heftigen Zufallsfunde.“ Er bekam viel Applaus.
Beim Büfett nahm Irmgard Messing Lene zur Seite. „Glückwunsch zu Ulrich Scheuren. Nicht loslassen.“
„Nein, nur zum Atmen.“
„Und wo atmen Sie?“
„Wir waren uns ohne viele Worte einig, dass er sein Haus und ich meine Wohnung behalte.“
„Sehr vernünftig, ich heiße Irmgard.“
„Und ich Marlene, Lene ausgesprochen.“
Ende