Читать книгу Extra Krimi Paket Sommer 2021 - A. F. Morland, Pete Hackett - Страница 21
XIV.
ОглавлениеDer junge Mann zappelte vor Ungeduld und Reineke musste sich beherrschen, um ihn nicht anzubrüllen.
»Also, noch einmal der Reihe nach!«
»Nachmittags hat sie sich in Kassel, im Hotel Merkur, ein Zimmer genommen. Abends ist sie in die Hotelbar gegangen und dort mit einem Mann ins Gespräch gekommen.«
»Zufällig? Oder waren die beiden verabredet?«
»Glaube ich nicht. Sie hatte schon ganz nett getankt, als er sich auch an die Bar setzte. Allerdings haben sie eine ganze Zeit die Köpfe zusammengesteckt, deswegen haben wir uns für den Mann interessiert.«
»Ja, und?«
»Er heißt Rogge, Jens Rogge, und ist Kriminalhauptkommissar.«
Der junge Mann glühte vor Stolz und Reineke lachte ungläubig: »Rogge kenne ich. Das ist ja 'nen Ding!«
»Deswegen bin ich auch sofort zu Ihnen gekommen.«
Das hättest du auch telefonisch erledigen können, dachte Reineke zynisch, aber du wolltest dir deinen Orden persönlich abholen. Laut sagte er: »Sehr gut. Nur eine Frage noch - haben die beiden die Nacht zusammen verbracht?«
Wie ein angepikster Luftballon sackte der junge Kollege zusammen und flüsterte verschämt: »Das wissen wir leider nicht.«
»Schade. Aber trotzdem - gute Arbeit.«
Den ganzen Abend grübelte er, ob er Jockel Pertz im BND anrufen sollte. Das Fernsehprogramm ödete ihn an, seine Freundin schwang auf ihrem Frauenabend wahrscheinlich wilde Reden über die ins Stocken geratene Emanzipation des ausgebeuteten Geschlechts und er öffnete die zweite Flasche Wein, Solange Pertz es nicht für nötig befand, mit mehr Details überzukommen, brauchte er von dem Treffen Karin Tepper-Jens Rogge auch nichts zu erfahren. Dazu war noch immer Zeit.
Freitag, 29. September
Punkt acht Uhr bewunderte Rogge die Haustür, ein Prachtstück mit Schnitzereien und ausgemalten Flächen, alles sorgfältig restauriert und die erhabene Jahreszahl 1786 sogar vergoldet.
Allerdings bildete die Tür auch das einzige bewundernswerte Teil, das schiefe, schmalbrüstige Haus war heruntergekommen und musste dringend von Grund auf renoviert werden.
Rogge drückte auf den Klingelknopf und sah sich um, während er wartete; kein Mensch weit und breit, Stockau schien wie ausgestorben. Doch dann polterten drinnen Schritte, ein Schlüssel quietschte im Schloss und eine völlig verblüffte Gertrud starrte ihn an.
»Guten Morgen, Gertrud«, grüßte er.
»Herr Rogge!«, stotterte sie.
Wahrscheinlich hatte Rogge sie aus dem Bett geholt; sie trug riesige Puschen mit Max- und Moritz-Gesichtern und einen Morgenmantel.
»Tut mir Leid«, entschuldigte er sich zerknirscht. »Ich hab Sie geweckt, nicht wahr?«
»Ja, aber das macht nichts, der Wecker klingelt gleich.«
»Darf ich hereinkommen? Aber nur, wenn Sie allein sind.«
»Was? - Ja, sicher, natürlich. Kommen Sie.«
Die Treppe war steil und schmal und knarrte unter ihrem Gewicht, er hielt sich am Geländer fest und registrierte unbehaglich, dass es schwankte. In dem winzigen Flur konnte man sich kaum umdrehen, den größten Teil nahm eine Bank mit Blumentöpfen ein.
»Bitte!« Sie lächelte etwas verkrampft.
Das Wohnzimmer war klein und für seinen Geschmack etwas zu farbenfroh eingerichtet.
»Darf ich Ihnen - trinken Sie einen Kaffee?«
»Gerne, aber nur, wenn Sie ihn nicht extra für mich kochen.«
»Nein, nein, ich muss auch noch frühstücken.«
Zehn Minuten ließ sie ihn allein, er hörte sie in der Küche und im Bad rumoren, und als sie ein Tablett hereinbalancierte, hatte sie sich angezogen. Er sprang auf, um ihr zu helfen, doch sie wehrte mit der alten Lebhaftigkeit ab: »Also, ich glaub, das kann ich besser als Sie.«
Der Esstisch reichte gerade für zwei Personen. Seine Wohnung war ja auch kein Palast, aber in dieser Enge würde er keine Luft bekommen.
»Vielen Dank für Ihre Grüße«, sagte sie und goss die Tassen voll.
Grüße? - Ach, richtig, ja. »Wie geht’s Angi?«
»Gut. Sehr gut sogar.« Schwungvoll setzte sie sich und strahlte ihn an. »Sie hat Olli vor die Tür gesetzt.«
»Endlich.«
Sie beugte sich vor: »Als Wirt ist er ja nicht schlecht, aber als Ehemann - puh.«
Rogge musste sich zusammenreißen, um Gertrud nicht in den großzügigen Ausschnitt zu schielen.
»Und wie geht’s Michael?«, zwinkerte er und sie reckte halb würdevoll, halb stolz das Kinn: »Auch gut, danke.«
»Das freut mich.«
Der Kaffee war stark und aus Höflichkeit nahm er sich eine Scheibe Brot; gefrühstückt hatte er schon zu Hause. »Gertrud, was wollten Sie mir an dem Abend erzählen, als Michael kam?«
Einen Moment raufte sie verlegen in ihren Haaren, bevor sie trotzig murmelte: »Das meiste haben Sie ja selbst herausgefunden.«
»Ollis Hehlerei?«
»Das auch!« Sie schloss die Augen, um sich zu konzentrieren und die Geschichte zurechtzulegen.
Als sie nach der Schule im Bären anfing, war Martin schon fast vier Jahre alt gewesen.
Verständnislos starrte er sie an. Wer war Martin? - Richtig, Angis Sohn.
Olli hasste den Bankert oder Bastard, wie er ihn nannte, und der Junge ging ihm aus dem Weg. Mit Olli kam Gertrud einigermaßen klar, zwar hatte der Wirt prompt versucht, ihr unter den Rock zu greifen, aber sie hatte ihm eine Schnapsflasche an den Kopf geknallt und damit war ihr Verhältnis auf Dauer geregelt. Das war noch, bevor Martin überfahren worden war. Für Angi, die Wirtin, brach eine Welt zusammen, sie veränderte sich, wurde eine Zeit lang richtig komisch. Von Olli hatte sie immer wenig wissen wollen, nun bezog sie ein eigenes Schlafzimmer und er ging seiner eigenen Wege. Gertrud bemühte sich um Angi, weil sie die Chefin gut leiden mochte, und Angi schloss allmählich Freundschaft mit ihr. Deshalb beseitigte Gertrud auch alle Hinweise darauf, dass sich Angi mit einem Liebhaber im Gästeanbau vergnügte, warf der Freundin aber eines Tages vor, sie sei unvorsichtig, und wenn Olli dahinter käme, würde sie in Teufels Küche geraten. Daraufhin hatte ihr Angi eine lange Geschichte erzählt, ganz im Vertrauen, Martins Vater heiße Adalbert Fuhrmann ...
»Nein! Der Arzt?«
Ja, der. Monikas Chef. Und das Schlimme war - Angi war damals Fuhrmanns Patientin gewesen. Als sie merkte, dass sie schwanger war, wollte Fuhrmann sie zu einer Abtreibung überreden, aber das hatte Angi verweigert. Und scheiden lassen wollte er sich nicht, er hatte Angst vor einem Skandal, so hatte es Angi dargestellt. Enttäuscht trennte Angi sich von ihm, und als sich später Monikas Vater für sie interessierte - Gertrud machte Angi keine Vorwürfe.
»Hat Olli gewusst, wer Martins Vater war?«
Nein. Eines Abends hatte er Gertrud einzuwickeln versucht und mit zwei, dann drei Hundertern gewedelt: Angi hätte ihr doch bestimmt gestanden, wer der Vater des Bankerts wäre. Ziemlich wütend hatte Gertrud ihn abblitzen lassen und danach war er nie wieder auf das Thema zurückgekommen. Dass Olli mit anderen Frauen schlief, verhehlte er nicht, aber brüstete sich auch nicht mit seinen Eroberungen, schließlich hatte sie - Gertrud - den Eindruck gewonnen, dass er nur ein Dach über dem Kopf gesucht und die Frau Angi als lästiges Übel mit in Kauf genommen hatte. Aber sein Handwerk als Wirt verstand er, daran gab es keinen Zweifel, rechnen und feilschen konnte er, du meine Güte, da unterlagen die meisten Lieferanten. Allerdings ging Olli für seine Person sehr großzügig mit dem Geld um, Angi klagte mehr als einmal, dass Olli spiele und auf Pferde wette und sich mit merkwürdigen Freunden herumtreibe.
»Von seinen Frauengeschichten hat sie nichts geahnt?«
Doch, doch, Angi war zwar schweigsam, aber nicht dumm; solange Olli sich nicht in Angis Bett drängte und nach außen den Schein wahrte, durfte er herumbumsen, mit wem er wollte.
Ja, und dann hatten alle Gäste im Bären über diese Fernseh-Sendung geredet. In der gefragt wurde, wie die Frau heiße, die oben auf dem Parkplatz Feltenwiese gefunden worden war. Das führte zu einer Art Dorfversammlung an einem Samstag, Gertrud kam mit dem Bedienen nicht mehr nach, Angi half aus und ausgerechnet bei diesem Hochbetrieb war der verdammte Olli nach hinten verschwunden. Die Gäste riefen nach Bier, wütend war Gertrud in die Küche gelaufen, aber da war er nicht, und als sie nach hinten raste, zur Treppe in die Wohnung über dem Lokal, hörte sie Stimmen. Benno und Olli, sie stritten sich. Oben, vor der Wohnungstür, Bevor Gertrud rufen konnte, hatte sie gehört, wie Olli rumtobte: »Welchen Scheiß hast du denn da wieder angerichtet? Jetzt sind wir schon im Fernsehen.« Benno brüllte zurück: »Mit der Frau hab ich nichts zu tun, merk dir das, ich hab nur den Wagen genommen, und du passt besser auf und hältst die Klappe, denn in der Geschichte steckst du mit drin, vergiss das lieber nicht.« - »Willst du mir drohen?« - »Nee, aber denk lieber dran, was Angi tun wird, wenn ihr einer was von deinen Nebengeschäften erzählt.« »Das lass man meine Sorge sein, die Angi hab ich fest in der Tasche, kümmere du dich lieber um deine Andrea, damit die nicht hopsgenommen wird.« - »Lass Andrea aus dem Spiel, ich kümmere mich auch nicht um deine bekloppte Lene. Und vergiss nicht, der alte Vogt hat dir Angi und den Bären überlassen, damit du auf den Bankert aufpasst. Was ja wohl nicht geklappt hat - oder?«
»Halt’s Maul!«, hatte Olli losgeschrien und vor Wut war seine Stimme übergeschnappt.
»An dieser Stelle bin ich leise wieder weggeschlichen.«
Rogge nickte gespannt. »Wer ist diese Lene, Gertrud?«
»Das weiß ich nicht, Herr Rogge. Die einzige Lene, die ich kenne, ist die Marlene Fuhrmann.«
»Die Frau des Arztes?«
»Ja, aber was soll Olli mit der Arztfrau zu tun haben?« Sie schüttelte ratlos den Kopf.
Und dann kam ein Kommissar in den Bären. Sollte sie ihm erzählen, was sie da belauscht hatte? Olli in Schwierigkeiten bringen? Und mit ihm auch Angi? Dem Benno gönnte sie alles
Schlechte, aber Benno würde natürlich Olli mit reinreißen. Sie hatte gegrübelt und geknobelt, bis ihr die großartige Idee kam, Benno wegen der Vergewaltigung dranzukriegen. Und wegen seiner Zuhälterei. Also hatte sie bröckchenweise auf die Feltenwiese hingewiesen ... und auf Monika ...
Ihr Geständnis hatte sie sehr forsch begonnen und war unter Rogges nachdenklichem Blick immer leiser und langsamer geworden. Jetzt verstummte sie und starrte in ihre Tasse.
»Sie haben mich ganz nett an der Nase herumgeführt«, wies Rogge Gertrud endlich düster zurecht.
»Es tut mir Leid.«
Ohne Zorn betrachtet hielt sich der Schaden in Grenzen. Wenn Gertrud nach der Fernsehsendung zur Polizei gegangen wäre, hätte Grem sicherlich in seiner wohlbekannten Manier zugelangt, Olli und Benno mit Gertruds Aussage konfrontiert und wahrscheinlich nur erreicht, dass beide leugneten. Sinnlos, Gertrud Vorwürfe zu machen, sie hatte zum Schluss ja reden wollen und Rogge nur versetzt, weil Michael auftauchte.
»Was macht Ihr Michael eigentlich?«, fragte Rogge unvermittelt und Gertrud fuhr zusammen.
»Er ... er ... ist Kunsttischler.«
»Ach nein! Dann stammt diese schöne Haustür von ihm?«
Nein, Michael hatte sie nur renoviert. Michael wollte sich selbstständig machen, sie sparten auf seine eigene Werkstatt, und Gertrud hatte Olli nicht - verraten - weil - weil - also, Olli war ein Kotzbrocken, ein Schwein und auch ein Schinder, eine Bedienung für den Bären war einfach zu wenig, aber so musste sie nicht teilen, die Trinkgelder ...
»Ich verstehe«, murmelte Rogge. »Was wird denn jetzt aus dem Bären?«
»Ich weiß nicht. Olli ist weg, zu einem Cousin gezogen, und Angi hat eine Aushilfe eingestellt.« Ihre Nase krauste sich besorgt. »Aber der ist nicht gut.«
»Das Geschäft läuft also nicht mehr so?«
Sie schüttelte den Kopf und wagte wieder, Rogge anzuschauen.
»Haben Sie eine Ahnung, was mit Benno geschehen ist?«
»Nichts. Der fährt seinen Molkereiwagen wie eh und je.«
»Und Andrea?«
»Die will weg, aber sie hat nicht gesagt, wann und wohin.« Gertrud zuckte die Achseln, dieser Verlust schmerzte sie nicht.
Monika Ziegler und Jo Thelen würden sich zusammentun, wenn sie den Mut fand, offen mit ihm zu reden, und er die Kraft aufbrachte, sich mit dem Geschehenen abzufinden. Rogge hatte ihr sein Wort gegeben und wollte es halten, auch wenn das bedeutete, dass Benno in dieser Sache straffrei ausging. Um Gertrud musste er sich keine Sorgen machen und Olli gehörte zu jenen dicken, fetten Katzen, die immer auf die Füße fielen.
Rogge trank seinen Kaffee aus und zwinkerte ihr zu: »Na, vielen Dank, Gertrud. Alles Gute - und grüßen Sie Ihren Michael von mir.«
»Das tue ich.« Sie lachte unschlüssig, aber weil Rogge schon aufstand, verschluckte sie, was ihr auf der Zunge gelegen hatte.
Unten an der Treppe drehte Rogge sich doch noch einmal um. »Gertrud, Angi hat mehr als einen Liebhaber?«
Gertrud holte tief Luft: »Ja.«
»Hat im vorigen August, September ein Mann - na ja -mehrmals im Bären übernachtet?«
»Nein, nicht übernachtet. Aber mit der Chefin gebumst.«
Womit wahrscheinlich erklärt war, was Eberhard Fuhrmann neben dem Geld, um das er seinen Bruder erleichtert hatte, nach Stockau gezogen hatte; Monika musste es nicht erfahren, und darum wendete Rogge sich endgültig zum Gehen.
Wibbeke war nicht im Revier, fast die gesamte Mannschaft war wegen eines schweren Verkehrsunfalls ausgerückt, ein umgekippter Reisebus, wie der Wachhabende erklärte. Ab und zu dröhnten Rettungshubschrauber so tief über Herlingen, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstand.
»Sagen Sie Oberkommissar Wibbeke bitte, dass ich ihn sprechen möchte? In der Zwischenzeit ^ehe ich in die Lokalredaktion vom Stockerboten.«
»Alles klar.«
Die Lokalredaktion war in sechs winzigen Räumen untergebracht, alle Verbindungstüren standen weit offen, sonst wäre Rogge wegen klaustrophobischer Attacken sofort geflohen.
Ilse Matussek schmunzelte breit, als Rogge sie danach fragte: »Denkmalschutz, Herr Hauptkommissar. Das war einmal das alte Ständehaus, wir dürfen uns glücklich schätzen und geehrt fühlen, dass uns der Kreis den ganzen ersten Stock vermietet hat.«
Der Rest des Redaktionsteams war draußen, wegen des Busunglücks, sie hielt hier die Stellung. »Der morgige Aufmacher ist also gesichert.«
Ihr Zynismus gefiel Rogge nicht, aber er passte zu ihrem scharfen Gesicht.
»Eigentlich wollte ich mich nur nach einem tödlichen Unfall mit Fahrerflucht erkundigen.«
»Aha.« Sie mochte es nicht, wenn man sich auf Umwegen einer Frage annäherte.
»Ich kenne nur den Namen des Opfers. Martin Lohse. Ein Kind.«
»Moment mal.« So altertümlich die Redaktion untergebracht war, so modern war sie ausgerüstet.
»Hier haben wir es. Soll ich’s Ihnen ausdrucken?«
»Bitte, ja, das wäre sehr nett.«
Der Drucker summte nach kurzer Zeit los, mit drei Blättern in der Hand drehte Ilse Matussek sich schwungvoll wieder Rogge zu, die Bretter knarrten und Rogge fragte nervös, nachdem er die Artikel überflogen hatte: »Hat es eigentlich nie Gerüchte gegeben, wer der Fahrer war?«
»Oho!« Ihre Augenbrauen stiegen in die Höhe. »Rede ich mit einem Privatmann oder mit einem Polizeibeamten im Dienst?«
»Die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. Ich bin hier nicht zuständig.«
»Na wunderbar. Dann darf ich also Ihre Anfrage zu einem Artikel verwursten?«
»Wenn da drinstehen würde, dass es Hinweise auf die Identität des flüchtigen Fahrer gibt, die jetzt durch Zufall ans Licht gekommen sind - nichts dagegen.«
»Und mehr nicht?«
»Wie ich Sie einschätze, können Sie schon aus der Tatsache, dass ich vor Ihnen sitze, einen Aufmacher schreiben.« Absichtlich hatte Rogge es in seinem trockensten Ton vorgebracht, aber Ilse Matussek besaß ein dickes Fell und entschied selbst, wer sie beleidigte.
»Okay, kapiert, Sie wollen den ehrwürdigen Stockerboten missbrauchen und eine Mine legen.«
»Soll ich aus Prinzip widersprechen?«
»Nein.« Sie lachte kurz. »Sogar bis zu uns hat sich schon herumgesprochen, was mit dem Bärenwirt geschehen ist. Und dass Olli Lohse den Sohn seiner Frau nie leiden mochte, ist bekannt. Es gab sogar böse Gerüchte, dass er ihn selbst überfahren hat, aber natürlich haben wir uns gehütet, das zu schreiben. Verdächtigen Sie Olli?«
»Nein«, erwiderte Rogge bedächtig, »nicht Olli. Der ist viel zu gerissen. Aber Olli hat Freunde und Helfer.«
»Einen Namen wollen Sie mir nicht nennen? Zuflüstern? Unter dem dicksten Siegel größter Verschwiegenheit anvertrauen?«
»Nein. Aber vielleicht sollten Sie mich mit der kryptischen Bemerkung zitieren, dass ich nicht an einen Fahrer von auswärts glaube, der zufällig die Landstraße von Herlingen nach Stockau benutzt hat. Dass ich durch reinen Zufall herausgefunden habe, dass es Frauen gibt oder gegeben hat, die von Martin Lohses Existenz nicht begeistert waren.«
»Dieser Zufall hat sich im Zusammenhang mit den Ereignissen im Bären ergeben?«
Einen Minute prüfte Rogge ihre Miene aufmerksam. Sie konnte giftig, gallig und gehässig sein, aber gerade weil sie das so offen zu erkennen gab, entschloss er sich, ihrer Intelligenz und Korrektheit zu vertrauen.
»Ja«, brummte er deshalb und erhob sich vorsichtig. Trotzdem knarrte das Bodenbrett erschreckend laut. »Vielen Dank, Frau Matussek.«
»Ich würde mich freuen, wenn Sie wieder einmal hereinschauten. Ihre Furcht ist übrigens unbegründet. Mein Chef wiegt an die drei Zentner und das Haus steht immer noch.«
Vor der Zimmertür hielt Rogge unwillkürlich einen Moment inne, diese Wände und Decken bildeten doch kein Rechteck mehr, sondern schon eine Raute, und die Journalistin nutzte ihre Chance: »Sie haben doch nicht wegen Ollis Schiebereien im Bären gewohnt?«
Schmunzelnd drehte er sich um; zuckersüß himmelte sie ihn an und ließ den Bleistift über dem Stenoblock wippen. »Nein. Das war sozusagen ein Abfall-Ergebnis. Ich sollte die Identität der Frau feststellen, die im vorigen September auf dem Parkplatz Feltenwiese gestrandet ist.«
»Und? Hatten Sie Erfolg?«
»Natürlich.« Angesichts Rogges prahlerischem Ton schnaufte sie. »Sie heißt Charlotte.«
»Charlotte und wie weiter?« Ilse Matussek stenographierte ausgesprochen schnell.
»Das erzähle ich Ihnen bei meinem nächsten Besuch.« Vor ihrem Protest hob Rogge lachend beide Hände. »Die Geschichte geht nämlich noch weiter ... Nein, alles andere später.«
Wibbeke verbarg seinen Unmut nicht. Die Szenen, die sich bei dem verunglückten Bus abgespielt hatten, waren ihm an die Nieren gegangen und Rogges Eigenmächtigkeit strapazierte seine Geduld bis zum Äußersten. Nach einem flüchtigen Blick hatte er Rogge die Artikel unwirsch zurückgegeben.
»Alles bekannt.«
»Gertrud behauptet, Olli habe nie erfahren, wer Martins Vater war.«
»Gut möglich.«
»Es war Adalbert Fuhrmann.«
»Was? Der Arzt? Das ist doch Blödsinn!«
»Nein. Angi war seine Patientin, als es passierte, sie hat es Gertrud gestanden, und Gertrud hat keinen Grund, mich zu belügen.«
»Fuhrmann? Mit einer Patientin? War Angi überhaupt volljährig, als sie geschwängert wurde?« Wibbeke hatte Mühe, seine Gedanken von dem Busunglück loszureißen und sich auf Rogge zu konzentrieren.
»Warum nicht? Als Arzt war er besonders leicht verwundbar. Oder erpressbar. Was, Herr Wibbeke, wenn seine Frau eines Tages doch dahinter gekommen ist und Martin, den Sohn, den sie nie hatte, nie bekommen konnte, überfahren hat?«
»Sehr weit hergeholt, Herr Rogge.«
»Dann quartiere ich mich aus einem ganz anderen Grund im Bären ein. Erzähle Gertrud absichtlich, wer ich bin. Die berichtet es Monika Ziegler, die Arzthelferin erzählt es wiederum ihrem Chef und der plaudert es ganz harmlos vor seiner Ehefrau aus.«
»Und die wird nervös, meinen Sie.« Wibbeke verpackte seinen Hohn nur schlecht.
»Möglich, nicht wahr? Warum ist denn sonst auf mich geschossen worden?«
»Moment mal, Sie trauen der Fuhrmann - das halte ich für ausgeschlossen.«
»Wirklich? Ich bin ihr einmal begegnet, und wenn die Frau nicht bis zur Halskrause mit Hass oder Angst abgefüllt ist, gebe ich meine Hundemarke zurück.«
»Aber deswegen schießt man doch nicht ...«
»Wenn sie mich nun gar nicht treffen wollte? Sondern nur verscheuchen?« Wibbeke grunzte Protest, aber Rogge ließ sich nicht beirren. »Benno leugnet stur, auf mich geschossen zu haben.«
Eine ganze Weile grummelte Wibbeke etwas Unverständliches vor sich hin. »Na gut, und wenn sie den Stockerboten liest ... Soll ich Ihnen etwas gestehen?«
»Sie haben bis jetzt heimlich Olli verdächtigt, das Kind seiner Frau umgebracht zu haben.«
»Stimmt. Und mal ganz undienstlich, Herr Rogge: Ich hätt’s ihm seinerzeit gerne angehängt.«
»Daran zweifele ich keine Sekunde.«
»Sie haben übrigens Glück gehabt, dass Sie die Matussek angetroffen haben, sie ist die einzig Vernünftige in dem Idiotenzirkus da drüben.«
Kriminalrat Simon war nicht zu sprechen. Angeblich eine Konferenz, die gerade begönne, nein, täte ihm Leid, erst in der nächsten Woche wieder. Verstimmt legte Rogge auf und trat ans Fenster. Keine Silbe hatte er Simon eben geglaubt. Seinen Bericht würde er noch schreiben, aber dann durfte ihm der Kriminalrat im Mondschein begegnen, dann war Schluss, noch länger ließ er sich nicht wie eine Figur auf einem Schachbrett hin und her schieben. Obwohl ... Er griente schräg. Diese Kombination aus Urlaub und Ermittlung hatte ihm gut getan, das konnte er nicht leugnen, er hatte Abstand gewonnen und schon viele Tage nicht mehr an den verrückten Jungen gedacht, der mit der Pistole in der Hand auf ihn losgestürmt war. Man konnte über Simon meckern und schimpfen, aber er nahm Rücksicht auf die Eigenarten seiner Leute.
Kili hatte Witze reißen wollen: »Hast du etwa versucht, damit deinen Kaffee zu filtern?«, dann aber alle Eide geschworen, den Inhalt der Diskette erstens sauber auszudrucken und zweitens vor jedermann zu verschweigen und geheim zu halten, was immer passiere.
»Auch vor jederfrau!«
»Denkst du dabei zufällig an Jasmin?«
»Genau das tue ich.«
Bis zur Abendbesprechung hatte Rogge seinen dritten Bericht getippt, korrigiert und gedruckt. Kollege Klaus Schubert hatte sich zum Dienst zurückgemeldet, zusammen mit Peter Dingeldey biss er sich die Zähne an einem mehr als verqueren Fall aus: Ein allseits verhasster Hausmeister war schwer verletzt im Waschmaschinenkeller gefunden worden, aber kein Mieter wollte etwas gehört oder gemerkt haben, obwohl jedem die Schadenfreude aus allen Knopflöchern leuchtete.
Binnen Stunden trabte Rogge wieder voll im Kommissariats-Trott, und weil Kili wohl gewarnt hatte, erkundigte sich niemand, was der Chef in den vergangenen Tagen gemacht hatte. Zum Ausgleich deponierten sie mit faulen Ausreden ihre Akten auf seinem Tisch; die Wochenendarbeit ärgerte ihn, andererseits freute ihn, dass sie ihm vertrauten und selbstverständlich vom Chef Hilfe erwarteten.
Auch Grem schaute »rein zufällig« vorbei; Rogge seufzte, diese Begegnung hätte er gerne vermieden, aber weil der Flurfunk wahrscheinlich mit höchster Leistung sendete, wollte Rogge Grem nicht mit Ausflüchten abspeisen. Dass er Inge Webers Namen herausgefunden hatte, beeindruckte Grem und vergrätzte ihn zugleich; sein verkniffenes Gesicht hellte sich auf, als er hörte, dass Inge Weber/Charlotte Zinneck abgetaucht war: »Also hat sie doch simuliert.«
»Gut möglich«, räumte Rogge ein.
»Ich hab’s Simon immer wieder vorgetragen, aber der wusste es natürlich besser.«
Einen Moment überlegte Rogge, aber Grem strahlte vor guter Laune und Schadenfreude, und deshalb riskierte Rogge es: »Sag mal, Grem, ist dir oder deinen Leuten eigentlich aufgefallen, dass sich noch jemand für Inge Weber interessierte?«
»Na klar doch! Nach dieser blöden Fernsehsendung! Plötzlich kurvten da ganz merkwürdige Typen herum und stolperten meinen Leuten über die Füße.«
»Journalisten?«
»Die auch. Ganz schräge Vögel. So hat der Knatsch mit Simon doch begonnen, ich bin den Leutchen kräftig auf die Zehen getreten und einer hat sich wohl bei Simon - oder noch weiter oben — beschwert.«
»Davon steht aber nichts in deinen Akten.«
»Nee, warum auch? Ich musste bei Simon antanzen und der hat mir eine dicke Zigarre verpasst. Behinderung der Presse, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte und so weiter, und zum Schluss Anweisung, mich von der Weberin zurückzuziehen.«
»Nach PDV wohl ganz korrekt«, sinnierte Rogge laut.
»Scheiß auf die Polizeidienstvorschrift! Die Frau hat uns alle an der Nase herumgeführt ...«
»Was nicht unbedingt strafbar ist.«
»Irreführung der Behörden, Erschleichung von Sozialhilfe, Führen eines falschen Namens.«
»Moment, Grem. Nur wenn die Weberin von Anfang an simuliert hat, hättest du Recht.«
»Hör auf! Das kenne ich bis zum Erbrechen von Simon.
Mehrere Gutachten von renommierten Sachverständigen, ohne Zweifel totale Amnesie, kein Staatsanwalt wollte ran, kein begründeter Verdacht auf eine Straftat, also Finger weg von der Weberin.«
»Ja«, murmelte Rogge zerstreut, »diese anderen Typen — das waren nicht nur Journalisten?«
»Wahrscheinlich nicht. Privatdetektive, Sensationsjäger, vielleicht auch schlicht Perverse, was weiß ich.«
»Hm. Und jetzt mal vertraulich unter uns Simon-Opfern: Hast du dich an seine Anweisung gehalten?«
»Bin ich verrückt? Natürlich nicht!«
Darauf nickte Rogge nur unverbindlich, aber Grem war noch nicht fertig: »Bis Simon mir den Fall offiziell weggenommen hat. Das verüble ich ihm, das werde ich ihm auch so schnell nicht vergessen.«
An der Tür drehte sich Grem noch einmal um, seine gute Laune sank schon wieder: »Ich hab auch so eine Idee, wer mich angeschwärzt hat, weil ich die Weberin weiter überwachen ließ.«
»Ach ja?«
»Das war dieser Weißbart.«
»Wer ist Weißbart ... Du meinst den Gerichtsreporter vom Tageblatt? «
»Genau der. Weißt du, mit wem der befreundet ist?«
»Du meinst Rolf Kramer.«
»Genau. Und dieser windige Privatdetektiv ist ein Spezi von dir, nicht wahr?«
»Willst du jetzt Sippen- und Freundschaftshaftung einführen?«
»Es ist immer gut zu wissen, wer mit wem zusammen kungelt.« Die Tür knallte ins Schloss, Grems Blutdruck hatte wieder die übliche Höhe erreicht.
Während der Abendbesprechung saß Rogge geistesabwesend auf der Fensterbank und hörte nur mit einem Ohr zu. Trotz seiner starken Sprüche war Grem ein guter Polizist, doch für Diplomatie und bürokratische Winkelzüge besaß er kein Gespür. Nicht einmal hatte er über den merkwürdigen Widerspruch nachgedacht, dass Simon ihm den Fall weggenommen und einem anderen Beamten übertragen hatte. Denn dann hätte Grem auch zu dem Schluss kommen müssen, dass Simon nicht die Tatsache der Ermittlung, sondern nur Grems Methode, die massive Überwachung der Weberin, kritisiert hatte.
»Chef, kennst du den Witz von der Frau, die ihren Mann fragt, warum er denn so lange habe arbeiten müssen, und der sagt, nix Überstunden, sondern eine besondere Gemeinheit der Kollegen, die ihn bei Dienstschluss nicht geweckt hätten.« Kili reckte das Kinn in die Flöhe und schielte dabei auf Petra Steiniger.
»Den kenne ich, Kili«, erwiderte Rogge friedfertig.
Kirchbauer schnaufte: »So, wer übernimmt freiwillig Wochenendbereitschaft?«
Alle Köpfe drehten sich zu Rogge, der von der Fensterbank herunterrutschte und freundlich abwinkte: »Ich muss noch etwas erledigen.«
Die Staatsanwältin studierte zuerst die Speisekarte, fingerte dann am Gürtel ihres Kleides herum und musterte Rogge endlich finster: »Weißt du, was du bist?«
»Nix, liebe Dörte, das Wort Sadist weise ich weit von mir. Du hast Kleid und Gürtel ausgesucht.«
»Bist du eigentlich immer im Dienst?«
»Du meinst, weil ich meinen scharfen Blick nicht an der Garderobe abgebe?«
»Himmel hilf!«, stöhnte sie laut auf; am Nebentisch drehte sich ein Paar beunruhigt um. »Was zum Teufel willst du eigentlich von mir?«
»Was soll ein Mann von einer schönen Frau schon wollen?«
»Im Moment stelle ich die Fragen, Angeklagter.«
»Aber ich sitze auf dem Zeugenstuhl, Frau Staatsanwältin.«
»Nicht mehr lange.«
»Richtig. Ich sitze nicht mehr lange still. Wenn du dich nicht entscheiden kannst, laufe ich zum Bahnhof. Da gibt’s fantastische Reibekuchen, so richtig schön kross in Fett gebraten ...«
»Kein Wort weiter!«
Nach dem Vorgeplänkel bestellte sie und Rogge amüsierte sich über ihre Zungenspitze, die voller Vorfreude über ihre Lippen huschte. Dörte liebte gute Restaurants und aufmerksame Bedienung, viele kleine Gänge und französische Rotweine, und die innere Wärme stimmte sie heiter, so vergnügt, dass sie beim Kaffee und Cognac seine Attentatspläne auf die geheiligten Prinzipien der Staatsanwaltschaft gelassen, sogar mit einer Spur Wohlwollen ertrug,
»Ich versuche, Jens, aber große Hoffnungen kann ich dir nicht machen.«
»Simon verschweigt mir einiges ... Ja, kein Einwand, du hast mich vor ihm gewarnt, aber wenn er angewiesen worden ist, Grem von dem Fall zurückzuziehen, muss es einer deiner Kollegen angeordnet haben.«
»Nein, muss nicht. Es kann auch über euren Präsidenten gelaufen sein.«
»Ja, möglich. Aber nicht sehr wahrscheinlich. Denn das würde heißen, dass sich irgendjemand - eine Behörde, ein Amt - außerhalb unseres Gerichtsbezirks für den Fall Inge Weber interessiert.«
»Kommt dir das ganz ausgeschlossen vor?«
Dass Dörte mit ihren blind gefeuerten Schüssen so oft ins Schwarze treffen musste! Die Logik sagte ihm, dass es unwahrscheinlich war, aber sein Gefühl piesackte ihn, eben das zu vermuten. Wer sollte denn diese Typen geschickt haben, die ihn verfolgt hatten, die er beinahe vor Schönborns Villa gestellt hatte - aber eben nur beinahe? Wer hatte ihn in der Weber-Wohnung so fachmännisch außer Gefecht gesetzt?
Sein unglückliches Gesicht verriet ihn, Dörte lachte auf und streichelte seine Hand: »Jens, ich hör mich im Amt um, das ist versprochen, aber zu mehr kannst du mich nicht überreden.«