Читать книгу Mörderische 13 Urlaubs-Krimis auf 1600 Seiten - A. F. Morland - Страница 55

Donnerstag, 12. Juni

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Rudi wurde wach, weil irgendwo laute Musik spielte. Er schlug die Augen auf und sofort blendete ihn die helle Sonne. Acht Uhr. Er hatte gut geschlafen und fühlte sich topfit, bis auf den niedrigen Blutdruck. Weil er ein Gewohnheitstier war, stieg er zuerst in seinen Trainingsanzug und verschob das Waschen und Rasieren auf die Zeit nach dem Frühstück. Ohne Kaffee im Bauch sollte kein Mensch gezwungen sein, systematische Handlungen wie etwa Rasieren vorzunehmen. Er zog die Tür einen Spalt auf und rief laut: „Isa?“

„Auch schon wach, du Faulpelz? Auf, auf, Frühstück ist fertig.“ Sie musste in der Küche sein. Auch sie hatte sich in eine Art Hausanzug geworfen, strahlte vor Energie und räumte ein, dass sie im Vertrauen auf seine Sorgfalt sofort eingeschlafen sei.

„Was machen wir heute?“

„Das überlege ich noch.“

Dazu ging er in die kleine Diele, der schwere und offensichtlich vor kurzem geölte Innenriegel der Haustür war aufgezogen. Also doch! Leise lief er in sein Schlafzimmer zurück und nahm das Handy. Katrins Nummer war immer noch gespeichert, er drückte die Taste und wartete, bis sich eine Frau einstellte: „Ja?“

„Hallo, Katrin.“

„Ich werd' verrückt, mein fröhlicher Sesselmann.“

„Den du hoffentlich noch in guter Erinnerung hast.“

„Warum fragst du, willst du mich etwa besuchen?“

„Das auch, aber in erster Linie brauche ich deine Hilfe.“

„Wie das?“

„Katrin, ich bin mit einer Frau unterwegs, der man angedroht hat, sie zu ermorden.“

„Auf erotischen Pfaden unterwegs?“

„Im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms. Offenbar haben wir in unserer Abteilung oder in der Staatsanwaltschaft einen Maulwurf, zwei Verstecke sind aufgeflogen und verbrannt, und heute Nacht ist ein Unbekannter in unserem Versteck gewesen, aus dem ich jetzt anrufe.“

„Was hat er gewollt?“

„Das weiß ich noch nicht, aber wahrscheinlich wartet er vor dem Haus und wird sich an uns dranhängen. Ich brauche für ein paar Tage eine sichere Wohnung, die wir bis zum kommenden Mittwoch benutzen können. Und da ist mir die Geschichte mit der geerbten Wohnung bei Bonn eingefallen. Hast du sie schon verkaufen können?“

„Nein, sie steht immer noch leer und wartet auf einen Käufer.“

„Meinst du, wir könnten dort für ein paar Tage und Nächte unterschlüpfen?“

Die Bekanntschaft mit Katrin Köhler verdankte er der deutschen Bahn. Sie saßen sich in einem Regionalexpress gegenüber, sie stand auf, um in das Gepäckfach zu greifen, als die Bahn so plötzlich und so ruckartig bremste, dass sie sich unfreiwillig auf seinen Schoß setzte. Sie kamen ins Gespräch, mussten beide in Mainz aussteigen, zuerst bei Kaffee und Kuchen, dann bei einem Rheinhessen-Riesling kam man sich näher, vertiefte die Beziehung bei einem gemeinsamen Skiurlaub. Katrin war Finanzbeamtin in Mülheim an der Ruhr. Als ihr eine Aufstiegschance im Amt geboten wurde, entschied sie sich dafür und gegen ein Zusammenleben mit Rudi Herzog. Sie trennten sich ohne Zank und ohne Vorwürfe und hielten seitdem telefonisch Kontakt. Am Telefon hatte sie ihm auch erzählt, dass sie in Bonn von einer Tante eine Wohnung geerbt hatte, die sie gern verkaufen wollte. Aber ihre Preisvorstellungen und die der wenigen Interessenten lagen noch schmerzhaft weit auseinander, wie sie bei ihrem letzten Telefongespräch klagte. Die schöne Wohnung stand immer noch leer.

„Wann brauchtest du denn ein Dach über dem Kopf?“

„Am liebsten noch heute Abend.“

„Rudi, dazu müsste ich sofort nach Bonn kommen. Ich will mal versuchen, den Nachmittag frei zu nehmen. Die alte Handynummer gilt ja noch?“

„Immer noch.“

„Okay, ich melde mich. Aber es kann etwas dauern. Ich muss erst einige Termine verschieben.

Isa sah ihn neugierig an: „Na, alles klar?“

„Ja und Nein. Wir müssen auf einen Anruf warten. Das kann allerdings dauern.“

„Soll ich schon packen?“

„Ja. Hier bleiben wir auf keinen Fall.“

Sie sprang auf und er bewunderte wieder ihre langen Beine: „Vergiss deinen schusssicheren Keuschheitsgürtel nicht!“

„Einpacken oder anziehen?“

„Einpacken reicht.“

Während des Telefonats hatte Katrin ihn auf eine Idee gebracht: „Bevor wir losfahren, müssen wir ein paar ernste Worte reden, damit du verstehst, was hier abläuft.“

Sie gluckste. „Du hörst dich an wie meine Mutter vor meinem ersten Rendezvous.“

Er grinste. „Nach deiner unterschriebenen Aussage vor Staatsanwalt Lederer wird jeder vermuten, dass deine Behauptung richtig ist, wenn du jetzt, wenige Tage vor dem Prozess umgebracht wirst. Das liegt also nicht unbedingt im Interesse deines früheren Chefs und Liebhabers Schiefer.“

„Vielen Dank, zu freundlich. Müssen wir auch besprechen, wo ich begraben sein möchte und welche Grabsteininschrift ich mir wünsche?“

Er ließ sich nicht beirren: „Schiefer wäre sehr viel mehr geholfen, wenn du dich im Zeugenstand plötzlich nicht mehr erinnern kannst oder willst, dich in Widersprüche verhedderst. Gibt es etwas, womit er dich im letzten Moment noch erpressen, verwirren oder aus dem Gleichgewicht bringen könnte?“

Nach einer Bedenkminute zuckte sie die Achseln.

„Was ist mit deinen Kindern? Wenn er droht, ihnen was anzutun?“

„Das wird er nie tun!“

„Wie kannst du da so sicher sein?“

Sie zuckte wieder die Achseln, antwortete aber nicht.

„Julia geht in Essen-Werden auf die Folkwangschule, nicht wahr?“

„Ja.“

„Wo wohnt sie?“

„In der Ahornstraße 14, das liegt in Stadtwald. Das Haus gehört einer Großtante von mir, die sich mit Julia sehr gut versteht.“

Rudi notierte sich die Adresse. „Ich werde mal einen Essener Kollegen bitten, ab sofort ein Auge auf deine Tochter zu haben.“

„Wenn du meinst?!“

„Und Jonas?“

„Der fährt jeden Tag nach Darmstadt und zurück.“

„Warum denn das?“

„Du, er ist noch nicht volljährig, hat zwar mit 16 ein gutes Abi gemacht, aber das wurde noch ein richtiger Zirkus, bis er zum regulären Studium zugelassen wurde. So hat meine Schwester in Schlangenbad ein Auge auf ihn.“

„Na schön. So, wenn wir mal unterstellen, dass Schiefer ein Interesse hat, dich am Leben zu lassen, haben seine zahlreichen Feinde, mit denen er früher doch illegale und lukrative Geschäfte gemacht hat, ein großes Interesse daran, dass du darüber nichts aussagen kannst. Und vielleicht ist einem schon aufgegangen, dass er mit deinem gewaltsamen Tod auch Schiefer im kommenden Prozess schaden kann, also mit einem Streich zwei lästige Fliegen erledigen kann.“

„Du kannst einem richtig Mut machen.“

„Ich will dir nur die nötige Angst einjagen, damit du nicht leichtsinnig wirst. Wir müssen auf zwei Gruppen achten, die aus verschiedenen Motiven und mit verschiedenen Absichten hinter dir her sind, die sich vielleicht gar nicht kennen.“

„Und die sich im Idealfall gegenseitig lahmlegen oder zu Krüppeln schießen?“

„Wann hast du zum letzten Mal einen Idealfall erlebt?“

Jetzt griente sie boshaft: „Vor 15 Jahren auf Lanzarote.“

„Danke für die Blumen. Trink deine Tasse aus und fang mal an zu packen. Deine Handtasche bitte.“

Er hatte sich erinnert, Isa hatte die Tasche abends leichtsinnigerweise im Wohnzimmer neben der Couch auf dem Boden stehen lassen.

„Darf ich die mal haben und den Inhalt anschauen?“

„Muss das sein?“

„Ja. Muss sein.“ Sie hatte den üblichen Krempel in der Tasche, darunter auch eine angebrochene Monatspackung Pillen und eine noch verschlossene Packung Kondome. Weil er spürte dass sie ihn beobachtete, verkniff er sich den Satz: „Doppelt hält wirklich besser.“ Auf den ersten Blick ungewöhnlich war nur ein Teil, ein kleiner mattgrauer Würfel aus Plastik, um den zwei Schlingen eines blanken Drahts gewickelt waren. „Was ist denn das, Isa?“

„Gib mir doch mal bitte mein Etui mit Nagelschere, Nagelfeile und so für die kleine Maniküre unterwegs.“

Der Deckel des grauen Würfels ließ sich problemlos aufhebeln. Darunter verbarg sich, was Rudi befürchtet hatte, eine Miniplatine mit zwei elektronischen Bausteinen, zwei winzige Spulen, ein kleiner Quarz und zwei Knopfzellen.

„Was ist denn das?“

„Das, liebe Isa, ist ein Sender, den unser nächtlicher Besucher dort platziert hat und mit dem sie uns den ganzen Tag über anpeilen wollten.“ Er nahm eine Nagelzange und knipste die kleinen Kabelstücke von der Batterie zur Platine durch. „So, Ende der Vorstellung. Jetzt darfst du packen.“

„Sag mal, muss ich jetzt diesen scheußlichen Keuschheitsgürtel wieder anziehen?“

„Nein. Aber Perücken und Brille sollten es schon sein.“

Sie schnitt eine Grimasse, doch in diesem Punkt blieb er hart. Die Perücke war nicht die Krönung der Friseurkunst, aber die Brille mit dem leicht getönten Fensterglas veränderte den Gesichtseindruck mächtig. Über die nächsten Tage sprachen sie nicht. Rudi war klar, dass sie einen gewaltigen Nachteil hatten: Die anderen wussten, wann und wo Isa auftauchen musste. Während er packte, überlegte er sich, wie sie am 18. Juni unbemerkt in das Gebäude des Landgerichts kommen könnten. Er musste sich darauf verlassen, dass kein Maulwurf ihr neues Versteck verraten würde, dann konnten sie dort bis zum Mittwoch bleiben und erst am frühen Vormittag nach Wiesbaden zum Landgericht losfahren.

Gegen 12 Uhr rief Katrin an: „Okay, ich habe alle herumbekommen und kann den Dienst tauschen. Du hast doch ein Navi?... Schön. Kommt nach Bonn-Ückesdorf, suche den Paula-Roming-Weg 19 und fahrt dort in die offenstehende Tiefgarage. Ich erwarte euch da. Sagen wir mal, gegen 15 Uhr.“

Eine knappe Stunde später fuhren Rudi und Isa los, die Haustür war noch zugeschlossen, und Isa achtete nicht darauf, dass der Innenriegel zurückgezogen war.

*


MUNO, GENANNT DIE MAUS, war doch ziemlich nervös geworden, als da jemand in der Nacht in allen Zimmern nacheinander Licht machte und wieder ausknipste. Also war doch jemand misstrauisch geworden? Wie und wodurch? Der kleine Mann wartete bewegungslos. Die Drohne, das Steuergerät, die Fernsehkamera, der Bildschirm und der Sender dazu lagen schon lange bruchsicher verpackt in seinem Kofferraum. Erst als Rudis Auto am Horizont verschwunden war, telefonierte er über Handy: „Sie sind gerade losgefahren. Sandfarbener Corsa, WI Strich RH 234.“

„Okay, wir übernehmen.“

Doch mit dem Übernehmen wurde nichts. Als der sandfarbene Wagen an ihnen Auto vorbeifuhr, blieb es in ihren Kopfhörern stumm. Munos so gepriesener Peilsender funktionierte nicht oder man hatte ihn gefunden und noch im Haus entsorgt oder lahmgelegt. Die Männer verfolgten den Corsa noch, so weit sie konnten. Aber als Rudi die Autobahn 3 ansteuerte, gaben sie es auf. Ohne Peilsender und Peilempfänger war es ziemlich aussichtslos, allein eine Verfolgung auf einer vollen Autobahn anzufangen, ohne dem Verfolgten auf Dauer aufzufallen.

„Muno, hörst du? Wir geben auf, dein Peilsender arbeitet nicht.“

„Scheiße.“

Der wütende Chef gab Muno Recht, setzte sich aber sofort an den Computer und rief das Mailprogramm auf. Mit der Adressdatei „Rundschreiben“ erreichte er an die vierhundert Mitarbeiter, Vertreter, Geschäftspartner und Betriebs-Nebenstellen im In- und Ausland: „Dringend. Gesucht wird ein sandfarbener Corsa mit dem amtlichen Kennzeichen WI – RH 234. Sofort Standort an Utom oder Agentur Kollau melden, sehr wichtig für uns alle. Niels.“

Niels Kollau betrieb offiziell eine übel beleumdete Inkasso-Agentur, aber einige Mitarbeit kassierten nicht nur, sondern teilten auch rücksichtslos aus – Schläge, Tritte, Pfefferspray und in besonderen, hoch bezahlten Fällen auch blauen Bohnen und beseitigten anschließend sorgfältig ihre Opfer. Dafür war Kollau in bestimmten Kreisen berühmt und wurde öfter engagiert, weil sich herumgesprochen hatte, dass er seine Auftraggeber nie verpfiff oder später erpresste.

Muno schaute ihm über die Schulter, während Kollau tippte: „Glaubst du, das bringt was?“

„Hast du eine bessere Idee?“

Muno musste passen. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.

*


AUF DER AUTOBAHN ERKUNDIGTE sich Isa: „Wohin fahren wir eigentlich?

„Wir können in Bonn für ein paar Tage unterschlüpfen. Das ist nicht so weit weg. Es reicht, wenn wir am Mittwoch erst am Morgen nach Wiesbaden losfahren. Du bist dann noch immer pünktlich im Gericht. Kennst du Bonn?“

„Etwas. Wir hatten, als die Regierung noch in Bonn saß, eine Vertretung dort. Die habe ich ein paarmal besucht. Jetzt beschäftigen wir nur noch einen Mitarbeiter auf Honorarbasis dort.“

„Kennt der dich?“

„Nein, ich bin ihm nie begegnet.“

Die Autobahn war voll, lief aber störungsfrei. Fast pünktlich kurvten sie durch das Endenicher Ei und steuerten Richtung Röttgen. Rudi war vor mehreren Jahren kurz zu einem Lehrgang in Meckenheim gewesen und staunte, wie sehr sich in dieser kurzen Zeit ein Nest wie Ückesdorf verändert hatte. Das Navi führte sie problemlos in den Paula-Roming -Weg. Vor dem siebenstöckigen Haus Nr. 19 wartete schon Katrin Köhler auf sie, fiel Rudi um den Hals und betrachtete Isa aus schmalen Augen. „Wirklich nur dienstlich unterwegs?“, hauchte sie verschwörerisch und gab Isa dann die Hand: „Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Katrin Köhler.“

„Isa Vandenburg. Angenehm.“

„Kommen Sie, wir müssen in die sechste Etage. Keine Sorge, es gibt einen Aufzug.“

„Wo soll ich den Wagen lassen?“

„Zur Wohnung meiner Tante gehört auch ein Stellplatz in der Tiefgarage. Ich bring dich hin.“ Rudi musste ziemlich kurbeln und rangieren, um sich auf einen schmalen Streifen zwischen Pfeilern und Wand zu quetschen und sich dann wie ein Aal aus dem Auto zu schlängeln. Die Tante hatte bestimmt ein sehr kleines Auto gefahren. „Ja, das habe ich verkaufen können.“

Die Wohnung war noch fast vollständig möbliert, nur auf den verschossenen Tapeten zeichneten sich helle Rechtecke mit grauen Randstreifen ab. „Die Tante hatte eine große Vorliebe für flämische Landschaftsmalerei aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts. Ein Interessent, der die Wohnung besichtigte, verstand was von Malerei und hat ziemlich grob gesagt 'Die Wohnung ist mir zu teuer. Aber die Bilder würde ich Ihnen abkaufen, wenn sie dafür einen etwas realistischeren Preise verlangen.' Wir haben uns schließlich geeinigt.“

„Womit habt ihr euch duelliert?“

„Mit Messern und Gabeln. Das ist eine ziemliche Bescherung. Die Immobilienpreise sinken, Bonn hat den Regierungs-Umzug nach Berlin nicht ganz so gut verkraftet, wie erhofft. Ich würde sagen, ihr schaut euch einmal an, was man aus dem Kühlschrank noch essen kann, sonst müssen wir einkaufen gehen.“

*


VIEL HATTEN ISA UND Rudi nicht auszupacken, und die beiden Frauen verschwanden sehr bald zu einem Großeinkauf, bei dem, wie Isa versprach, der flüssige Teil nicht zu kurz kommen würde. Katrin wollte bald zurück nach Mülheim und nahm sie nur noch mit in den fünften Stock zur Familie Bellmann. „Das sind Freunde von mir, Rudolf Herzog und Isa Vandenburg. Sie werden ein paar Tage über Ihnen sozusagen Probe wohnen, um sich klar zu werden, ob sie kaufen sollen. Rudi hat einen Job im Rheinischen Landesmuseum bekommen. Also nicht verwundern, wenn sie hier durchs Haus turnen.“

Die Bellmanns waren beide in den Sechzigern und machten einen ruhigen, zuverlässigen Eindruck. Katrin drückte ihm noch die Schlüssel in die Hand und verzog sich nach fünf Minuten. Ein paar Minuten später gingen auch Rudi und Isa in ihr neues Domizil.

Er brachte Katrin noch zur Tür, bedankte sich noch einmal und sah, als er zurückkam, durch die offene Schlafzimmertür, Isa vor dem Doppelbett stehen.

„Tja, nun ist es endlich so weit“ seufzte sie. Das klang nicht nach wildem Begehren oder ungezügelter Lust und deswegen tröstete er sie: „Ich bin nicht mehr der junge Wilde von den Kanaren.“

„Ich auch nicht mehr“, gab sie zu.

„Wir werden die paar Nächte überstehen“, meinte er ruhig. „Kannst du Kaffee kochen?“, fragte er danach höflich. „Das wäre nett, ich muss noch telefonieren.“

Sein Chef knurrte, weil Rudi sich weigerte, ihm zu sagen, wo sie sich jetzt versteckten. Fichte lenkte bald ein, einen bockigen Rudi konnte man nicht umstimmen, und es war jetzt Rudis Aufgabe und allein in seiner Verantwortung, Isa heil zum Gerichtstermin zu bringen.

Danach rief Rudi Hugo an. Hugo Klimmt war einer der wenigen Männer, die genau wussten, was Rudi Herzog beruflich machte und auf deren Verschwiegenheit er sich hundertprozentig verlassen durfte. Als Heranwachsender hatte Hugo beobachtet, wie ein kräftiger Mann eine junge Frau überfiel und vergewaltigte. Einzugreifen hatte er bei dem brutalen Hünen nicht gewagt, aber den Täter unbemerkt zu seinem mehrere Straßen entfernt geparkten Auto verfolgt, sich Marke, Farbe und das Autokennzeichen aufgeschrieben und war dann zur Polizei gegangen. Dank seiner Aussage wurde das Opfer rechtzeitig gefunden und der Täter gefasst und überführt und zu sechs Jahren verurteilt. Im Knast erzählte er einem Zellengenossen, dass er nach seiner Entlassung als erstes diesen verdammten Zeugen umlegen und sich dann noch einmal diese blöde Zicke von Frau „vornehmen“ wolle. Der Zellen-Mitbewohner hatte Gründe, sich einen weißen Fuß zu machen, und verriet das Gerede seines Nachbarn an die JVA-Leitung, die das durchaus ernst nahm. Als der Vergewaltiger aus der Haft entlassen wurde, standen das Opfer und Hugo unter Personenschutz. Rudi Herzog kümmerte sich um Hugo Klimmt; den der Ex-Sträfling tatsächlich aufspürte und mit einer Waffe überfiel. Rudi mischte sich ein und bei dem Schusswechsel erschoss Rudi den Angreifer, was ihm viel dienstlichen Ärger, aber auch Hugos ewige Dankbarkeit einbrachte.

„Toll, mal wieder was von dir zu hören“, sagte Hugo ernsthaft. „Brauchst du wieder Hilfe?“

„Ja, wenn du mittlerweile auch Frauen und Mädchen im Montagedienst beschäftigst.“

„Tue ich.“

„Mit Firmen-Overalls?“

„Aber ja.“

„Auch in Übergrößen?“

„Warum? Ist sie so dick?“

„Nein. Aber sie muss den Overall in deinem Geschäft überziehen und dann im Landgericht wieder ausziehen. In der Verhandlung sitzen bestimmt Typen, die sie beobachten sollen, und ich möchte nicht, dass dieser schöne Trick auffliegt.“

Hugo Klimme betrieb eine Klempnerei und ein Geschäft für Sanitärbedarf. Name, Firma und Telefon waren auf den von der Firma gestellten Overalls groß aufgedruckt, und dass ein Klempner zu einem „Eileinsatz“ in ein Gerichtsgebäude gerufen wurde, war nicht auffällig oder verdächtig. So konnte Rudi seinen Schützling Isa in das Gebäude bringen, und in dem Richterzimmer neben Saal 15 würde sie den Overall ausziehen und später wieder über ihre Sachen ziehen.

„Alles klar. Und wann?“

„Mittwoch, 18. Juni. Sie ist auf elf Uhr geladen. Wir tauchen am Vormittag rechtzeitig bei dir in der Firma auf ...“

„Gebucht, Rudi.“

Hugo musste für den Termin mindestens einen Firmenkombi und ein paar Männer bereithalten, für die er natürlich später vom Amt bezahlt wurde.

„Vielen Dank, Hugo.“

„Mach' ich doch gern für dich.“

Sie tranken noch eine Flasche von den Flüssig-Einkäufen, und als Rudi jetzt wieder fragte, wer denn der Mann gewesen sei, der sie in Frankfurt auf dem Flughafen erwartete, gab sie zu: „Das war

Ullrich Schiefer.“

„Ist er der Vater von Jonas und Julia?“

„Nein, das ist oder besser war Tomasio Lucano.“

„Ullrichs Freund?“

„Ja.“ Tomasio war als Kind italienischer Gastarbeiter in München aufgewachsen und hatte auf einem Oktoberfest, auf dem die Akademiestudentin Isa Vandenburg als Aushilfskraft bediente, sie und Ullrich Schiefer kennengelernt. Sie hatten sich angefreundet, und als Isa ihrem Tomasio gestehen musste, dass sie von ihm schwanger war, hatte Tom gerade mit Ullrich ein Geschäft gegründet, das sich auf den Im- und Export nach und von Italien spezialisierte. Der Betrieb blühte, die Firma Utom zog nach Frankfurt, Tom ließ sie nach der Geburt sitzen, zahlte aber für die Zwillinge, und als sie eines Tages zufällig Ullrich begegnete, bot der ihr einen Job bei Utom an. Später konnte sie sich ein Haus in Schlangenbad leisten, dazu eine Hausangestellte, so dass sie die Zwillinge zu sich nehmen konnte. Julia wollte Schauspielerin werden und Jonas studierte Maschinenbau in Darmstadt. Als es kritisch wurde und Isa untertauchen musste, zog ihre Schwester Ilka nach Schlangenbad, kümmerte sich um das Haus, um Jonas und in den Unterrichtsferien auch um Julia. Isa hatte Fotos von ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester auf dem Handy und Rudi brummte ehrlich begeistert: „Donnerwetter, wie hübsch Ilka geworden ist.“ Zuletzt hatte er sie als Grundschüler in Kastel gesehen, und damals schien sie immer im Schatten der Schwester Isa zu stehen.

„Und wie soll es weitergehen?“

„Wenn ich meine Aussage vor Gericht überlebe, will ich wegziehen, nach Vilona.“

„Himmel hilf. Wo ist denn das?“

„Das ist eine vom Massen-Tourismus Gott sei Dank noch nicht ruinierte Kanareninsel. Dort besitze ich ein Grundstück direkt am Meer und eine Bauerlaubnis für eine Ferienbungalowsiedlung. Einen sprach- und landeskundigen Partner aus der Branche habe ich auch schon gefunden, dort will ich mich verstecken.“

„Vor wem?“

„In erster Linie vor Schiefer, der ja nicht ewig im Knast sitzen wird und dessen Rachsucht ich aus eigener Anschauung kenne.“

*


MEHTAR BEN ALI WAR Tunesier, ein gebildeter, weltläufiger Mann, mehrfacher Dollar-Millionär, der fließend Englisch, Französisch und Italienisch sprach. Gregor Nellen, ein Rechtsanwalt mit viel Geld und einem schlechten Ruf bei Kollegen und der Justiz, unterhielt sich mit ihm auf Französisch. Dolmetscher konnten sie bei den heiklen Dinge, die sie zu erledigen hatten, nicht gebrauchen.

„Die Familie hält vorerst still“, versicherte Ben Ali. „Aber sobald Schiefer verurteilt ist, müssen wir entscheiden, was mit seiner Firma geschehen soll. Ich habe jemanden an der Hand, der der Sache schon mit Einsatz seines Lebens gedient hat, und genügend Geld und Kenntnisse und Connections mitbringt. Wir können ihm vertrauen.“

„Ich würde sagen, das entscheidest du. Ich verstehe zu wenig von der Sache und von dem neuen Geschäft. Vor allem fehlen mir die Sprachkenntnisse.“

Was Ben Ali nur Recht war. Er hielt den Rechtsanwalt Gregor Nellen für einen skrupellosen, geldgierigen Lumpen ohne Überzeugungen und ohne jedes Gewissen. Aber das musste er ihm ja nicht verraten, vermutete allerdings, was Nellen schon ziemlich genau ahnte, was Ben Ali von ihm hielt. Der räuspert sich: „Die Druckerei arbeitet doch noch?“

„Zu den alten Bedingungen und in alter Qualität.“

„Das ist gut. Hier habe ich fünfzehn Namen und Fotos von Männern, für die ich die üblichen Papiere brauche.“

„Geht in Ordnung. Du musst aber dafür sorgen, das die nicht wie dein Landsmann Amri durch Deutschland turnen und eine Dummheiten nach der anderen begehen.“

*


RAINER HILGENRATH HATTE wie jeden Tag, bevor er abends sein Büro verließ, noch einmal in seinen Computer geschaut und die mail des Chefs gelesen, dass ein sandfarbener Corsa gesucht wurde. Hilgenrath hatte kein Ahnung, was das zu bedeuten hatte, ihm fiel nur das Kennzeichen auf, RH waren nämlich seine Initialen und 234 ließ sich gut behalten. Vom Bonner Talweg fuhr er nicht lange nach Lengsdorf, wo er sich eine Eigentumswohnung gekauft hatte. Von Männern wie ihm lebte die Lebensmittelindustrie, er war ein guter Bediener der Mikrowelle und schluckte lieber teure Lebensmittelergänzungsprodukte, als sich einmal frisches Gemüse zu kaufen und zuzubereiten. Obst kam ihm nicht auf den Tisch oder Teller. Objektiv betrachtet führte er ein tristes Leben, was ihm schon gar nicht mehr auffiel, und während sich die Schale in der Mikrowelle drehte, überlegte er, wann er zum letzten Mal eine mail oder einen Auftrag von der Frankfurter Utom oder der Agentur Kollau bekommen hatte. Früher, als Außen-, Finanz- und Wirtschaftsministerium des Bundes noch an einem Ort waren, hatte sein Weizen geblüht, aber das war lange vorbei. Ihm hatten die Wiedervereinigung und der Regierungsumzug nach Berlin nur Nachteile gebracht. Allerdings hatte er auch nie die Entschlusskraft aufgebracht, seine Zelte hier abzubrechen und nach Berlin oder Frankfurt umzuziehen. Linda hatte ihn vor Jahren verlassen; eine andere Frau hatte er nicht mehr kennengelernt. Er trank noch seine übliche Flasche Weißwein von der Ahr und ging, unzufrieden mit sich, seinem Leben und vor allem mit dem Fernsehprogramm früh zu Bett.

*


ISA UND RUDI HATTEN bis kurz vor Mitternacht sich gegenseitig erzählt, wie es ihnen nach dem Abschied auf Lanzarote ergangen war, wobei eine zweite Flasche Wein daran glauben musste. Das Doppelbett war nicht die Krönung des Schlafkomforts. Der erste Sex nach fünfzehn Jahren war dagegen großartig, wie beide fanden und sich gegenseitig versicherten.

Mörderische 13 Urlaubs-Krimis auf 1600 Seiten

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