Читать книгу Extra Krimi Paket Sommer 2021 - A. F. Morland, Pete Hackett - Страница 15

VIII.

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»Darf ich vorstellen? - Dieter und Dorothee Wenzel. Gunter von Neumühl.« - »Sehr erfreut.« - »Angenehm.« - »Dieter und Doro haben unser Haus neu eingerichtet.« - »Mein Kompliment.«

Christa Steinberg, die Dame des Hauses, strahlte vor Begeisterung. Schon jetzt stand fest, dass die Party ein großer Erfolg werden würde, an die hundert Gäste, die sich glänzend amüsierten, waren der Einladung gefolgt. Sogar die Presse war gekommen, zwei Stadtverordnete gaben sich die Ehre, der Oberbürgermeister hatte einen riesigen Blumenstrauß geschickt und sich wegen dringender Amtsgeschäfte entschuldigt, Oberstleutnant von Neumühl strich zwar noch wie ein gereizter Tiger durch die Räume, aber seine Stimmung würde sich bessern, sobald Marga eingetroffen war.

Wenzel trennte sich von seiner Frau und steuerte eine Gruppe älterer Damen an, die offenkundig eifrig über die Veränderungen in der Villa Steinberg ratschten. Der Auftrag hatte ihn viel Schweiß gekostet, Christa Steinberg liebte es protzig, sodass er viel Zeit und Diplomatie hatte aufwenden müssen, um sie zu seinen Vorstellungen zu bekehren. In ein hypermodernes Haus mit viel Glas und Holz passten nun mal keine grüngoldenen Tapeten mit Zierkordeln, auf die sie sich so gefreut hatte. Kein falsches Biedermeier. Während er die Hausfrau bearbeitete, hatte Dorothee den Hausherrn bei guter Laune gehalten, was, wie sie klagte, ihrer Leber schwer geschadet hatte; denn Emil Steinberg beherzigte den dummen Spruch, den er einmal von einem Balten gehört hatte: »Von den leichten Tischweinen ist mir der Cognac noch der liebste.«

Weinert hatte den Wenzels eine klare Weisung erteilt: »Ihr lasst euch nicht auf politische Diskussionen ein. Wenn’s losgeht, sondert ihr ein paar markige Sprüche ab, die Gewerkschaften sind der Untergang Deutschlands, warum sollen Menschen, die sich nicht einmal selbst ernähren können, auch noch wählen dürfen, aber danach haltet ihr die Klappe, verstanden?«

Dieter und Dorothee hatten eifrig genickt. Für ihr Einrichtungsstudio D & D fanden sie Auftraggeber eher bei Arbeitgebern denn Arbeitnehmern. Den Teufel würden sie tun, sich den mühsam errungenen Zutritt zu potenziellen Kundenkreisen durch dezidierte politische Äußerungen zu verschütten.

»Steinberg ist ein Reaktionär, aber viel zu gewitzt, um aktiv zu werden. Den dürft ihr vergessen, okay?«

»Kapiert.«

Ob die Wenzels wirklich kapiert hatten, warum er sie einsetzte? Mit großen Bauchschmerzen übrigens, er traute beiden nicht. Dieter war ein Schönling, charmant und gewissenlos, gerissen, aber nicht intelligent, vor hundert Jahren hätte er als Gigolo wohl ein bequemes Leben geführt. Aus Doro wurde Weinert nicht recht schlau, sie hatte ein hübsches Gesicht mit verhangenen Augen und eine biegsame Figur, die sie gern in engen Kleidern vorführte; das Repertoire unverbindlicher Smalltalk-Sprüche beherrschte sie mit einer Geläufigkeit, die Weinert an eine Prostituierte für gehobene Ansprüche erinnerte. Vorjahren hatten sie sich dem Verfassungsschutz angedient und seitdem magere, aber korrekte Informationen geliefert, doch Weinert hätte nie und nimmer bei einer so großen Sache auf die Wenzels zurückgegriffen, wenn ihm ein anderes Paar zur Verfügung gestanden hätte. Sein Misstrauen ging so weit, dass er sie sogar über die Zielperson täuschte: »Achtet auf den Oberstleutnant von Neumühl. Aber Vorsicht, der Knabe wittert Neugierige zehn Meilen gegen den Wind.«

Doro Wenzel plauderte mit einem Weißhaarigen, der Millimeter um Millimeter näher rückte, was sie nicht zu bemerken schien, und verzückt auf ihr enges Oberteil mit dem weiten Ausschnitt schielte. Dieser Oberstleutnant könnte sie auch außerdienstlich interessieren, aber leider war vor zehn Minuten eine junge Frau hereingetrampelt, auf die er mit der Heftigkeit einer Kavallerie-Attacke losgegangen war. Rein äußerlich passten sie gut zusammen, beide groß und mager, und wenn er wirklich so gerne ritt, wie ihr Christa Steinberg anvertraut hatte, musste ihn das Pferdegesicht der strubbeligen Brünetten entzücken. Heimlich seufzte Doro und glitt ihrerseits näher an den alten Lüstling heran. Das war ein erprobter Trick; denn jetzt musste er sich entscheiden, wie weit er die Annäherung treiben wollte, und sie hatte richtig kalkuliert, er wurde nervös, stammelte etwas von alten Freunden und entfernte sich hastig.

Dieter Wenzel erreichte endlich unauffällig die Gruppe um den Hausherrn. Steinbergs Nase glänzte schon rötlich, er hatte sie mit einer halben Flasche Cognac begossen und den Zustand erreicht, alle Welt zu lieben, ausgenommen jene Mitmenschen, die ihm seinen geschäftlichen Erfolg nicht gönnten. Wenn er glücklich schwieg, war Steinberg zu ertragen.

»Nein, davon habe ich auch einmal geträumt, Herr Nehrling. Aber wie sieht es denn in Wirklichkeit aus? Sie fangen klein in einem Ortsverein an, müssen Kassierer und Schriftführer spielen, die Parteisporen verdienen, bis Sie sich zur Wahl des Ortsvereinsvorsitzenden stellen dürfen. Dann ackern Sie wieder mehrere Jahre, bis Sie den Kreis Vorsitz erreicht haben. Wohlgemerkt, mit viel Glück, denn nebenbei verdienen Sie als anständiger Mensch Ihre Brötchen, während die Pfiffigeren, die schon in der Schule mit ihrer Parteikarriere begonnen haben, die Funktionärsposten besetzen und über viel Zeit verfügen, sich bei den Parteifreunden lieb Kind zu machen.«

»Gut, das alles bestreite ich nicht, aber Sie geben doch zu, dass wir Unternehmer uns engagieren müssen. Sonst sitzen in den Parlamenten nur noch Berufspolitiker, die keine Ahnung

von der Wirtschaft haben und unsere Sorgen und Nöte gar nicht kennen.«

»Engagieren? - Ja, natürlich. Aber müssen es die Parteien sein?«

»An denen führt nun mal kein Weg vorbei, Herr Schönborn«, warf ein kleiner Brillenträger ein.

»Das eben bezweifele ich mittlerweile. Es gibt Verbände, Vereine, Presse und Organisationen. Man muss nicht unbedingt die Parteileiter erklimmen, um oben erschöpft festzustellen, dass der Misthaufen noch höher ist.«

Das beifällige Gelächter ließ Wenzel aufhorchen. Auch Nehrling stimmte ein.

»Wissen Sie, was ich manchmal denke?« Schönborn schaute in die erheiterte Runde. »Diese Flut von Gesetzen und Vorschriften, Regelungen und Ausnahmebestimmungen, alle am grünen Tisch entworfen, signalisieren Angst. Angst unserer Staatsdiener vor der Freiheit, vor individueller Tüchtigkeit. Diesen Sesselhockern fehlt es an Initiative, Selbstbewusstsein, Vertrauen in das, was sie ständig predigen, deshalb wollen sie möglichst alles kontrollieren. Ängstliche Demokraten - ist das nicht ein Widerspruch in sich?«

Wenzel lächelte zustimmend. Auf sein Gedächtnis war Verlass, er konnte ganze Unterhaltungen wörtlich wiederholen, und was dieser Schönborn da äußerte, würde Weinert interessieren.

»Manchmal erlaube ich mir den ketzerischen Gedanken, dass wir bald die Demokratie vor denen schützen müssen, die sich zu ihren Gralshütern aufgeschwungen haben.«

»Oho!« - »Hört, hört!« - »Sie lassen aber auch nichts aus!« Lautes Lachen, aber auch leiser Protest, Schönborn blinzelte siegesgewiss in die Runde. Seine unbändige Lust am Provozieren war allgemein bekannt, aber Schönborn registrierte auch zwei, drei forschende Blicke. Steinberg winkte aufgekratzt einer der hübschen jungen Damen, die sich mit vollen Tabletts durch die Reihen seiner Gäste schoben.

»Und das, meine Herren, nicht nur in Deutschland, sondern im ganzen demokratischen Europa! Nicht der Euro wird regieren, sondern Paraneuroa.« Schönborns harter Ton wurde durch sein charmantes Grinsen abgemildert.

Dieses zweibeinige Pferd!, dachte Doro erbost. Nicht die geringste Hoffnung, den Oberstleutnant in ein Gespräch zu verwickeln; er marschierte draußen im Garten auf und ab, diese Marga an seiner Seite und das Ganze im militärischen Gleichschritt. Es fehlte nur noch, dass sie die Hacken zusammenschlugen, wenn sie kehrtmachten!

»Sie passen gut zusammen, nicht wahr?«

Doro fuhr herum, sie hatte die Frau nicht kommen hören, die sich neben sie gestellt hatte und stillvergnügt das Paar betrachtete. »Er reitet und sie züchtet Pferde.«

»Wirklich?« Wenn Doro schon mit ihm nicht reden konnte, sollte sie wenigstens Informationen sammeln.

»O ja. Mit viel Erfolg übrigens.«

»Es sieht aber nicht so aus, als unterhielten sie sich ausschließlich über Pferde.«

»Gut möglich. Georg - der Oberstleutnant weiß sehr genau, dass es auch hübsche zweibeinige Geschöpfe gibt.«

»Die sich freilich nicht züchten lassen.«

»Nein. Wenigstens nicht gegen ihren Willen. Ich heiße übrigens Inge Weber.«

»Angenehm, Dorothee Wenzel.«

»Dorothee Wenzel... Ach, Sie sind D & D?«

»Ein Teil davon.«

»Mein Kompliment. Die Steinbergs können stolz auf ihr Haus sein.«

»Vielen Dank.« Eine Frau, die nicht viel aus sich machte, urteilte Dorothee geringschätzig. Aber ganz nett. Und eine gute Tarnung dafür, dass sie weiterhin in den Garten schauen und das Paar beobachten konnte, das äußerst lebhaft diskutierte.

Weinert las den Bericht zwei Tage später und hatte die Blätter schon vor Wut zusammengeknüllt, als er sich besann, sie glättete und in die Akte heftete. Was Dieter Wenzel über Achim Schönborn rapportierte, war längst bekannt, und diese dumme Gans von Doro hatte überhaupt nicht geschnallt, mit wem sie da ins Gespräch gekommen war. Stattdessen kaum kaschierte Anspielungen auf Georg von Neumühl und Marga; er musste den offensiven Offizier einmal anrufen und ihn warnen, dass man ihm eine Beziehung zu Margarete von Wengern andichtete. Einem Kollegen vom MAD half er gerne und ganz und gar nicht uneigennützig.

Also ein Schuss in den Ofen! Und den musste er zum Teil auf sein eigenes Konto verbuchen, weil er Informationen zurückgehalten hatte.

Samstag, 16. September

Die schwarze Schönheit brachte Rogge den Kaffee und sah ihn zum ersten Mal offen an. »Guten Morgen, Herr Rogge.«

»Guten Morgen, Frau Lohse.«

Seine private Neugier hielt sich in Grenzen, aber Rogge hätte doch gern einmal Mäuschen gespielt, um zu hören, wie die Eheleute miteinander umgingen. Die Moralvorstellungen auf einem Dorf mochten noch fester, rigider sein als in der Stadt, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau ihres Kalibers sich mit einem widerlichen Grobian wie Olli verheiraten ließ, nur weil sie ein Kind erwartete. Vor hundert Jahren - vielleicht, doch nicht heute. Ob Gertrud ihm dieses Rätsel erklären konnte?

Der Motor hustete und protestierte, nach so langer Ruhezeit wollte er erst nicht anspringen, Rogge trat der Schweiß auf die Stirn. Er fuhr nicht über die Feltenwiese, sondern benutzte brav die reguläre Autobahnauffahrt Dreschbach/Bellhorner Berge.

Die Freifrau bestaunte ihn wie den Mann vom Mond: »Dich gibt’s noch?«

»In voller Größe und Schönheit. Ich wollte nur meinen Glückwunsch abladen.«

»Für das Urteil gegen Gillbrecht? Dann komm mal rein.«

Im Wohnzimmer umkreiste sie ihn und lobte: »Das trifft sich gut. Du hast zu- und ich hab abgenommen.«

»Was?«

»He? Bist du blind für die schlanke Schönheit, die vor dir steht?«

»Ich will nicht bestreiten, nicht einmal anzweifeln, dass du abgenommen hast, aber ich soll zugenommen haben?«

»Und ob. Es steht dir gut!«

»Dir auch. Aber ansonsten spinnst du wie immer.«

»Nix. Dieser Rock hat zwölf traurige Monate im Kleiderschrank verbracht, weil ich den Nähten und dem Reißverschluss nicht mehr trauen konnte, und nun sieh selbst!«

»Er sitzt so, dass man ihn gerne beseitigen möchte«, antwortete er listig, aber sie schwenkte den ausgestreckten Zeigefinger vor seiner Nase hin und her: »Erstens kommst du zu spät, ich habe eine Verabredung, und zweitens mag ich keine anzüglichen Komplimente.«

Rogge durfte den Verweis nicht schweigend wegstecken: »Alle Menschen werden prüder.«

»Dichtete Schiller und übersah auf der Korrekturfahne den Druckfehler.«

Dass Rogge es vier Tage im Stockauer Bären ausgehalten hatte, beeindruckte Dörte, aber bei der Begründung für seinen Recherchenurlaub schüttelte sie zweifelnd den Kopf: »Das ist verdammt weit hergeholt, lieber Jens.«

»Kein Widerspruch. Aber alles andere hat Grem wirklich gründlich untersucht. Bis eben auf diesen Punkt: Kann es Zeugen auf dem Parkplatz gegeben haben?«

»Und du hoffst...«

»Hoffen ist der richtige Ausdruck.« Jetzt schwenkte Rogge seinen Zeigefinger vor ihrer Nase: »Alles verrate ich nicht, Frau Staatsanwältin.«

»Aber hoffentlich, wie lange du da noch rumhängen willst.«

»Erst mal die nächste Woche noch. Wenn das Wetter so schön bleibt.«

Die Unterredung mit Simon verlief nicht so erfolgreich, wie Rogge sich das vorgestellt hatte. Der Kriminalrat musterte ihn kühl und hörte wortlos zu; dass Rogge sich einfach so für eine Woche verabschiedet hatte, wurmte ihn.

»Sie haben mir den Fall aufgedrängt.«

Nach einer Weile zuckte Simon mit den Schultern.

»Ich decke auch nicht immer alle Karten gleich auf, aber mich stört, dass Sie nicht einmal zugeben wollen, dass Sie noch Karten in der Hinterhand haben.«

»Das vermuten Sie nur«, berichtigte Simon höflich.

Darauf antwortete Rogge nicht und für drei lange Minuten trat ein unbehagliches Schweigen ein. Beide beherrschten sie die Kunst, den Mund zu halten und sich nicht nervös machen zu lassen. Im Präsidium war Simon immer äußerst korrekt gekleidet, Anzug, einfarbiges Hemd und dezente Krawatte; mit Sakko und Hose fiel er schon auf. Nun hatte Rogge an der Tür geblinzelt: Den Kriminalrat in Kordhosen und Sweatshirt hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt. Auch nicht, dass sein Chef einem Hobby frönte. Aber Simon hatte ihn ohne jede Erklärung in den Keller des Reihenhauses geführt, wo eine riesige Modelleisenbahn aufgebaut war, an der er gerade bastelte. Die Platte für den großen Rangierbahnhof füllte fast einen ganzen Raum und aus diesem Raum liefen Schienen in die Nachbarkeller, auf schmalen Brettern montiert, die mit Winkeleisen an den Wänden befestigt waren. Das Ganze wurde digital gesteuert, Simon hatte an einer Platine gearbeitet und mit einem leisen Seufzer den Lötkolben ausgeschaltet, auf den er immer wieder sehnsüchtig schielte, während Rogge seine Geschichte vortrug und seinen Wunsch äußerte: »Das ist nicht mehr unser Bezirk und Sie müssten klären, wer den Einsatz übernimmt.«

Die Eisenbahn imponierte Rogge. In der Anlage mussten einige zehntausend Mark stecken.

»Also gut«, urteilte Simon schließlich knapp. »Wenn Sie meinen, es sei einen Versuch wert ...«

»Ich möchte noch die nächste Woche im Bären bleiben. Auf der Feltenwiese werde ich mich nicht mehr blicken lassen, die Amateurprostituierten interessieren nicht.«

»Aber ihre Freier ...«

»Nur so weit, wie man sie befragen könnte.«

»Schön. Sie vermuten Hehlerei?«

»Wenn dieser Junge von dem Ökohof nicht übertrieben hat ja. Aber auch das raubt mir nicht den Schlaf.«

»Mit anderen Worten - Sie glauben, dass diese Inge Weber nicht zufällig auf diesem Parkplatz gestrandet ist?«

»Glauben wäre zu viel gesagt. Aber ich akzeptiere Grems These von der zufälligen Strandung nicht mehr ohne Vorbehalt.«

»Eine solche Formulierung würde Ihre Staatsanwältin begeistern«, kommentierte Simon trocken. »Aber nach meiner Aktenkenntnis scheint Inge Weber nicht in das Schema einer Gelegenheitsnutte zu passen.«

»Nein, das unterstelle ich auch nicht. Aber was, wenn sie Zeugin einer Straftat geworden ist?«

»Sicher, möglich ist fast alles. Aber die Amnesie ist damit noch immer nicht erklärt.«

»Ich bin noch keine Woche dran, Herr Simon.«

Der Einwand vergrätzte den Kriminalrat, weil er nicht widersprechen konnte. »Na schön, ich will sehen, was ich tun kann.«

»Gut, danke, bis zum nächsten Wochenende.«

Oben begegnete Rogge Frau Simon, die ihm erfreut die Hand entgegenstreckte: »Ein seltener Gast. Wie geht es Ihnen?«

»Danke, gut, Frau Simon.« Unwillkürlich lächelte er, sie war eine fröhliche Frau mit viel Humor, die wahrscheinlich verhindert hatte, dass aus ihrem ernsten Ehemann ein mürrischer Muffel wurde.

Die Villa in Steinfurth hatte Rogge schon bei seinem ersten Besuch voller Neid betrachtet. Der Bauherr hatte es großzügig geliebt, aber offenbar mit Hilfe eines guten Architekten vermieden, dass der Bau großkotzig ausfiel. Inzwischen verbarg sich das Haus hinter dichten Sträuchern und hohen Bäumen; unten auf der Straße, am Tor, das mit einer Fernsehkamera gesichert war, erkannte man nur die Auffahrt und die Doppelgarage. Um den riesigen Garten zogen sich hohe Mauern und Zäune, und Rogge hatte Grems zynischer Interpretation zugestimmt: Ein Mann wie Schönborn musste sich vor seinen zahlreichen Feinden schützen, die er aufs Kreuz gelegt hatte. Oder betrogen, wie immer wieder gemunkelt wurde, aber gerichtsfeste Beweise dafür waren nie gefunden worden. Für Schönborns Ehrlichkeit und Integrität wollte sich keiner verbürgen, aber die hässlichen Gerüchte hatten sich nie bis zu einem konkreten Verdacht, geschweige denn zu einem Ermittlungsverfahren verdichtet.

Rogge klingelte und schaute zur Kamera hoch. Nach dreißig Sekunden fragte eine Männerstimme: »Ja, bitte?«

»Guten Tag, mein Name ist Rogge, Kriminalpolizei, Ich möchte gerne mit Frau Weber sprechen.«

Nach einer halben Minute knackte der Lautsprecher wieder: »Kommen Sie.«

Zwei Riegel schnurrten mechanisch zur Seite und Rogge stieß das Tor auf. Das hellgrau gestrichene Haus mit den weiß lackierten tiefen Fenstern lag höher als die Straße und er erinnerte sich von seinen früheren Besuchen, dass der Garten auf der Rückseite des Hauses den ganzen Südhang der kleinen Erhebung einnahm. Achim Schönborn stand in der Tür und lächelte spöttisch: »Wir haben Sie schon früher erwartet.«

»Guten Tag«, erwiderte Rogge nur.

Schönborn war Mitte vierzig, ein mittelgroßer, kräftiger, sportlicher Typ mit einem kantig hässlichen Gesicht, das viel Härte, aber auch Charme zeigen konnte. Wenn Schönborn wollte, brachte er seine männlichen Gesprächspartner mit arroganter Überheblichkeit in null Komma nichts auf die Palme und wickelte Frauen regelrecht um den Finger, Rogge war sich nie klar geworden, was an Schönborn echt und was Schauspielerei war. Als Gegner durfte man Schönborn nicht unterschätzen, er wusste sich zu wehren und warnte selbst, dass er nachtragend sei. Wer sich von ihm einschüchtern ließ, hatte schon verloren.

»Inge muss jeden Moment kommen.«

»Ich würde auch gern mit Ihnen sprechen.«

»Das überrascht mich nicht.«

Das Wohnzimmer war ein Traum aus Weiß und Goldgelb. Vier Fenstertüren gingen auf die Veranda, und als Rogge beim ersten Mal sein Erstaunen über die Größe des Raumes und die spärliche Möblierung nicht verbergen konnte, hatte Schönborn seltsam scheu erklärt: »Miriam bekam keine Luft.« Damals hatte Rogge ihn sofort verstanden. Diesen Drang, sich zu bewegen und doch in einem geschützten Areal zu bleiben, keinem anderen Menschen zu begegnen, verspürte er selbst oft genug. Schönborns kurzer Satz hatte Rogges Antipathie nicht gemindert, aber den Verdacht gegen den Ehemann abgeschwächt.

Jetzt lag ein großer Teppich auf dem Parkett und Rogge murmelte: »Viel verändert hat sich nicht.«

»Nein«, stimmte Schönborn zu und deutete auf einen Tisch. »Trinken Sie einen Kaffee mit mir?«

»’Gerne.«

»Was wollten Sie mich fragen?«

»Sie sind ein reicher Mann.«

»Behauptet das Finanzamt.«

»Würden Sie mir verraten, was Sie unternommen haben, um Inge Webers Identität festzustellen?«

Schönborn sah ihn ausdruckslos an: »Habe ich etwas unternommen?«

»So wie ich Sie einschätze - ja.«

»Was hätte ich unternehmen können oder sollen?«

»Zum Beispiel eine große Belohnung für sachdienliche Hinweise aussetzen. Oder eine ganze Kompanie von Privatdetektiven engagieren.«

»An beides habe ich gedacht«, bejahte Schönborn und hockte sich auf eine Sessellehne. »Aber ich habe es nicht getan.«

»Und warum nicht, Herr Schönborn?«

»Sie kennen doch Rolf Kramer, den Privatdetektiv?«

»Ja.«

»Kramer hat einige Aufträge für mich erledigt und natürlich wollte ich ihn auf Inges Identität ansetzen. Er hat sich ihre Geschichte angehört, etwas herumgehorcht und dann den Auftrag abgelehnt. Mit der Begründung, dass ich nur viel Geld für eine aussichtslose Sache ausgeben würde.«

»Für einen Einzelkämpfer wie Kramer ist es in der Tat aussichtslos.«

»Natürlich habe ich nichts hinter Inges Rücken eingefädelt. Sie war bereit, mit Kramer zu reden, hat es auch getan, aber sie wollte nicht, dass eine Hundertschaft von mehr oder weniger seriösen Detektiven hinter ihr herschnüffelt.«

»Ja. Und die Belohnung?«

»Die hat Ihr Kollege Grembowski verhindert.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Als ich Grem wegen einer Belohnung ansprach, sprang er unter die Decke. Das verbitte er sich, er habe keine Lust, hinter den Märchen der Spinner und Geldgierigen und berufsmäßigen Halbidioten herzurecherchieren.«

»Die Gefahr besteht wirklich.«

»Das bezweifele ich auch nicht. Trotzdem hätte ich die Belohnung ausgesetzt, aber Inge hat mich gebremst.« Schönborns Blick wurde hart. »Die Menschen sind verschieden, Herr Rogge, mich schüchtert ein Grembowski nicht ein, aber Inge hatte zum Schluss richtig Angst vor ihm.«

Was Rogge sich nur zu gut vorstellen konnte. Angst war sicherlich nicht der richtige Ausdruck, sie hatte auf ihn nicht den Eindruck gemacht, als fürchte sie andere Menschen, erst recht nicht mit dem Geld und dem Einfluss eines Achim Schönborn im Rücken. Aber Grem hatte nie lernen wollen, dass er mit seiner Art die Menschen verschreckte, zumindest dazu veranlasste, nicht freiwillig mit ihm zusammenzuarbeiten.

»Kollege Grembowski hat den Fall abgegeben.«

»Ich weiß.« Schönborn schnitt eine Grimasse, »Inge hat’s mir erzählt und daraufhin habe ich ihr gebeichtet, dass und wie wir uns kennen gelernt haben.«

»Das wäre meine nächste Frage gewesen.«

Schönborn runzelte die Stirn, zuckte aber schließlich die Achseln: »Ich habe nie bestritten, däss ich das Morphium illegal beschafft habe. Es ist nämlich nicht schön, einer Frau, die man liebt, nach so kurzer Ehe nur noch ein halbwegs friedliches Sterben ermöglichen zu können.« Weil er danach die Lippen zusammenpresste, schwieg Rogge. Wenn Inge Weber erfahren hatte, unter welchen Umständen Miriam Schönborn gestorben war, und trotzdem bei ihm blieb, hatte Rogge diese Entscheidung nicht zu kritisieren. Und für Schönborns Geschäfte trug Inge Weber keine Verantwortung.

»Da kommt sie«, murmelte Schönborn und stand auf. Rogge hatte das Geräusch des Schlüssels schon gehört.

»Oh - Hallo, Herr Rogge.«

»Guten Tag, Frau Weber.« Er war ebenfalls aufgestanden und sie gab ihm die Hand, etwas neugierig und eine Spur besorgt, dann küsste sie Schönborn flüchtig, der sich wieder auf der Sessellehne niederließ.

»Gibt’s was Neues?«

»Nein. Leider nicht.«

»Sie sind doch nicht extra vorbeigekommen, um mir das zu sagen.«

»Das nicht. Ich würde gern ein kleines Experiment mit Ihnen anstellen.« Über ihre süßsaure Miene musste er lachen. »Nichts Schlimmes. Ich nenne Ihnen jetzt ein paar Namen und Sie sagen mir, ob einer der Namen irgendeine Erinnerung auslöst.«

»Also haben Sie doch etwas herausgefunden.«

»Nein. Ich stöbere noch herum.«

»Versuchen können wir’s, nicht wahr, Achim?«

Energisch drehte sie sich zu ihm um und Schönborn blinzelte wie ein ertappter Sünder. Dass sie ihn auf diese Weise nach seiner Meinung fragte, gefiel ihm nur mäßig, aber vor einer Antwort konnte er sich nicht drücken: »Klar, warum nicht.«

»Also dann, Herr Rogge.«

»Angelika Vogt. Monika Ziegler. Andrea Wirksen. Gertrud Leiwen. Johann Thelen. Benno Brockes. Anton Lohse. Olli.« Bei jedem Namen hatte sie nur den Kopf geschüttelt, doch bei dem Namen Olli kicherte sie: »Olli kenne ich.«

»Und wer ist das?«

»Seinen richtigen Namen weiß ich nicht. Olli kommt jeden Tag vorbei und holt sich altes Brot und altes Gebäck. Ein Stadtstreicher. Olli liebt Mürbeteilchen mit Vanillecreme und Kirschen. Manchmal kann er sie sogar kaufen, aber meistens bittet er sehr höflich darum, dass man ihm eins schenkt.«

Auch Schönborn schmunzelte, aber weniger über Olli als über ihre Lebhaftigkeit.

»Nur Vanille mit Kirschen. Andere Teilchen lehnt er sehr höflich, aber entschieden ab.«

»Wenn man das Beste nicht kriegen kann, verschmäht man oft das Gute.«

»Das muss ich Olli beim nächsten Mal verklickern. Er benimmt sich, als sei er ein gebildeter Mann, und sein Hund sitzt sehr brav draußen vor der Tür und wartet.«

»Den Olli meinte ich leider nicht. Bei den anderen Namen regt sich nichts?«

»Gar nichts.«

»Schade.« Rogge sah Inge Weber nachdenklich an. »Dann muss ich weiter herumsuchen.«

»Das heißt, mein Fall wird immer noch nicht abgeschlossen?«

»Nein.« Weil ein Schatten über ihr Gesicht flog, hielt Rogge inne. »Ist etwas, Frau Weber?«

»Warum lassen Sie mich eigentlich überwachen?«

»Wie bitte?«, gab Rogge erstaunt zurück. »Überwachen?«

»Sie haben doch Männer abgestellt, die mich bewachen oder beschatten sollen - oder wie immer man das nennt.«

»Nein. Wie kommen Sie denn darauf?«

»Weil mir heute wieder so einer nachgefahren ist.«

»Das verstehe ich nicht.«

Sie starrte ihn an und ballte zornig die Fäuste. »Ich komme direkt vom Geschäft. Mit dem Fahrrad. Und die ganze Zeit ist ein Mann hinter mir hergeradelt. Bis hier vors Haus.«

»Das muss ein Zufall sein.«

»Von wegen Zufall! Erst einmal habe ich den Mann schon früher bemerkt, wie er hinter mir herschlich. Dann ist uns heute außerdem wieder ein Auto gefolgt, das parkt unten neben der Einfahrt. Nix Zufall, Herr Rogge.«

Besorgt trat er einen Schritt vor: »Frau Weber, ich habe keine Überwachung angeordnet.«

»Wer denn dann?«

Unwillkürlich blickte er zu Schönborn, der sofort schaltete: »Ich auch nicht, Herr Rogge. Kein Leibwächter, kein Privatdetektiv. Inge hat mich schon danach gefragt.«

Wollte Inge Weber ihn auf den Arm nehmen? - Nein, so viel Verstellung traute er ihr nicht zu und warum sollte Schönborn jetzt lügen? Da stimmte doch was nicht.

»Ich werde mir das Auto und diesen Fahrradfahrer einmal ansehen.«

»Tun Sie das! Und schicken Sie beide zum Teufel!« Sie fauchte vor Erregung, sehr zu Schönborns Unbehagen.

»Wenn ich die Auffahrt runtergehe, sehen mich die beiden. Gibt es eine andere Möglichkeit, das Grundstück zu verlassen?«

»Das Törchen neben dem Gerätehaus«, schlug Inge Weber vor und Schönborn rieb sich das Kinn: »Ja, wenn wir bei Dembuschs - Moment, ich muss mal telefonieren.«

Schönborn ging rasch aus dem Zimmer und Inge Weber betrachtete Rogge, als wolle sie ihm noch nicht trauen. Sie besaß Temperament, auch ein gerüttelt Maß an Aggressivität, und wenn sie zornig geworden war, dachte sie nicht daran, aus lauter Höflichkeit mit ihrer Meinung hinter dem Berg zu halten. Rogges prüfendem Blick hielt sie ohne Verlegenheit stand. Jeans, Sweatshirt, Sandalen mit hohem Absatz: eine ganz normale junge, selbstbewusste Frau, der nicht anzusehen war, dass ihr die Vergangenheit fehlte.

»Was schauen Sie mich so an? Gefalle ich Ihnen nicht?«

»Doch, Sie gefallen mir schon«, besänftigte Rogge. »Aber Sie bereiten mir auch Kummer.«

»Ich hab Sie nicht gebeten, mir zu helfen.«

»Nein, das hat mein Vorgesetzter angeordnet und der will Ihnen nicht helfen, sondern endlich eine Akte schließen.«

»Also bin ich nur ein Aktenzeichen für Sie?«

»Für mich nicht, für den Apparat, in dem ich arbeite - ja.«

»Sehr tröstlich«, knurrte Inge, aber ihr Zorn verrauchte.

Schönborn kam zurück. »Ich hab mit unseren Nachbarn telefoniert. Wir könnten über deren Grundstück auf die Straße gelangen. Ein Haus weiter.«

»Okay, dann machen wir das mal.«

Zu dritt verließen sie das Haus über die Veranda und marschierten quer durch den Garten, der immer noch gepflegt aussah, aber in den Jahren seit Miriams Tod düsterer, dichter geworden war; Rogge erhaschte einen verhangenen Blick, Schönborn hing ähnlichen Gedanken nach. Direkt am Zaun, von der Villa aus nicht zu sehen, stand ein Häuschen für die

Gartengeräte und am Tor zum Nachbargrundstück wartete bereits eine rothaarige Frau, die ihre Neugier nur schwer zügeln konnte.

»Christine Dembusch, unsere Nachbarin«, stellte Schönborn vor und sie schüttelte Rogge begeistert die Hand, Ein richtiger Kommissar, wie aus dem Fernsehen.

»Ich gehe mit. - Nein, du schließt hinter uns ab und gehst ins Haus zurück! Und da bleibst du auch!« Mit diesem Schönborn hatte Rogge früher zu tun gehabt, höflich, fast besorgt im Ton, aber eisenhart, und Inge Weber fügte sich.

»Tschüss, Herr Rogge.«

»Tschüss, und ein schönes Wochenende.«

Das Dembusch-Haus lag wie Schönborns Villa auf der Kuppe der kleinen Höhe und die Auffahrt mündete etwa achtzig Meter entfernt. Auf der Straßenseite wuchsen alte Bäume, die Sichtschutz boten. Wenn der Radfahrer nicht längst das Weite gesucht hatte ...

Schweigend stürmten sie durch das Haus, Als Rogge sich bei Christine Dembusch bedankte, hüstelte sie: »Keine Ursache, für Inge tun wir doch alles ...«

Während die Männer zur Einfahrt hinunterliefen - das ferngesteuerte Tor glitt schon zur Seite -, warnte Rogge: »Das ist meine Aufgabe, Herr Schönborn.«

»Nein, Nur zu Hälfte. Niemand belästigt meine Partnerin.«

Langsam bogen sie von der Einfahrt in die Straße ein und bummelten wie zwei alte Bekannte auf den Eingang von Schönborns Villa zu. Vor der Einfahrt parkte tatsächlich ein Wagen, in dem ein Mann hinter dem Steuer saß, doch ein Fahrradfahrer war breit und breit nicht zu erkennen.

»Was will der Kerl da?«, knurrte Schönborn,

»Vielleicht holt er nur jemanden ab«, versetzte Rogge trocken.

Ein dunkelroter Opel, Kennzeichen GG-KL 2521. Ob der Fahrer gewohnheitsmäßig alle zwanzig Sekunden in den Rückspiegel schaute?

»Und was machen wir jetzt?«, drängte Schönborn.

»Gar nichts, wir spazieren gemeinsam an dem Wagen vorbei und kehren nach hundert Metern um. Dann verabschieden Sie sich.«

»Zu gerne würde ich ...«

»Nein! Es ist nicht verboten, in seinem Auto zu sitzen und zu warten. Oder ist hier Halteverbot ausgeschildert?«, setzte Rogge nach einer Pause hinzu.

»Nein«, brummte Schönborn.

Wenn kein harmloser Fahrer, dann ein Anfänger, der die Zwanzig-Sekunden-Regel nicht beachtete. Rogge hatte die Figur hinter dem Steuer scharf im Auge behalten und registrierte, dass der Unbekannte zusammenfuhr, als er sie endlich bemerkte.

»Nicht hinschauen!«, befahl Rogge Schönborn. Wie zwei gute Nachbarn schlenderten sie an dem dunkelroten Wagen vorbei, der sichtlich einige Jahre auf dem Buckel hatte.

Noch immer kein Fahrradfahrer zu sehen.

»So, jetzt kehren wir um.«

Damit hatte der Fahrer nicht gerechnet, viel zu spät und viel zu hastig bückte er sich und tauchte mit einem Buch oder einer Karte in der Hand wieder auf. Schönborn fluchte, er hatte das Manöver richtig beurteilt.

»Keine Dummheiten, Sie schließen Ihr Tor auf.«

Äußerst widerstrebend gehorchte Schönborn, verabschiedete sich und wandte sich dann der Schließanlage zu.

Als er den Motor des Tores summen hörte, ging Rogge auf die Fahrertür des Wagens zu. Der Mann ließ die Karte sinken und beäugte ihn misstrauisch. Ende zwanzig, dunkle, scharfe Augen, lange dunkle Haare. Er war auf der Hut.

Rogge blieb neben der Tür stehen und widerwillig kurbelte der Fahrer die Scheibe herunter: »Ja?«

»Guten Tag, mein Name ist Rogge, Kriminalpolizei. Würden Sie sich bitte ausweisen?«

»Was?« Dem Jüngling fiel der Unterkiefer herunter.

»Ja. Würden Sie bitte aussteigen und mir Ihren Ausweis oder Führerschein zeigen?«

»Wie komme ich denn ...« Er verstummte, als ihm Rogge seinen Dienstausweis unter die Nase hielt, doch danach reagierte er nicht richtig. Ein normaler Mensch hätte protestiert oder verwirrt gehorcht, aber in seinen Augen zuckte es, während er mit der rechten Hand zu hastig nach unten langte, Rogge ahnte eine Zehntelsekunde vorher, was der junge Mann plante, und duckte sich, sah die Pistole noch schemenhaft, während er sich über die Schulter nach hinten abrollte, um außer Reichweite zu gelangen; der Schmerz zuckte durch seinen Körper, als er mit der linken Schulter gegen die scharfe Kante des hinteren Radausschnitts stieß. Eine Sekunde flimmerte es vor seinen Augen, doch zu seinem Glück dachte der Bewaffnete mehr an Flucht als an Heldentaten, Rogge konnte sich gerade noch zur Seite wälzen, als der Motor ansprang, und den Rest der Szene verfolgte er wie ein gelähmter Zuschauer.

Wie vom Himmel gefallen hetzte ein zweiter Mann auf den startbereiten Opel zu; aus Schönborns Ausfahrt preschte ein Schatten hervor, erreichte den Laufenden, aber der hatte im letzten Moment die Gefahr gewittert und sich einen festen Stand verschafft; Schönborn stürzte sich auf den Mann und konnte dem Tritt nicht mehr ausweichen, der ihn zu Boden schleuderte; sein Gegner verschwendete keinen weiteren Blick an ihn, die Beifahrertür wurde von innen geöffnet und der Mann warf sich in den schon losfahrenden Wagen, der mit aufheulendem Motor davonschoss.

Ausgerechnet die linke Schulter. Während Rogge sich aufrappelte, musste er die Zähne zusammenbeißen. Auch Schönborn hatte Mühe, auf die Beine zu kommen, sie hinkten wie zwei schlachtennarbige Krieger aufeinander zu.

»Was war das?«, presste Schönborn heraus.

»Keine Ahnung«, krächzte Rogge. »Jedenfalls haben sie uns prima abgeschüttelt.«

»Wenn ich den Kerl erwische ...!«

»Haben Sie gesehen, woher der zweite kam?«

»Nein. Leider nicht.«

Bewegung half gegen Schmerzen, sie suchten zehn Minuten lang die Straße und alle Einfahrten ab, fanden aber kein Fahrrad. Ob so ein Klapprad in den Kofferraum passte? Oder war der Radfahrer längst abgezogen und der dritte Mann hatte einen anderen Beobachtungsposten bezogen?

»Was machen wir jetzt?«, stöhnte Schönborn. Er hatte Schmerzen und umklammerte mit beiden Händen seinen Oberschenkel.

»Nichts. Sie gehen ins Haus und erzählen Frau Weber am besten gar nichts. Ich lasse nach den Kerlen fahnden.«

»Nichts erzählen? Aber die sind doch hinter Inge ...«

»Keine unnütze Panik! Vielleicht beschatten die Ihre Freundin, okay, aber denkbar ist auch, dass sie hier etwas ausbaldowert haben ... Doch, Herr Schönborn, hier wohnen keine ganz armen Leute. Warnen Sie Ihre Nachbarn, sie sollen ein Auge auf Unbekannte haben, die sich hier herumdrücken, das hilft Ihnen und Ihrer Partnerin.«

Einen weniger angeschlagenen Schönborn hätte er nicht wegschicken können, das war Rogge klar, aber zu seiner Erleichterung gehorchte Schönborn und humpelte in die Einfahrt.

Das Handy lag in Stockau, sein privater Wagen hatte kein Funksprechgerät, also fuhr Rogge ins Präsidium. Allmählich breitete sich die Wut auf Simon in seinem Körper aus und vertrieb den Schmerz; die Reaktion des Fahrers hatte Rogge viel mehr erschrocken, als er Schönborn eingestanden hatte. An Einbrecher glaubte er nicht, die stellten sich selten so dämlich an, das war ihm nur auf die Schnelle eingefallen, um Schönborn abzulenken. Jetzt musste Simon endlich mit der Sprache herausrücken!

Der Hauptmeister an der Pforte grinste: »Sind Sie unters Auto geraten, Herr Rogge?«

»Wie kommen Sie ... Oh, verdammt.« Das war Rogge noch nicht auf gefallen, Hose und Jacke voller Flecken und beide Teile zerrissen, großartig, das hatte ihm noch gefehlt.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Danke, nein, ich hatte nur einen kleinen Zusammenstoß.« Er zwinkerte dem Hauptmeister zu und grollte heimlich, diese Geschichte würde natürlich die Runde machen. KHK Rogge prügelte sich! Am dienstfreien Wochenende! Auf der Treppe tröstete er sich mit dem schönen Spruch: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt man völlig ungeniert.

Simon war nicht zu Hause, wie seine Frau bedauerte: »Kann ich etwas ausrichten?«

»Nein, vielen Dank, ich lege ihm einen Bericht auf den Schreibtisch.«

»Fein, ein schönes Wochenende noch, Herr Rogge.«

Das erhoffte er sich kaum, nachdem er den Computer angeworfen und sich in das Kfz-Kennzeichen-Register eingeloggt hatte: GG-KL 2521. Nicht vergeben.

Großartig. Mühsam tippte sich Rogge durch die Menüs, verirrte sich ein paar Mal und landete mehr zufällig im Bestand Groß-Gerau: KL 2521 war vor acht Monaten abgemeldet worden. Der Opel trug also keine Dublette, sondern eine Nummer, die im Moment amtlich nicht zugeteilt war.

Zufall? An dem hinteren Kennzeichen war ihm nichts aufgefallen, TÜV-Plakette und Siegel, scheinbar alles ganz normal.

Rogge stellte sich ans Fenster und starrte auf die Kastanie. Am Montag war ihm ein Wagen gefolgt, nachdem er Inge Weber zu ihrer Gymnastik begleitet und anschließend sein Auto geholt hatte, das nahe der Bäckerei stand. Auch nur ein Zufall? Und wenn es keine Zufälle waren - was wusste Simon? Welche Einzelheiten verheimlichte der Rat?

Nein, nicht mit ihm! Er würde keinen Bericht für Simon schreiben! Vertrauen war immer noch eine Zweibahnstraße.

Entschlossen schaltete Rogge seinen Computer aus und lauschte danach auf die ungewöhnliche Stille im Haus. Seit seiner Krankenhauszeit überkam ihn manchmal das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Dagegen half nur, etwas zu unternehmen, bevor ihn der Trübsinn überwältigte.

Er legte Hertha Wassmuth einen Zettel auf den Tisch: Bleibe noch eine Woche weg!, und fuhr nach Hause, um sich umzuziehen.

Auf dem Weg zur Autobahn bog Rogge ab und hielt vor dem Friedhof. Er ging nicht oft zum Grab, weil er sich jedes Mal mit einem Vorwurf herumplagte. Ihre Ehe war zum Schluss ohne Höhen und Tiefen verlaufen, gleichförmig, für seine Frau vielleicht sogar langweilig, und er grübelte, ob er ihr nicht früher hätte gestehen sollen, was ihm erst nach ihrem Tod aufgefallen war: dass er sie brauchte. Leicht hatte sie es nie gehabt, je älter er wurde, desto weniger konnte er abends seine Fälle an der Garderobe aufhängen wie seinen Mantel. Seine Frau hatte lange mit sich gerungen, bis sie seine wachsende Verschlossenheit nicht mehr auf sich bezog, die Ursache nicht in ihrer Person, in ihrem Zusammenleben suchte. Ob sich deshalb die Kinder so selten bei ihm meldeten?

»Auf dem Friedhof raucht man nicht!«, quäkte eine alte gebückte Frau neben ihm, ihre Knopf äugen glitzerten vor Abscheu und Kogge fröstelte. »Sie haben ganz Recht, es stört die Toten mehr als die Lebenden.«

Im Bären war weniger Betrieb, als Rogge vermutet hatte; Olli zapfte in seiner gewohnten Stellung und warf ihm nur einen gelangweilten Blick zu. Von den jungen Leuten ließ sich keiner sehen und Gertrud wusste auch, warum: »Die sind alle zur Disko nach Herlingen.«

»Und Sie?«

Halb enttäuscht, halb wütend winkte sie mit dem Kopf Richtung Tresen: »Olli behauptet, er findet für Samstagabend keine Aushilfe.«

»Das tut mir Leid für Sie.«

»Lässt sich halt nicht ändern!«, schickte sie sich tapfer drein. In einer Disko würde sie mit ihrer Ausdauer und nicht zu bremsenden Energie Furore machen.

Keine Minute später durfte sie unter Beweis stellen, was sie leisten konnte. Eine Wandergruppe, an die vierzig Männlein und Weiblein, fiel ausgehungert und halb verdurstet in den Bären ein; Olli kratzte sich den Kopf und verzichtete auf seine Handstütze; nach einer Viertelstunde tauchte seine Frau auf und half Gertrud beim Aufträgen.

Die gute Laune der Fußfreudigen hob sich mit dem Bierverbrauch, der Lärm belästigte Rogge und deshalb verdrückte er sich.

Sonntag, 17. September

Die Wirtin sah müde aus und Rogge erkundigte sich, wie lange es denn gestern noch gegangen sei.

»Um Mitternacht kam endlich der Bus, da haben wir sie vor die Tür gesetzt. Einige haben aber hier übernachtet«, gestand sie.

»Au weia. Eine Frage hätte ich: Wie kommt man zum Scherkenhof?«

»Ganz einfach. Sie gehen die Brückenstraße hinunter und dann auf dem Weg immer geradeaus. Zu Fuß ist es allerdings eine gute Stunde.«

»Also ein schöner Spaziergang.«

Sie lächelte ihm zu, bevor sie ging. Ihre Vorliebe für hautenge Hosen und Oberteile irritierte Rogge. Wenn ihre melancholische Blässe nicht gewesen wäre, hätte man leicht auf falsche Gedanken kommen können.

Die Brückenstraße endete ziemlich abrupt vor einem Haufen Sand und Kies, seitlich führte tatsächlich ein Weg quer durch das Tal auf die Höhe zu. Der Himmel hatte sich bewölkt, Rogge schritt kräftig aus, weil die vereinzelten Windstöße kalt durch seinen dünnen Anorak bliesen. Auf beiden Hängen des schmalen Tals wuchsen Obstbäume mit niedrigen, breiten Kronen. Er marschierte an einer Herde Rinder mit schwarzem, fast samtigem Fell vorbei, die einschläfernd regelmäßig wiederkäuten und ihn mit friedlicher Neugier beäugten. Beete mit Gemüse, ein Kartoffelacker. Maisfelder, zum Teil schon abgeerntet. Dann zwei riesige Grasflächen, mit einem dünnen Maschendraht abgedeckt, auf denen sich Hunderte von braunen Hühnern tummelten. An einer Stelle war der winzige Bach zu einem flachen Becken aufgestaut, zwei gepflasterte Wege führten ins Wasser hinunter und zum ersten Mal in seinem Leben konnte Rogge Schweine bewundern, die freiwillig badeten. Es sah zu komisch aus.

Neben ihm hielt eine Radfahrerin an und grüßte freundlich: »Guten Tag.«

»Guten Tag.« Rogge deutete vergnügt auf die Schweine: »Man soll es nicht glauben.«

»Oh, da irren Sie, Schweine sind ausgesprochen reinliche Tiere, Sie müssen ihnen nur genügend Auslauf geben.«

»Gehören Sie auch zum Scherkenhof?«

»Ja. Wollen Sie auch dort hin?«

»Einer der Mitbewohner war so leichtsinnig, mich einzuladen. Johann Thelen.«

Sie grinste anerkennend: »Jo rührt überall die Werbetrommel. Ich heiße übrigens Marlies Ackeren.«

»Freut mich. Jens Rogge.«

Den Rest der Strecke schob sie ihr Rad. Er schätzte die Frau auf Ende zwanzig, sie hatte ein offenes, energisches Gesicht und schien gern zu lachen. Ohne Nachfrage erfuhr er, dass sie seit zwei Jahren auf dem Hof lebte, zuständig für die Buchführung und als Aushilfe im Laden tätig war, der heute freilich geschlossen hatte. Über ökologischen Landbau sprach sie sehr gelassen, es war eine Chance, solange man direkt vermarkten konnte und Kunden fand, die bereit waren, etwas mehr für die Produkte zu zahlen. Mit den Erträgen haperte es noch, wie sie freimütig erläuterte, und bis für jede Fläche die optimale Fruchtfolge gefunden war, würden noch ein paar Jahre mühevoller Experimente vergehen. Zudem hatte Bauer Scherken den lehmigen Boden mit seinen schweren Traktoren stark verdichtet, sie mühten sich noch ab, die Böden aufzulockern und eine stabile Bodenfauna aufzubauen.

»Wie ist der Bauer eigentlich auf die Idee gekommen umzustellen?«, forschte Rogge neugierig und Marlies Ackeren schnalzte deftig mit der Zunge: »Er hat einen Brunnen, einen Hausbrunnen. Der wird vom Gesundheitsamt des Kreises regelmäßig geprüft und beim letzten Mal hatten sie ihm verboten, sein eigenes Wasser zu trinken. Wegen zu hoher Nitratbelastung. Das hat ihm einen Stoß versetzt.«

»Verständlich«, murmelte er.

Schon in Sichtweise des Hofes lehnte Marlies Ackeren ihr Rad an einen Baum und führte ihn in die Felder. »Ich enthülle Ihnen jetzt unser größtes Geheimnis«, wisperte sie listig. »Das hier.«

Verständnislos schaute er sich um. Eine Art Hecke, ziemlich wild und verfilzt. Am Fuße der Sträucher und Büsche waren Steine auf gehäuft, wie ein kleiner Wall, dicht bewachsen mit allem möglichen Unkraut.

»Das hier?«

»Ja, genau.« Rogges hilfloses Gesicht bereitete ihr diebische Freude. »Unser Heimangebot für Insekten, Vögel und Nager. Garantiert nicht gespritzt, also giftfrei.«

»Und wozu das?«

»Damit sich hier wieder Tiere ansiedeln, die Bauer Scherken vorher systematisch ausgerottet hat. Tiere, die Schädlinge fressen, Schlupfwespen zum Beispiel.« Die junge Frau lief weiter und Rogge kam kaum mit. Nach dreihundert Metern blieb sie vor einer Gruppe von Bäumen stehen. »Sehen Sie? Wir lassen das morsche Holz einfach liegen und diesen abgestorbenen Baum fällen wir nicht. Ahnen Sie, warum?«

»Damit sich bestimmte Vögel Bruthöhlen hacken können.«

»Genau. Und dann für andere räumen. Was meinen Sie, wie Schleiereulen unter den Mäusen wüten. Noch Kraft in den Beinen?«

»Aber immer.«

Es machte ihr sichtlich Spaß, einen Zuhörer zu haben. Sie stapften quer über eine Wiese, die aussah, als habe hier eine Panzerkompanie exerziert, und sie bestätigte: »Unsere Schweine. Im nächsten Monat säen wir eine Mischung aus Gras, Klee, Luzerne und Wildgerste aus.«

Dann mussten sie stehen bleiben, weil der Boden vor ihnen feucht und sumpfig wurde. Der kleine Bach hatte Tümpel und Pfützen gebildet, an deren Ränder Weiden und Erlen sprossen, und aus den Steinen und Brettern, mit denen der Bach früher eingefasst war, »reguliert«, wie sie klagte, war eine Art Staumauer gebaut worden.

»Setzen Sie Fische aus?«

»Nein. Zumindest nicht in den ersten Jahren.« Sie runzelte missbilligend die Stirn. »Sie sind ein echter Städter.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wollen überall eingreifen, nachhelfen, etwas beschleunigen. Zur Ökologie gehört auch Geduld, die Natur weiß schon, was sie will.«

»Wenn man sich Geduld leisten kann«, grunzte Rogge.

»Da liegt der Hund begraben.« Marlies Ackeren seufzte tief. »Über Jahre weniger Erträge und mehr Handarbeit, wer kann das bezahlen bei diesem verrückten EU-Landwirtschaftssystem? Und dabei haben wir noch Glück, der andere Bauer im Tal hat aufgegeben und wir haben dessen Flächen dazupachten können. Wenn Sie zu aller Arbeit auch noch unter Nachbarn leiden, die dauernd meckern ...«

»Wie hat es Sie denn auf den Hof verschlagen?«

»Ich habe Gartenbau gelernt und nie genug gespart, um einen eigenen Betrieb aufzuziehen.«

»Und wie steht’s mit dem Hofbrunnen? Dürfen Sie ihn jetzt benutzen?«

»Nein, der Nitratgehalt sinkt zwar, ist aber immer noch zu hoch. Außerdem haben wir Athrazin entdeckt.«

Auf dem Hof hatte man sie schon bemerkt, Johann Thelen schielte Rogge beunruhigt an, offenbar kannte er das Temperament seiner Marlies, aber Rogge beruhigte ihn: »Ich habe eine Menge gelernt.«

»Das war der Zweck der Übung.« Sie praktizierte einen beachtlichen Händedruck und ließ nicht sofort wieder los: »Wir laden Sie zum Essen ein, allerdings müssen Sie dann in der Küche aushelfen.«

»Helfen will ich gerne, aber das Mittagessen habe ich mir abgewöhnt.«

Ihr prüfender Blick auf seine Taille war Gold wert. »Schlank ist gesund, aber Sie sind zu mager.«

»Das wirft mir mein Arzt auch vor.«

»Es gibt doch noch vernünftige Mediziner.« Lachend verzog sie sich.

Auf dem Hof herrschte Feiertagsruhe und Thelen führte Rogge in den Blumengarten: »Marlies will unbedingt Unterglaskulturen aufbauen.« Sein Ton verriet einerseits Skepsis, andererseits Resignation; Rogge begriff, dass man bei einem Disput gegen Marlies nur schwer gewinnen konnte. Blumen entdeckte er nur wenige, das meiste Grünzeug waren Küchenkräuter, die sie in wachsender Menge absetzten. »Aber die blühen auch schön!«, verteidigte Thelen halbherzig Marlies praktischen Sinn.

Die Sitzecke wurde durch eine halbrunde Wand aus unbehauenen Stämmchen gegen den Wind geschützt, hier ließ es sich aushalten. Weil Rogge Thelens Unruhe spürte, begann er vorsichtig: »Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Ja? Wobei denn?«

»Erzählen Sie mir etwas über Benno Brockes und Andrea Wirksen.«

Bis Thelen sich warmgeredet hatte, verstrich eine ganze Weile und Rogge ließ ihm Zeit, musterte das Bauernhaus, an dem renoviert und umgebaut wurde, die Ställe und die Silos, drängte nicht und schien manchmal vor sich hin zu träumen.

Also Benno. Ursprünglich sollte Benno den Familienhof übernehmen, aber dann verunglückte er mit dem Trecker und das Bein heilte nicht mehr richtig zusammen. Seitdem fuhr er einen Milchtransporter für die Molkerei. Trotz seiner Behinderung ein Schläger, gefürchtet wegen seiner Kräfte und seiner Brutalität. Rücksichtslos und verlogen. Wenn man ihm fünf Mark lieh, kam er nach einem Monat und drohte, gib mir sofort den Zehner zurück, den ich dir geborgt habe. Im Streit hatte er seinen Vater halb tot geprügelt und war vom Hof geflogen, seitdem hauste er in einer alten Schäferhütte. Allein, obwohl er immer wieder Mädchen aufgabelte, die es aber nicht lange mit ihm aushielten. Wer Benno kannte, schlug einen großen Bogen um ihn.

»Bis auf diese Andrea«, warf Rogge ein.

»Die ist doch kein Stück besser! Die Betten, durch die sie sich noch nicht gedrückt hat, kann man an einer Hand abzählen. Geil und geldgierig. Wer mit einem Hunderter wedelt, kann alles von ihr haben.«

Rogge zweifelte nicht an den Worten, wunderte sich aber über den gehässigen Tonfall. Ob Thelen auch seine Erfahrungen mit Andrea gemacht hatte?

Benno und Andrea schliefen manchmal miteinander, daraus machten beide kein Geheimnis, aber nach Thelens Eindruck legte sie mehr Wert auf Benno als er auf sie. Sie rannte hinter ihm her, er wehrte sie ab, ein komisches Paar, wirklich.

»Wie der Wirt und die Wirtin im Bären«, stimmte Rogge scheinbar gelangweilt zu und Thelen ging in die Falle.

Olli und die schöne Angi, ja, das war was. Wie die wohl zusammengefunden hatten?! Und warum Angi nicht fortlief?! Thelen lachte unsicher, weil er merkte, dass er etwas zu viel von seinen Gedanken verraten hatte. Der Bauer, der ihnen den Scherkenhof überlassen hatte, hatte Angi schon als Mädchen gekannt und schwärmte noch heute von ihr. An jedem Finger zappelten zehn Verehrer, was Angi genau wusste und genoss.

»Und was hat Sie auf den Scherkenhof verschlagen?« Rogge musste das Thema wechseln, bevor Thelen misstrauisch wurde.

»Mein Meister hatte sich zur Ruhe gesetzt ... und bei anderen hat’s mir nicht gefallen«, schloss Thelen lahm.

Das war eine klassische halbe Wahrheit, dachte Rogge. Nicht gelogen und das Wichtigste verschwiegen. »Na, dann werde ich mich mal wieder auf die Beine machen.«

Thelen schien erleichtert.

Auf dem Rückweg traf Rogge Monika Ziegler, die ihn verlegen begrüßte, »Ich glaube, er wartet schon sehnsüchtig auf Sie«, sagte Rogge ernsthaft und sie lachte. »Bis bald mal!«

Warum hatte sie die Vergewaltigung nicht angezeigt? Fürchtete sie das Getuschel? Oder den Prozess? Oder hatte sie den Mann erkannt und wagte nicht, etwas gegen ihn zu unternehmen?

Rogge drehte sich nach ihr um und ärgerte sich über ihre krumme Haltung. Den Kopf eingezogen, die Schultern nach vorne hängend, als habe sie kein Recht, aufrecht zu gehen und aller Welt ins Gesicht zu sehen.

Darüber dachte er auch nach, als er abends, mit schmerzenden Füßen und juckenden Waden, sein Abendessen bestellte. »Wo wohnt Ihre Freundin eigentlich?«

»Monika? - Bei ihren Eltern. In der Brückenstraße.«

»Ah ja.«

Nun war Gertrud anders gestrickt als Monika Ziegler, neugierig beugte sie sich vor: »Warum fragen Sie?«

»Ach, ich war heute auf dem Scherkenhof und auf dem Rückweg ist sie mir begegnet.«

Wie ein alter Kumpel zwinkerte sie ihm zu: »So, so. Monikas Vater ist Lehrer und seine Tochter mit einem verkrachten Elektriker - o je.«

Er lachte und bei dem Geräusch richtete sich auf der Bank rechts neben dem Eingang Benno Brockes auf. Er musste schon eine Menge getankt haben, es fiel ihm nicht ganz leicht, Rogge zu fixieren. Seinen Hass verbarg er nicht.

Unangenehm berührt drehte Rogge seinen Stuhl zur Seite. Was hatte er dem ungehobelten Klotz getan? Eine halbe Stunde später stellte sich Brockes mühsam auf die Beine, winkte dem Wirt schwerfällig zu und taumelte aus dem Bären.

Gertrud brachte Rogge das zweite Bier und flüsterte empört: »Gut, dass der Kerl gegangen ist. Wissen Sie, was der sich erlaubt hat? - Hat mir Vorwürfe wegen meines Ausschnitts gemacht.«

Der wies auch bei wohlwollender Beurteilung eine gewisse Großzügigkeit auf, die sie sich leisten konnte. Sie blies viel Luft ab: »Soll er sich doch seine Andrea vornehmen.«

»Gertrud!«, mahnte Rogge, nicht wirklich schockiert.

»Ist doch wahr!«

Im ruhigen Teil der Gaststube hatten der Arzt und sein Begleiter Platz genommen, sie unterhielten sich mit langen, beiden sichtlich peinlichen Pausen. Am Tresen tranken die zwei Alten wieder ihr Bier und schienen in ihre alte Diskussion vertieft; Olli schlief gleich im Stehen ein. Rogge war zu müde aufzustehen; kurz vor der Brückenstraße hatte er sich zu einem anderen Weg entschlossen und war bis nach Karlsau gewandert. Die Karte hatte nicht gelogen, Rogge hatte nur übersehen, dass der Bus am Sonntag nicht fuhr, und hatte den ganzen Weg wieder zurücklaufen müssen. Jetzt protestierte selbst sein Kreuz. Am Ende des dritten Glases entschloss er sich. Noch ein Schluck Bier und er würde die wenigen Meter zum Gästehaus nicht mehr bewältigen.

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