Читать книгу Ärzte und Schicksale Auswahlband 8010 - 8 Romane: Manchmal kommt das Glück ganz unverhofft - A. F. Morland - Страница 25
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ОглавлениеEs belastete Nicola immer mehr, dass sie Torben nicht die Wahrheit gesagt hatte, und wenn er sie fragte, wie weit die Umbauarbeiten bereits gediehen seien, musste sie sich jedes Mal eine neue Lüge einfallen lassen. Es tat ihr in der Seele weh, dem Mann gegenüber, den sie so sehr liebte, so unaufrichtig sein zu müssen, und irgendwann sagte sie sich: So darf es nicht weitergehen. Torben vertraut mir – und ich belüge ihn. Das darf nicht sein. Das darf ich nicht mehr tun. Ich muss ihm endlich die Wahrheit sagen. Wenn ich weit genug aushole, wird er mich verstehen und mir nicht böse sein.
Sie wollte ihm Bruno in den schwärzesten Farben schildern – eben so, wie ihr Stiefbruder tatsächlich war. Dann würde Torben nachvollziehen können, wie sie empfand, und ebenfalls nichts von dem Taugenichts, mit dem sie unglücklicherweise verwandt war, wissen wollen.
Heute, dachte sie entschlossen. Heute sage ich ihm endlich alles. Und dann wird nie mehr eine Lüge zwischen uns sein.
Sie besuchte den fünfjährigen Matthias. Der kleine Patient war mit starken Halsschmerzen, Husten, Erbrechen, hohem Fieber, Kopf- und Bauchschmerzen und Herzrasen eingeliefert worden. Die ersten drei Tage war seine Zunge belegt gewesen, danach hatte sie himbeerartig ausgesehen – Scharlach, hatte Dr. Nicola Sperling unschwer diagnostiziert und Penizillin verordnet.
Zwei Wochen nach Krankheitsbeginn wurde Matthias’ Urin auf Blut kontrolliert, um festzustellen, ob man mit der Komplikation einer Nierenkörperchenentzündung rechnen musste.
Da dies nun zweifelsfrei nicht zu befürchten war, konnte die junge Kinderärztin dem kleinen Patientin eröffnen: „Morgen darfst du nach Hause gehen.“
Matthias riss die großen dunkelbraunen Augen auf. „Ehrlich?“
„Ehrlich.“ Dr. Sperling nickte. „Ich habe deiner Mutti bereits Bescheid gesagt.“
Matthias’ Augen wurden noch größer. „Sie holt mich morgen ab?“
„Das hat sie mir versprochen.“ Dr. Nicola Sperling strich dem Kind sanft übers blonde Haar. „Freust du dich schon auf zu Hause?“
„Ja. Auf meine Spielsachen und auf Pipsi.“
„Wer ist Pipsi?“
„Mein Wellensittich. Mutti hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt – und ein paar Tage später musste ich ins Krankenhaus.“
„Welche Farbe hat dein Pipsi?“
„Blau. Er ist noch jung, kann noch nicht sprechen, aber ich werde es ihm beibringen – Guten Tag, Auf Wiedersehen, Pipsi ist brav, Schönes Wetter heute – und all solche Sachen.“
„Er wird dir bestimmt viel Freude machen, dein gefiederter Freund.“
„Davor hatte ich einen Goldhamster, aber der wurde nicht alt – nicht einmal zwei Jahre. Wir haben ihn in unserem Garten unter einer Tanne begraben.“
„Pipsi wird mit Sicherheit länger leben“ , versicherte die junge Kinderärztin. „Ich kenne eine Frau, die hatte ihren Wellensittich zwölf Jahre.“
Matthias staunte. „Zwölf Jahre.“
Nicola Sperling nickte. „Hat die Frau gesagt.“
„Zwölf Jahre. Jetzt bin ich fünf. Dann – dann bin ich …“
„Siebzehn.“
„Dann bin ich siebzehn. Das ist lang.“
„Ja“, gab Nicola dem Kleinen schmunzelnd recht. „Das ist sehr lang.“ Sie strich ihm noch einmal sachte übers Haar, weil das so ein angenehmes Gefühl für sie war, und verließ das Krankenzimmer dann.
Eine halbe Stunde später trat sie aus der Seeberg-Klinik. Der Himmel war bleigrau. Es war sehr schwül und sah nach Regen aus. Nicola stieg in ihren Wagen und fuhr zu Torben – und sie bemühte sich, nicht daran zu denken, wie ihr Stiefbruder und seine Braut in ihrem Heim gerade eben wieder hausten.
Wenn die beiden draußen sind, muss ich mir tatsächlich eine andere Sanierung überlegen, dachte sie. Je näher sie der Adresse ihres zukünftigen Ehemannes kam, desto unruhiger wurde sie.
Heute sage ich Torben alles, ging es ihr durch den Kopf. Von heute an verstecke ich Bruno nicht mehr. Ich kann nichts dafür, dass es Bruno gibt, kann nichts dafür, dass er ist, wie er ist – ein Lump, ein Schurke, ein Gauner, ein Parasit, der alle Menschen ausnutzt und auf ihre Kosten ein faules Leben führt.
Sie fand vor dem Haus, in dem Torben wohnte, einen Parkplatz, stellte ihren Wagen ab und stieg aus. Ihr Blick wanderte an der Fassade hoch.
Torben wusste, dass sie kam. Er erwartete sie. Sie hatte ihn angerufen, aber sie hatte ihm am Telefon nicht gesagt, was er von ihr zu hören bekommen würde.
Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube betrat sie das Haus, und als sie an Torbens Tür läutete, war dieses unangenehme Gefühl schon fast unerträglich.
Torben öffnete, und Nicola knipste ein Lächeln an, das auch echt hätte sein können. Torben nahm sie ahnungslos in die Arme und küsste sie liebevoll.
Er hatte einen netten, gemütlichen Abend geplant. Sie vibrierte innerlich. Es ist nicht leicht, dem Mann, den man liebt, zu gestehen, dass man ihn wiederholt belogen hat. Torben legte vier Baguettes in die Mikrowelle und stellte eine Flasche hefetrübes Weißbier und zwei Gläser auf den Tisch.
Nicola erzählte ihm belangloses Zeug, weil sie nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte. Und das schlechte Gewissen plagte sie immer mehr …
Nachdem sie die Baguettes gegessen hatten und die Bierflasche leer war, sagte Nicola beklommen: „Ich muss dir etwas erzählen, Torben.“
Er nickte unbekümmert. „Ich höre.“
Sie deutete auf das Sofa. „Setzen wir uns.“
Er musterte sie erstaunt. „Wieso machst du auf einmal so ein ernstes Gesicht?“
„Weil es eine ernste Sache ist, über die ich mit dir reden möchte.“
Sie setzten sich.
„Du hast doch nicht etwa deine Entscheidung, das Baby zu bekommen, geändert“, sagte Torben unsicher.
Nicola schüttelte heftig den Kopf. „Um Himmels willen, nein. Das würde ich doch niemals tun.“
„Was könnte sonst so ernst sein, dass …“
Das Telefon läutete. Ausgerechnet jetzt, dachte Nicola ärgerlich, wo ich endlich den Mut gefasst habe, ihm alles zu erzählen. Wer immer der Anrufer ist, ich könnte ihn erwürgen.
„Entschuldige“, sagte Torben Lorentz. „Wir sprechen gleich weiter.“ Er stand auf, ging zum Telefon und meldete sich. Am anderen Ende war die Seeberg-Klinik. Nicola beobachtete, wie sich Torbens Miene verfinsterte. „Wann?“, fragte er gespannt. „Kann Dr. Schlüter nicht …? Ich verstehe … Ich komme sofort. Ist doch selbstverständlich.“ Er legte auf und sah Nicola bedauernd an. „Du hast es sicher mitgekriegt. Die Seeberg-Klinik. Ich werde ganz dringend gebraucht. Ein Notfall. Dr. Schlüter steht seit drei Stunden im OP und ist unabkömmlich. Ich schlage vor, du bleibst über Nacht hier, und wir unterhalten uns weiter, sobald ich zurück bin.“
Fünf Minuten später war Nicola Sperling allein – und ihre Beichte hing immer noch unausgesprochen in der Luft.
Es fing an zu regnen. Schwere Tropfen prasselten gegen die Fensterscheiben, und Nicola wanderte rastlos durch Torbens große Wohnung. Die Räume waren geschmackvoll und gediegen eingerichtet. Von einigen Möbeln würde Torben sich bestimmt nicht trennen wollen, wenn er bei ihr einzog, und sie überlegte, wo und wie sich in ihrem Haus dafür Platz schaffen ließ.
Sie kreuzte im Geist an, was sie von ihrer Einrichtung leichten Herzens entbehren konnte. Viel ist es nicht, dachte sie. Wir werden eine Menge Kompromisse schließen müssen, aber wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.
Als das Telefon anschlug, befand sie sich gerade in der Küche. War das Torben? Wenn ja, konnte er sie nur über sein Handy anrufen, denn in der Seeberg-Klinik konnte er noch nicht eingetroffen sein.
Sie lief ins Wohnzimmer, übersah einen kleinen Schemel aus massivem Olivenholz – ein Souvenir aus Tunesien , verlor das Gleichgewicht und stürzte.
Ihr erschrockener Schrei gellte durch den Raum. Sie sah die Kante der Kommode auf sich zurasen, schloss instinktiv die Augen – und dann wusste sie nichts mehr …