Читать книгу Extra Krimi Paket Sommer 2021 - A. F. Morland, Pete Hackett - Страница 22
XV.
Оглавление»Ja?«
»Hier ist Kuckuck. Wir haben seit zweiundsiebzig Stunden keine Nester mehr gefunden. Sollen wir weitermachen?«
Seit drei Tagen keinen Kontakt mehr. Das hieß, die anderen hatten sich zurückgezogen. Höchstwahrscheinlich.
»Wie viele brütende Paare waren es zum Schluss?«, erkundigte Jockel Pertz sich vorsichtshalber,
»Drei.«
Sechs Leute. Ein teurer Spaß, um die 50 Mille pro Monat. Mal zwölf, rund eine halbe Million. Das ging ins Geld. Jeder vernünftige Kaufmann setzte sich ein Limit und eine halbe Million klang nach einem kalkulierbaren Einsatz, einer Summe, die man aufwenden konnte, vielleicht sogar riskieren musste.
Sie hatte ein Taschentuch herausgeholt und wischte Pertz den Lippenstift ab. Dass sie schweigen musste, wenn er diesen haften Blick bekam und seine Backenmuskeln spielten, hatte sie gelernt. Und noch einiges mehr, von dem er hoffentlich nichts ahnte. Deswegen versuchte sie gar nicht erst zu lauschen, sondern glitt von seinem Schoß und tappte lautlos zur Tür, wo sie wartete, die Hand auf der Klinke.
»Okay, wir machen Schluss.«
»Verstanden, Ende.«
Pertz legte auf und sie huschte durch die Tür.
Nach dem Telefongespräch hatte Pertz den Apparat umgestellt und sein Arbeitszimmer abgeschlossen, um ungestört Akten zu lesen. Wie immer bei solchen Aktionen war viel Papier zusammengekommen, aber die Aussagekraft verhielt sich umgekehrt proportional zur Menge. Deshalb hatte er sich angewöhnt, bei der ersten Lektüre die wirklich wichtigen Passagen rot zu unterstreichen, und mit diesen Stellen wäre er in zwanzig Minuten fertig gewesen.
Für die Existenz dieser Liga gab es nur drei dürftige, halbwegs sichere Beweise: die Auswertung der mitgeschnittenen Telefongespräche, die Berichte ihres V-Mannes, die Aussage eines Mitarbeiters, der zufällig Zeuge einer Auseinandersetzung in einem Drei-Sterne-Restaurant geworden war. Die V-Mann-Rapporte legte er vorerst zur Seite. Nach den Transkripten der vom BND aufgezeichneten Telefongespräche existierte eine Gruppe, ein loser Zirkel, der sich den Namen Liga gegeben hatte, aber abgesehen von der Tatsache, dass seine Mitglieder etwas mit Import und Export, Wirtschaft und Finanzen, Industrie und Forschung zu tun hatten, waren Größe, Organisation und Zielsetzung völlig vage geblieben. Für die sieben namentlich identifizierten Mitglieder hatten sie eine vergleichende Recherche nach Gemeinsamkeiten angestellt: Schule, Universität, studentische Verbindungen, Ausbildung, Sportclubs, Hobbys, Vereine. Das Ergebnis fiel negativ aus. Auch die so genannten Lebenskreise überschnitten sich nicht so, dass wie bei der Mengenlehre eine allen gemeinsame Schnittmenge übrig blieb.
Genauso unergiebig war die Literaturrecherche ausgefallen. Aus den unendlichen Mengen von Artikeln, Broschüren, Flugblättern, Zirkularen, die mit Fleiß und hohem Aufwand gesammelt wurden, ließ sich keine Organisation extrahieren. Das musste nichts zu bedeuten haben, vorsichtige Menschen mieden schriftliche Aussagen, erst recht, wenn sie zwar gemeinsame Interessen verfolgten, aber keine einheitliche ideologische Basis besaßen. Ihr Ohrenzeuge hatte, wenn man kritisch las, nur einen wichtigen Satz beigesteuert, den erregten Vorwurf eines Unternehmers: »Wenn ich gewusst hätte, auf was ich mich da einlasse, hätte ich nie einen Finger für diese verdammte Liga gerührt.«
Den Sprecher hatten sie ausfindig gemacht und nach allen Regeln der Kunst durchleuchtet. Er hatte Schulden, er betrog das Finanzamt und seine Frau, er zahlte Schmiergelder an das Wasserwirtschaftsamt. Alles in allem hässliche Flecken auf der weißen Weste, aber weder größer noch schwärzer als bei vielen anderen auch, die nicht unter dem Verdacht standen, einer verfassungsfeindlichen Organisation anzugehören und gezielt gegen das Waffenkontroll- und das Außenwirtschaftsgesetz zu verstoßen.
Blieb also nur der V-Mann. Wenn man seinen Berichten Vertrauen schenken konnte, hatte er sich unter Berufung auf die Liga in einen Kreis eingeschlichen, dem tatsächlich ungesetzliche Aktivitäten nachzuweisen war, wobei offen blieb, welches Ziel die Mitglieder wirklich verfolgten: Füllten sie sich nur die eigenen Taschen oder finanzierten sie eine politische Idee?
Jockel Pertz lehnte sich zurück. Mehr als einmal hatte er sich den ketzerischen Gedanken verboten: Gab es die Liga überhaupt? Die Tonbänder hatte er nie gehört, sondern nur die Abschriften gelesen. Mit dem Mitarbeiter war er nie zusammengetroffen, um sich selbst einen Eindruck von seiner Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Blieb der V-Mann, dessen Tipps lange Zeit zu etwa neunzig Prozent gestimmt hatten - in diesem Gewerbe eine ungewöhnlich hohe Trefferrate. Vielleicht zu hoch, um nicht vorsichtig zu werden. Der Trick war beliebt: Ein Doppelagent festigte seinen Ruf durch anfänglich hervorragende Informationen; im Laufe der Zeit nahm die Zahl der richtigen Informationen ab, die der gezielten Falschinformationen zu. Was hier allerdings nicht zutraf. Die Zahl der Informationen war bei konstanter Trefferquote kontinuierlich gesunken. Zu dieser Aussage hatte Pertz das Trio Ellwein, Gönter und Weinert regelrecht zwingen müssen und selbst jetzt war Pertz sich nicht sicher, ob sie ihn nicht belogen hatten, und zwar aus einem allen gemeinsamen, wenn auch voreinander verschwiegenen Motiv: Sie ahnten das Ende der Aktion und hatten die Kooperation in Gedanken bereits aufgekündigt, behielten deshalb all jene Erkenntnisse für sich, die in Zukunft für ihre »Mutter«-Dienststellen wichtig werden konnten.
Wie sich überhaupt gezeigt hatte, dass der Egoismus der Dienste und Ämter eine wirklich vertrauensvolle Zusammenarbeit erschwerte.
Nun gut! Pertz rieb sich die Augen. Die Liga existierte, aber sie hatten den Kontakt verloren. Wiederum zwei mögliche Erklärungen: Der Laden hatte sich so gut getarnt, dass nach dem Ausfall des V-Mannes die Abschottung perfekt funktionierte. Oder die Gruppe hatte sich aufgelöst, weil sie nach dem ersten Einbruch in ihren inneren Kreis misstrauisch, übervorsichtig geworden war.
Nebenan hatte die Frau sich an den Flügel gesetzt und Pertz ließ sich eine halbe Minute ablenken. Schubert, ein Impromptu. Warum sie bei ihrem Talent die Ausbildung abgebrochen hatte, verstand er bis heute nicht. Eine Verschwendung von Begabung und Mühe, diese Überlegung bedrückte ihn immer wieder.
Viele der Entscheidungen, die Pertz treffen musste, fielen nach Aktenlage und manchmal fühlte er sich dabei wie ein Mann in einem großen, völlig finsteren Saal mit vielen Ausgängen. Hatte der andere bereits lautlos den Raum verlassen? Oder lehnte er immer noch irgendwo an der Wand und wartete mit endloser Geduld ab, was geschehen würde? Selbst Erfahrung führte da nicht viel weiter, es blieb immer eine Mischung aus wenigen Fakten, Intuition und Erinnerung an viele Niederlagen und einige wenige Erfolge. Das Trio Ellwein, Gönter und Weinert hatte sich, jeder einzeln, strikt geweigert, ihm bei dieser Entscheidung zu helfen. Seine Intuition sagte Pertz, dass sich der Kreis aufgelöst hatte. Entweder waren alle Spuren bereits verwischt — oder die letzte gemeinsame Aktivität bestand zurzeit darin, gefährliche Zeugen auszuschalten und mögliche Beweise zu vernichten. So oder so - es lohnte keine Mühe mehr.
Sorgfältig räumte er die Akten in den kleinen Tresor. Wie immer litt er unter dem Zwiespalt von Erleichterung darüber, dass er sich durchgerungen hatte, und nagendem Zweifel, er könnte etwas übersehen haben.
Petra hörte auf, als er ins Zimmer kam und vor dem Flügel stehen blieb.
»Du siehst unglücklich aus, Jockel«, flüsterte sie zärtlich.
»Unglücklich? - Nein. Unglücklich bin ich nicht. Unruhig.«
»Warum? Meinetwegen?«
Er lächelte trübe, während sie aufstand und die Träger ihres Hängerkleids über die Schultern streifte. Zwei Jahre hatte er sich gegen sie gewehrt, weil er nicht begriff, was sie an ihm fand, und sich zugleich trotz des beruflichen Misstrauens mit allen Fasern nach ihr sehnte.
Sie hakte den BH auf und er zog sie an sich. Weil er ein zärtlicher Liebhaber war, schlief sie gerne mit ihm und schämte sich manchmal, dass sie ihn ausspionierte. Aber dafür wurde sie gut bezahlt, und wozu ihre Informationen dienten, wollte sie gar nicht wissen.
Samstag, 30. September
Das Telefon riss Rogge aus dem tiefsten Schlaf, wütend grabbelte er nach dem Wecker: Viertel nach drei. Welcher Idiot im Präsidium hatte da wieder nicht auf die Liste geschaut?
»Ja?«, grollte er los.
»Herr Rogge? Hier ist Inge Weber. Oder Charlotte Zinneck.«
Zuerst verstand er gar nichts, und das nicht nur, weil die heisere Stimme flüsterte. Noch benommen vom Schlafdusel traute er seinen Ohren nicht. »Wer?«
»Charlotte Zinneck.«
Das war nicht wahr! Das konnte nicht sein!
»Hören Sie mich?«
»Ja«, krächzte er, die Stimme dick belegt.
»Ich brauche Hilfe.«
»Was?«
»Bitte! Die sind hinter mir her.«
»Wer ist ... wo sind Sie?«
»In einem Motel. Am Bellhorner See.«
»Das kenne ich.«
»In einem fremden Zimmer, die Nummer weiß ich nicht, ganz außen. Da habe ich mich versteckt.«
Seine Schlafgeister verflogen.
»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.« Die Stimme zitterte, gleich würde sie zu weinen beginnen. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. »Ich habe Angst.«
Wenn sie schauspielerte, verdiente sie einen Preis.
»Können Sie nicht kommen? Bitte!«
Eine großartige Idee. Mal eben an den Bellhorner See rauschen und den Helden spielen ...
»Kann Ihnen das Personal nicht helfen?«
»Ich weiß nicht - es ist dunkel, ich trau mich nicht, Licht zu machen.« Das klang nach beginnender Hysterie, mit ihrer Nervosität steckte sie ihn regelrecht an.
»Okay, nur ganz ruhig, ich finde Sie. Bleiben Sie jetzt in der Nähe des Telefons. Eine Stunde, okay?«
»Ja ... ja ... sicher.«
»Bis gleich!« In fliegender Eile zog Rogge sich an und verwünschte die drei Cognacs, zu denen Dörte ihn verführt hatte. Und fluchte noch einmal, als er feststellte, dass er nur ein gefülltes Magazin für seine Dienstwaffe besaß.
Bis zum Beilhorner Stausee stellte Rogge einen neuen Rekord auf. Die Dämmerung kündigte sich an, es würde ein grauer Tag werden, die Wolken hingen dicht über dem Wasser, es war windstill und schwülwarm. Weil Rogge keine Zeit verlieren wollte, fuhr er direkt auf den Parkplatz. Der Eingang des Motels war verschlossen, zornig rüttelte er an der Tür, zwecklos, bis er jemanden vom Personal geweckt hatte ... Er rannte nach links, um den einstöckigen Flügel herum. Ganz außen, hatte sie gesagt. An der Ecke musste er über den Zaun klettern, noch war es zu dunkel, sollte sich jemand im Garten verbergen, würde er ihn nicht sehen können - das äußerste Zimmer. Fenster und Verandatür verriegelt, kein Licht, die Vorhänge nicht vorgezogen, er klopfte hastig, zweimal, dreimal, drinnen rührte sich nichts.
»Charlotte!«, rief er unterdrückt.
Keine Reaktion. Also das Zimmer auf der anderen Seite der L-förmig gebauten Anlage? Quer durch den dunklen Garten? - Oder ließ er sich von ihr verrückt machen? Warum glaubte er ihr unbesehen? - Wenn er an den Terrassen vorbeischlich, bestand Gefahr, dass Motelgäste ihn zufällig sahen und Alarm schlugen - oder sollte er das herausfordern? Und dann war da niemand, nur ein spinnerter Hauptkommissar ...
Er spurtete los, raste quer über die Beete, zertrampelte Blumenrabatte, sprang über niedrige Sträucher und hörte plötzlich zweimal ein mattes Plopp. Oder bildete er sich das nur ein? Seine Lungen stachen, die Luft wurde knapp, er sollte weniger rauchen, es konnte aber auch die Furcht sein - noch ein Plopp, in der Stille erschreckend laut, endlich warf er sich auf die Steine der Veranda vor dem Eckzimmer.
»Charlotte!«, keuchte Rogge. Die schlimmsten Alpträume wurden wahr, aber dann öffnete sich wie von Zauberhand die Tür, er kroch auf allen vieren durch den Spalt, sie drückte die Tür schon zu und schrie unterdrückt auf, als das Glas splitterte und knirschte. Ohne zu überlegen griff Rogge nach ihren Beinen und riss sie um, sie schrie vor Schreck oder Schmerz, als sie auf ihn stürzte, keine Zehntelsekunde später hörten sie zwei dumpfe Aufschläge, der Schütze hatte das Holz getroffen.
»Nicht bewegen!«, zischte Rogge und das unangenehm hohe Jammern brach ab.
»Ruhe!«
Zehn Sekunden, zwanzig, dreißig. Absolute Stille. Eine Minute. Im Motel rührte sich nichts. Wie viel Zeit hatten die Männer draußen noch? Eine halbe Stunde, bis es zu hell geworden war? Langsam schob er die Frau zur Seite.
»Nicht aufrichten! Kriechen Sie zwischen Bett und Wand! Und halten Sie den Kopf unten, was immer passiert!«
»Ja«, flüsterte sie.
Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, trotzdem erkannte er sie nur schemenhaft. So leise sie sich auch bewegte, das Kratzgeräusch übertönte alles. »Psst!«
Wieder Stille. Er holte die Waffe aus dem Halfter, entsicherte, lud durch, das Schnappen dröhnte erschreckend laut. In seinen Ohren rauschte das Blut - und dann ein kaum vernehmbares Knacken. Als ob jemand auf einen verdorrten Ast getreten war, gar nicht weit entfernt.
Millimeterweise hob Rogge den Kopf, bis er über den unteren Holzrand der Verandatür schauen konnte. Am Horizont zeichnete sich ein dunkelgrauer Streifen ab. Ihm stockte der Atem. Vor diesem Hintergrund bewegte sich, wie aus dem Boden gezaubert, eine dunkle Gestalt, ein Mann, der im schrägen Winkel auf die Veranda zu schlich. Seine Silhouette veränderte sich, der Mann drehte den Kopf zur anderen Seite, Rogge folgte der Bewegung, eine zweite schwarze Figur näherte sich von rechts, bog ab, als wolle sie im Schutz der Hauswand neben die Verandatür gelangen. Wenn er diese Deckung erst einmal erreicht hatte - mehr aus Instinkt als Überlegung riss Rogge seine Waffe hoch und feuerte durch das Glas, einmal, die linke Figur schwenkte nach rechts, die rechte erstarrte, der Mann links hob den Arm in Rogges Richtung, Rogge glaubte zu ersticken. Ein Albtraum wurde wahr, an die Bewegung des jungen Rumänen erinnerte Rogge sich wie in einer grotesk überdehnten Zeitlupe, das durfte ... Er zielte und wusste dabei glasklar, dass er jetzt aus Panik handelte. Der Schuss peitschte in seinen Ohren, der Mann stockte, ließ den Arm sinken, fiel um wie eine schlaffe Stoffpuppe und dann bemerkte Rogge in den Augenwinkeln, dass die rechte Figur in langen Sätzen davonsprang.
Irgendwo im Motel regte sich etwas. Bei diesen dünnen Wänden musste jemand von den Schüssen aufgewacht sein ...
»Los, raus! Wir müssen weg!«
Erst jetzt registrierte Rogge, dass Charlotte Zinneck wimmerte.
»Los!«
Dann stand sie neben ihm, keuchend vor Angst, und er zerrte sie rücksichtslos auf die Veranda.
»Was ist - was war ...«
»Später, wir müssen weg, bevor der zweite Mann Hilfe geholt hat.«
Trotzdem nahm Rogge sich die Zeit, kurz bei dem umgefallenen Mann niederzuknien. In seiner Angst hatte er nur zu gut gezielt, den Griff nach der Halsschlagader brauchte er gar nicht. Den Toten kannte er nicht. Ein mittelgroßer Mann, Mitte dreißig, sportlich und muskulös. Haare kurz geschnitten, nach der Erscheinung kein Schläger. Wahrscheinlich maßgeschneiderter Anzug. Seidenkrawatte. Eine Rolex.
Hastig durchwühlte Rogge die Taschen. Goldenes Feuerzeug, silberner Kugelschreiber und ledergebundener Notizblock mit leeren Seiten, fast 6.000 DM in bar, aber keine Ausweispapiere. Beim Blick auf die Waffe hielt Rogge unwillkürlich die Luft an; dieses Modell hatte er schon einmal gesehen, Heckler & Koch mit hülsenloser Munition.
Jetzt wurde es von Minute zu Minute heller. Weit entfernt klappten mehrere Autotüren.
»Kommen Sie!«
Hand in Hand rannten sie Richtung See, sie greinte, schluchzte, wenn sie stolperte und er sie einfach weiterschleifte. Das Motel besaß einen eigenen Bootsanleger, von dort führte eine Holzbohlenbrücke zu einem Liegeplatz, sie mussten noch eine Stunde überstehen, dann war es hell ... Als Rogge sich einmal umdrehte, ahnte er vor dem dunkelgrauen Hintergrund mehrere schwarze Schatten, die auf das Motel zustürmten. Verdammt, war hier eine ganze Kompanie angetreten?
Die Stiche in der Seite brachten ihn bald um. Auch Charlotte Zinneck keuchte, japste nach Luft. Die Boote vor ihnen waren zu klein.
»Da rüber!«
Auf den Bohlen dröhnten ihre Schritte wie Silvesterböller. Jetzt nicht schlappmachen, ohne Überlegen entschied er sich: »Das große Boot!«
»Wo?«
An einer Stelle war die Plane über dem Cockpit nicht festgezurrt, wie hatte er das überhaupt in diesem Zwielicht sehen können? Sie hatte noch nichts begriffen, mit einer Hand hob Rogge die Plane an, beugte mit der anderen rücksichtslos ihren Kopf nach unten und stieß sie vorwärts: »Rein!«
Wie ein Sack fiel sie in die Vertiefung, Rogge folgte ihr, trat ihr auf den Arm, sie stöhnte laut auf, aber zu Entschuldigungen war jetzt keine Zeit, warum war diese verdammte Plane so sperrig, er kratzte sich die Fingerkuppen blutig, krallte und ruckte, endlich gab sie nach, glitt wieder in die alte Position. Hinter sich hörte er sie leise weinen.
Hoffentlich schwankte das Boot nicht - »Um Gottes willen, nicht bewegen!«
Der Rumpf kam zur Ruhe, jetzt konnte Rogge sich nur noch auf seine Ohren verlassen, aber die Stille war nicht weniger bedrohlich als vorhin das Knacken. Was würden die Männer tun? Sie schienen rücksichtslos und zu jedem Risiko bereit, aber wenn Rogge die Motelgäste mit den Schüssen aufgeweckt oder das Personal alarmiert hatte ...
Wie viel Zeit verstrichen war, vermochte er nicht zu schätzen, als er die leisen, verstohlenen Geräusche hörte. Quälend
langsam kamen sie näher, vorsichtige Schritte auf der Bohlenbrücke, sie hielten inne. Von der Brücke zweigten die Stege ab, wenn er die Schritte so genau hörte, konnten die Männer nicht weit entfernt sein. Gemurmel, die beiden sprachen miteinander, zu leise, um etwas zu verstehen. Dann trennten sie sich wohl, ein Schrittgeräusch entfernte sich, ein anderes kam näher, Rogge richtete die Pistole auf die Stelle über seinem Kopf. Wenn der Mann die Lücke in der Verzurrung entdeckt haben sollte ...
In der nervenfressenden Stille hörte es sich an, als trete der Unbekannte ihnen auf den Kopf, nein, er blieb nicht stehen, ging weiter den Steg entlang bis zum Ende. Kam zurück, etwas schneller, strich wieder an ihrem Boot vorbei, täuschte er sich jetzt? - Nein, die anderen Schritte ertönten von rechts. Wieder das unverständliche Gemurmel, dann entfernten sich die Schrittgeräusche. Entweder hatten sie es aufgegeben, weil sie nicht alle Boote durchsuchen konnten. Oder es wurde zu hell, sie mussten abziehen, bevor sie entdeckt wurden.
Charlottes schwerer Atem beruhigte sich.
»Wir müssen noch warten!«, hauchte Rogge. Es konnte eine List sein, vielleicht hofften die Männer auf ihre Ungeduld.
»Ja«, gab sie leise zurück.
Eine Viertelstunde. Wenn er sich nicht täuschte, wurden Motoren angelassen, ja, da fuhren Autos weg. Die Männer - oder Motelgäste?
»Setzen Sie sich auf den Boden, aber ganz vorsichtig.«
»Ja.« Er spürte die Bewegung, das Boot schaukelte wieder, Rogge griff nach ihrem Arm und sie hielt inne. Die Kante der Sitzbank drückte in seine Rippen, er biss die Zähne zusammen.
Noch eine Viertelstunde? Mittlerweile hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Warum blieb es oben so ruhig? Manche Gäste legten wohl wenig Wert darauf, die Polizei zu alarmieren und anschließend ihre Personalien zu Protokoll zu geben. Protokoll - er musste erklären, wie und warum er einen Mann erschossen hatte. Ohne Vorwarnung, ohne Anruf. Mit seiner Dienstwaffe. Ihm schwindelte.
Dann hielt Rogge es nicht mehr aus, drückte mit der Faust die Plane nach oben, bis Licht durch den winzigen Spalt fiel, gerade genug, die Zeiger auf seiner Uhr zu erkennen. Schon 7.30 Uhr. Sie konnten doch nicht über eine Stunde ...
»Sind sie weg?«
»Ich hoffe!«, versetzte Rogge barsch und schlängelte sich nach draußen. Alle Muskeln und Knochen protestierten, vorsichtshalber blieb er auf dem Holz liegen und schaute sich um. Kein Mensch weit und breit. Beunruhigt schüttelte er den Kopf. Wo waren die Kollegen ... oder hatten die Männer die Leiche mitgenommen?
»Kann ich rauskommen?«
Ungelenk und steif krabbelte sie auf den Steg und stöhnte, als er ihr aufhalf. Richtig hell war es nicht geworden, dicke Wolken hingen tief über dem See, aber in dem trüben Licht konnte Rogge das Motel erkennen, in dem alle Gäste noch zu schlafen schienen, nirgendwo brannte Licht.
»Danke«, flüsterte Charlotte Zinneck und Rogge zuckte die Achseln.
»Ich wusste nicht mehr ...«
»Wo haben Sie sich denn die ganze Zeit herumgetrieben?«
»In Rollesheim, in einer Pension.«
Neugierig musterte er sie. Sie trug Jeans und eine hellblaue Bluse und beide Stücke sahen so aus, als habe sie mindestens eine Nacht darin geschlafen. An ihren dicken Joggingschuhen klebte Lehm.
»Frieren Sie nicht?«
»Doch«, sagte sie und prompt klapperten ihre Zähne.
»Ich glaube, Sie haben mir viel zu erzählen.«
»Ja«, stimmte sie geistesabwesend zu. »Am Montag bin ich einfach weggefahren, irgendwohin. Aber ich hatte kaum Geld und vorgestern musste ich aus der Pension ausziehen ...«
»Und was hat Sie an den Beilhorner See verschlagen?«
»Ein Freund von Achim hat hier ein Boot liegen, da hab ich mich versteckt.« Sie schüttelte sich und trat vor Kälte von einem Fuß auf den anderen. »Heute Nacht sind sie dann gekommen.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht. Die Männer, die schon lange hinter mir her sind.«
Sie schlug die Arme um sich und Rogge gab sich einen Ruck.
»Was halten Sie von einem ordentlichen Frühstück?«
»Ganz, ganz viel«, antwortete sie und ihre hysterische Heiterkeit warnte ihn.
»Prima. Haben Sie noch Sachen auf dem Boot?«
»Meine Handtasche. Und meine Jacke.« Unwillkürlich griff sie nach der aufgesetzten Blusentasche und kicherte schrill, während sie ihm seine Visitenkarte zeigte. »Die hatte ich immer bei mir.«
»Sehr schmeichelhaft für mich«, blaffte Rogge sie an und sie fuhr zusammen. Jetzt bloß kein Ausrasten, das Schlimmste hatten sie schließlich überstanden.
Das Boot war ein winzig kleines Versteck und noch nicht für den Winter hergerichtet; Rogge schauderte bei dem Gedanken, darin übernachten zu müssen. Die Kajüte war eng und sie musste ziemlich gefroren haben. Sie kehrte mit einer scheußlichen Wolljacke zurück, die ihr bis auf die Oberschenkel reichte. Weil sie seinen Blick richtig deutete, erklärte sie trotzig: »Mehr Geld konnte ich nicht ausgeben.«
»Warum haben Sie Schönborn nicht um Hilfe gebeten?«
Ihr Gesicht verschloss sich, darauf wollte sie nicht antworten. Noch nicht. Schweigend gingen sie auf das Hotel zu. Charlotte Zinneck zögerte, als er vom Weg abwich und auf die Stelle zusteuerte, an der die Leiche gelegen hatte. Weg, keine Spur, und nur wer sehr genau hinschaute, entdeckte die Schäden, die sie heute Morgen an Blumen und Sträuchern angerichtet hatten. Das Glas der Verandatür war zersplittert, nun ja, darüber würde sich später ein Gast beschweren, aber ein vernünftiger Betrieb hatte eine Versicherung.
»Wo ist - was ist ...?«, stammelte sie.
»Die haben ihren toten Kumpanen mitgenommen«, erklärte er flach. »Zum Glück. Sonst müssten Sie und ich meinen Kollegen viel erzählen.«
Das Motel hatte geöffnet, die junge Frau an der Rezeption gähnte verstohlen und betrachtete sie abschätzig. » Nein, kein Zimmer, brummte Rogge und freute sich über ihre Verwirrung, aber ein Frühstück, und zwar ein gewaltiges.«
»Ja, ja, natürlich - dort, im Restaurant.«
Sie plünderten das Buffet, als würden morgen die sieben biblischen mageren Jahre anbrechen, und Charlotte Zinneck langte zu, als habe sie seit einer Woche gehungert.
Nach der Arbeit in der Bäckerei war sie mit dem Bus zum Bahnhof gefahren und hatte sich einfach in einen Zug gesetzt. Ohne Fahrkarte, sie hatte nicht einmal gewusst, wohin der Zug fuhr. In Rollesheim war sie aus gestiegen, weil im Nebenwagen ein Schaffner kontrollierte, und hatte sich die billigste Pension im Ortszentrum gesucht. Um drei Nächte bezahlen zu können, hatte sie tatsächlich auf Mittag- und Abendessen verzichten müssen, vor allem, nachdem sie diese scheußliche, aber warme Jacke gekauft hatte.
»Schönborn hätte Ihnen doch geholfen - oder?«
»Sicher«, erwiderte sie so kurz, dass er aufhorchte.
»Werden Sie ihn anrufen?«, forschte er.
Darauf antwortete sie nicht, er sah förmlich, wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht niederging, und widmete sich leise seufzend wieder seinem Teller. Auch sie schwieg, bis er ihr sein Zigarettenpäckchen hinhielt.
»Danke. Erst ein Loch im Magen und jetzt platze ich.«
»Dagegen kenne ich ein hervorragendes Mittel.«
»Ja?« Sie lächelte, sparsam, aber immerhin, und wich seinem Blick nicht aus.
»Ein großer, langer Spaziergang.«
Nach einer Weile nickte sie versonnen: »Ja, Sie haben Recht, ich möchte mich bewegen.«
Rund um den See gab es einen bequemen Weg, den sie zu dieser frühen Stunde für sich allein hatten. Nach zehn Minuten spürte Rogge die nasse Kühle nicht mehr. »Also, Frau Zinneck, Lebensrettung und Frühstück haben ihren Preis.«
»Damit geht’s schon los. Ich heiße nicht Zinneck.«
»Nein?«
»Nein.« Sie stöhnte so tief, dass er trotz seiner Spannung lachen musste. »Nein, ich heiße Charlotte Bongartz.«
»Das fängt ja gut an«, lästerte er, weil er nicht wollte, dass sich ihre düstere Stimmung festsetzte.
»Und es wird noch besser. Es ist nämlich eine lange, unglaubliche Geschichte.«
»Darauf bin ich geeicht.«
»Hoffentlich. Ich bin achtunddreißig Jahre alt, Herr Rogge. Ein Einzelkind aus steinreichem Hause, wie man so schön sagt. Mein Vater ist kurz vor meinem Abitur gestorben, meine Mutter, als ich fünfundzwanzig Jahre alt war, und danach war ich eine reiche Erbin. Sehr wohlhabend sogar. So reich, dass ich nicht arbeiten musste und Nürnberg verlassen habe. Für immer. Ich bin nach Frankreich gegangen und habe mir ein Häuschen in der Nähe von Cannes gekauft.« Nach einer kleinen Pause setzte sie verschlossen hinzu: »Und aus vielen Gründen alle Fäden zu meiner Vergangenheit gekappt.«
Rogge unterbrach sie nicht, sie wollte es eben auf ihre Art erzählen.
»In Cannes habe ich eine Französin kennen gelernt, die eine Keramikwerkstatt betrieb, dort bin ich später Teilhaberin geworden. In dem Geschäft habe ich einen Deutschen getroffen und nach zwölf Monaten haben wir geheiratet. Das war vor ziemlich genau vier Jahren.«
Die beiden letzten Sätze hatte sie so schnell und trotzig herausgestoßen, dass Rogge sich seinen Teil dachte, aber nur stumm nickte.
»Hans Zinneck hieß er.« Sie legte den Kopf herausfordernd schräg, aber den Gefallen, eine Frage zu stellen, tat Rogge ihr nicht.
»Zinneck arbeitete für eine internationale Investmentfirma in Marseille und verdiente ein Schweinegeld.«
Ein Schweinegeld. Sprache war verräterisch, sinnierte er, aber damals, als sie ihn heiratete, hatte sie daran keinen Anstoß genommen. Reicher Mann verliebt sich in schöne, reiche Frau.
»Einen Monat nach unserer Heirat sind wir aus Cannes weggezogen.«
»Und wohin?«
»Zuerst nach Frankfurt. Dann nach München, nach Stuttgart, Hamburg, Berlin, Hannover.«
»Etwas viel Umzüge für drei Jahre, nicht wahr?«
»Woher wissen Sie ...? - Ach so, ja. Völlig richtig. So viele, dass ich - unruhig wurde.« Sie kickte zwei Kiefernzapfen zur Seite. »Es waren nämlich keine Umzüge, Herr Rogge.«
»Sondern?«
»Von einem möblierten Haus in das andere. Oder auch in Hotels. Apartmenthäuser. In den drei Jahren meiner Ehe waren wir praktisch immer auf Achse.«
»Aus beruflichen Gründen?«
»Das hat Hans Zinneck mir einzureden versucht und zu Anfang hab ich ihm das auch geglaubt. Bis mir der schreckliche Verdacht kam, er sei auf der Flucht.«
»Auf der Flucht?«, wiederholte Rogge verblüfft. »Vor wem denn?«
»Das wollte er nicht verraten. Wissen Sie, vor der Hochzeit, in Cannes, war er - gesellig, ging gerne auf Partys, machte allen möglichen Spaß mit, feierte, hatte Freunde, ließ fünf auch mal gerade sein, und wenn er Lust hatte, flogen wir mal eben nach Paris oder London oder Rom.«
»Aber danach ...«
»Veränderte er sich. Und zwar rapide! Sobald ich irgendwo halbwegs Fuß gefasst hatte, mussten wir wieder los, in eine andere Stadt. Nein, keine Freunde, keine Bekannten, keine Verwandten, Liebe macht wohl blind, aber eines Tages konnte ich wieder scharf sehen.«
»Haben Sie ihn nie zur Rede gestellt?«
»Doch, mehr als einmal. Aber er ist mir immer ausgewichen, hat mich vertröstet und gelogen. Ich konnte es mir nicht erklären ...«
»Also keine andere Frau?«
»Ach was, er war zum Schluss so nervös, dass er auch mit mir nicht mehr geschlafen hat. Und ich - na ja, ich war auch nicht so klug, wie ich hätte sein sollen, ich hab angefangen, zu trinken und Pillen zu schlucken.«
»Rauschgift?«
»Nein, nie. Aber Valium und ähnliches Zeugs. Ich dachte, sonst würde ich zerspringen. Anders hielt ich es nicht mehr aus.«
Alkohol und Diazepam. Rogge grunzte. »Ihr letztes Quartier war in Kassel, in der Beelestraße 11.«
Ihr Mund blieb offen stehen, ihre Augen wurden riesig.
»Jetzt sind Sie noch dran, nachher erzähle ich.«
»Woher wissen Sie ...?«
»Nachher, Frau Bongartz.«
Das musste sie erst einmal verdauen.
»Ja, in Kassel ... An dem Abend habe ich ihn zur Rede gestellt. Er wollte mich wieder hinhalten, auf unser nächstes Quartier in Dresden vertrösten, aber meine Geduld war - erschöpft. Aufgebraucht. Eine Minute Bedenkzeit oder ich verlasse das Haus für immer.«
»Warum ausgerechnet an dem Abend?«
»Weil ich ihn noch nie so erlebt hatte, etwas erdrückte ihn fast vor Angst. Und da machte es klick, jetzt oder nie - verstehen Sie das?«
»Doch, ja.«
»Und er hat ausgepackt. Gleich die richtig schweren Hämmer geschwungen. Er heiße nicht Hans Zinneck, sondern Wolfgang Tepper, Außerdem wisse er gar nicht, ob er rechtmäßig mit mir verheiratet sei. Denn vor gut sechs Jahren sei seine Frau aus heiterem Himmel abgehauen und seitdem habe er nichts mehr von ihr gehört. Gut möglich also, dass sie noch lebte und er immer noch mit ihr verheiratet sei.«
»Das ist stark«, murmelte Rogge konsterniert und sie lachte bitter auf: »Es kommt noch dicker, Herr Rogge. Er war auch kein Angestellter einer internationalen Investmentfirma, sondern V-Mann des Bundesnachrichtendienstes.«
»Sie fantasieren!«, platzte Rogge heraus.
»Nein, nein. Also ein V-Mann und zur Tarnung wäre er in einer Firma angestellt, die dem BND gehörte.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Die hätten ihn nach Frankreich, nach Cannes geschickt, um in eine Organisation einzudringen, die sich Liga nannte. So genau hab ich’s nicht verstanden, ich war wie vor den Kopf geschlagen, aber das habe ich behalten: eine politische Organisation namens Liga, mit rechtsradikalen, antidemokratischen Zielen und hinter dem ideologischen Schmonzes verbarg sich eine Gruppe, die illegale Geschäfte rund um den Globus betrieb. Die Leute in Cannes verschoben Waffen und militärische Fabriken nach Nordafrika, für Libyen und andere Länder, die Washington heute Schurkenstaaten nennt.«
»Er hat Sie verschaukelt!«
Seinen Einwand beachtete sie nicht. »Angeblich hatte er eine große Aktion der Gruppe hochgehen lassen und dann kalte Füße bekommen, weil einige Ligisten misstrauisch geworden seien, deswegen begannen wir unser Zigeunerleben.«
»Das ist doch hochkarätiger Schwachsinn. Wenn er wirklich für den BND gearbeitet hätte, hätte der Dienst ihn doch geschützt.«
»Nein. Den hatte er nämlich beschissen, bei diesem Waffengeschäft, da hat er kräftig abgesahnt, in die eigene Tasche, rund sieben Millionen Mark.«
»Sie haben den Namen Tepper richtig verstanden? Er hieß in Wahrheit nicht zufällig Baron von Münchhausen?«
Darüber konnte sie nicht lachen. »Und jetzt fürchtete er, dass uns beide an den Hacken klebten, die Ligisten und der BND. Die einen wollten einen Verräter, die anderen einen Betrüger und möglichen Überläufer liquidieren.«
Angesichts ihres Gesichtsausdrucks gefror ihm das höhnische Lachen auf den Lippen. Nein, sie belog ihn nicht, sie gab getreulich wieder, was Wolfgang Tepper alias Hans Zinneck ihr an dem Abend gestanden hatte, und sie konnte auch heute noch nicht unterscheiden, was Wahrheit, was Lüge und was Aufschneiderei gewesen war. Wie auch immer - für sie war an dem Abend eine Welt zusammengebrochen.
»Wie ging’s weiter?«
»Er hat noch viel gestammelt und gebeichtet, aber ich wollte nichts mehr hören. Ich war hundemüde, hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, weil er mich pausenlos gehetzt hatte, ich bin aus dem Zimmer gelaufen, die Treppe hoch in mein Zimmer.«
Beunruhigt registrierte Rogge, dass sie bleich wurde und ihre Stimme sich in die Höhe schraubte.
»Oben habe ich - ja, zu viel und zu schnell getrunken. Und eine Menge Tabletten geschluckt.«
»Eine gefährliche Mischung«, warf Rogge leise ein und sie nickte hastig.
»Und dann — ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich eingeschlossen hatte dann krachte es unten zweimal. Ganz laut und - wie soll ich’s beschreiben - gefährlich. Um mich herum war alles wie in Watte verpackt, können Sie das verstehen?«
»Ja, sehr gut sogar.«
»Ich bin zur Tür gegangen, habe aufgeschlossen und gerufen: Hans, was ist passiert? Oder so ähnlich - ich weiß es nicht mehr genau. Hans, was ist los? Er hat nicht geantwortet, aber unten klappten Türen. Da bin ich die Treppe hinuntergegangen. Und habe wieder gerufen: Hans, wo bist du?« Entschuldigend streckte sie Rogge beide Hände entgegen: »Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich mich wunderte. Woher kam plötzlich der Nebel vor meinem Gesicht? Und warum war alles so unscharf, so weit weg? Hans lag im Wohnzimmer, am Boden, er rührte sich nicht, ich habe noch gelacht, mein Gott, wenn du schlafen willst, warum gehst du nicht ins Bett? - Aber er bewegte sich nicht und ich habe mich zu ihm gebückt, um ihn wachzurütteln, und da war alles voller Blut. Das ganze Hemd - und es wurde immer mehr - ich habe mich hingekniet und ihn angefasst und geschrien, aber er war tot, und irgendwie - es war doch nicht wirklich, das hatte doch nichts mit mir zu tun - oder mit Hans - und dann habe ich gesehen, dass mein Kleid voller Blutflecken war, und auch meine Schuhe - es war so komisch, nein, ekelhaft, alles rot und dreckig, ich dachte, du musst sofort dieses widerliche Kleid ausziehen, das war das Wichtigste in dem Moment - Plötzlich stand ich im Bad, hab das Kleid ausgezogen und die Schuhe und mir gründlich die Hände gewaschen. In dem Augenblick war mir völlig klar, dass ich Weggehen musste, nur weg, verstehen Sie? Ich hatte gar keine andere Wahl, ich musste fort, weg aus diesem Haus, bevor dieser Nebel noch dichter wurde. Dann hab ich mir die Schlüssel vom Haken genommen und bin zum Auto rausgegangen. Das hatte Hans vor dem Haus stehen lassen. Alles rauschte, und als der Motor ansprang, fuhr das Auto wie von selbst, in ein — ein ...«
»In ein graues Loch«, ergänzte Rogge leise.
»Danach weiß ich nichts mehr. Ich bin wieder wach geworden, als ich in einem fremden Auto neben einem fremden Mann saß. Den Rest kennen Sie.«
Rogge senkte den Kopf. Sollte er ihr glauben? Hatte sie das, was sie subjektiv für die Wahrheit hielt, wirklich erlebt? Oder sich etwas zurechtgelegt? Tabletten, Alkohol, Erregung, Übermüdung, Schock - es konnte so abgelaufen sein, aber er wagte es nicht zu beurteilen.
»Nein«, sagte Rogge endlich hilflos, »den ganzen Rest kenne ich noch nicht.«
»Der Rest - ja«, fuhr sie endlich fort. »Die ersten Wochen waren - scheußlich. Die Ärzte. Und die vielen Tests. Und dieses Gefühl, dass fast alle glaubten, ich würde - simulieren,. Wie Ihr Kollege Grembowski. Ich bin erst zur Ruhe gekommen, als die meisten überzeugt waren, dass ich tatsächlich mein Gedächtnis verloren hatte. Da musste ich mich nicht mehr - verteidigen. Dumm, nicht wahr?«
»Nein, gar nicht.«
»Das größte Glück war dieser Job in der Bäckerei. Regelmäßig etwas tun, nicht mehr völlig abhängig sein, ach, das können Sie sich kaum vorstellen.«
»Nein. Vorstellen nicht, aber verstehen.«
»Eines Tages keuchte ein Jogger in das Geschäft. Er sah aus, als hätte er mit seinen Klamotten unter der Dusche gestanden. Ich habe ihm Vorwürfe gemacht. Man könne auch alles übertreiben. Er wurde sehr zornig und am nächsten Tag kam er wieder. Wieder klitschnass. So habe ich Achim kennen gelernt. Natürlich wollte er was von mir - soll ich Ihnen mal verraten, wie er mich herumgekriegt hat? Mit einem einzigen Satz: Lieber eine Frau ohne Gedächtnis als eine Frau mit Krebs.«
»Das klingt sehr herzlos.«
»Ja, das hab ich ihm auch vorgeworfen und dann hat er mir von Miriam erzählt. Der erste Mann, der mich als Frau so akzeptiert hat, wie ich war. Der nicht versuchte, mich zu heilen. Oder hinter mir herzuschnüffelte, wie Ihr Kollege Grem und seine Leute ... Ja, ja, ich hatte mein Gedächtnis verloren, aber nicht meinen Verstand, und dass da immer Männer und Frauen hinter mir herschlichen, habe ich natürlich bemerkt.«
»Wann ist dieses graue Loch verschwunden?«
»Ende Mai.« Sie antwortete ohne Zögern. »Vor einem Schaufenster in der Semperstraße. Ein Reisebüro. Die hatten ein Plakat von Cannes aufgehängt, für irgendwelche Wochenendtrips. Das Panorama kam mir seltsam bekannt vor, das hatte ich schon einmal gesehen, Cannes, und plötzlich ging ein Vorhang auf. Nicht blitzartig, sondern wie - wie - wie ein langsamer Film.«
»Dann erinnern Sie sich also auch ...«
»Nein«, fiel sie ihm ins Wort. »Es gibt immer noch eine Lücke. Von dem Moment an, wo der Motor ansprang, bis zu dem Augenblick, an dem ich neben diesem Jödel in seinem Auto saß.«
Das würde Bennos Anwalt freuen, dachte Rogge grimmig. Und eigentlich spielte es überhaupt keine Rolle, ob sie nun log, weil sie etwas verbergen wollte, oder die Zeit hinter dem Steuer tatsächlich aus ihrem Gedächtnis gelöscht war.
»Warum haben Sie niemandem erzählt, dass Ihre Amnesie vorbei war?«
»Weil ich Angst hatte.«
»Angst vor wem?«
»Vor den Ligisten. Vor den Mitarbeitern des Dienstes. Vor den Leuten, die hinter mir her waren.«
»Sie hätten zur Polizei gehen können.«
»Der hab ich auch nicht mehr getraut.« Sein skeptischer Blick entging ihr nicht, sie straffte sich: »Herr Rogge, ich hab’s nicht gern, wenn man mich für dumm hält. Zinneck besaß Personalpapiere auf den Namen Hans Zinneck, Geburtsurkunde, Abi-Zeugnis, Führerschein, eben all den amtlichen Krams, den der gute Bundesbürger im Laufe eines Lebens ansammelt. Wer hat ihm diese Papiere besorgt?«
»Vielleicht keiner, vielleicht waren sie echt, weil er tatsächlich Hans Zinneck war«, versuchte er sie zu reizen, doch sie erklärte bedächtig: »Eben das wollte ich feststellen.«
»Wie das?«
»Er hatte mir noch in Frankreich mal erzählt, er sei in Lindau geboren und seine Mutter lebe noch dort.«
Die Idee ist nicht schlecht, überlegte Rogge. Irgendwo musste sie ja anfangen. In Frankreich hatte sie den Worten des Hans Zinneck geglaubt, jetzt durfte sie nichts mehr ungeprüft für wahr halten. Aber warum hatte sie damit so lange gewartet?
Mit der Antwort ließ sie sich Zeit. »Solange mir alle glaubten, dass ich mich an nichts mehr erinnern konnte, war ich ungefährlich. Deswegen habe ich den Mund gehalten und weiter Inge Weber gespielt. Bis Sie dann kamen und mir erzählten, dass meine Tarnung geplatzt war.«
»Dieser Wolfgang Tepper - hat Zinneck, oder wie er tatsächlich hieß, etwas über Wolfgang Tepper erzählt?«
»Ja, hat er. Er war Investmentberater und Anlagenvermittler in Frankfurt und lebte im Taunus. Mit seiner Frau Karin.« Rogge zuckte zusammen, aber sie schaute an ihm vorbei. »Bei einem riskanten Geschäft hatte er sich gründlich verschätzt und Verluste gemacht. Um die auszugleichen, vergriff er sich an Kundengeldern, alles geriet ins Rutschen und eines Tages rief ihn jemand an, er solle sich auf den Besuch des Staatsanwaltes vorbereiten. Der erschien dann auch, aber Zinneck-Tepper hatte die verfängliche Korrespondenz vernichtet. Während der Untersuchung tauchte dann plötzlich ein Mann auf, der Tepper einen Handel vorschlug. Wenn Tepper sich bereit erkläre, für einen Geheimdienst als V-Mann zu arbeiten, würde der Dienst dafür sorgen, dass der Staatsanwalt die Ermittlungen einstelle.«
»Worauf er sich eingelassen hat.«
»Ja. Er hatte nichts mehr zu verlieren, sein Geschäft war pleite, seine Frau hatte ihn verlassen, und er wurde auf die Liga angesetzt.«
»Das hat er Ihnen am frühen Abend des 15. September in Kassel berichtet.«
»Ja. So kam er nach Cannes, weil es dort einen Ring von Waffenhändlern geben sollte.«
»Diese Liga - er muss doch was über diesen Verein herausgefunden haben.«
»O ja. Eine Art Geheimbund, international, etwas für feinere, betuchte Leute. Vorherrschaft der arischen Rasse, antisemitisch, rassistisch, elitär und natürlich antidemokratisch. Herrschaft der Besten über eine ständisch gegliederte Gesellschaft.«
»Das klingt alles sehr abstrus.«
»Kann sein, Herr Rogge, aber Hans nahm sie ernst. Alles sehr exklusiv, nichts Schriftliches, man wurde mündlich aufgefordert beizutreten, und wenn man dazugehörte, beteiligte man sich äußerst diskret an illegalen, aber lukrativen Geschäften mit muslimischen Staaten.«
»In Form von Waffenschmuggel.«
»Zum Beispiel. Oder Lieferung von Firmen, die verbotene Sachen hersteilen, wie etwa Giftgas.« Charlotte Bongartz zuckte die Achseln und ignorierte Rogges forschenden Blick. Von der Existenz dieser Liga hatte sie Rogge nicht überzeugt. Zinneck/Tepper konnte durchaus vor zornigen Gläubigern oder skrupellosen Waffenhändlern auf der Flucht gewesen sein, was er ihr gegenüber mit der V-Mann-Existenz für einen Geheimdienst verbrämte. Allerdings irritierte Rogge ein Detail: dass ein Ermittlungsverfahren gegen Wolfgang Tepper niedergeschlagen worden war, sozusagen als Köder für seine Mitarbeit. Das ließ sich bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt nachprüfen.
»Hat Tepper den Namen des Staatsanwalts genannt, der damals in Frankfurt gegen ihn ermittelt hat?«
»Dr. Driesch, den Vornamen habe ich vergessen.«
Noch war nichts von ihrer Räuberpistole bewiesen. Weder ihr Name noch ihre Heirat mit einem Hans Zinneck alias Wolfgang Tepper, einfach gar nichts. Vielleicht verschaukelte sie Rogge auch gewaltig und amüsierte sich heimlich über ihn. Ihre Intelligenz unterschätzte Rogge nicht; wenn sie die Amnesie immer nur vorgetäuscht hatte, und nicht erst seit Mai, durfte er nie vergessen, dass sie einige erfahrene Arzte und Psychiater an der Nase herumgeführt hatte. Weil sie den Mann in Kassel erschossen hatte? - Wenn es da überhaupt einen Toten gegeben hatte! Sein Gefühl sträubte sich gegen diesen Verdacht, aber Gefühle waren schön, Beweise besser.
»Sie glauben mir nicht?«
Bei ihrer ruhigen, fast beiläufigen Frage zuckte Rogge zusammen: »Es fällt mir schwer, Frau Bongartz.«
»Das verstehe ich.«
»Ich bin Polizist, und wenn man so oft angelogen worden ist wie ich, entwickelt man großes Misstrauen. Besonders bei so ungewöhnlichen Geschichten.«
»Das nehme ich Ihnen nicht übel, aber umgekehrt wird auch ein Schuh daraus, Herr Rogge: Was hätten denn Sie - oder Ihr Kollege Grembowski - gesagt, wenn ich mit dieser Story zu Ihnen gekommen wäre?«
Was sollte Rogge darauf erwidern? Grem hätte sich vor Lachen gekugelt. Und er selbst? - Gut, er hätte sich nicht auf ihre Kosten amüsiert, in dem Punkt besaß er mehr Takt als Grem - aber geglaubt hätte er ihr auch nicht.
»Erst gelacht, dann nachgedacht. Richtig?«
»Wahrscheinlich«, gab er zu.
»Na fein. Dann bei den Kollegen in Kassel angerufen. Ob da im vergangenen September eine männliche Leiche gefunden worden ist. Im Haus Beelestraße 11.«
»Natürlich.«
»Version eins: Tatsächlich wurde dort eine Leiche gefunden. Täter? - Unbekannt. Aber da hat man ja jetzt jemanden, eine überspannte Frau, die bei der Kripo ein saublödes Lügenmärchen erzählt. Immer noch richtig?«
»Richtig. Wir hätten Sie massiv verdächtigt.«
»Version zwei: keine Leiche und keine Spuren eines Verbrechens. Was schnattert die dumme Gans denn da von Leichen und Schüssen und Blut? Im Wohnzimmer gibt’s keinen Teppich, geschweige denn einen mit Blutspuren. Ach so, Gedächtnisverlust - Herr Kollege, hat man die Dame mal daraufhin untersucht, ob sie nicht völlig plemplem ist?«
Rogge lächelte, weil sie laut und temperamentvoll geworden war, mit den Armen herumfuchtelte und ihn schließlich am Jackenärmel festhielt, dass er stolperte. So gefiel sie ihm besser als gedrückt schlurfend.
»Ja, so wär's wohl abgelaufen«, stimmte Rogge endlich zu.
Zwanzig Schritte spazierten sie stumm.
Schließlich murmelte Charlotte Bongartz: »Vor beiden Möglichkeiten hab ich Angst gehabt.«
Jetzt blieb Rogge stehen und sah sich um. An dieser Stelle führte der Weg direkt bis an den See heran und der überhängende Felsen war zu einer Aussichtsplattform geglättet worden.
Zehn Meter unter dem dicken, festen Geländer gluckerte das Wasser und Rogge lehnte beide Unterarme auf das Holz. Ein Ort zum Träumen, dachte er traurig. Ein Hauch von Wind kräuselte die Oberfläche des Sees und bewegte den grauen Dunst.
Plötzlich stand sie neben ihm, auch nach vorn gebeugt, und starrte auf das Wasser hinunter.
»Aber jetzt erzählen Sie mir die Geschichte«, sagte Rogge leise. »Obwohl sie immer noch so unglaublich ist wie vor Monaten.«
»Wirklich? Und ich dachte, der Mann, den Sie erschossen haben, verleihe ihr eine Spur von Wahrscheinlichkeit.«
Den Hohn hatte er verdient, deswegen sagte er nichts.
Nach einer Weile flüsterte sie: »Wie kann ich Sie denn überzeugen?«
»Weshalb haben Sie sich Schönborn nicht anvertraut?« Rogge wandte sich zu ihr und musterte sie versonnen. Verrückte Geschichten mussten nicht erfunden sein, neun von zehn Fällen, die sie im Kommissariat bearbeiteten, waren langweilig, oft mehr als stumpfsinnig, und der zehnte übertraf alles, was sich Krimiautoren ausdachten. Doch auch die verrückteste Geschichte gehorchte einem Gesetz, sie war in sich stimmig, logisch, selbst wenn ihre innere Logik einem Kriminalbeamten nicht auf den ersten Blick einleuchtete. Was Charlotte Bongartz bis jetzt erzählt hatte, fiel in die Kategorie unwahrscheinlich, aber die Fakten wie die Lücken passten zueinander. Nur ihr Verhalten ab dem Tag, an dem sie ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte - das begriff er nicht.
Auch sie hatte sich umgedreht, lehnte jetzt schräg, mit einem Arm abgestützt, an dem Geländer und schaute ihn fest an. Ein anziehendes Gesicht, fiel ihm wieder auf, nachdenklich und ernst. Zu seiner Schülerzeit verguckte man sich noch in ein Mädchen, vielleicht passierte ihm das gerade auch. Ihr Blick ließ ihn nicht los, bis sich ihre Mundwinkel verzogen. Sie konnte die Nase herrlich krausen und zugleich die Stirn runzeln, wie ein Kobold, er lächelte zurück.
»Gehen wir noch ein Stück?«
»Gerne.«
Sie schlenderte neben ihm her. »Warum ich Achim ... Wissen Sie, was mein erster Gedanken war, nachdem sich dieses graue Loch verflüchtigt hatte? - Dass Achim Schönborn eine verteufelte Ähnlichkeit mit Hans Zinneck hat.«
Ja, so konnte man es sehen.
»Natürlich habe ich mir immer wieder überlegt, ob ich ihm die Geschichte erzählen soll, aber ich habe mich nie darauf verlassen können, wie er reagieren würde.«
Damit kam sie der Wahrheit wohl sehr nahe. Schon einmal waren sie Schönborn auf die Pelle gerückt und hatten ihm unterstellt, beim Tode seiner reichen Frau nachgeholfen zu haben. Den Ärger ein zweites Mal? Hätte Schönborn sich für Charlotte stark gemacht?
»Dann schlichen mir immer noch Grembowskis Leute nach. Und die anderen, mein Gott, Herr Rogge, wenn mir Zinneck nun keinen Bären aufgebunden hat, sondern diese Liga tatsächlich einen Verräter liquidiert hat?«
Alles logisch und trotzdem noch nicht überzeugend.
»Aber der wirkliche Grund - als ich plötzlich wieder Charlotte Bongartz war, wusste ich, dass ich Achim nicht liebte. Dankbar, ja, das war ich und bin ich immer noch, aber ich brauchte ihn nicht mehr.« Unvermittelt blieb sie stehen, Rogge ging noch ein paar Schritte weiter und drehte sich um.
»Es fehlt noch etwas«, erinnerte Rogge.
»Ja.« Sie holte tief Luft und blitzte ihn wütend an. »Ja, von Rollesheim habe ich ihn angerufen, da wusste er schon, dass ich Charlotte Zinneck heiße, und es hat ihm gar nicht gefallen, dass ihm das ein Mensch aus dem Polizeipräsidium offenbaren musste. Ich war enttäuscht über seine Reaktion, aber darf ich Schönborn deswegen Vorwürfe machen?«
»Nein«, gab Rogge zu. »Aber Sie brauchten Hilfe. Ohne Geld sind Sie nicht weit gekommen ...«
»Nein, und in meine Wohnung traute ich mich nicht.«
»Was immer Sie geplant hatten, Schönborn musste Ihnen helfen. Und sei es auch nur noch mit einem Tausendmarkschein.«
»Ja, ja, ja«, schrie sie ihn an und stampfte vor Wut mit dem Fuß auf. »Sie Klugscheißer, so weit war ich auch schon gekommen. Nachdem ich auf dem Boot untergekrochen war, habe ich Achim auf Band gesprochen, wo ich bin und dass er kommen soll. Stattdessen haben mich drei Männer fast erwischt. Sind Sie nun zufrieden, Sie ... Sie ...?«
Rogge schüttelte den Kopf. Zufrieden traf's nicht, aber die größten Lücken waren geschlossen. Er ging auf sie zu und nahm ihren Arm, zornig machte sie sich frei: »Was wollen Sie noch?«
»Frau Bongartz, man kann Anrufbeantworter abhören. Auch durch eine Fernabfrage. Die Männer, die heute Morgen hier waren, schrecken vor nichts zurück. Meinen Sie, die wüssten nicht, wie man Telefonleitungen anzapft oder in ein Haus einbricht?«
Sie wollte Rogge nicht zuhören, deswegen schlenderte er langsam Richtung Motel zurück.
Nach fünf Minuten vernahm Rogge schnelle Schritte, und als sie atemlos zu ihm aufschloss, sagte sie zerknirscht: »Entschuldigung, ich bin wohl - ich weiß nicht, was ...«
»Aber ich weiß«, erwiderte Rogge gemütlich. »Nämlich, was wir jetzt tun werden.«
»Wir? Was?«
»Sie wollten doch nach Lindau.«
»Klar«, pflichtete sie bei. »Und dann mit der Fähre nach Rorschach.«
»In die Schweiz?«
»Wo deponieren reiche Erbinnen ihr Geld, wenn weder Finanzamt noch Ehemann zugreifen sollen?«
»Ach so, ja, natürlich. Nur schlecht, wenn man mangels kleiner Münzen den ganzen Weg zum Geld laufen muss.«
»Ja, das ist ausgesprochen dumm. Aber wenn ich Sie recht verstanden habe, bieten Sie sich als Chauffeur an?«
»Um Mutter Zinneck aufzusuchen - falls sie noch lebt,«
»Dann können Sie doch sicher noch zwei, drei oder vier Kilometer dranhängen, um mich zum Fähranleger zu bringen.«
Von der Seite schoss Rogge ihr einen scharfen Blick zu, doch sie schmunzelte. Von einer Sekunde auf die andere war ihre Laune umgeschlagen, sie hatte ihm elegant den Ball zugespielt und nun durfte er sich mit seinem dienstlichen Gewissen herumplagen. Denn wenn sie mit ihren Ersatzpapieren auf den Namen Inge Weber erst einmal in die Schweiz eingereist war und dort tatsächlich an ihr Geld kam, würde sie freiwillig nie zurückkehren. Und an eine Auslieferung war nicht zu denken, ganz abgesehen davon, dass ihm beim besten Willen nicht einfiel, wessen man sie anklagen sollte. Wegen des Mordes an Hans Zinneck? Selbst wenn der so geschehen war, wie sie berichtet hatte - wo war die Leiche? Wer hatte sie beseitigt? Kili hatte so viele Suchanfragen in alle Teile der Republik wegen Hans und Charlotte Zinneck losgeschickt, dass irgendein Computer Alarm geschlagen hätte: Achtung, eine Tötung zum Nachteil von Zinneck, Hans. Täter unbekannt. Was sonst? Irreführung der Polizei? Wenn sie, wie sie behauptete, erst im Mai ihr Gedächtnis wiedergefunden hatte, traf selbst das nicht zu - dass Grem auf eigene Faust bis in den September hartnäckig wie ein Terrier auf ihren Spuren geblieben war, hatte sie nicht zu verantworten. Schön, ein Korinthenkacker mit ganz spitzem Bleistift würde aufheulen: unberechtigter Bezug von Sozialhilfe, vielleicht auch von Wohngeld, wenigstens seit Mai. Ach nein, das ergab alles nichts und selbst ein nur mäßig gewiefter Anwalt würde alle Argumente wie Krümel vom Tisch fegen.
Rogge konnte sie nicht festhalten und vielleicht durfte er es nicht einmal, solange skrupellose Typen hinter ihr her waren. Doch wenn er sie über die Grenze brachte, musste er auch dafür sorgen, dass man sie nicht länger verfolgte. Dazu verpflichtete ihn keine Vorschrift, sondern sein Gewissen.
»Reicht das Benzin?«, neckte sie und riss ihn aus seinen Gedanken.
»Wieso Benzin? - Ach so, ja, das reicht. Wenn ich bis Weihnachten hungere, kann ich Ihnen sogar das Fahrgeld bis nach Zürich schenken.«
»Leihen.«
»Abwarten. Noch haben wir’s nicht geschafft.«
Den Rest des Weges liefen sie schweigend. Ab und zu hörte er sie summen, nach allem, was sie erlebt hatte, schien sie unangebracht heiter zu sein. Aber sie hatte auch keinen Mann erschossen - oder doch? Zum Teil verstand er ihre Stimmung, sie hatte gebeichtet, ihn zum Mitwisser gemacht und damit einen Teil Verantwortung auf ihn abgeladen. Irgendwann, nicht heute, musste er sich entscheiden, was er wegen des Mannes unternahm, den er im Motelgarten erwischt hatte. Obwohl - er konnte später viel erzählen, aber nichts beweisen.
Aus den Wipfeln der Nadelbäume stieg senkrecht ein feiner Dunst auf. Doch die Sonne würde sich nicht mehr durchkämpfen. Auf dem Parkplatz gähnte sie, was sofort ansteckte.
»Es war eine kurze Nacht«, erklärte sie verlegen.
»Und der Tag wird noch lang.«
Auf der Autobahn berichtete sie, wie sie in eines der Motelzimmer eingedrungen war; man würde eine zweite Verandatür neu verglasen müssen.
»Wie haben Sie die Leute überhaupt bemerkt?«
Sie kicherte nervös: »Einer ist ins Wasser gefallen, als sie die Boote kontrollierten. Vor Schreck hat er gebrüllt.«
»Glück muss die Frau haben«, kommentierte er trocken.
Vor seiner Haustür zupfte sie ihn am Jackenärmel: »Bei Ihnen gibt’s doch bestimmt eine Dusche?«
»Und ein Handtuch, na klar doch. Haben Sie eigentlich Ihre Ausweise und Papiere dabei?«
Sie klopfte auf die Handtasche: »Immer. Ich lebe - auf Abruf.« Sie zögerte und streckte trotzig das Kinn vor: »Seit ich Sie kennen gelernt habe.«
Rogge verließ den Aufzug vor ihr und ging auf seinen Flur zu, bog um die Ecke und zuckte zurück. Sie prallte auf ihn, gerade noch rechtzeitig war er herumgefahren und presste ihr eine Hand auf den Mund: »Kein Laut. Zurück zur Treppe!«
»Waas«, gurgelte sie, aber Rogge drehte sie schon herum und schubste sie. Zum Glück gehorchte sie ohne Widerstand, die beiden Männer, die vor seiner Wohnungstür dösend an der Wand lehnten, hatten ihn wohl nicht bemerkt, Rogges Schuhe machten keinen Lärm. Löchrige Jeans, Lederjacken und lange, ungepflegte Haare; ausnahmsweise schienen sie es mit Polizei, mit Zivilfahndern zu tun zu haben. Obwohl sie aussahen, als bestünde ihr größtes Vergnügen darin, bei Dunkelheit kleine Mädchen zu erschrecken.
»Runter!«
Hoffentlich hatte Frau Staatsanwältin wie immer am Samstag lange geschlafen, Rogge klopfte, einmal, zweimal, hinter der Tür hörte er Schritte, und als Dörte von Sandau den Mund zu einer geharnischten Predigt öffnete, legte er ihr rasch einen Finger an die Lippen: »Leise!«
»He, was ist ...« Trotz des Protestes hatte Dörte von Sandau unwillkürlich die Stimme gesenkt, Rogge schob beide Frauen energisch in die Diele und klinkte die Tür lautlos zu. Erst dann wagte er tief durchzuatmen.
»Welcher Floh hat dich heute gebissen - und wer sind Sie?«
»Darf ich vorstellen? Dörte von Sandau, Staatsanwältin ihres Zeichens. Inge Weber. Zwei Flöhe stehen oben vor meiner Wohnungstür und warten auf mich.«
»He? Was? Wer wartet auf dich?«
»Liebe Dörte, Inge Weber ist die Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat.«
»Das sind Sie?« Ein guter Staatsanwalt ließ sich nicht verblüffen und trotz seiner Anspannung musste Rogge schmunzeln, als er sah, wie Dörte von Sandau sich bemühte, ihrer Rolle der Unerschütterlichen gerecht zu werden.
Charlotte sah sie schuldbewusst an, mit einer Staatsanwältin hatte sie nicht gerechnet, deshalb redete Rogge rasch weiter: »Sag mal, Dörte, du könntest mir einen Gefallen tun.«
»So?«
»Die Blumen in meiner Wohnung müssen gegossen werden.«
»Die einzigen Blumen, die ich bei dir je gesehen habe, welkten in Biergläsern.«
»Das weißt du, mein Schatz, das ist aber den beiden Typen unbekannt.«
»Welchen Typen?«
»Die vor meiner Wohnungstür herumlungern.«
»Ich verstehe. Du bist also verreist?«
»Exakt. Und zwar bis zum Sonntagabend.« Rogge nestelte den Schlüssel von seinem Bund. »Nach Wiesbaden, zum BKA, falls man dich fragt. Dort will ich mit einem guten Bekannten privat sprechen, und zwar über einen gewissen Wolfgang Tepper, gegen den vor - wann war das ... ?«
Charlotte schrak zusammen, als er sie anredete, und Dörte spitzte die Lippen: »Gut sieben Jahre.«
»... gut sieben Jahren wegen - ich vermute mal: betrügerischen Konkurses ermittelt worden ist. Mich interessiert besonders, wer daran gedreht hat, dass das Verfahren eingestellt wurde.«
»Aha. Und mit all diesen Neuigkeiten soll ich den Knaben um den Hals fallen?«
»Ich halte sie für Zivilfahnder. Also werden sie sich ausweisen, du wirst dich als Staatsanwältin vorstellen und dir alle diese Details bröckchenweise aus deiner hübschen Nase ziehen lassen.«
»Großartig. Und das ganze Manöver nur, damit ihr in deine Wohnung könnt?«
Ihr leicht unfreundlicher, anzüglicher Ton entging ihm nicht; sollte Dörte eine leise Regung von Eifersucht verspüren? »Nein. Ich bin’s leid, dass mich alle herumschubsen, ich will endlich Stinkbomben werfen.«
Dörtes Blick wanderte zwischen ihm und Charlotte hin und her, bis sie schließlich ungehalten die Schultern zuckte: »Für unsere Kripo tun wir doch alles. Also verhaltet euch schön ruhig, ich werd sie in die Wüste schicken.«
Hinter Dörte fiel die Tür unnötig laut ins Schloss; Rogge zwinkerte Charlotte zu und ging zum Telefon, das er unter einem Berg von Akten ausgrub.
Hauptkommissar Kierle wollte gerade seine Wohnung verlassen und knurrte: »Ja, Jens, was gibt's?«
»Tut mir Leid, wenn ich störe, aber ich sitze da in einer Klemme. Ist dir der Name Liga mal untergekommen?«
»Liga?«
»Angeblich ein sehr exklusiver Verein von rechten Kapitalisten. Operieren international, Antidemokraten, antisemitisch und weiß der Geier was noch, und damit tarnen sie zum Beispiel Waffengeschäfte und illegale Industrieexporte.«
Am anderen Ende blieb es lange still, Rogge drückte sich die Daumen, dann räusperte sich Kierle umständlich: »Wie bist du denn darauf gestoßen?«
»Ach, durch einen Zeugen. Hat bei einer Investmentfirma gearbeitet und wohl was mitgehört, was nicht für seine Ohren bestimmt war. Mit der Folge, dass jemand versucht hat, ihn umzubringen. Behauptet er, aber dafür suche ich noch Beweise.«
»Sag mal, Jens, diese Liga, die würde mich interessieren. Wo bist du jetzt?«
»Unterwegs nach Köln.«
»Köln?«
»Zum Bundesamt - na ja, für Verfassungsschutz. Da hab ich einen alten Kumpel sitzen, der soll für mich mal herausfinden, ob's diese Liga überhaupt gibt.«
»So, ja.« Kierle zögerte, aber bevor er sich entscheiden konnte, flötete Rogge freundlich: »Tschüss und danke, Norbert!«, und legte rasch auf.
Charlotte Bongartz stand in der Tür und sah ihn unsicher an: »Sie können aber sehr flüssig lügen.«
»Das lernt man, wenn man ein Leben lang schwere Jungens und leichte Mädchen verhört.«
»Den einen lassen Sie ausrichten, Sie führen nach Wiesbaden, Ihrem Freund flunkern Sie vor, Sie wollten nach Köln ...«
»Freund? Kierle ist nicht mein Freund«, stellte er klar. »Er ist Leiter des Staatsschutzes. Wenn ich mal ausnahmsweise ganz gute Laune habe, erzähle ich Ihnen, was ich von Staatsschutz und Verfassungsschutz halte.«
Darauf wusste Charlotte nicht, was sie antworten sollte, und er betrachtete sie erheitert. Die Tragweite dessen, was sie ihm bei dem Spaziergang am Beilhorner See erzählt hatte, konnte sie wohl nicht einschätzen, und Rogge dachte nicht im Traum daran, sie aufzuklären. Aber wenn er nicht ganz falsch lag, wurde sie verfolgt, weil sie bis jetzt die einzige Zeugin war, die Zinneck oder Tepper mit der Liga in Verbindung brachte. Mit seinem Anruf und Dörtes Botschaft hatte er signalisiert, dass jetzt auch mindestens ein Polizist diese Details kannte. Und was ein Polizist wusste, verbreitete sich auf dem Dienstweg nach der schönen Formel: erst zwei, dann vier, danach acht. Zu viele, um alle Mitwisser kaltzustellen oder zum Schweigen zu vergattern.
»Sagen Sie mal, Frau Bongartz, an dem Montag, an dem ich Ihnen mitgeteilt habe, dass Sie Charlotte Zinneck heißen - haben Sie da anschließend mit jemandem telefoniert oder gesprochen.«
»Darüber, dass Sie herausgefunden haben ... Nein.«
Zur selben Zeit hatte Kili per Computer, Faxgerät und Fernschreiber und E-Mail die Neuigkeit an alle möglichen Dienststellen verbreitet. Und von einer Stelle aus war diese Neuigkeit jemandem zu Ohren gekommen, der zwei Männer in Marsch setzte, um Charlotte Zinneck in ihrer Wohnung zu kidnappen.
»Warum sind Sie nicht mehr zu Ihrer Wohnung gefahren?«
Zu Rogges Erstaunen rang sie die Hände und schluckte so heftig, dass ihm plötzlich ein Licht aufging.
»Sie haben befürchtet, Schönborn sei ein Ligist?«
Sie wurde so bleich, dass er aufsprang, um sie festzuhalten, aber sie fing sich: »Ja, ja, natürlich.«
So natürlich war das nicht, aber er verstand, welche Zweifel sie an dem Abend überfallen hatten, als sich vor dem Plakat des Reisebüros der Vorhang hob. Ein reicher Mann, der sie an Hans Zinneck oder Wolfgang Tepper erinnerte, bemühte sich um sie, eine hilflose Frau, die nicht wusste, wer sie war. Nahm sie quasi in sein Haus mit, begann ein Verhältnis mit ihr, bot sich als Schutz und Helfer an. Wenn es nun keine Zuneigung war, sondern Kontrolle? Ihrem Ehemann hatte sie nicht vertrauen dürfen, warum sollte sie sich auf Achim Schönborn verlassen?
»Wann haben Sie Schönborn kennen gelernt? Vor oder nach dieser Fernsehsendung?«
»Nachher.« Sie schwankte.
»Setzen Sie sich!«, befahl Rogge und führte sie zu dem einzig freien Stuhl; alle anderen Sitzgelegenheiten hatte Dörte wieder mit Akten belegt. Charlotte weinte nicht, aber hielt die Tränen nur mit Mühe zurück. Daran hätte er eher denken müssen: Mit ihren Erfahrungen musste sie doch allen Menschen misstrauen. Auch ihm. Auch einem Achim Schönborn, der - wie er sich nur zu genau erinnerte - aus seiner konservativen bis reaktionären Gesinnung kein Hehl machte und für Polizei und Gesetze nur Hohn und Spott übrig hatte. Speziell für Staatsanwälte. Wenn es diese Liga tatsächlich gab und sie sie richtig beschrieben hatte, war Schönborn ein Top-Kandidat für diesen Verein.
Dörte knurrte und knallte den Schlüssel auf den Tisch: »Sie haben’s geschluckt.«
»Zivilfahnder?«
»Ja. Halte dich fest - zu deinem Schutz abgestellt!«
»Wer’s glaubt, wird selig.«
»Und ich werde nach allem, was ich für dich tue, heilig gesprochen.«
»Heilige trinken keinen Cognac«, beschied er sie fröhlich. »Danke dir, wir verschwinden.«
»Und wohin?«
»Ins Ausland.«
»Na, dann viel Spaß.«
Ganz Baden-Württemberg schien auf Achse zu sein und die Mehrheit bewegte sich offenbar Richtung Bodensee. Obwohl Rogge angeboten hatte, Charlotte in ihre Wohnung zu begleiten, lehnte sie ab und deswegen opferten sie eine Stunde in Neuenburg, um das Nötigste für sie einzukaufen, damit die Reisetasche nicht ganz leer blieb. Anfangs sträubte sie sich, Geld von ihm anzunehmen, aber als er sachlich fragte, wie sie denn in der Schweiz die Fahrkarte nach Zürich bezahlen wollte, willigte sie ein; den Schuldschein lehnte er wiederum ab: »Meine Adresse haben Sie ja.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Gar nicht. Außerdem ruinieren Sie mich nicht.«
»Aber Sie werden fürchterlichen Ärger kriegen,«
»Meinen Sie?« Er gluckste. »Das glaube ich nicht. Ich habe mittlerweile den dumpfen Verdacht, dass einige Stellen, die zur Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufgerufen sind, uns wie Schachfiguren hin und her schieben wollten. Plötzlich spielen die Figuren nicht mehr mit, was sehr peinlich ist, und deshalb wird der Amtsmechanismus greifen. Keiner war’s, keiner wollte was, man geht kollektiv in Deckung.«
Darüber grübelte sie bis zur nächsten Vollbremsung, es hatte sich schon wieder ein Stau aufgebaut, und seufzte: »Das alles kommt mir manchmal wie ein Albtraum vor.«
»Auch daran gewöhnt man sich!«, tröstete Rogge.
Weil es schon dämmerte, versuchten sie gar nicht erst, ein Hotel auf der Insel zu finden, sondern mieteten sich in einem mächtigen vierstöckigen Bau aus der Zeit der Jahrhundertwende ein. Zwei Einzelzimmer, die letzten, ganz großes Glück, dass vor einer Viertelstunde ein Gast abgesagt hatte; Rogge starrte den älteren Mann unbewegt an und zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt, was den grauhaarigen Knaben mächtig verstimmte. So konnte man Kunden auch vergraulen, aber das behielt Rogge für sich.
Eine Martha Zinneck war tatsächlich im Telefonbuch eingetragen; Rogge rieb sich über das knisternde Kinn und strich alle Pflichten für heute: Morgen war auch noch ein Tag.
In der Halle schauten sie sich unsicher an und lachten wie auf Kommando los: Beide unterdrückten ein Gähnen.
»Zu früh, um schon ins Bett zu gehen!«, befand Rogge.
»Aber zu müde für einen großen Stadtbummel.«
Ein Taxifahrer empfahl ihnen ein Restaurant und sie folgten seinem Rat. Das mächtige Frühstück lag ihm noch im Magen, Rogge hielt sich lieber an den Wein, der herrlich entspannte.
»Kennen Sie Lindau?«, fragte Charlotte unvermittelt.
»Kennen wäre zu viel gesagt, ich bin vor Jahren einmal hier gewesen. Mit meiner Frau, auf einer Urlaubsreise.«
»Mich hat’s immer schon nach Frankreich gezogen.« Wahrscheinlich hatte ihr genau das an Zinneck gefallen. Oder auch imponiert, weil er nicht nur perfekt Englisch und Französisch sprach, sondern in beiden Ländern und Kulturen lebte, sich dort zu Hause fühlte. Wenn sie zusammen eingeladen wurden, beneidete sie ihn manchmal wegen der Selbstverständlichkeit, mit der die Franzosen Zinneck akzeptierten, so, als habe er schon immer zu ihnen gehört. Auch nach Jahren, die Charlotte in Frankreich gelebt hatte, war sie immer noch die Deutsche gewesen, »Jean« dagegen besaß zufällig einen deutschen Pass. Es hatte sie gekränkt, bis sie begriff, dass Zinneck ihre Verstimmung gar nicht verstand, weil er es nie anders kennen gelernt hatte. Es hatte auch nicht unbedingt mit Selbstbewusstsein zu tun, an dem es ihm übrigens nicht fehlte, sondern mit seiner Unbefangenheit. Zinneck drängte sich nicht auf, aber er bezweifelte nie, dass er mit allen Leuten mindestens auf gleicher Stufe verkehrte. - Ach, es war schwer zu beschreiben. Sie hatte Jahre gebraucht, sich einen kleinen Freundeskreis aufzubauen, er klopfte an und ihm wurden alle Türen weit geöffnet.
»Hat Zinneck seine Geschäfte nie erwähnt?«
Selten, sehr selten sogar. Man brauchte lange, um zu merken, dass er sehr verschwiegen sein konnte. Diskret, so nannte er es ironisch, aber das war eine Beschönigung, manchmal redete er viel, um viel zu verschweigen. In Cannes hatte Zinneck mit einer Gruppe französischer Geschäftsleute verhandelt, die in Nordafrika investierten, und Kontakte zu deutschen und englischen Geldgebern und Produzenten hergestellt. Das lag ihm, er dirigierte gerne andere Menschen an unsichtbaren Fäden, dann blühte er auf. Anfangs hatte Charlotte seine Klugheit, sein Fingerspitzengefühl bewundert und erst später voller Unbehagen registriert, dass Zinneck gerissen war. Doch da waren sie schon verheiratet gewesen - sie verbesserte sich: Da hatte sie angenommen, mit ihm verheiratet zu sein, obwohl Zinneck von seiner ersten Frau noch nicht geschieden war.
»Hat er nie von seiner Familie erzählt?«
Doch. Dass seine Mutter hier in Lindau lebte und von ihm nichts mehr wissen wollte. Der Vater bei einem Arbeitsunfall umgekommen, zwei Schwestern, beide verheiratet, mit den Schwägern verband ihn eine herzliche Abneigung. Man ging sich aus dem Wege, seit Zinneck sich früh von der Familie losgesagt hatte.
»Sind Sie nicht misstrauisch geworden?«
Nein. Nicht, solange sie in Frankreich wohnten. Auch noch nicht, als er plötzlich darauf drängte, fortzuziehen. Manches hätte ihr auffallen müssen, aber damals - sie verstummte und schob mit gesenktem Kopf ihr Glas hin und her. Nach einer langen Pause atmete sie tief durch. Jetzt durchschaute sie seine Taktik. Wie ein dummes Gör war sie darauf hereingefallen. Erst bemühte er sich um sie, bis sie mit ihm ins Bett stieg, dann zeigte er ihr die kalte Schulter und brachte sie dazu, ihm nachzulaufen. Ein uralter Trick, wie oft hatte sie sich über Romane geärgert, in denen Frauen so dumm dargestellt wurden und den Männern in die Falle nachliefen. Dass sie selbst ... Aber da war es zu spät gewesen und er hatte sie nie mit anderen Frauen betrogen. Belogen, getäuscht, hingehalten, ja, aber nicht betrogen. Rogge schaute sie stumm an und spürte, wie seine Zweifel wieder wuchsen.
»Vor diesem Abend in Kassel hat er das Wort Liga nie ausgesprochen?«
Nein. Nicht direkt. Manchmal hatte Zinneck ein Konsortium erwähnt und darunter hatte sie sich eine Gruppe von Kaufleuten oder Financiers vorgestellt, mit denen er über Kreuz geraten war. Doch warum - sie zuckte die Achseln. Geschäftlich ging’s ihm nicht schlecht, Geld war immer da, und Charlottes leise Befürchtung, Zinneck habe es auf ihr Erbe abgesehen, war schnell verflogen. Nur diese Unruhe, dieses ewige Umziehen, Weiterziehen ... Natürlich stimmte was nicht mit ihm, und als Zinneck sich weigerte, ihr Rede und Antwort zu stehen, starb ihre Liebe.
Warum hatte Zinneck sie überhaupt geheiratet - oder, wenn alle Einzelheiten stimmten, so getan, als heiratete er sie? An ihrem Geld schien er nicht interessiert zu sein, große Liebe hatte er für sie wohl auch nicht empfunden, da drängte sich natürlich der Verdacht auf, dass er Charlotte als Schutz benötigte. Falls Zinneck wirklich vor diesem Konsortium geflohen war, das sich vor einer Zeugin hüten musste. Denkbar, sozusagen um vier oder fünf Ecken gedacht, und so schien Zinneck vorgegangen zu sein, war auch ein anderes Motiv. Eine reiche Erbin erklärte, dass Zinneck über viel Geld verfügte, zumindest nach außen hin, und wenn er bei einem Geschäft, in das er als V-Mann eingeschleust worden war, wirklich abgesahnt hatte, würde sein Führungspersonal eine Begründung für diesen plötzlichen Reichtum verlangen. Zinneck wäre nicht der erste V-Mann gewesen, der zuletzt drei Herren diente, dem Auftraggeber, den Überwachten und sich selbst. In dieser Grauzone von Lüge, Gefahr und Abenteuer versagten viele, weil die tägliche Anspannung sie überforderte und die ständige Versuchung Maßstäbe verschob. Wenn Rogge mit einem Informanten redete, ging er immer davon aus, dass der Mann seine Kenntnisse auch der anderen Seiten verkaufte, aus Geldgier und aus Selbstschutz.
Charlottes vorwurfsvolles Hüsteln riss ihn aus seiner Grübelei: »Soll ich Ihnen mal sagen, was ich heute wirklich glaube?«
Rogge blubberte ein Ja und beäugte sie aufmerksam.
»Er war ein Spieler. Keiner, der sich beim Roulette oder an diesen Automaten ruinierte, aber einer, der ohne diesen Kitzel nicht leben konnte, alles auf eine Karte zu setzen.«
»Ja«, stimmte Rogge zu und lächelte befreit. »Zu diesem Schluss bin ich auch gekommen.«
»Dann verraten Sie mir mal, wieso ich ausgerechnet auf einen Spieler hereingefallen bin.«
Mit der Antwort ließ Rogge sich viel Zeit. Charlotte war eine hübsche, attraktive und intelligente Frau; selbst das billige Kleidchen, das sie in Neuenburg gekauft hatte, stand ihr gut und das Dämmerlicht in der niedrigen Gaststube verdeckte die Müdigkeit in ihrem Gesicht. Ob sie eine ernsthafte Frage gestellt hatte? Natürlich konnte Rogge sie trösten: Säufer und Spieler entwickelten fantastische Fähigkeiten, ihre Umgebung zu täuschen, ihre Sucht zu verheimlichen. Und ein Betrüger, der nicht charmant und zuvorkommend auftrat, hatte seinen Beruf verfehlt. Aber wollte sie das alles wirklich hören?
Charlotte schnitt eine ironische Grimasse: »Hiermit ziehe ich meine Frage zurück.«
»Meine Antwort hätte Sie auch nicht überzeugt.«
»Ich heiße tatsächlich Charlotte.«
Er verbeugte sich: »Jens.«
»Aber eine Verkürzung kann ich nicht leiden.«
»Charly, nicht wahr?«
Sonntag, 1. Oktober
Rogge hatte wie ein Toter geschlafen, und ohne diese Erschöpfung wäre es nicht bei einem Kuss vor der Zimmertür geblieben. Doch so war es besser, sie mussten sich heute trennen und sie konnten sich unbefangen ansehen. Ein böser Traum hatte ihn aufgeweckt, ein junger, gesichtsloser Mann mit zwei Pistolen in den Händen stürmte auf ihn los und schoss an ihm vorbei, traf einen anderen, der ebenfalls bewaffnet war und tot zusammenbrach. Den Wunsch seines Unterbewusstseins, sich für den Tod des Mannes vor dem Bellhorner Motel zu rechtfertigen, verstand er, doch mit diesem Bild würde er noch lange leben müssen. Er fühlte sich nicht schuldig, sondern verantwortlich, ein winziger, doch wichtiger Unterschied, das hatte er sich eingestanden. Doch selbst wenn seine Erinnerung ihm bestätigte, dass er in Notwehr geschossen hatte, bildete das nur einen schwachen Trost.
»Wenn man zu viel geschlafen hat, ist man schrecklich faul«, begründete Charlotte ihren Wunsch nach einem weiteren Kaffee.
»Ob die Schiffe auch so denken?«
»Schon verstanden. Du bist ein Sklaventreiber.«
»Na prima, dann also auf zum Rudern.«
Zwanzig Minuten später bremste Rogge vor einem winzigen Häuschen, das mit wildem Wein bis unter das Dach zugewachsen war. Über Nacht hatte es geregnet und die schwüle Feuchtigkeit verursachte Kopfschmerzen. Um diese Zeit war die schmale Gasse menschenleer, in dem grauen Licht wirkte sie trostlos, ja schäbig.
»Muss ich mitkommen?«
Das hatte Rogge sich auch schon überlegt. »Nein, ich gehe besser alleine.«
Das verrostete Gittertor im Zaun klemmte und quietschte lauter als jede Klingel. Ein Dackel kam um die Hausecke gebraust und bellte sich die Lunge aus dem Leib, wurde aber umgehend friedlich, als sich Rogge bückte und ihn hinter den Ohren kraulte.
»Ja, Sie wünschen?« Sie stand sehr gerade, sehr aufrecht unter der Tür und blitzte ihn an. Wahrscheinlich hatte sie die achtzig erreicht, das Alter hatte seinen Tribut von ihren Kräften gefordert, jedoch nicht von ihrer Wachsamkeit.
»Guten Tag, Frau Zinneck, mein Name ist Rogge.«
»Guten Tag.« Ihre Musterung war offenbar zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen, denn sie lächelte schwach, und wie Rogge sie einschätzte, verließ sie sich auch auf ihren Dackel, der neben Rogge saß und fröhlich hechelte.
»Ich würde mich gerne nach Ihrem Sohn Hans erkundigen«, begann Rogge sehr vorsichtig und erschrak über ihr fassungsloses Gesicht.
Sie schwankte und musste sich am Rahmen festhalten. »Nach - Hans?« Die Stimme wollte ihr nicht gehorchen.
»Ja«, nickte er zurückhaltend.
»Was soll denn ... Mein Sohn ist doch tot.«
»Tot?«, echote er verwirrt.
»Hans ist vor zehn Jahren ertrunken.«
»Nein!«
»Wussten Sie das nicht?«
»Nei..,ein«, stotterte Rogge. An ihren Worten zweifelte er nicht, dazu hatte sie zu entsetzt und zu spontan geantwortet.
»Wie kommen Sie dazu - was ist denn passiert?«
So geriet man in Klemmen und jetzt musste Rogge aufpassen, dass er sich einigermaßen elegant herauswand: »Nein, das wusste ich nicht, Frau Zinneck. Es tut mir Leid, ich wollte nicht ..,«
»Das ist lange her«, unterbrach sie ihn würdevoll. Der Dackel gähnte.
»Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Ich suche einen Hans Zinneck, von dem ich nur weiß, dass er in Lindau geboren worden ist.«
»Hans ist in Lindau zur Welt gekommen«, sagte sie, jetzt zeigte sie ihren Argwohn offen.
»Ja«, stimmte er schnell zu, »aber mein Hans Zinneck hat vor zwei Jahren noch gelebt.«
»Dann ist er nicht mein Sohn«, behauptete sie fest. Der Dackel konnte ihre Gedanken lesen und schob sich leise knurrend ins Haus. »Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen«, erwiderte Rogge betäubt und rührte sich nicht, bis er hörte, dass sie den Schlüssel im Schloss drehte. Drinnen verabschiedete sich der Dackel mit einem unfreundlichen Wuff, Rogge drehte sich um und stakste zur Straße zurück. Also hatte Charlotte wohl doch die Wahrheit ... Rogge erstarrte, eine Hand noch am Griff des Törchens.
Zwei Männer, wie aus dem Boden emporgewachsen, versperrten ihm den Weg und musterten ihn finster. Der linke mochte Mitte zwanzig sein und die Natur hatte ihm wohl mehr Muskeln als Grips mitgegeben. Dagegen besaß der rechte, gut zehn Jahre älter und kleiner, ein intelligentes, aber gemeines Gesicht.
»Wer sind Sie? Was machen Sie hier?«, fuhr der Gemeine Rogge an.
Wäre dieser arrogante Tonfall nicht gewesen, hätte Rogge versucht, sich herauszuschwindeln oder sie mit einem Bluff abzuschütteln, doch jetzt schoss die Wut wie eine Hitzewelle in ihm hoch,
»Ich hab Sie was gefragt!«
Wenn es sein musste, funktionierten die Reflexe immer noch. Mit aller Wucht trat Rogge dem Arroganten zwischen die Beine und traf, der Mann klappte laut aufschreiend wie ein Taschenmesser nach vorn, der Schläger, eine Sekunde lang von dem plötzlichen Angriff überrumpelt, bewegte sich schon vorwärts, doch Rogge tänzelte bereits zur Seite, aus der Reichweite des Brüllenden, der sich zu Boden fallen ließ, und riss die Pistole aus dem Halfter. Wieder zögerte der Bullige, der über seinen sich windenden Kumpel hinwegsteigen musste, gerade ausreichend lange, dass Rogge entsichern und durchladen konnte. Zwei, drei Sekunden standen sie wie die biblischen Salzsäulen einander gegenüber, der andere wimmerte und presste beide Hände auf seinen Unterleib. Dann senkte Rogge die Waffe auf den Mann am Boden.
»Zurück!«, befahl er und selbst der Schläger begriff, dass es hier jemand ernst meinte. Millimeterweise schob er sich zurück.
»Noch weiter. Schneller.«
Der Mann gehorchte, Rogge wechselte die Pistole in die linke Hand und bückte sich zu dem Arroganten, presste ihm die Waffe an den Kopf: »Sag deinem Freund, dass er abhauen soll, und zwar ganz schnell und ganz weit.«
»Was soll... ich kann ...«
»Ich zähle bis drei. Eins ...«
»Hau ab! Los!« Vor Angst schrillte seine Stimme, der Schläger kratzte sich unschlüssig am Kopf und Rogge rief laut: »Zwei...«
»Nun mach schon, du Idiot!«
Langsam drehte sich der andere um und entfernte sich, verfiel in einen merkwürdigen Zockeltrab.
»Dein Glück!«, zischte Rogge.
»Was ... was wollen Sie?«
»Erst einmal möchte ich deine Waffe, wenn du eine hast. Und bitte ganz langsam, ich bin sehr nervös.« Seine Stimme zitterte tatsächlich vor Wut.
»Ich habe - ja ...« Unendlich vorsichtig, als könne er jeden Moment einen empfindlichen Zünder berühren, griff der Arrogante unter die Jacke, Rogge drückte die Pistole fester an seine Schläfe, die Hand bewegte sich noch langsamer zurück. Tatsächlich, eine Pistole. Und kein Finger am Abzug.
»Gib mir die Waffe, Hand am Lauf.«
Irgendwo wurde ein Fenster geöffnet, eine Männerstimme rief: »Ist was passiert?«
»Kann jederzeit geschehen«, zischte Rogge leise.
»Soll ich den Notarzt rufen?«
»Der käme zu spät!«, knurrte Rogge und riss dem Arroganten die Waffe aus der Hand, richtete sich auf und trat schnell zwei Schritte zurück, noch immer auf den Liegenden zielend.
Der Zuschauer vergaß seine staatsbürgerliche Pflicht zur Hilfe und staunte über den Livekrimi in seiner Gasse.
»Bleib noch liegen. Ich werde dir eine Quittung für die Waffe geben.«
»Wa...as?« Die Angst hatte den Schmerz betäubt und jetzt siegte die Verblüffung. »Was wollen Sie?«
Die Marke kannte er nicht, ein großes Kaliber, wahrscheinlich neun Millimeter. Einen Besen samt anhängender Putzfrau wollte Rogge fressen, wenn das eine Dienstwaffe war. Der Mann rollte sich herum, um ihn zu beobachten, das Gesicht immer noch vor Schreck und Schmerz verzerrt, aber er wagte nicht aufzustehen.
Rogge steckte die Pistole in eine Jackentasche und holte mit einer Hand mühsam Brieftasche und Kugelschreiber hervor, bückte sich wieder, legte das Ledermäppchen auf das Pflaster, holte eine Visitenkarte heraus und schrieb, immer wieder auf den Arroganten schielend: Quittung über eine 9-mm-Pistole. Lindau, 1. Oktober.
Die Karte legte Rogge vor sich hin, stand auf und zog sich noch weiter zurück.
»Ich rufe die Polizei!«, drohte der Zuschauer nun mit maximaler Lautstärke.
»Nimm die Karte und verschwinde. Du hast ja gehört, gleich kommt die Polizei!«
Auf allen vieren kroch der Typ bis zu der Karte, nahm sie auf, las Vorder- und Rückseite und fletschte die Zähne. Aus hilfloser Wut oder vor Jähzorn?
Rogge zielte unbewegt auf ihn, der Mann steckte die Karte ein und quälte sich hoch, taumelte, aber den Trick hatte Rogge einkalkuliert und war noch drei Schritte zurückgetreten.
»Lieber nicht!«, warnte er.
Damit hatte Rogge ihn wohl endgültig überzeugt, der Arrogante drehte sich um und wankte davon, seinem Kumpel hinterher, der an der nächsten Kreuzung wartete. Zwei Minuten. Die beiden Männer trafen zusammen, drehten sich nach Rogge um, der sich nicht bewegt hatte. Dreißig Sekunden Beratung, dann gondelten sie um die Häuserecke außer Sicht.
Schnell ging Rogge auf seinen Wagen zu; Charlotte hatte sich tief nach unten rutschen lassen und betrachtete ihn aus weit aufgerissenen Augen, totenbleich, vor Angst wie paralysiert.
»Später!« Der Motor gehorchte, Rogge wendete in bester Kavaliersmanier mit kreischenden Reifen und gab Gas; im Rückspiegel sah er zwei Gestalten, der eine hoppelte ungeschickt und kam nicht so schnell voran, wie sein Kumpel wünschte, ihr Auto musste in der Nähe des Zinneck-Häuschens parken, aber sie brauchten zu lange; bis sie ihn verfolgen konnten, war Rogge außer Sicht.
»Wer - wer - was war das?«
Fünf Minuten raste Rogge kreuz und quer durch Seitenstraßen, landete auf einer Landstraße und missachtete Tempo 100. Erst als sie sich einer Kreuzung mit einer Bundesstraße näherten, vor der Lindau/Zentrum angezeigt war, entspannte er sich.
»Ich weiß es nicht«, sagte Rogge, was nur halb gelogen war.
»Haben die auf uns gewartet?«
»Ja und nein.« Mit viel Gas schoss er nach rechts auf die Bundesstraße, der Fahrer hinter ihm bediente virtuos seine Lichthupe. »Nicht speziell auf dich oder mich, aber auf Leute, die sich für Mutter Zinneck interessieren.«
»Warum denn das ?«;
»Um herauszufinden, ob einer die falsche Identität des Hans Zinneck durchschaut hat.«
»War sie denn falsch?«
»Ja. Die Mutter hat mir erzählt, dass ihr Sohn Hans vor zehn Jahren ertrunken ist.«
Nach zwei Minuten flüsterte Charlotte; »Die arme Frau.«
Er schaute starr geradeaus.
Auf der Insel stellte Rogge den Wagen in einem Parkhaus ab. Vielleicht hatten sie sich doch sein Kennzeichen gemerkt und unnütze Risiken sollte man sich ersparen.
Bis zur nächsten Abfahrt der Fähre bummelten sie wortlos durch die Stadt, es war alles gesagt, sie würden sich nicht wieder sehen.
Am Anleger küsste sie ihn flüchtig: »Danke, Jens.«
»Alles Gute.«
An Bord winkte Charlotte ihm noch einmal zu, Rogge hob die Hand und hockte sich auf ein Mäuerchen, bis das Schiff abgelegt und volle Fahrt aufgenommen hatte. Dann warf er die Zigarette fort.
Auf der Autobahn döste Rogge bei einem gemächlichen Tempo vor sich hin. Wer immer diesen Wolfgang Tepper mit falschen Personalpapieren ausgestattet hatte, pokerte hoch, aber mit Umsicht. Eine Legende aufzubauen war gar nicht so leicht, und eine der Hürden bildete die Gefahr, dass sich jemand an dem ausgewählten Geburtsort informierte, ob wirklich an dem angegebenen Tag ein XY dort geboren worden war. Unterstellt, für Tepper waren falsche Papiere benötigt worden - wer machte sich die Mühe, dafür die Personalien plus Universitätsdiplom eines vor zehn Jahren verunglückten Mannes zu besorgen? Wer konnte überhaupt wissen, dass jemand vor so langer Zeit ertrunken war? Irgendein Gauner, der Papiere fälschte? Klang das nicht eher nach einer Behörde, die alles immer ganz genau erledigte? Bürokratisch korrekt? Und wenn das so war - gewann dann Charlottes Behauptung, Wolfgang Tepper/Hans Zinneck habe als V-Mann für den BND gearbeitet, nicht an Glaubwürdigkeit? Und falls Rogge das bejahte: Hieß das nicht auch, dass es tatsächlich eine Liga gab, mit den verrückt-verbrecherischen Zielen, die Charlotte geschildert hatte?
Plötzlich lachte Rogge laut auf. Wie von selbst war er auf einen Parkplatz eingebogen. Er stellte den Karren ordentlich in eine Bucht und stieg aus. Am Himmel jagten dunkle Wolken schnell nach Osten und die Temperatur war fühlbar gesunken. Am Tisch nebenan hatte eine Familie zum Picknick gerüstet, sein Magen knurrte laut.
Wahrscheinlich ungewollt hatte Charlotte ihm ein paar wichtige Anhaltspunkte geliefert. Charlotte Bongartz, 38 Jahre alt, aus einer reichen Nürnberger Familie stammend, der Vater gestorben, als sie etwa 18 oder 19 war, sechs oder sieben Jahre später die Mutter, nach Frankreich verzogen, zum Schluss nahe bei Cannes wohnend - wenn er Charlotte noch mal finden musste, konnte er sie aufstöbern. Aber musste er das? Wer wollte ihn dazu zwingen? Rogge rauchte und schnupperte. Wie hatten die Eltern die Gulaschsuppe warm gehalten? Nur einmal angenommen, Charlotte hatte sich nicht getäuscht, sondern genau beobachtet, dann hatten zwei Gruppen sie beschattet. Die Ligisten und irgendein Dienst. Schön. Die einen fürchteten, sie könne ihr Gedächtnis wiedererlangen und dann ausplaudern, was ihr Hans Zinneck/Wolfgang Tepper anvertraut hatte. Das sprach für die Liga und genauso hatte sie kombiniert: kein Gedächtnis - keine Gefahr, dass sie etwas verriet - kein Grund, sie zu beseitigen. Aber welchen Grund sollte der Dienst gehabt haben, sich an ihre Fersen zu heften? Wenn Tepper/Zinneck wirklich als V-Mann eingesetzt gewesen war, gab es dafür nur eine überzeugende Erklärung: Der Dienst hatte seinen Agenten aus den Augen verloren und erwartete, Tepper/Zinneck werde sich bei Charlotte melden. Deren Aufenthaltsort er - wie übrigens auch die Liga - spätestens aus der XY ... ungelöst-Sendung erfahren hatte. Das hieß aber auch: Der Dienst wusste nichts davon, dass Tepper/Zinneck ermordet worden war.
Gut, denkbar, dass die eine Seite einen Überläufer beseitigt hatte und nun fürchtete, Charlotte habe am Abend des 15. September des vorigen Jahres in der Kassler Villa Beelestraße doch etwas bemerkt, was den Mörder überführen konnte. Denkbar, aber nicht sehr wahrscheinlich. Auf der anderen Seite - Rogge legte den Kopf weit in den Nacken und starrte in den Himmel hinauf. Beide, Liga wie Dienst, hatten Charlotte verloren, als sie sich halb nackt in das Auto setzte und einfach losfuhr, den oder die Täter abhängte. War das überhaupt möglich, in ihrem Zustand Auto zu fahren? Ihre Geschichte musste ja nicht stimmen; vielleicht hatte sie ihren Mann erschossen und sich dabei mit Blut besudelt, vielleicht hatte sie danach fliehen müssen, weil jemand ins Haus gekommen war oder sie die Nerven verloren hatte. Hatte sie Benno auf dem Parkplatz Feltenwiese bemerkt und gewähren lassen, um das verräterische Auto loszuwerden? Was zum Teufel sollte Rogge glauben?
Die große Erleuchtung blieb aus. Nebenan packte die Familie ein. Für ein halbes Käsebrötchen hätte er jetzt fast jeden Preis gezahlt, aber die Mutter jammerte dem Vater vor, es wäre nichts übrig geblieben.
In Herlingen herrschte ein fast bedrückender Sonntagsfrieden, nur zwei abgestellte Autos auf dem menschenleeren Marktplatz.
Wibbeke ließ mit schuldbewusster Miene die Zeitschrift sinken, als Rogge das Revier betrat.
»Herr Rogge. Wir haben Sie schon überall gesucht.«
»Ich war am Bodensee«, wich er aus.
»Es ist - nun ja, es ist etwas passiert«, sagte Wibbeke lahm und faltete das Blatt zusammen, wobei er Rogges Blick mied. Im Wachzimmer lachte die Mannschaft wie über einen guten Witz laut auf und Rogge schüttelte entmutigt den Kopf: »Spendieren Sie mir einen Kaffee?«
»Sicher.« Im Nebenzimmer waren sie ungestört und der Oberkommissar schloss umständlich die Tür. Das Fenster stand einen Spalt auf, es zog kühl herein.
»Marlene Fuhrmann«, begann Wibbeke zögernd. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und Rogge ahnte, dass er sich Vorwürfe machte.
»Was ist mit ihr?«
»Selbstmord.«
Das Wort hing lange zwischen ihnen und Rogge hätte am liebsten den Kopf auf die Arme gelegt und geschlafen. Nur nichts mehr hören, endlich abschalten, alles vergessen.
»Fuhrmann hat gestern Abend angerufen.«
Der Kaffee schmeckte nicht mehr, er hatte zu lange in der Thermoskanne gestanden. Trotzdem trank Rogge wie ein Verdurstender und verzog bei dem muffigen Nachgeschmack das Gesicht.
»Sie hat sich erschossen.«
»Warum? Warum bloß, Herr Wibbeke?«
»Es gibt keinen Abschiedsbrief ... Nein, nein, einwandfrei Suizid. Wir mussten die Tür aufbrechen. Aber das lag in ihrem Zimmer auf dem Tisch.«
Der Stockerbote vom Samstag. Das schreckliche Busunglück war mit Bildern auf Seite eins gelandet. Vier Tote, zweiundzwanzig Verletzte, davon sieben schwer. Auf der Aufschlagseite des Lokalteils hatte Ilse Matussek einen Aufsetzer geschrieben, sehr korrekt, wie er las. Ein Hauptkommissar R. quartierte sich im Stockauer Bären ein, um die Identität ... Charlotte mit Vornamen ... im Zuge der Ermittlungen drei Männer vorübergehend festgenommen ... Diebstahl, Hehlerei, Autoraub ... und der Verdacht, dass es sich bei dem Tod des Kindes Martin Lohse nicht um einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht handelte ...
»Was sagt Fuhrmann dazu?« Jedes Wort fiel Rogge schwer, die Zunge gehorchte ihm nicht mehr.
»Wenig. Dass ihre Ehe in die Brüche ging, als feststand, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Danach hat sie sich verändert. Er gibt das Verhältnis mit Angela Lohse zu, auch, dass er der Vater von Martin ist — oder war -, aber er ist felsenfest davon überzeugt, dass seine Frau nie etwas von seiner Affäre erfahren hat.«
»Das würde ich an seiner Stelle auch behaupten.«
»Natürlich. Er war nicht - erschüttert, nicht wirklich entsetzt, meine ich. Durcheinander, verwirrt, kopflos, das schon, aber wirkliche Trauer um seine Frau - nein, die empfindet er nicht.«
»Den Heldenmut hat Fuhrmann nicht erfunden. Es hat nicht einmal zu einer Scheidung gelangt.«
»Ja, er ist ein Weichei. Und das hat mich auf eine Idee gebracht. Ich habe mit Monika gesprochen. Mit Monika Ziegler, der Arzthelferin. Nicht amtlich - na ja, oder doch, halb sozusagen. Sie hat bestätigt, dass die Frau des Chefs krankhaft eifersüchtig war. Auch auf sie, bis dann dieser Ökofax auftauchte. Haben Sie das gewusst?«
»Dass Monika Ziegler mit Johann Thelen ...?«
»Nein, dass ausgerechnet Marlene so eifersüchtig gewesen ist?«
»Hatte sie denn Grund dazu?«
»Gemunkelt wird’s seit langer Zeit. Und bei der Frau ...«
Mutlos schüttelte Rogge den Kopf. Wibbeke war ans Fenster gegangen und starrte in die Dämmerung hinaus. Jahrelang war scheinbar alles glatt verlaufen, dann kulminierten die Ereignisse, weil ein Fremder wegen einer fremden Sache aufkreuzte. Jemand warf einen Stein ins Wasser und ein Damm brach. Ursache und Wirkung schienen nicht in einem begreifbaren, geschweige denn logischen Verhältnis zu stehen.
»Von ihrem Jähzorn hatte sie schon einige Kostproben geliefert, Marlene Fuhrmann, meine ich. Einiges hat ihr Mann vertuscht oder mit Geld geregelt, bei anderen Vorfällen bin ich - na ja, wenn man vom Rathaus kommt ...« Nachdrücklich verriegelte Wibbeke das Fenster und drehte sich um: »Der Tod von Angis Sohn ist also weiterhin ungeklärt.«
»Ja. Hat sich die Wirtin wegen des Artikels bei Ihnen gemeldet?«
»Nein. Und ich bin dankbar für jede Stunde, die sie damit wartet. Was soll ich ihr denn sagen?«
»Ich muss gehen, sonst schlafe ich hier ein.«
»Einen Moment noch, Herr Rogge. Fuhrmann schwört Stein und Bein, er habe nichts von der Pistole gewusst, mit der seine Frau sich erschossen hat. Und auch nichts von dem Gewehr.«
»Welchem Gewehr?«
»Das wir in ihrem Zimmer auf dem Kleiderschrank gefunden haben.«
Rogge brauchte einen Moment, bis er die Bedeutung verstand: »Ein Gewehr? Also hat sie auf mich geschossen?«
»Benno leugnet stur.« Wibbeke zuckte die Achseln und .Rogge spürte seinen Widerstand.
Was wussten sie schon, wie es in den Köpfen und Seelen aussah. Fuhrmann würde nie zugeben, dass er jungen Frauen nachstieg, und noch viel weniger, dass seine frustrierte Frau gewalttätige Neigungen besessen hatte. Wenn es überhaupt so gewesen war, wenn sie Martin Lohse getötet und auf Rogge geschossen hatte. Keiner würde jetzt noch etwas zugeben, an der Fassade durfte nicht weiter gekratzt werden. Den Schützen würden sie nie finden und überführen, aber Rogge konnte Wibbeke schlecht erklären, warum er keinen Wert darauf legte.
»Haben Sie Ihren Fall abgeschlossen?«
Nach einer Weile schaute Rogge hoch. Hatte er das? War es überhaupt ein Fall gewesen, der eingeleitet und formell abgeschlossen wurde? Eine Minute sinnierte er und grinste endlich verlegen: »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich.«
Wibbeke zog die Augenbrauen hoch, diese Aussage verstand er nicht, doch als er Rogges Blick auffing, verzichtete er auf weitere Fragen. Widerwillig teilte er mit: »Ilse Matussek vom Stockerboten bittet dringend um einen Anruf.«
»Ich werd’s nicht vergessen.«
Kili musste er auch sofort anrufen, wegen der Diskette.
Vor dem Revier rief er Kili über Handy zu Hause an, doch der stöhnte sofort auf: »Nichts, Chef, heute nicht. Heute kriegst du mich nicht hier raus.«
Trotz seiner Müdigkeit schaltete Rogge sofort. »Das ist Jasmin, die da im Hintergrund so fröhlich trällert.«
»Sie ist es. Sie hat für uns gekocht. Was sagst du nun?«
»Gar nichts. Das Glück will ich nicht stören. Ich brauche nur die Diskette, die ich dir gegeben habe. Hast du sie lesen können?«
»Ich nicht, aber mein Computer. Ein merkwürdiges Zeug.«
»Kann man es ausdrucken? Und besser noch, kann man die Diskette kopieren?«
»Aber sicher doch.«
»Würde beides dein Glück bei Jasmin nachhaltig stören?«
»Nein, wenn du nicht zu lang bleibst.«
»Schon kapiert. Ich bringe eine junge Dame zum Essen mit und gleich anschließend verschwinden wir mit Ausdruck und kopierter Diskette.«
»Der Teufel soll dich holen.«
»Vorsicht, Kili, noch so ein frommer Wunsch und ich benutze in Jasmins Gegenwart die Wörter Trauzeuge und Standesamt.«
»Eine solche Gemeinheit würdest du fertig kriegen?«
»Aber spielend.«
Ilse Matussek wunderte sich sehr, als Rogge anrief und sie zum Essen bei seinem Kollegen Hain dl einlud. Weil er am Telefon nichts erklären wollte, stimmte sie zu und staunte nicht schlecht, als sie Kilis Domizil betrat.
»Das kann sich ein Kriminalhauptmeister leisten?«
»Wenn er den richtigen Onkel hat - jederzeit.«
Zu Rogges Erstaunen verstanden sich die beiden so gegensätzlichen Frauen auf den ersten Blick und Jasmin Köhler hatte sowieso wieder einmal für eine Kompanie gekocht.
Als die Journalistin ächzend aufbrach, Ausdruck und Diskette einpackte, warnte Rogge: »Passen Sie auf, dass Sie sich keine einstweilige Verfügung einfangen oder eine Kugel. Sie stochern in einem gefährlichen Hornissennest.«