Читать книгу Liebesheilung: 7 Arztromane großer Autoren - A. F. Morland - Страница 23
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ОглавлениеScham und Verlegenheit hatte Eva-Maria damals empfunden, als sie zur Schwangerschaftsuntersuchung bei Dr. Scharnitz gegangen war.
Sie hatte aber eingesehen, dass die Untersuchung im Intimbereich nötig war und sich damit getröstet, dass sich schon vor ihr viele Frauen dieser Prozedur unterzogen hatten.
„Machen Sie sich bitte unten herum frei“, bat Dr. Winter.
Die blonde Arzthelferin hantierte im Hintergrund.
Eva-Maria wusste, dass während der Untersuchung eine Helferin zugegen war. Selbstschutz und Absicherung des Frauenarztes gegen Patientinnen, die womöglich nachher den Arzt bezichtigten, an ihnen manipuliert zu haben.
Sie machte sich hinter dem Paravent frei.
Dr. Winter half ihr auf den gynäkologischen Stuhl, zog den Instrumententisch heran und streifte sich den Plastikhandschuh über.
„Ganz locker, bitte, nicht verspannen!“, sagte er. „Wenn Sie Schmerzen verspüren, sagen Sie es sofort.“
Er begann mit der Untersuchung und führte das Spekulum ein.
Äußere Scham und Scheide zeigten akute Reizzustände. Die Schleimhäute waren durch die Menorrhagie laufend gefordert und zeigten eine natürliche Reaktion.
Das sah alles sehr normal aus.
Stutzig wurde er, als er an der Portio, dem Scheidenteil des Gebärmutterhalses, körnige Strukturen entdeckte. Einzelne Zellen waren stark vergrößert. Eine Hypertrophie, die nichts Gutes erwarten ließ.
Vorsichtig sondierte er tiefer.
In der Gebärmutterhöhle hatte sich ein Blastom gebildet, mit nur noch hauchdünner Wandung.
Behutsam lavierte er das Instrument an der tumorigen Gewebeausbildung vorbei, konnte aber die Eileiter nicht erreichen. Die Tuben waren extrem verengt.
Er entfernte das Instrument und überschlug blitzschnell alle Möglichkeiten.
Die tapfere Frau musste zeitweise irrsinnige Schmerzen gelitten haben. Konnte er ihr mit einem flexiblen Spekulum eine Tuben und Ovarieninspektion zumuten?
Das Uterusblastom konnte sich durch Knospung selbsttätig entwickelt haben, und die Portiohypertrophie hatte sich danach ausgebildet, war der Beginn einer Metastasensetzung. Eine Möglichkeit, jedoch nicht die letzte.
Gewisse Anzeichen deuteten auf einen Ursprung in den Ovarien, den Eierstöcken hin. Darum die auffällige Tubenverengung.
Er machte schnell und sicher einen Abstrich und entnahm mit einer Pipette zusätzlich etwas Flüssigkeit, die er in eine Glasschale gab und sofort abdeckte.
Den Handschuh warf er in den Abfalleimer. „Wir sind schon fast fertig, Frau Becker“, sagte er. „Ich nehme lediglich noch eine Abtastung vor. Bitte, Sie sagen sofort, ob Sie Schmerzen verspüren.“
Er begann in der Bauchfalte und palpierte die Abdomenregion abwärts. Dabei entdeckte er die kleine Schnittnarbe, Überbleibsel des Eingriffs wegen der geplatzten Tubenzyste und Schauplatz des „Rückzugsgefechts“ mit dem Blinddarm. Es war saubere operative Arbeit geleistet worden, er anerkannte das neidlos.
Die Vermutung bestätigte sich nicht, dass sich im Narbenbereich rechtsseitige Wucherungen oder gar Tumoren gebildet hatten. Selbst der tief einstoßende Finger löste keinen sensationellen Schmerz aus.
Dr. Winter betastete die linke Seite.
Die Patientin krümmte sich plötzlich zusammen. „Ja, hier!“, stieß sie flach hervor. „Etwas tiefer.“
Langsam, gespannt führte er den Zeigefinger über die Bauchdecke abwärts. Diesen Bereich hatte er noch nicht betastet, er war nur in seine Nähe gekommen, und dennoch verspürte die Frau Schmerzen!
„Ist es hier?“, fragte er.
Sie nickte und versuchte, über ihren Körper herabzublicken.
Wenn keine Lageanomalien der Organe gegeben sind, dachte Dr. Winter, dann liegt die Wurzel des Übels im linksseitigen Ovarium! Und da komme ich nicht hin, sonst springt sie mir auf die Bäume! Wir müssen den Zervikalkanal röntgen, hilft alles nichts!
„Danke, Sie können sich wieder ankleiden, Frau Becker!“ Er half ihr vom Stuhl und ging zum Waschbecken. Mit den Augen dirigierte er Renate Angern neben sich.
„Glasschale und Abstrich geben Sie bitte gleich zur histologischen Untersuchung. Kümmern Sie sich darum, dass der Fahrer gleich rüberfährt.“ Er nickte, um keine Zweifel aufkommen zu lassen.
Seine Helferin blickte ihn sekundenlang starr an, dann war für sie alles klar. Gelegentlich bediente sich Dr. Winter einer Schlüsselsprache, die einem nicht Eingeweihten gar nichts sagte, für sie aber wichtige Hinweise enthielt.
Die Klinik verfügte über ein eigenes Labor, ein sehr gutes.
Mit „drüben“ war allerdings die benachbarte Universitätsklinik auf dem Venusberg gemeint. Dort waren ganz andere Möglichkeiten zu feingeweblichen Untersuchungen gegeben. Vor allem war das Histolabor der Uniklinik für seine fabelhafte Schnelligkeit bekannt.
Dr. Winter gab relativ selten Proben zur Untersuchung nach drüben, wenn dieser Fall aber eintrat, dann brannte es an allen Ecken und Enden.
„Wird sofort erledigt, Herr Doktor! Ich kümmere mich selber darum.“
Sie steckte den Abstrichbausch in ein Reagenzglas, schob die bedeckte Glasschale in einen verschließbaren Behälter, beschriftete die Dose und wollte hinausgehen, als hinter dem Paravent ein dumpfer Fall erfolgte und die Schirmwand schwankte.
„Kommen Sie, Renate, schnell!“ Dr. Winter hastete hinter den Schirm.
Eva-Maria Becker lag am Boden und versuchte mühsam, sich aufzurichten und den Rücken gegen die Zimmerwand zu bringen.
Dr. Winter und seine Helferin richteten die Patientin auf. Frau Becker hatte sich angezogen, danach war es passiert.
Sie lächelte verzerrt und hilflos.
„Es geht schon wieder – eine kleine Schwäche. Die Beine sind mir einfach weggeknickt“, entschuldigte sie sich.
„Den Tisch, bitte!“ Mit einem Blick sah Dr. Winter, dass es etwas anderes war als nur Schwäche. Die Patientin erlitt eine neue Schmerzattacke. Aus Eitelkeit oder Angst gab sie es jedoch nicht zu.
Auf einen Stuhl setzen konnte er sie nicht. Da fiel sie ihm womöglich auf der Stelle herunter.
Renate Angern rollte den Untersuchungstisch heran. Gemeinsam hoben sie Frau Becker hinauf und schoben sie zum Fenster, das sie weit öffneten, um frische Luft zutreten zu lassen.
„Danke, Renate, und schicken Sie jetzt Herrn Becker herein.“
Die Helferin verschwand mit der Dose. Sekunden später war Walter Becker zur Stelle, bestürzt, besorgt, der ganze Mann ein Nervenbündel.
„Was ist? Was denn? Eva, sag doch was? Wieder ein Schmerzanfall?“ Er ergriff ihre schlaff herabhängende Hand. „Herr Doktor, tun Sie was, sie ist ganz kalt!“
Dr. Winter hatte den anderen Arm ergriffen und fühlte den Puls. Der war stark beschleunigt und ging jagend, war aber weder dünn noch fadenförmig.
„Die erste Grundregel lautet: Ruhe bewahren, Herr Becker“, sagte er. „Ihrer Frau ist nicht gedient, wenn Sie jetzt die Nerven verlieren.
„Frau Becker, können Sie sich etwas auf die linke Seite drehen und die Beine leicht anziehen? Es würde die Schmerzen erträglicher machen. Sie verspüren doch wieder diese Stiche?“
Unter Tränen nickte sie.
„Sie müssen mir die Wahrheit sagen“, erklärte der Arzt freundlich mahnend. „Es war kein Schwächeanfall.“
Er half ihr, eine Körperlage einzunehmen, die die Schmerzen erträglich machte, und injizierte lokal etwas Procain unter die Bauchdecke.
Fast augenblicklich stellte sich die örtliche Betäubung ein und machte die Patientin vorübergehend schmerzfrei. Je nach Konstitution hielt die Wirkung bis zu dreißig Minuten vor. Nach dem Habitus der Frau glaubte Dr. Winter an bestenfalls fünfzehn Minuten. Die steckte seine Procaingabe genau so weg wie die Schmerzen, wenn sie nicht gerade bestürzende Ausmaße erreichten.
Der Ehemann hatte sich gefangen. Die Hand aber hielt er fest.
Er blickte den Frauenarzt prüfend an. „Ist die Untersuchung beendet? Können Sie schon etwas sagen?“
In solchen Situationen wünschte Dr. Winter, einen anderen Beruf ergriffen zu haben. Wie man den Leuten die Wahrheit auch nahebrachte, irgendwie war es immer falsch! Ein Bäcker hatte es einfacher. Auch zu braun gebackene Brötchen wurden verspeist. Und wenn die Kunden heute meckerten, morgen waren sie schon wieder zufrieden.
Aus Überzeugung war er Frauenarzt geworden. Weil er die Berufung gespürt hatte. Und eben nicht Brötchenbäcker.
„Im Interesse der Gesundheit Ihrer Frau möchte ich eine Röntgenuntersuchung vornehmen. Der Vorgang ist relativ einfach. Wir spritzen ein Kontrastmittel und sehen uns den Fluss des Mittels an. Das Drumherum hört sich dagegen erschreckend an. Ich kann diese Untersuchung nämlich nur im OP vornehmen, weil absolute Asepsis, also totale Keimfreiheit, erste und wichtigste Voraussetzung ist.“
„OP?“ Eva-Maria richtete sich steil auf, ihr Herz krampfte sich zusammen. „Ich will nicht in den OP!“
„Dort geschieht Ihnen gar nichts“, besänftigte Dr. Winter. „Es handelt sich um eine reine Untersuchungsmaßnahme, ich gebe Ihnen mein Wort darauf.“
„Warum? Sie haben mich schon untersucht!“ Sie war von Kopf bis Fuß Misstrauen.
„Ein Organ, auf das es ankommt, ist mir bei dieser Art der vorgenommenen Untersuchung nicht zugänglich“, erläuterte der Gynäkologe. „Wir müssen aber wissen, was dort vorgeht. Es ist doch Ihr Wunsch, gesund zu werden?“
„Schon. Verschweigen Sie uns etwas?“ Wieder schauten ihn diese großen Augen an, deren Blick ihm durch und durch ging.
„Habe ich überhaupt schon etwas gesagt?“, meinte Dr. Winter lächelnd. „Ich schlage vor, dass wir erst die Röntgenuntersuchung machen und uns dann zum Gespräch zusammensetzen. Einverstanden?“
Beide willigten sie ein.
Als die Patientin den Tisch verlassen wollte, wehrte er ab. „Wir wollen nichts herausfordern. Ein Pfleger wird Sie hinschieben. Eine rein vorbeugende Maßnahme.“ Er lachte. „Sonst messen Sie uns am Ende auch noch den Flur aus.“
Sicher und fingerfertig unterzog er Gliedmaßen und Schlüsselbeine einer Untersuchung. Der Sturz war glimpflich abgelaufen. Außer einem unbedeutenden Hämatom, einem Bluterguss, am Oberarm behielt die Patientin nichts zurück. Sie musste auf einen Fuß des Wandschirms geschlagen sein.
Er rief die Station an und bat um einen Pfleger. Dann wählte er die Nummer des Ärzteteams.
„Doktor Mittler bitte zum OP.“
Nach zwei Minuten kam der Pfleger. Renate Angern trat mit ihm ein und bedeutete ihrem Chef mit einem Kopfnicken, dass die Proben bereits zum Unilabor unterwegs waren.
„Walter, ich habe solche Angst. Bitte, halt mich ganz fest!“, flüsterte die Patientin und klammerte sich an den Oberarm ihres Mannes. Schmerzhaft spürte der ihre Fingernägel durch Jacke und Hemd.
„Ihr Mann wird uns ein Stück begleiten, Frau Becker. Nur mit hinein darf er nicht. Aber keine Sorge, ich bleibe bei Ihnen. Wenn es Ihnen eine Beruhigung ist, stelle ich meinen Arm zur Verfügung“, sagte Dr. Winter ruhig.
Unter dem Einfluss seiner sonoren Stimme legte sich ihre Angst etwas.
Aber erst vor der Schleuse zum OP ließ sie Walters Hand los.
Diese fürchterliche Angst, die sie empfand, spürte Walter fast körperlich.
Die Glastüren klappten ihm vor der Nase zu. Er war ausgesperrt.