Читать книгу Mörderische 13 Urlaubs-Krimis auf 1600 Seiten - A. F. Morland - Страница 53

Mittwoch , 11. Juni

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Der Chef hatte schlechte Laune, alle hatten es ihm schon angesehen, als er zur Morgenbesprechung in das Konferenz-Zimmer kam. Seine Haare standen wild vom Kopf ab. „Mal herhören!“, schnarrte er, „ich habe schlechte Nachrichten für euch. Kollege Rotter ist heute nacht gestorben.“

„Scheiße!“ - „Verdammt, das gibt’s doch nicht!“ - „Um Himmels willen!“ - „Die armen Kinder!“ - Rotter hatte ein Zwillingspärchen, das in diesem Jahr eingeschult worden war.- „Die arme Frau!“

„Ja“, sagte der Chef bissig, „Das war die erste Katastrophenmeldung. Die zweite ergibt sich logisch daraus. Die Vandenburg hatte wohl Recht mit ihrer Behauptung gegenüber dem Journalisten, es gebe hier bei uns einen Maulwurf.“

„Halt mal“, unterbrach Rudi Herzog seinen Chef energisch und trat einen Schritt vor. „Wie heißt die Zeugin? Vandenburg?“

Paul Fichte nickte.

„Und wie mit Vornamen?“

„Isa.“

„Weißt du zufällig auch, wo sie geboren ist?“

„In Mainz-Kastel, so viel ich weiß. Warum fragst du?“

„Ich bin in Mainz-Kastel mit einer Isa Vandenburg in die Grundschule gegangen. Oder hieß das damals noch Volksschule? So häufig ist der Name Vandenburg ja nun nicht, der Vorname Isa auch nicht.“

„Nee“, sagte der Chef gedehnt. „Rudi, wir reden gleich mal unter vier Augen, einverstanden?“

Rudi Herzog brummte zustimmend und trat in die zweite Reihe zurück. Das gehörte mit zum Schlimmsten, wenn man einen Maulwurf in den eigenen Reihen befürchten musste. Man durfte keinem mehr rückhaltlos vertrauen und musste den Kreis der Mitwisser, bei wichtigen und unwichtigen Einzelheiten, so klein wie möglich halten. Die sieben Kollegen und drei Kolleginnen, die zur Zeit in dieser Gruppe Zeugenschutz arbeiteten, kannten diese Vorsichtsmaßnahmen; keiner liebte sie, aber alle beachteten sie. Der Kollege Rotter könnte vielleicht noch leben, wenn geheim geblieben wäre, wo er sich mit der Zeugin Isa Vandenburg versteckt gehalten hatte. Aber so war gestern Abend das abgelegene Haus im Lesterwald mit Maschinenpistolen und Leuchtspurmunition angegriffen worden. Rotter hatte es dabei mit einem Streifschuss bös erwischt, der ihn sofort außer Gefecht setzte. Die Zeugin Vandenburg konnte später aus dem brennenden Haus fliehen, aber als die von ihr alarmierten Kollegen plus Feuerwehr eintrafen, stand der ganze Bau schon in hellen Flammen. Rotter, der halb drinnen, halb draußen an der Haustür lag, lebte zwar noch, als man ihn bergen konnte, aber die Kugel, der Blutverlust, die Flammen und die eingeatmeten Rauchgase hatten ihm zu stark zugesetzt. Er war heute nacht auf einer Intensiv-Station seinen Verletzungen erlegen. Alle schauten zum Chef hoch, aber der schwieg eisern. Keine Silbe darüber, wo die Zeugin im Moment untergebracht war, kein Wort darüber, ob sie noch lebte, schwer oder nur leicht oder gar nicht verletzt war.

„Wie steht es mit unseren anderen Fällen? Neuigkeiten?“

„Vielleicht“, meldete sich der Kollege Anders zu Wort. „Ich habe gestern gegen 23 Uhr wieder diesen merkwürdigen kleinen Mann mit dem riesigen Köter gesehen. Er stand an der Ecke und wartete wohl auf etwas.“

„Was dann auch gekommen ist?“, wollte der Chef nach einer langen Pause wissen.

„Nein. Gegen Mitternacht ist er mit seinem Hund abgezogen.“

„Hm.“ Paul Fichte sagte nichts weiter. Immerhin war der Kollege Anders so vernünftig gewesen, nicht auf eigene Faust den Eckensteher zu kontrollieren, andererseits aber auch nicht fantasievoll oder selbstbewusst genug, die ganze Truppe zu alarmieren. „Na schön. Sonst noch was?“

„Ja, ich möchte mich beschweren“, antwortete der Kollege Albert Heimerich laut. „Mir ist gestern nacht schon wieder eine Infrarot-Kamera verreckt, natürlich genau in dem Moment, als ich dieses Pärchen knipsen wollte, das schon seit Tagen um das Haus herumschleicht. Können Sie denen in der Werkstatt nicht mal Dampf machen, entweder die Geräte besser in Schuss zu halten oder neue anzuschaffen?“

Das allgemeine Gemurmel verriet, dass Kollege Heimerich mit seiner Beschwerde nicht allein stand.

„Ich werd's versuchen“, versprach der Chef. „Aber Erfolg ist nicht garantiert. Tja, wenn keiner mehr ... okay, Freunde, dann Abmarsch. Rudi.“

Herzog und sein Chef Paul Fichte gingen in das kleine Zimmer des Gruppenleiters.

„Also, Rudi. Setzt dich und schieß mal los!“

„Ich bin in eine Gustav-Stresemann-Grundschule in Mainz-Kastel gegangen. In meiner Klasse war auch eine Isa Vandenburg, ein hübsches Mädchen, was mir natürlich erst sehr viel später aufgefallen ist“ - der Chef grinste breit, über Rudis amouröse Eskapaden und Erfolge klatschte und tratschte das ganze Amt - „dann bekam sie eine Empfehlung für's Gymnasium und ich bin bis zum Einjährigen zur Realschule gegangen, wie das damals wohl noch hieß. Danach haben wir uns nur noch selten gesehen, mal in der Stadt, mal im Schwimmbad, mal im Bus, ihre Familie wohnte ja nicht weit von meinen Eltern. Und mit Isas Schwester Ilka konnte man Pferde klauen.“

„Aha“, knurrte Fichte.

„Habt ihr euch auf der Grundschule gut verstanden?“

„Eigentlich schon. Jedenfalls haben wir uns zum Schluss nicht mehr so geprügelt wie in der ersten und zweiten Klasse. Sie hatte damals einen sehr harten Schlag, keine Angst vor niemandem und ließ sich nichts gefallen.“

„Das heißt, sie vertraut dir heute noch?“

„Das will ich doch stark hoffen, warum fragst du?“

„Ich habe heute schon mit ihr telefoniert. Sie hat sich zwar sehr ordentlich erkundigt, wie es Rotter geht, aber sie war auch stinkwütend, dass man sie doch so schnell gefunden hatte.“

„Muss es denn Verrat gewesen sein?“

„Du kennst das Haus?“

„Ja.“

„An dem Bau kommt doch niemand durch Zufall vorbei. Nee, Rudi, diese Bande hat genau gewusst, wen sie dort antreffen würde.“

„Trotzdem ist Isa entkommen.“

Der Chef zog den Kopf ein. „Musst du immer den Finger in die offenen Wunden legen? Selbstverständlich macht mir das Sorge. Der erfahrene Rotter wird ziemlich gleich zu Beginn ausgeschaltet, die unerfahrene Vandenburg kann später fliehen. Und nicht nur das. Sie hat den noch unbekannten Knaben, der gewaltsam zu ihr ins Zimmer kam, wahrscheinlich, um sie umzulegen, mit einem wunderschönen Kopfschuss erledigt.“

„Kopfschuss? Woher hatte sie eine Waffe?“

„Das wollte sie mir am Telefon nicht verraten. Es sei doch gut, dass sie eine Neun-Millimeter-Beretta gehabt habe. So konnte sie türmen, bevor das Treppenhaus in Flammen aufging, und uns noch über Handy alarmieren.“ Rudi verschluckte die Frage, warum man ihr ein Handy gelassen hatte, das doch angepeilt werden konnte.

„Eine gefährliche Frau“, meinte er stattdessen versonnen.

Der Chef betrachtete ihn halb wehmütig, halb grämlich. „Gefährlich und gefährdet. Erzähl' mal weiter!“

„Das letzte Mal habe ich Isa in Mainz vor dem Bahnhof getroffen. Die drei wollten nach München.“

„Die drei?“

„Isa war schwanger und hatten einen so dicken Bauch, dass ich sie sofort gefragt habe. 'Was wird das denn? Ein Elefant oder eine Kinderkompanie für einen afrikanischen Bürgerkrieg?'

„Du solltest dir deinen Charme patentieren lassen, lieber Rudi!“

„Danke für den Tip. Der Antrag läuft schon. Kein Elefant, aber Zwillinge.“

„Ach nee, das wusste ich nicht; dass sie Kinder hat, steht nicht in den Akten. Hat sie was über den Vater gesagt?“

„Keine Silbe.“

„Aber es gab einen?“

„Biologisch wohl unvermeidlich. Aber wenn du wissen möchtest, ob sie verheiratet oder fest liiert war – das hat sie mir nicht gesagt, und ich habe sie nicht gefragt. Erstens hatte ich es eilig und zweitens bin ich ja nicht taktlos, Chef.“ Fichte verkniff sich eine passende Antwort. „Na schön, Rudi, jetzt überleg' noch mal, wann war das?“

Rudi rechnete und erinnerte sich. Wenige Tage später hatte er die bestandene Aufnahmeprüfung gefeiert, und das war jetzt ziemlich genau siebzehn Jahre her.

Der Chef kratzte sich das Kinn. „Das heißt, wenn sie die Zwillinge vor siebzehn Jahren erwartet und bekommen hat, müssten die jetzt gerade so Teenies sein?“

Beinahe wäre Rudi herausgerutscht: „Sie hat sie bekommen“, aber Paul Fichte hätte dann sofort gefragt: „Woher weißt du das?“

Isa hatte es ihm selbst gesagt, aber das wollte er nicht verraten. Ihre letzte Begegnung vor jetzt fünfzehn Jahren ging niemanden was an, die war nämlich sehr privat gewesen und sehr intim verlaufen. Vor allem hatte sie unter Umständen angefangen, die man kaum glauben konnte.

Rudi lag nämlich in einer Ferienanlage auf Lanzarote im Liegestuhl am Swimmingpool, als eine sehr attraktive Blondine an ihm vorbeigehen wollte, stockte, sich umdrehte, ihn unschlüssig musterte und dann unsicher murmelte: „Rudi? Rudi Herzog aus Mainz-Kastel?“

Er brauchte etwas länger, sie wiederzuerkennen: „Isa Vandenburg aus der Gustav-Stresemann-Grundschule?“

Jahre zuvor, am Mainzer Bahnhof, hatte sie nicht sehr vorteilhaft ausgesehen, dicker Bauch, strähniges Haar und ein verquollenes, bleiches Gesicht, mit Ringen unter den nicht ausgeschlafenen Augen. Das alles hatte sich danach sehr zum Besseren verändert. Ausgesprochen schlank und sportlich, kein Bauch, schmale Hüften, strammer und fester Busen, blonde Locken, blauen Augen und tief gebräunt. Das alles aufreizend verpackt in einem weißen knappen Bikini. Eine sexy Schönheit und, wie sich bald herausstellte, ohne eine ihn störende männliche Begleitung auf der Insel. Schon bei ihrer ersten Verabredung erzählte sie, dass sie gesunde Zwillinge bekommen hatte, Julia und Jonas. Am Abend, als sie nach einem hervorragenden Essen noch einen Wein tranken und dabei auf das abendliche Meer schauten, fragte er nach dem Vater von Julia und Jonas, den Namen wollte sie nicht nennen, nur so viel preisgeben, dass er sie unmittelbar nach der Entbindung aus, wie sie damals schon fand, fadenscheinigen Gründen verlassen hatte. Immerhin habe er die Vaterschaft anerkannt und sich verpflichtet, monatlich sehr anständig Unterhalt zu zahlen – was er tatsächlich noch immer tat. Aber sie musste die Kunstakademie verlassen und sich einen Job suchen. Mit zwei Säuglingen nicht ganz einfach, wie sie klagte. Zum Glück half ihre jüngere Schwester Ilka aus, auch Isas Mutter sprang häufiger ein, und als sie für die Kinder einen verlässlichen Hort gefunden hatte, ging es auch beruflich aufwärts. Ihr damaliger Freund suchte eine zuverlässige Mitarbeiterin und stellte sie zu sehr generösen Bedingungen in seiner Firma Utom Import & Export ein. Jetzt war sie in der Frankfurter Import- und Exportfirma die Sekretärin des einen Chefs und so etwas wie eine Geschäftsführerin mit einem sehr guten Gehalt, einer Gewinnbeteiligung und ziemlich weitreichenden Kompetenzen.

Der Wein war gut, das Meer glitzerte romantisch, der Mond strahlte fast kitschig, und vor dem Eingang ihres Bungalows küssten sie sich lange und heftig, Isa presste sich fest an ihn, nahm ihn aber nicht mit hinein. Die nächsten Tage verbrachten sie vom Morgen bis zum Abend zusammen und schon in der zweiten Nacht ging sie mit ihm ins Bett. Rudi hatte damals keine Freundin, die junge Dame, von der er gehofft hatte, sie würde es werden, hatte sich vier Tag vor dem Abflug kurz und ohne Begründung für immer verabschiedet. Außerdem verstanden Isa und er sich sehr gut, die alte Vertrautheit aus der Grundschulzeit hatte sich, wenn auch in angenehm veränderter Form, erhalten.

Auch, dass er zur Polizei gegangen war, gefiel ihr. Sie drückte ihm die Daumen, dass sein Wunsch, zur Kriminalpolizei zu wechseln, bald in Erfüllung ging. Beamter, das war doch was Solides, und als er begann, sich Hoffnungen zu machen und heimlich Pläne zu schmieden, bekam sie einen Anruf aus Frankfurt und gleich danach veränderte sich ihr Verhalten.

Zwar schliefen sie noch immer jede Nacht miteinander, aber er hatte gleichwohl den festen und unangenehmen Eindruck, dass sie sich zurückzog. Sie musste vor ihm nach Deutschland zurückfliegen, und am Abend, als sie schon gepackt hatte, gestand sie ihm, dass sie in Frankfurt von einem Mann erwartet wurde.

„Rufe mich bitte nicht an, Rudi.“

„Willst du mir nicht sagen, wer auf dich wartet?“

„Nein, das möchte ich nicht. Es war wunderschön mit dir, ich werde dich und diese herrlichen Tage und Nächte nie vergessen. Aber es war leider nur ein schöner Urlaub vom Alltag und in meinem Alltag ist die Position des festen Liebhabers schon besetzt.“ Er dache, einer der alten Vulkane der Insel sei erneut ausgebrochen und er werde gerade von glühender Lava verschüttet. Doch sie blieb hart und ließ sich nicht umstimmen. Vor fünfzehn Jahren hatte er Isa das letzte Mal gesehen, als sie morgens in den Bus stieg, der sie zum Flughafen in Arrecife brachte.

Rudi hatte lange gebraucht, um über diese herbe Enttäuschung hinwegzukommen, und noch länger hatte es gedauert, bis er nachts nicht mehr von Isa träumte oder andere Frauen, die er kennen lernte, mit ihr verglich. Das alles konnte und wollte er dem Chef nicht auf die Nase binden. Denn der hätte ihn dann auf keinen Fall im Schutzprogramm Vandenburg mitarbeiten lassen, und in der Sekunde, in der Rudi von Rotters Unglück gehört hatte, stand für ihn fest, dass er Isa wiedersehen wollte, beruflich zuerst, dann hoffentlich auch privat. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, als sie ihn auf Lanzarote verließ, heute war sie vierzig, und in dem Alter sah die Welt auch für sie sicher anders aus.

„Was überlegst du, Rudi?“

„Ich überlege, wo der Haken sein kann.“

„Welcher Haken?“

„Warum fragst du mich nicht direkt, ob ich Rotters Stelle bei Isa Vandenburg einnehmen will?“

„Weil ich nicht weiß, ob sie denn überhaupt weiterhin Polizeischutz haben will.“

„Dann rufe sie doch an und frage sie einfach.“

„Das kann ich nicht.“

„Und warum nicht?“

„Wir haben uns heute natürlich auch darüber unterhalten, wie die Bande ihr auf die Spur gekommen sein kann.“

Rudi ging ein Licht auf. „Hat man ihr Handy angepeilt oder über die Funkzelle gefunden?“

Fichte hob die Hände zur Decke.

„Ist doch möglich, oder? Jedenfalls wusste sie sofort, wovon ich sprach und hat mir freiwillig zugesichert, sie würde unmittelbar nach Ende unseres Gesprächs ihr Handy ausschalten. „Was sie auch getan hat, ich habe sie gerade eben vor unserem Gespräch schon nicht mehr erreicht.“

„Und wohin hast du sie geschickt?“

„In die Erbsensuppe.“

„Das heißt ...?“

„Das heißt, dass du auf gut Glück hinfahren müsstest und fragen darfst, sind Sie oder bist du einverstanden, dass ich Sie oder dich künftig bei Tag und Nacht beschütze? Wenn wir viel Glück haben, sagt sie ja.“

„Hast du ihr die Waffe abgenommen?“

„Nein.“

„Dann ist auch ein anderer Ablauf denkbar. Ich will in ihr Zimmer kommen und sie wird nervös. Eine gute Schützin soll sie ja sein und in ihrer Nervosität verpasst sie mir auch einen prächtigen Kopfschuss. Ich weiß nicht, ob ich das überlebe, Chef.“

„Quatschkopf. Gib dir Mühe und sei vorsichtig, ich habe überhaupt den Eindruck, das empfiehlt sich bei dieser Frau ohnehin. Lederer hat mich auch gewarnt.“

„Okay, ich fahre hin und versuche sie umzustimmen. Für alle Fälle werde ich dafür sorgen, dass unsere Handys abgeschaltet und täglich nur zwischen 17 und 18 Uhr eingeschaltet sind. In der Zeit werde ich dich auch anrufen, wenn nicht vom Handy, dann von irgendwoher über's Festnetz. Es soll ja auch noch funktionierende Telefonzellen geben. Von den Kollegen erfährt niemand, mit welchem Auftrag ich unterwegs bin. Wie steht's mit Spesen?“

„Wenn ich sage, kein Limit, heißt das nicht, dass du versuchen sollst, eine Spielbank zu sprengen.“

„Ich würde den Gewinn ungeschmälert bei Vater Staat abliefern.“

„Trotzdem nein.“

„Alles klar. Ich nehme mir eine neue Heckler und Koch mit – keine Angst, ich schieße sie korrekt ein und gebe die Vergleichsprojektile beim Donnerer ab.“

Warum Ewald Thor der Donnerer hieß, musste eigentlich niemandem erklärt werden. Er war zuständig für den Schießkeller und die Waffenkammer des Amtes, führte die Listen, wer welche Waffe bekommen und wer wann seine vorgeschriebenen Schießübungen mit welchen Ergebnis absolviert hatte. Außerdem gab er Schießunterricht, er war ein hervorragender Lehrer und ein noch besserer Schütze.

Der Chef kritzelte schon eine Anforderung einer neue Dienstwaffe für den Kriminalhauptkommissar Rudolf Herzog, Abteilung Zeugenschutz.

„Wie lange darf ich die schöne Isa hautnah begleiten?“

„Du musst sie am Mittwoch, 18. Juni, um elf Uhr lebend im Wiesbadener Landgericht, Mainzer Straße, Saal 15, abliefern. Sie und dieser Boris Stepkow sind auf zehn und elf Uhr als Zeugen geladen. Ich bin zum Termin auf jeden Fall in der Nähe.“

„Okay, alles klar. Bis in acht Tagen um elf Uhr, toi,toi,toi.“ „Halt, Rudi, noch was! Ich habe das dumpfe Gefühl, dass man Isa Vandenburg nicht nur als Belastungszeugin in einem Mordfall braucht, sondern sich von ihr eine Menge Aussagen und Informationen erhofft, die für viele andere, die wir noch nicht kennen, gefährlich sind. Ich fürchte, deswegen haben wir eine Menge unfreundlicher Typen an Isas Hacken kleben, die meinen, nur eine tote Zeugin sei eine gute Zeugin. Augen auf und deine schöne neue Heckler & Koch immer nur mit vollem Magazin herumtragen.“

„Klar, danke, Paul.“

*


DIE NÄCHSTEN STUNDEN war Rudi Herzog gut beschäftigt. Er holte sich seine neue Pistole, gab im Schießkeller die vorgeschriebene Anzahl von Übungsschüssen ab, bewältigte bei Ewald Thor den Papierkrieg und konnte natürlich wegen der Lärmschützer auf den Ohren keine der neugierigen Bemerkungen des Donnerers verstehen. Die Kantine schenkte er sich, erstens der Qualität wegen und zweitens mit Rücksicht darauf, dass er ab jetzt stumm neben seinen Kollegen und Kolleginnen sitzen musste. Es würde sich schnell herumsprechen, dass Kriminalrat Brock vom Zeugenschutz einen Maulwurf in seiner Abteilung befürchtete. Aber das musste nicht gerade Rudi Herzog verbreiten, auch nicht zusätzlich den an sich richtigen Hinweis, dass die undichte Stelle oder der Verräter auch in der Staatsanwaltschaft sitzen konnte. Zu Hause packte er eine Reisetasche mit Wäsche, Shirts und Socken, goss zum letzten Mal seine Blumen und brachte den Reserveschlüssel zu seiner Nachbarin Anja Wesskamp, die wohl wusste, dass er im Landeskriminalamt arbeitete, aber keine Ahnung hatte, was dort genau seine Aufgabe war.

Sie lächelte ihn an: „Sei vorsichtig und komm' heil wieder, Rudi.“

„Ich werde mir Mühe geben, Anja.“ Es war das erste Mal, dass sie so etwas äußerte. Die hübsche Nachbarin war selbstbewusst, aber auch sehr zurückhaltend, und Rudi hatte sich bisher nicht um sie bemüht.

Gegen 16 Uhr fuhr er los Richtung Gellhausen. „Erbsensuppe“ war der amtsinterne Spottname für ein Versteck bei Linsengericht.

*


KRIMINALRAT BROCK UND Hauptkommissar Paul Fichte erreichten zu dieser Zeit schon die Polizeistation in Montabaur, wo Oberkommissar Wilde bereits auf sie wartete. Er lotste sie zum Tat- und Brandort, stieg aber gut hundert Meter davor aus und führte seine Gäste durch einen schmalen Waldstreifen auf eine fußballfeldgroße Wiese. In der Mitte parkten mehrere Autos rund um ein mit Flatterbändern abgesperrtes Viereck.

„Reiner Zufall“, sagte Wilde bedächtig. „Ein uns lange bekannter Jagdpächter hat sich heute morgen zufällig in seinem Revier umsehen wollen und hat dabei die Leiche entdeckt.

„'Zufällig' hören wir nicht gerne, Kollege“, brummte Fichte.

„Na schön“, gab Wilde nach, „uns hat er gesagt, ein Nachbar hätte ihn angerufen, am Rande seines Reviers habe es mächtig gebrannt und er sollte sich besser einmal ansehen, was das Feuer in seinem Revier angerichtet habe. Es ist zwar kühl für die Jahreszeit, aber verdammt trocken, gut möglich, dass die Flammen auf seinen Bezirk übergegriffen haben.“

Brock und Fichte sahen sich mit langen Gesichtern an. „Wissen wir, wer dieser hilfsbereite Nachbar war?“

„Sicher, Namen und Adresse habe ich allerdings auf dem Revier.“

Die Leiche des Mannes sah schrecklich aus. Kein Zweifel, er war von einer Garbe aus einer MP voll getroffen worden.

„Wissen wir, wer er ist?“

„Er hatte Papiere auf den Namen Böttiger bei sich. Sein Auto steht etwa einen Kilometer entfernt unten an der Landstraße.“

„Wann hat es ihn erwischt?“

„Vorgestern gegen 23 Uhr, würde ich denken.“

„Da hat die Hütte nach Aussage dieser Vandenburg schon gebrannt.“

Brock hatte keine Lust mehr: „Auto und Leiche zum LKA nach Wiesbaden. Ich fresse einen Besen samt Putzhilfe, wenn der Knabe wirklich Böttiger heißt. Und das Auto ist entweder gestohlen oder eine Doublette. Könnten Sie sich bitte darum kümmern, Kollege Wilde?“

„Bin schon dabei.“

Auf der Rückfahrt nach Montabaur und Wiesbaden schwiegen Fichte und Brock und sprachen erst offen miteinander, als der Kollege ihnen Namen und Anschrift des Mannes gegeben hatte, der das Feuer entdeckt hatte. Sie trafen ihn zuhause an und waren sich schnell einig, dass Arnold Reiser mit dem Fall Vandenburg nichts zu tun hatte.

Reiser besaß ein kleines Geschäft für Haushaltswaren in Montabaur und ein größeres in Koblenz. Fichte und Brock hielten ihn schnell für einen Mann von bescheidenem Verstand, den außer Jagen und Pilzen nicht viel interessierte. Vielleicht ging es ja weiter, wenn sie wussten, wer der Tote von der Waldwiese wirklich war.

Es war gar nicht so leicht, die rechte Hand des Toten so weit zu säubern und den Körper so zum Gerät zu bugsieren, dass sie die Hand auf die Sichtscheibe legen konnten, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Die Fingerabdruck-Datenbank meldete umgehend, dass es sich um Bodo Zoller handelte, mehrfach vorbestraft wegen schwerer Körperverletzung, versuchten Totschlags und fahrlässiger Tötung. Der unerlaubte Waffenbesitz nahm sich daneben fast wie ein Kavaliersdelikt aus.

„Eine echte Killerlaufbahn“, meinte Hellmann. „Ich rufe mal gleich Brock an, der wartet schon auf ein Ergebnis.“

Brock bedankte sich für die schnelle Arbeit der Kollegen. Das Versteck Lesterwald war also doch nicht so einsam gelegen gewesen und war jetzt im doppelten Sinne des Wortes verbrannt. Und wenn es Verrat gab, durfte man nicht darauf vertrauen, dass ein anderes, immer wieder benutztes Versteck auch in Zukunft sicher war. Fragte sich nur, für wen Bodo Zoller gearbeitet hatte und wer ihn warum umgelegt hatte. Brock war inzwischen davon überzeugt, dass es nicht nur zwei, sondern drei Gruppen gab, die hinter ihrer Zeugin her waren. Er hatte gestern absichtlich nicht die Familie Lucano erwähnt, die nach dem „Ehren“-Kodex der Mafia den gewaltsamen Tod eines Clan- oder gar Familienmitglieds rächen musste.

Fichte lachte: „Und weil keiner in der Familien alt genug ist, das zu erledigen, haben sie einen Killer gekauft und hatten deswegen kein Geld mehr für Flugtickets.“

„Ein italienischer Familienkrieg im Rhein-Main-Dreieck hat uns gerade noch gefehlt, Paul.“

Eine aufmerksame Assistentin bemerkte, als sie die Leiche für die Öffnung vorbereiteten, an dem Shirt des Mannes mehrere brünette lange und glatte Haare, die sich als Frauenhaare herausstellten und für alle Fälle asserviert wurden.

*


ÄHNLICHE GEDANKEN WIE Fichte und Brock wälzte auch Rudi. Ein festes und sicheres Versteck bis zu Mitte nächster Woche? Aber auch eine ständige Bewegung zusammen mit dem männlichen oder weiblichen Schützling hatte ihre Probleme. Rudi fuhr einen normalen, unauffälligen Mittelklassewagen mit einer normalen Wiesbadener Nummer – bloß kein Behörden-Kennzeichen. Die beste Sicherheit für ihn und seinen Schützling war, nicht aufzufallen, im Strom der Fahrgäste, Einkäufer, Touristen und Spaziergänger mitzuschwimmen.

Der Chef hatte gestern entschieden, die Zielperson Isa Vandenburg aus dem Lesterwald in ein Versteck in der Nähe des Ortes Linsengericht zu bringen, von der Fichte-Truppe allgemein als „Erbsensuppe“ verspottet.

Rudi trödelte gemütlich Richtung „Erbsensuppe“. Das Versteck war ein alter längst aufgegebener Bauernhof, vor Jahren von einem Künstlerehepaar aus Frankfurt aufgekauft und aufwendig restauriert. Das Ehepaar hatte sich dann nach zwei harten Wintern doch entschlossen, in ein wärmeres Land mit mehr Sonne auszuwandern, und hatte sein Domizil relativ billig verkauft. Die Lage war an sich unübertrefflich. Mitten in einem Feld mit freier Sicht – und notfalls freiem Schussfeld – in alle Himmelsrichtungen, eine geschotterte Zufahrtsstraße, die kein Autofahrer, wollte er seine Stoßdämpfer behalten, mit mehr als 20 km/h passieren würde, mit einer Scheune, die als Garage diente, einem Geräteschuppen, in dem ein Notstromaggregat und mehrere Trinkwassertanks untergebracht waren, und auf mehreren hundert Meter im Umkreis kein Nachbar, keine Verbindungs- oder Bundesstraße und kein Spazierweg. Es war unglaublich still, bis auf die wenigen Vögel, die nachts auf Jagd gingen oder flogen.

Als Rudi von dem ehemaligen Wirtschaftsweg auf die Schotterpiste abbog, wurde er geknipst, er bemerkte den Blitz auf dem hohen Holzmast und wusste, dass nun sein Kennzeichen an die Hausbewohner gemeldet und über Funk an einem anderen Ort elektronisch gespeichert wurde. Wer absolute Ruhe und absolute Einsamkeit schätzte, war hier gut aufgehoben. Ansonsten kam es dem Stadtmenschen Rudi Herzog wie die Vorhölle vor, eingerichtet von des Teufels verbitterter Großmutter. Als er fünfzig Meter vom Eingang entfernt war, trat ein Mann vor's Haus und beobachtete ihn offen in einem Feldstecher. Der Kollege Claus Kowalski nahm die Vorschriften offenbar sehr ernst.

Rudi winkte ihm zu, als er ausstieg, und Kowalski winkte zurück. Dann trat eine unbekannte Frau aus dem Haus und erst als sie laut höhnte: „Ich werd' verrückt, man verdoppelt meine Schutztruppe!“, erkannte er Isa an der Stimme wieder. Die blonden Locken waren verschwunden, diese langen glatten brünetten Haare durften wohl eine Perücke sein, und die zusätzlichen Kilos, die sie in Form von Kissen oder einer gefütterten Schutzweste auf den Hüften herumschleppte, standen ihr nicht. Auch sie winkte Rudi zu: „Gott zum Gruße, großer Meister.“

Er zögerte, sie hatte vermieden, ihn mit Du oder Sie anzureden und nicht zu erkennen gegeben, dass sie ihn kannte oder wiedererkannt hatte. Zufall oder von ihrer Seite Absicht? Deswegen rief er ebenfalls ohne Anrede zu ihr hinüber: „Guten Tag, schöne Frau.“

Kowalski trat an ihn heran. „Tach, Rudi. Der Alte hat schon angerufen, du übernimmst? Dann kann ich also weg von hier?“ Er senkte die Stimme: „Ich wäre nicht böse, wenn ich gleich abdampfen könnte, sie ist nicht so ganz leicht zu ertragen.“

Rudi brummte heuchlerisch: „Der Chef hat mich auch schon gewarnt. Wenn du magst, fahr' los, sobald ich die Hütte durchsucht habe. Hat es irgend etwas Auffälliges gegeben?“

„Nein, absolut tote Hose den ganzen Tag über. Komm!“

Er ging mit Rudi auf die Frau zu, die neben der Tür stehen geblieben war und sie spöttisch musterte. Kowalski meinte nervös: „Das ist mein Kollege Rudi Herzog, er löst mich jetzt ab.“

„Ich heiße Isa Vandenburg, wie sicherlich im Amte schon bekannt,“ antwortete sie ungerührt. Es klang zynisch.

„Auf Wiedersehn, Frau Vandenburg. Und alles Gute für Sie.“

„Tschüss, Herr Kowalski, kommen Sie gut nach Hause.“ Das hörte sich jetzt eher höhnisch als nett an. Kowalski ging nicht sofort zur Garage, sondern wartete, bis Rudi einmal durchs Haus gelaufen war. Selbst seinem Rücken war anzusehen, wie froh Kowalski war, von hier fortzukommen. Rudi schaute auf seine Uhr – kurz vor achtzehn Uhr. Der Chef musste noch an seinem Schreibtisch sitzen. Und so war es.

„Rudi hier, ich habe gerade von Kowalski übernommen. Er fährt eben los.“

„Na, Rudi, was Neues?“

„Nein, und bei euch?“

„Auch nicht. Lederer wollte mir eine dicke Zigarre verpassen, und wurde so dreist, dass ich ihn nachdrücklich darauf hinweisen musste, der Maulwurf könne auch bei ihm, in der Staatsanwaltschaft, sitzen. Ich dachte, er fällt gleich von Wut auseinander.“

Staatsanwalt Wilfried Lederer war berühmt und berüchtigt für seine Unhöflichkeit. Aber wenn Rudis Chef „nachdrücklich“ wurde, rummste es im Karton, ganz gleich, mit wem Fichte es zu tun hatte. Als Kowalskis Auto außer Sicht geriet, sagte Isa: „Komm, lass uns reingehen! Es war doch richtig, dass ich dich nicht gekannt und nicht geduzt habe?“

„Goldrichtig, Isa. Je weniger Kollegen wissen, dass wir uns von früher kennen, desto besser. Und mein Chef weiß auch nicht, dass und wie wir uns in Lanzarote getroffen haben. Es geht ihn auch nichts an.“

Sie kniff ihm ein Auge zu, drehte sich um und öffnete die Tür. „Gut, dass du gekommen bist, von Kollegen wie Rotter und Kowalski hätte ich mich nicht länger beschützen und belästigen lassen.“

„Wusstest du, dass ich komme?“

„Ja, der Kowalski hat fast pausenlos mit seinem Chef in Wiesbaden telefoniert. Aber nun komm!“

Er schaute ihr nach und hielt sie an der Schulter fest, weil sie merkwürdig steif und humpelnd ging und dabei wie angetrunken schwankte: „Sag mal, ist was mit deinen Gelenken? Oder mit deinem Becken?“

„Nein, keine Angst. Ich trage nur so eine dicke gefütterte kurze Hose, weißt du, wie die Torleute beim Eishockey.“

„Wer hat dir denn das sexy Wäscheteil verpasst?“

„Eine Kollegin von dir.“

„Eine Kollegin? Wann und wo, Isa?“

„Sie hieß Senta Stolze und hat mich mit Rotter in das Haus gebracht, das dann abgebrannt ist. Wir haben uns darüber unterhalten, wie man mich am besten verstecken kann, und da meinte sie, sie würde mir eine Perücke besorgen und meine Figur so verändern, dass mich kein Mensch mehr an meiner äußeren Erscheinung und an meinen Bewegungen erkennen würde.“

„Das ist ihr gelungen. Ich habe dich eben auch nicht erkannt.“

„Und dabei habe ich nicht einmal meine höchst elegante neue Brille aus echtem Fensterglas getragen. So, so, nicht erkannt, ich fühle mich auch scheußlich und hässlich in dem Ding. Und an Perücken bin ich auch nicht gewöhnt. Durst?“

„Schon, aber Alkohol ist für mich verboten, bis ich dich heil abgeliefert habe.“

„Aber ich werde mir nach diesem stinklangweiligen Tag einen Wein gönnen. Sag nichts und denk' daran, man muss aussagebereite Zeugen bei Laune halten.“

Er konnte auch gar nichts sagen, weil in der Minute eine auffällig große Drohne so niedrig über sie hinwegdröhnte, dass sogar die Fensterscheiben leise klirrten. „Wo kommt das Ding denn her?“, sorgte sich Rudi. Sie zuckte die Achseln: „Die kurvt schon seit Mittag hier herum. Kowalski hat deswegen telefoniert, aber niemand weiß anscheinend, wem die Drohne gehört und wer sie von wo aus steuert.“

Und die Person am Steuergerät musste das Haus sehen können, denn die Drohne kam nach einer Minute zurück und dröhnte wieder direkt über das Haus hinweg.

Rudi sagte nichts, aber machte sich in Gedanken einen dicken Knoten ins Taschentuch. Diesen Kowalski würde er sich zur Brust nehmen, wenn er diesen Auftrag beendet hatte. Konnte der Arsch wirklich so dumm sein? Telefonierte den ganzen Tag mit seinem Handy und brachte es fertig, seiner Ablösung zu verschweigen, dass hier eine nicht identifizierte Drohne die Gegend unsicher machte? Ein Gerät, mehr als groß genug, um eine Fernsehkamera mit Sender zu tragen.

Sie sah ihn fest an: „Schlechte Laune? Oder machst du dir Sorgen?“

„Beides stimmt etwas,Isa.“ Sie drehte den Korken aus der Flasche und hielt ihm ein Glas hin.

„Danke, wirklich lieber nicht.“

„Sind wir hier nicht sicher?“

„Doch. Zu neunundneunzig Prozent schon. Ein kleiner Rest Unsicherheit bleibt immer.“ Und bei unbekannten Drohnen am Himmel war dieser Rest sogar ziemlich groß, mit Sicherheit größer als nur ein Prozent.

„Und was willst du dagegen tun?“

„Wir können morgen sozusagen ins Blaue losfahren, also fliehen.“

„Ich fürchte, das nutzt nicht viel, Rudi, er hat überall seine Leute. Viele davon kennen mich. Und die Organisation ist verdammt groß.“

„Wer hat überall seine Leute?“

Eine halbe Minute staunte sie ihn an. „Ullrich Schiefer“, sagt sie endlich heiser.

„Und wer ist Ullrich Schiefer?“

„Sag bloß, du kennst den Fall nicht?“

„Nein. Ich weiß nur, dass du als Zeugin geladen und bedroht worden bist, damit du nicht wahrheitsgemäß aussagst.“

Nach einer langen Pause lachte sie ungläubig. „Das ist ja goldig. Ich habe gehört, wie Ullrich Schiefer seinem Laufburschen Boris Stepkow den Auftrag erteilt hat, Ullrichs Geschäftspartner Tomasio Lucano umzulegen. Was Stepkow dann auch getan hat, und zwar so dilettantisch, dass man ihn wenig später geschnappt und zu lebenslänglich verurteilt hat. Stepkow mit seiner langen Vorstrafen-Liste ist an der Sicherungsverwahrung nur vorbeigeschrammt, weil er sich bereit erklärt hat, als Kronzeuge gegen Schiefer auszusagen.“

„Du hast also gehört, wie Schiefer den Mordauftrag gegeben hat?“

Sie nickte energisch.

„In welcher Beziehung hast du denn zu Schiefer und Stepkow gestanden?“

„Schiefer war viele Jahre mein Chef und Geliebter. Stepkow arbeitete als eine Art Laufbursche und Bote und Mann für's Grobe in der Firma Utom.“

„Utom? Was heißt das?“

„Ullrich Schiefer und Tomasio Lucano.“

„Dein Chef? Dann weißt du also eine Menge über seine Geschäfte?“

„Das darfst du laut singen, fast alles, was ich nicht selbst in der Firma erfahren oder organisiert habe, hat Schiefer mir anfangs im Bett erzählt. Er redet gerne und braucht Bewunderung.“

„Bedroht er dich deswegen? Hat er Angst vor einer Mitwisserin?“

„Nein, glaube ich nicht. Er weiß, dass ich im Nebenzimmer war, als er Stepkow den Auftrag zum Mord an Lucano gab; und erst dann, als Stepkow gegangen war, will Ullrich bemerkt haben, dass die Tür einen Spalt offenstand. Was zu glauben mir schwerfällt.“

„Du meinst, er hatte das in dem Moment übersehen?“

„Das hat er zumindest mir gegenüber behauptet.“

„Hm hm“, machte Rudi sorgenvoll.

„Was soll das – hm hm?“

„Und wenn er dich zur Mitwisserin machen wollte und dir nach deiner Aussage Beihilfe vorwerfen wird? Oder von seinem Verteidiger unterstellen lässt? Denn mit deiner Aussage, dass du den Mordauftrag mit eigenen Ohren gehört hast, gibst du natürlich auch zu, dass du an dem Tatort gewesen bist. Als Mitwisserin oder Beihelferin.“

Isa schüttelte den Kopf. „Das wird er nicht.“

„Und warum nicht?“

„Du fragst wie dieser Staatsanwalt Lederer.“

„Ja? Polizisten und Staatsanwälte neigen zur selben Denke, das stimmt. Und wo hast du diesen Mordauftrag gehört?“

„In einem Haus. Im Schlangenbad. So, und jetzt ist Schluss mit der Vernehmung einer Verdurstenden.“ Sie griff nach der Flasche und schenkte sich Wein ein. Er beobachtete sie einen Moment unschlüssig und seufzte leise. Sie wollte also nicht mehr auspacken. Deshalb stand er auf und schaltete den Fernseher an.

Das Programm war lausig und gegen zehn Uhr ging er ins Bett, lag lange wach, weil er grübelte. In Isas Geschichte fehlte ein wichtiges Verbindungsglied. Unterstellt, die Tür zum Nebenzimmer stand tatsächlich einen Spalt offen, als Schiefer den verhängnisvollen Auftrag erteilte. Wie konnte Stepkow wissen, dass sich im Nebenzimmer die Geliebte und Mitarbeiterin seines Chefs aufhielt. Wenn er es nicht wusste, konnte sich ein alter Knastologe ausrechnen, dass seine Aussage gegen Schiefers Aussage stehen würde, wenn er bei der Polizei behauptete, sein Chef Schiefer habe ihm den Mordauftrag gegeben. Das vermochte sich auch jeder Staatsanwalt auszurechnen. Mit einem Mal konnte er einen weiteren Zeugen für seine Anklage „Anstiftung zum Mord“ präsentieren.

Was hatte Isa dazu gebracht, ihrem Chef und Geliebten anzukündigen, sie würde die Aussage des verurteilten und schon einsitzenden Mörders Boris Stepkow vor Gericht bestätigen? Sie musste es Schiefer angedroht haben, sonst hätte der sie nicht so unter Druck gesetzt, dass sie schließlich zur Polizei ging, vor einem Staatsanwalt aussagte und um Zeugenschutz bat.

Rudi verschränkte die Hände hinter dem Kopf und versuchte vergeblich, seine Gedanken abzuschalten und einzuschlafen. Die Gedanken wirbelten weiter und kamen nicht zur Ruhe. War Schiefer der Mann, der vor fünfzehn Jahren auf Isa in Frankfurt wartete, als sie Rudi auf Lanzarote so unerbittlich in die Wüste schickte? War Schiefer der Vater von Jonas und Julia? Rudi starrte in die Rabenschwärze unter der Decke und fühlte sich plötzlich sehr unglücklich. Von der erhofften Freude, Isa wiederzusehen, verspürte er nichts.

Weit entfernt knattert die Drohne leise, aber noch deutlich zu vernehmen. Isa hatte fast den ganzen Liter Rotwein getrunken und war zuerst recht fröhlich und dann ziemlich rasch müde geworden, als sie sich im Fernsehen eine ausgesprochen alberne Komödie angesehen hatte, was sie wahrscheinlich wohl auch deshalb getan hatte, um nicht länger mit ihm reden zu müssen. Sie schlief im Zimmer über dem schmalen Flur gegenüber, das vergitterte Fenster war geklappt, und Rudi hatte zuletzt auch die Haustür kontrolliert, abgeschlossen und den schweren Innenriegel vorgeschoben. Dann erstarrte er und atmete schwer. Seine Zimmertür knarrte und wurde ganz vorsichtig aufgeschoben.

„Rudi?“, flüsterte eine Frauenstimme. „Schläfst du schon?“

Er holte tief Luft. „Nein“, sagte er in normaler Lautstärke. „Isa. Was ist los?“

„Ach, das ist gut.“ Sehen konnte er sie nicht, er ahnte nur den schwarzen Schatten, als sie an sein Bett kam und sich hinlegte, sich unter die Decke schob und ihm eine Hand auf die Brust legte. Er langte nach ihr und wollte sie an sich ziehen, aber sie sperrte sich: „Deswegen bin ich nicht gekommen“, flüsterte sie. „Rudi, da ist jemand im Haus.“

Er sagte nichts. Nach einem Liter Rotwein hörte auch er mal Gespenster, spürte Geister und roch kleine Schwefel-Teufelchen. Sie ahnte, was er dachte. „Nein, bestimmt, Rudi. Es ist nicht der Rotwein. Da ist jemand im Haus. Und ich glaube, der ist schon heute mittag gleichzeitig mit der Drohne gekommen und hält sich seitdem irgendwo verborgen.“

„Isa, wie soll der hereingekommen sein?“

„Durch ein Fenster?“

„Die sind alle vergittert und geschlossen. Oder hast du es irgendwo klirren und brechen hören?“

„Nein“, gab sie zu. „Rudi, ich habe trotzdem Angst.“ Dass sie sich dabei an ihn presste, war ja ganz angenehm, aber sie mussten schlafen, der morgige Tag würde anstrengend werden.

„Okay“, gab er nach. „Wo hast du deine Pistole? Du kannst sie entsichern und so neben deinem Bett liegen lassen, während ich einmal durchs Haus gehe und nachschaue.“

Er hatte sein schönes, neues Stück auf den Nachttisch gelegt, schob Isa sanft aus dem Bett und legte einen Arm um ihre Taille. Kein Zweifel, die Frau war plötzlich sehr viel schlanker geworden. Sie trug einen dünnen baumwollenen Schlafanzug mit kurzen Armen und kurzen Beinen und kicherte, als sie seine forschende Hand auf ihrem nackten Bauch spürte. „Zufrieden mit der Figur?“

„Oh ja, sehr.“

„Ihr Männer habt auch immer nur das eine im Kopf.“

„Im Kopf weniger, schöne Isa.“

Sie gluckste, für Sekunden von ihrer Angst abgelenkt. Sie mussten die Pistole aus ihrer Handtasche holen, die sie leichtsinnigerweise im Wohnraum neben der Couch hatte stehen lassen. Er nahm ihr die Waffe ab, schaute sich das Magazin an – sechs Patronen – lud durch, entsicherte und gab ihr die Beretta zurück. „Vorsicht, Isa. Gespannt und entsichert.“

Er wartete, bis sie in ihr Zimmer gegangen war und innen den Riegel vorgeschoben hatte, dann ging er in sein Schlafzimmer, holte die Akkulampe aus der Reisetasche und wartete lauschend unten im dunklen Wohnzimmer. Nichts zu hören, aber jetzt verspürte er auch das blöde Gefühl, dass sich noch jemand im Haus aufhielt. Anders als Isa hatte er gelernt und geübt, in solchen Fällen systematisch vorzugehen. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Aber es roch verändert. Schweiß? - nein. Rasierwasser, Parfüm, Hautcreme? - Ja, so etwas in der Art, schwach, aber unverkennbar. In der albernen Fernsehkomödie, die sie gesehen hatten, war die Ehefrau ihm auf den Seitensprung gekommen, weil er nach dem Parfüm der Freundin roch. Rudi grinste in sich hinein. Er knipste die Lampe an und ging durch die Räume des Erdgeschosses, machte in allen Zimmern Licht, ohne einen unerwünschten Besucher zu entdecken und aufzuscheuchen oder Spuren zu finden, die ein Fremder hinterlassen hatte. Der Geruch von Parfüm, Seife, Rasierwasser oder Hautcreme wurde schwächer. Auch in den Zimmern des ersten Stocks gab es nichts Auffälliges und hier oben konnte er bei aller Konzentration auch nichts mehr erschnuppern. Alle Fenster und Türen waren okay. Er klopfte leise an ihre Tür, aber sie antwortete nicht, und in Erinnerung an ihre Schießkünste zog er es vor, nicht gewaltsam in ihr Zimmer zu poltern und sie aus dem Schlaf hochzureißen. Jetzt konnte er auch einschlafen.

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