Читать книгу Extra Krimi Paket Sommer 2021 - A. F. Morland, Pete Hackett - Страница 11
IV.
ОглавлениеIn der Nacht war es abgekühlt, die Sonne kämpfte sich durch einen dichten Wolkenschleier und wärmte noch nicht. Zu dieser frühen Morgenstunde hatten Hommel und Reineke den Golfplatz praktisch für sich allein, zweihundert Meter vor ihnen marschierte ein Unentwegter, der alle fünfzig Schritt gymnastische Übungen einlegte, Kniebeugen und Armkreisen oder Luftsprünge wie ein Hampelmann.
»Was ist los mit dir? Seit wann kriegt man dich an einem normalen Arbeitstag so früh aus den Federn?«
Hommel drehte ärgerlich den Kopf, aber Reineke ordnete ungerührt die Schläger in seinem Wägelchen, wobei er leise vor sich hin pfiff.
»Mit mir ist gar nichts los«, sagte der leitende Staatsanwalt endlich verkniffen. Ihm war kalt, er hasste das Frühaufstehen und Lust zu einer Runde verspürte er überhaupt nicht. »Ich wollte dir einen Gefallen tun.«
»Dann im Voraus besten Dank.«
»Kannst du dich noch an diesen Tepper erinnern?«
»Tepper?«, wiederholte Reineke ausdruckslos und richtete sich auf.
»Wolfgang Tepper. Vor sieben Jahren.«
»Doch, ja, schwach.« Er runzelte die Stirn.
»Du wolltest ihn unbedingt haben.«
Reineke nickte zögernd: »Das war der Mann mit der französischen Mutter und dem deutsch-englischen Vater?«
»Genau der.«
»Was ist mit ihm?« Reineke schien mehr aus Höflichkeit denn Interesse zu fragen.
Hommel verschluckte eine böse Bemerkung. Zwanzig Schritte schwieg er beleidigt, passte sich aber unwillkürlich dem Tempo an, das Reineke vorlegte.
»Teppers Frau ist abgehauen, noch bevor ich die Einstellung - angeordnet hatte. Auf deinen Wunsch hin, Fuchs«, setzte er aufgebracht hinzu.
»Ja, ich erinnere mich, er war verheiratet«, sagte Reineke ungerührt. »Mit einer sehr Hübschen.«
»Nach sieben Jahren ist sie jetzt aus Amerika zurückgekommen und sucht nun ihren Mann.«
»Wirklich? Woher weißt du das?«
»Sie hat den Kollegen aufgesucht, der damals die Ermittlungen eingeleitet hatte, und wollte von ihm eine Adresse ihres Mannes haben.«
»Weiß sie denn nicht, wo ihr Mann steckt?«
»Offenbar nicht. Angeblich hatten sie seit ihrer - Flucht nach Amerika überhaupt keinen Kontakt mehr.«
»Ungewöhnlich«, murmelte Reineke nach einer Pause und stellte sein Wägelchen ab. »Wer schlägt zuerst?«
»Was ist eigentlich aus diesem Tepper geworden?«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn weitervermittelt und aus den Augen verloren.«
Hommel betrachtete seinen Kollegen scharf, aber Reineke erwiderte seinen Blick offen.
»Ich muss mir also keine Sorgen machen?«
»Aber nein! Warum denn?«
Nach neun Löchern kehrten sie in stillschweigendem Übereinkommen um, Hommel fror immer noch, die Bewegung half einfach nicht, ihn aufzuwärmen, und Reineke musste sich zusammenreißen, um keine Ungeduld zu zeigen. Während des Studiums hatten sie sich kennen gelernt und angefreundet, zusammen in der Uni-Mannschaft Degen gefochten, in Klausuren vereint gemogelt und zwei Semester lang auch eine Bude geteilt. Der bessere Jurist war ohne Zweifel Eckehard Hommel, aber Peter Reineke besaß mehr Fantasie und Unternehmungsgeist. Für Hommel stand das Berufsziel immer fest, Staatsanwalt oder Richter; der Gedanke, als Anwalt ohne festes Einkommen zu praktizieren, hatte ihn regelrecht gelähmt. Ohne große Lust hatte Reineke noch das zweite Staatsexamen absolviert und vorübergehend mit dem Gedanken geliebäugelt, zur Polizei zu gehen, doch zu dieser Zeit las er eine Anzeige: Das Landeskriminalamt stellte Volljuristeri ein. Mehr aus Jux bewarb er sich und wurde angenommen, die Tätigkeit gefiel ihm sogar, wenigstens zu Beginn, bis seine alte Unruhe, verbunden mit seiner Unfähigkeit, irgendetwas so tierisch ernst zu nehmen, wie man das von ihm erwartete, wieder durchbrach. Zugleich stellte er fest, dass er tatsächlich in einer Behörde arbeitete, es gab Vorschriften, Dienstwege, Vorgesetzte, und das alles ertrug er immer schwerer. Seine Beliebtheit sank dramatisch, schließlich fasste er sich ein Herz und marschierte zu seinem Chef: »Ich möchte raus aus dem Amt, praktisch arbeiten, am Schreibtisch ersticke ich.«
Nach einer langen Bedenkpause nölte sein Chef: »Die Todesstrafe ist abgeschafft.«
»Wie bitte?«
»Die Verbrecher, die Sie jagen möchten, lachen sich bei Ihrem Anblick tot.«
»Heißen Dank!«
»Nicht so hitzig. Können Sie sich ernsthaft vorstellen, dass Sie acht Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, sechs Monate lang eine Hütte im Wald beobachten, in der sich möglicherweise ein Gesuchter mit einem anderen trifft?«
»Nein«, fauchte Reineke, »aber so blöd wäre ich auch nicht, für so was gibt’s technische Geräte. Und Kollegen von der Schutzpolizei.«
»Die erste Idee ist gut, die zweite schlecht.« Wenn sein Chef still in sich hineinlachte, wackelte sein beachtlicher Bauch. »Aber es gibt eine Koordinierungsstelle im Haus, die solche Kooperationen mit den anderen Ämtern, mit den Brüdern aus Wiesbaden und mit der örtlichen Polizei regelt. Regeln sollte, denn daran hapert's bis jetzt. Ich gebe Ihnen eine Chance, warum, weiß ich selbst nicht, und versetze Sie probeweise in die Abteilung XIII.«
»Dreizehn ist eine richtige Glückszahl!«
»Ach, da sind nur Verrückte beschäftigt, Herr Reineke, bei denen kann eine Dreizehn auch nicht mehr schaden.«
»Ihr Wohlwollen beschämt mich!«
»Empfinden Sie das so? - Dann hab ich was falsch gemacht. Also, wie ist’s?«
Reineke überlegte gründlich, aus seinem Chef wurde er noch nicht schlau. Der Alte soff, dass man ihn gelegentlich in seinen Dienstwagen tragen musste, und tätschelte bei jeder Gelegenheit liebevoll seinen Bauch: »Essen und trinken hält die Seele zusammen und treibt den Leib auseinander.« Sein Repertoire an ordinären Sprüchen genoss legendären Ruhm, er kümmerte sich scheinbar um nichts und erfuhr doch immer alles, was im Amt ablief. Streit schlichtete er nicht gerne, sondern ging mit einer so jähzornigen Wut gegen beide Kontrahenten vor, dass die meisten ihre Differenzen lieber gütlich beilegten. Für Politiker und Juristen hatte er nichts übrig, fleißige Mitarbeiter waren ihm unheimlich, dafür verstand er sich prächtig mit den faulen Genies.
»Ich kann’s ja mal versuchen.«
Nach zwanzig Dienstjahren arbeitete Reineke immer noch in der Abteilung XIII, mittlerweile als Abteilungsleiter. Eine Beförderung zum Vizepräsidenten hatte er ausgeschlagen, zwei Versetzungen abgewehrt. Vom ersten Tag an hatte er den Euphemismus Koordinierungsstelle durchschaut und eisern über seine neue Tätigkeit geschwiegen. Sie stimmten tatsächlich ab, mit den anderen Landeskriminalämtern, dem Bundeskriminalamt, mit Verfassungsschutz, Staatsschutz, Zoll, Militärischem Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst, das auch, aber die meisten Aktionen gingen über Abstimmung weit hinaus, darüber führten sie keine Akten. Sie betrachteten es jedes Mal als Niederlage, wenn die Abteilung XIII in der Öffentlichkeit genannt oder in den Zeitungen erwähnt wurde. Noch heute wunderte sich Reineke darüber, dass der dicke Alte ihn trotz seiner Jugend und offenkundigen Unzufriedenheit in diese Abteilung vermittelt hatte, und mehr noch, dass er genau die Aufgabe gefunden hatte, die ihm gefiel.
Tepper, Wolfgang. Was war aus dem Kerl eigentlich geworden?
Roland Pertz blieb am Telefon sehr kühl: »Tut mir Leid, keine Ahnung, wo sich der Mann aufhält.«
»Du hast ihn damals - erbeten.«
»Richtig. Auf Wunsch des Verfassungsschutzes. Was die mit Tepper angestellt haben ... Du kennst doch die Regel, je weniger man weiß, desto mehr kann man abstreiten.«
Mit einem äußerst unguten Gefühl beendete Reineke das Gespräch. Pertz verschwieg alles, manchmal sogar, dass der BND, dem er als Abteilungsleiter diente, gezielte Aktionen durchführte. Natürlich mauerte Pertz und das hieß höchstwahrscheinlich, dass etwas schief gelaufen war, Pertz aber Einzelheiten entweder nicht kannte oder nicht preisgeben wollte. Nein, entschied Reineke, gegen Überraschungen sicherte sich der vorsichtige Mensch ab. Diese Karin Tepper konnte Lärm schlagen und deshalb galt es, sie aufzustöbern und dann im Auge zu behalten.
Er drückte auf eine Taste des Telefons: »Heinrich und Opitz sollen sich so schnell wie möglich bei mir melden.«
»Geht in Ordnung.«
Montag, 11. September
Kriminalrat Karl Simon schüttelte energisch den Kopf: »Nix! Ich will den Fall endlich vom Tisch haben.«
Seine beiden Besucher schwiegen. Wenn Simon einen bestimmten Ton anschlug und die Augenbrauen zusammenzog, war mit ihm nicht mehr zu diskutieren.
Kriminalhauptkommissar Ulf Grembowski schmollte und schaute gekränkt an seinem Vorgesetzten vorbei. Ziemlich genau zwölf Monate hatte er sich die Zähne an diesem Fall ausgebissen und war, wie er eingestehen musste, nicht einen Schritt weitergekommen. An seinem Fleiß und seiner Tüchtigkeit hatte es nicht gelegen. Zwar sah Grem, wie er im Präsidium allgemein genannt wurde, eher nach einem Preisringer aus, der lieber seine Muskeln als seinen Grips einsetzte, aber selbst Simon, der ihn nicht sonderlich schätzte, musste nach der Lektüre der umfangreichen Akte einräumen, dass Grems Mannschaft alles Menschenmögliche unternommen hatte. Nur eben ohne jeden Erfolg und der hämische Kommentar in der Samstagsausgabe des Tageblatts hatte dann wohl das Fass überlaufen lassen.
»Was meinen Sie, Herr Rogge?«
Jens Rogge seufzte. Grems Verbitterung begriff er sehr gut und der Gedanke, Simons Entscheidung werde sein ohnehin gespanntes Verhältnis zum Leiter der Abteilung Vermisste noch weiter verschlechtern, behagte ihm überhaupt nicht. Wenn es nach ihm ginge, würde die Akte Inge Weber geschlossen. Einmal musste sie ja ihr Gedächtnis wiederfinden und bis dahin sollten sich alle gedulden.
»Große Hoffnungen mache ich mir nicht«, erwiderte er endlich und Simon lächelte schmal.
Wort für Wort hätte er die Überlegungen des hageren, grauhaarigen Mannes niederschreiben können, aber gerade deswegen schlug er nicht vor, sondern drohte mit einem dienstlichen Befehl. Sollte Grem sich quer legen oder Rogge Knüppel zwischen die Beine werfen, würde er mit dem Riesen Schlitten fahren. Erstens beabsichtigte er das schon lange und zweitens schadete es diesem ganzen Sauhaufen nicht, wenn wieder einmal verdeutlicht wurde, wer hier im Präsidium das Sagen hatte.
»Große Hoffnungen müssen nicht sein«, versetzte er deshalb ungerührt, »eine kleine reicht mir vorerst.«
Nach einer Weile zuckte Rogge die Achseln. Mit Simon kam er gut aus, aber deswegen kannte er den Rat auch besser als Grem, der vor unterdrückter Wut schwitzte und die Fäuste ballte, statt angestrengt zu überlegen, was sein Abteilungsleiter im Schilde führte.
»Okay, ich sehe, wir haben uns verstanden. Kollege Grem gibt also den Fall offiziell an den Kollegen Rogge ab. Ich informiere die Staatsanwaltschaft und die Pressestelle.«
»Muss das sein?«, knurrte Grem.
»Keine Nachricht an die Presse, aber die nächsten Anfragen laufen über das Erste. Alles klar?«
Wie von der Feder geschnellt sprang Grem hoch und stürzte zur Tür. Rogge wollte noch etwas sagen, aber Simon winkte ärgerlich ab. Mit einem gemurmelten »Wiedersehen« verließ Grem das Zimmer.
Auf der Treppe gingen sie nebeneinander, Grem atmete schwer.
»Ich hab mich nicht danach gedrängt, Grem«, sagte Rogge ruhig.
»Dieser Scheißkerl hat was gegen mich, das ist alles, und du machst sein Spiel mit.«
»Er kann mich anweisen, das weißt du genau.«
»Was erwartet der Blödian eigentlich?«
»Woher soll ich das wissen? Ich kenn den Fall nicht.«
»Vom Tisch haben! Wenn ich so was schon höre! Der große Herr Rat schnippt mit den Fingern, prompt schlägt sie die Augen auf und flüstert: Ich bin die gute Lotto-Fee.«
»Wenn sie die nächsten sechs Richtigen ausplaudert ...«
Grems Zimmer war ein hoher, tiefer und entsetzlich schmaler Schlauch, so, als habe der Architekt sich verrechnet und während des Baus mit einem Mal festgestellt, dass zwischen zwei Zimmerwänden noch eine Lücke geblieben war. Aus purer Not hatte er ein Fenster in die Außenwand gebrochen, das die gesamte Breite des Zimmerchens einnahm. Hinter Grems Rücken munkelten die Kollegen, die ihm nicht wohl wollten, er habe sich den Raum bewusst ausgewählt, weil er jeden Morgen beide Arme gegen die Zimmerwände stemme und versuche, sie auseinander zu schieben. Erst wenn ihm das gelungen sei, würde er umziehen, aber vorher noch mit seinem Dick- und Quadratschädel die Mauern einrennen.
»Setz dich!«, brummte Grem und warf sich in seinen Rollensessel, den er sofort nach hinten kippte.
Abgerissene Tapete und bröckelnder Putz zeugten von seiner
Lieblingsposition. Rogge musste sich regelrecht auf den Besucherstuhl schlängeln, weil der mit der Lehne ebenfalls an die Wand stieß. Trotz des geklappten Oberlichts stank es bestialisch nach dem Knaster, den Grem in einer uralten Pfeife rauchte.
»Hier sind die Akten.«
»Danke, ja.« Ein beachtlicher Stoß, Rogge schob ihn zur Seite und erkundigte sich sachlich: »Diese XY ... ungelöst-Sendung hat nichts gebracht?«
»Überhaupt nichts!«, grollte Grem, dem noch heute der Kamm schwoll, wenn ihn die Kollegen als »unseren Fernsehstar« hänselten.
»Eigentlich merkwürdig.«
»Das darfst du singen, flöten und deklamieren. Ein Juwelier hat sich gemeldet und behauptet, die Schließe der Halskette scheine ihm ein französisches Fabrikat zu sein, aber damit sind wir auch nicht weitergekommen.«
»Die Unterwäsche könnte auch aus Frankreich stammen.«
»Richtig, aber Frankreich ist groß und Simon hat nicht erlaubt, dass einer von uns eine Dienstreise nach Frankreich macht.«
»Und wie steht’s mit ihrer Amnesie?«
»Unverändert. Aber du musst dich mal mit diesen Idiotenärzten unterhalten. Die überschütten dich mit einem Schwall komplizierter Fremdwörter, eiern herum, sondern ellenlange Sermone ab, und wenn du sie zwingst, sich verständlich auszudrücken, kriechen sie ganz kleinlaut unter den Teppich: Nischt, nischt, nischt. Keine Ahnung, wann die Dame geruhen könnte, ihre Erinnerung wiederzufinden. Keine Ahnung, warum und wie sie ihr Gedächtnis verloren hat.«
Nicht ganz so grob, aber in der Sache unverändert hatte es Grem in den Montagskonferenzen vorgetragen, zu denen sich die Leiter aller Abteilungen und Dezernate am Wochenanfang zwischen acht und neun Uhr trafen. Als Simon heute Morgen zum Schluss die Kollegen Grembowski und Rogge zu sich bat, war ein Raunen durch den Versammlungssaal gegangen. Alle Anwesenden hatten am Wochenende das Tageblatt gelesen.
»Was macht sie jetzt eigentlich?«
»Steht alles in den Akten«, sagte Grem, aber weil Rogge nur den Kopf schräg legte, räusperte Grem sich ausgiebig. »Sie arbeitet in einer Bäckerei, als Aushilfsverkäuferin. Seit sechs Monaten hat sie einen Freund und der heißt - halt dich fest! - Achim Schönborn.«
»Ach nee!«, kommentierte Rogge gedehnt, was Grem zu beruhigen schien: »Ja, genau der.«
»Lebt sie bei ihm da draußen in seiner Villa?«
»Nein, sie hat immer noch ihre eigene Wohnung. Aber sie verbringt manche Nacht und fast jedes Wochenende in Steinfurth.«
»Was Ernstes zwischen den beiden, Grem?«
»Ich hab schon den Eindruck.« Plötzlich hatte er wieder zu seinem normalen Ton gefunden. »Sie machen übrigens kein Geheimnis daraus. Mit Schönborn hab ich ein paar Mal gesprochen. Er möchte natürlich auch gern erfahren, wen er sich da ins Bett geholt hat. Dafür wäre er auch bereit zu löhnen, Sachverständige und Gutachten und Psychiater und Privatdetektive und Belohnungen. Er hat’s ja!«, fügte er bitter hinzu.
»Und sie? Wie benimmt sie sich?«
Bevor Grem antwortete, griff er in eine Schublade und holte den gefürchteten Stinkkocher hervor; Rogge hielt sich die Nase zu, was Grem aber nicht beeindruckte.
»Wahrscheinlich ganz normal, Jens. Das Schwierige ist - ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es ist, wenn man nicht mal mehr weiß, wie man heißt, wann und wo man geboren wurde.«
Jetzt gestattete sich Rogge ein Schmunzeln, das Grem mit einem finsteren Blick quittierte. Eine Simulantin - als solche hatte er sie anfangs behandelt, grob, unhöflich, an der Grenze zur unerlaubten Einschüchterung, bis die Ärzte dazwischenfunkten und die Presse informierten. Daraufhin hatte Grem einen offiziellen Verweis bekommen, der jetzt seine Personalakte verunzierte, den Fall aber noch behalten, weil Simon vor den Angriffen in den Zeitungen nicht kuschen wollte. Was Grem wahrscheinlich schon vergessen hatte. Oder verdrängt, sein Sündenregister hatte eine beachtliche Länge und Dankbarkeit gehörte ohnehin nicht zu seinen Stärken.
»Was ist denn dein Eindruck? Will sie ihr Gedächtnis wiederfinden?«
»Ach, ich denk schon!« Dies einzugestehen fiel Grem schwer, Rogge nickte nachdenklich. Viele Menschen verschwanden, wurden eines Tages auf gestöbert und behaupteten, sie hätten vorübergehend ihr Gedächtnis verloren. In neun von zehn Fällen logen sie, wollten etwas vertuschen, vor der Polizei, den Eltern, dem Ehepartner. Natürlich gab es Fälle, in denen wirklich eine Amnesie zutraf, nach Schädelverletzungen etwa bei einem Verkehrs- oder Arbeitsunfall oder bei Schlägereien. Aber dann konnten die Knochenklempner Beweise vorlegen, Röntgenbilder, Computertomographien oder auch EEGs, die der misstrauische Grem mittlerweile akzeptierte. In anderen Fällen ließ er sich von Blutanalysen überzeugen; Junkies dröhnten sich mit allen möglichen Drogen zu, bis der Film riss, für einige Zeit oder - seltener - auch für immer. Aber eine Frau, die nicht die geringste Verletzung oder hirnorganische Veränderung aufwies? - Nein, nicht mit ihm, nicht mit Grem dem Groben.
»Na dann, vielen Dank, ich halte dich auf dem Laufenden.«
In seinem Zimmer lehnte Rogge lange am Fenster und schaute träumend in den Innenhof hinunter, den eine riesige Kastanie fast vollständig beschirmte. Jedes Jahr begann im Herbst ein Krieg zwischen den Kollegen, die das Privileg genossen, im Innenhof parken zu dürfen, und der obersten Etage des Präsidiums, weil einige fallende Kastanien winzige Dellen in die bunten Bleche schlugen. Bis jetzt hatten sich die Baumfreunde durchgesetzt, aber immer nur mit knapper Mehrheit.
Rogge schätzte das altmodische Präsidium, das in den zwanziger Jahren erbaut worden war, ein vierstöckiger Bau rund um einen großen, fast quadratischen Innenhof, aus dunkelbraunen Klinkern, mit doppelten Holzfenstern und einem ordentlichen Ziegeldach mit zahlreichen Gauben. Vor einem Jahrzehnt war das Dachgeschoss ausgebaut worden, was vorübergehend Platz geschaffen hatte, aber bestimmte Abteilungen, vor allem die Kriminaltechnik, hatten in einen Neubau umziehen müssen. In den Räumen über den beiden Durchfahrten in den Längsseiten beschwerten sich die Kollegen im Winter, sie bekämen kalte Füße; das war bewusst doppeldeutig gemeint, aber die Klagen hatten nachgelassen, weil an einen weiteren Neubau wegen der allgemeinen Finanznot nicht zu denken war und selbst die größten Meckerer langsam einsahen, dass sie solch breite Flure, bequeme Treppen und zahlreiche Nebenräume in einem funktionalen Hochhaus nicht erwarten durften.
Leise seufzend drehte Rogge sich um. Das schöne Wetter verlockte zum Träumen. Im Mai war er wieder zum Dienst angetreten, nach acht Wochen Krankenhaus und sechs Wochen Rehaklinik, die Schusswunde war verheilt, er spürte sie nur noch, wenn er den linken Arm überanstrengt hatte. Doch die Müdigkeit überwältigte ihn immer wieder, sie steckte nicht in Knochen und Muskeln, sondern in seinem Kopf. Immer häufiger ertappte er sich dabei, dass er neben sich trat und ratlosneugierig den großen, hageren Mann mit dem faltigen Gesicht und eisengrauen Haaren betrachtete, der manchmal nur wie ein Automat funktionierte, präzise zwar und zuverlässig, aber ohne Anteilnahme, als sei ihm der Beruf so fremd geworden wie die Umgebung. Rogge hatte zu viel gesehen und erlebt, um noch tolerant zu sein, und sein Mitleid sparte er sich für die wenigen Fälle auf, in denen es angebracht war. Als Erster hatte Simon Rogges Probleme bemerkt. Dem stets auf Distanz bedachten und schweigsamen Rat entging wenig, doch weil er sich nichts anmerken ließ, unterschätzten viele seine Scharfsichtigkeit.
»Noch nicht wieder da, Herr Rogge?«
»Nein. Es gibt Tage, da laufe ich wie ein Fremder durchs Haus und begleite mich.«
In den sechs Wochen Rehakur hatte Rogge viel gegrübelt. Dass ihn die meisten Kollegen nicht leiden mochten, dass er als schwieriger Einzelgänger galt, um den man besser einen Bogen schlug, wusste er schon lange. Dass er seinen Beruf trotz aller Schattenseiten liebte, würden ihm die meisten Kollegen nicht glauben. Während er mechanisch den Anweisungen der Krankengymnasten folgte, überlegte er, ob er wirklich noch an seinem Posten hing oder nur die Langeweile der vorzeitigen Pensionierung fürchtete. Seine drei Kinder hatten das Haus verlassen und standen auf eigenen Füßen, führten ihr eigenes Leben in anderen Städten und nahmen sich selten die Zeit, den Vater zu besuchen. Rogges Frau war vor fünf Jahren gestorben; und als ihm das Haus zu groß geworden war, hatte er es zu einem sehr guten Preis verkauft und das Geld gut angelegt. Er hatte in einem anonymen Hochhaus eine kleine Wohnung gemietet, in der er sich gelegentlich wie eingesperrt fühlte. Seitdem gab Rogge sein Gehalt nicht mehr aus und rührte die Zinsen nicht an. Redselig war er nie gewesen, nun wurde er wortkarg. Klar, Simon wollte diesen unangenehmen Fall endlich abschließen, aber wahrscheinlich rieb sich der Rat gleichzeitig die Hände, weil er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen hatte: Grem einen Dämpfer verpasst und für Rogge etwas gefunden, das der allein recherchieren, bei dem er sich seine Zeit selbst einteilen konnte.
Nun denn! Rogge schlug die Akte auf.
Die unbekannte Frau, die jetzt unter dem Namen Inge Weber geführt wurde, war am 15. September des vorigen Jahres auf dem Autobahnparkplatz Feltenwiese gefunden worden, knapp 25 Kilometer östlich der Stadt. Grem hatte eine Kopie aus dem Straßenatlas beigefügt: Der Parkplatz lag südlich der Autobahn, an der von Ost nach West führenden Seite. Gegen 23.55 Uhr hatte der in Frankfurt lebende Vertreter Arno Jödel auf dem Platz angehalten, weil er unbedingt pinkeln musste.
Rogge blätterte, bis er das Protokoll fand: Jödel erinnerte sich, dass zu dieser Zeit ungewöhnlich wenig Verkehr herrschte. Drei, wenn nicht vier Minuten hatte er weder Rücklichter vor sich noch Scheinwerfer im Innenspiegel gesehen, bevor er auf den Parkplatz einbog. Allerdings glaubte er auch wahrgenommen zu haben, dass gut zweihundert Meter vor ihm ein wahrscheinlich großer, dunkler Wagen auf der Einfädelspur beschleunigte, während er auf der Abbiegespur bremste. Zum Autotyp konnte er keine Angaben machen, natürlich auch nicht über das Kennzeichen.
Jödel hatte sich auf die erste Parkfläche gestellt und war dann in den Wald gestürmt, der bis an den Platz reichte. Nach seiner Aussage war der dunkle Rastplatz zu diesem Zeitpunkt völlig verlassen gewesen. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, ging er langsam zu seinem Auto zurück. Erst als er auf die Ausfahrt zurollte, bemerkte er die Frau. Sie saß regungslos auf einer Bank und im Scheinwerferlicht erkannte er, dass sie nur einen BH und ein Höschen trug; später fiel ihm auch auf, dass sie barfuß war. Die fehlende Kleidung und ihre Regungslosigkeit alarmierten ihn; er war schon an ihr vorbei, als er bremste und nach kurzem Zögern zurücksetzte.
»Warum, Herr Jodel?«
»Ich weiß nicht. Sie sah so hilflos aus. Ich dachte, es wäre ihr etwas passiert. Oder jemand hätte sie belästigt.«
Das Wort belästigt korrigierte er später freiwillig in vergewaltigt. Und danach habe der Täter sie hier ausgesetzt oder aus dem Auto geworfen. Vorsichtshalber rangierte er so weit zurück, dass er sie im Scheinwerferlicht wieder deutlich sehen konnte. Als er ausstieg und sich ihr näherte, rührte sie sich nicht, sagte auch kein Wort, so als habe sie ihn gar nicht wahrgenommen. Auch als er sie ansprach, reagierte sie nicht, sondern starrte weiter geradeaus vor sich hin.
»Als ob sie stumm und blind und gelähmt wäre.«
Er versuchte es noch einmal, wieder keine Reaktion.
»Wie im - Schock.« Medizinisch war dieses Wort unkorrekt, aber der verdutzte Jödel konnte ihr Verhalten nicht anders beschreiben. »Starr und völlig weggetreten.«
Ihm war klar gewesen, dass er jetzt nicht einfach wegfahren und die Frau ihrem Schicksal überlassen konnte. Aber seine Aufforderung, in sein Auto zu steigen, schien sie gar nicht zu erreichen, also hatte er es endlich riskiert und sie am Oberarm angefasst, um sie von der Bank hochzuziehen. Zu seiner großen Verblüffung folgte sie sofort, ohne Widerstand, immer noch wortlos, mit der unverändert maskenhaften Miene. Jetzt war ihm aufgefallen, dass sie keine Schuhe trug.
»Sie gehorchte wie eine - eine - Marionette. Ohne eigenen Willen.«
Jödel räumte ein, dass er ins Schwitzen geriet. Helfen wollte er, aber so etwas hatte er noch nie erlebt und die Furcht, in eine Falle gelockt zu werden, wuchs von Sekunde zu Sekunde. Außerdem hatte er, wie er offen zugab, auch Angst vor der Reaktion der Frau: halbnackt, um Mitternacht auf einem einsamen Parkplatz - wenn sie nun später behauptete, er hätte sie belästigt - von solchen Fällen hatte er schon gelesen, und gerade weil er als Vertreter viel unterwegs war, nahm er grundsätzlich keine Anhalterinnen mit. Das hatte er erstens seiner Frau versprochen und zweitens kannte er einen Kollegen, der bei strömendem Regen eine junge Frau aufgelesen hatte, die am Ziel seelenruhig ausstieg und sofort zum nächsten Revier marschierte, wo sie ihn wegen sexueller Belästigung anzeigte. Mit perfekter Personenbeschreibung und vollständigem Kennzeichen. Das alles war ihm durch den Kopf geschossen, während er sie zu seinem Wagen führte.
»Ich musste sie regelrecht auf den Beifahrersitz drücken.«
Was sie ohne Widerstand mit sich geschehen ließ; als er einstieg, saß sie kerzengerade, die Hände flach auf den Oberschenkeln, den Kopf nach vorn gerichtet.
»Ich hab ihr gesagt, sie müsse sich anschnallen, aber das hat sie nicht gehört. Oder nicht verstanden.«
Was sollte er tun? Schließlich hatte Jodel an ihr vorbei nach dem Gurt gegriffen, selbst dabei bewegte sie sich keinen Millimeter, auch nicht, als er sie aus Versehen streifte. »Mir ist richtig unwohl geworden«, gestand er und seine Zähne klapperten noch in der Erinnerung. »Das war doch nicht normal.«
Rogge legte einen Merkstreifen auf die Protokollseite und blätterte schnell weiter: keine Einvernahme durch einen Sachverständigen. Wahrscheinlich hatte Jödel mehr als einmal bedauert, sich um die Frau gekümmert zu haben, die Protokolle mussten ihn mindestens zwei Tage gekostet haben. Von den sonstigen Scherereien ganz zu schweigen.
Bei der zweiten Einvernahme hatte schon Grem die Fragen gestellt und Jödel gelöchert: Wie viel Zeit war zwischen seinem Einbiegen auf den Parkplatz und der Abfahrt verstrichen? Hatten in dieser Frist andere Autos auf dem Platz angehalten? Hatte er einen Menschen bemerkt? Ein Auto, dessen Fahrer sich merkwürdig verhielt?
Rogge schmunzelte mitfühlend; den armen Jödel konnte er sich gut vorstellen, vor ihm ein drohend-unfreundlicher Grem, daneben neugierige Beamte. Doch Jödel war fest geblieben: ziemlich genau um 23.55 Uhr angehalten. Fünf, höchstens sechs Minuten später wieder abgefahren. Während dieser Zeit hatte kein anderer Wagen den Parkplatz angesteuert; er hatte niemanden bemerkt, ihm war nichts aufgefallen. Ja, in der Zeit waren einige Wagen auf der Autobahn vorbeigefahren. Nein, auf der Fahrt bis in die Stadt war ihm niemand gefolgt, er glaubte sich daran zu erinnern, dass er mehrfach überholt worden war, aber konnte sich nicht daran erinnern, dass ein bestimmtes Auto ihm über eine längere Strecke gefolgt sei.
Acht oder neun Minuten nach der Abfahrt hatte sie plötzlich zu sprechen begonnen: »Wer sind Sie?«
Vor Schreck hätte er beinahe das Lenkrad verrissen. Sie hatte den Kopf zu ihm gedreht und betrachtete ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal, nicht ängstlich oder entsetzt, sondern völlig verwirrt, erstaunt, als sei sie aus einem tiefen Schlaf aufgewacht und wisse nun überhaupt nicht, wo sie sich befinde.
»Ich heiße Arno Jödel«, antwortete er hastig.
Darauf blinzelte sie; seine Worte hatte sie gehört, auch verstanden, dessen war sich Jödel sicher, aber damit war für sie die Situation nicht erklärt.
»Und wer sind Sie?«, hatte er gefragt.
»Wer ich ...« Danach war sie verstummt und hatte wieder unbeweglich nach vorn geschaut. Die maskenhafte Starre war gewichen, jetzt sah sie völlig hilflos aus. Nach dreißig Sekunden sagte sie mit dünner Stimme: »Das weiß ich nicht.«
Jödel zweifelte, wie er zu Protokoll gab, keinen Moment daran, dass sie die Wahrheit sagte. Sie wusste nicht, wer sie war, er verstand zwar nicht, wie einem Menschen das passieren konnte, aber er war überzeugt, dass sie nicht log. Damit stand für ihn fest, was er tun musste.
»Ich bringe Sie zur Polizei«, erklärte er fest und nach einer Weile echote sie unsicher: »Zur Polizei, ja.«
Auch bei mehrmaligem Nachfassen beharrte Jödel darauf, dass sie danach keine Fragen mehr gestellt habe. Zwar sei sie jetzt voll bei Bewusstsein gewesen - oder aufgewacht, wie er es umschrieb —, aber sie wollte weder wissen, wo er sie aufgelesen hatte, noch, was mit ihrer Kleidung geschehen war.
Um 0.16 Uhr am 16. September erschien Jödel mit ihr im Autobahnpolizeiposten Terborn Nord.
Rogge lehnte sich zurück und gähnte. Ob Simon wirklich hoffte, mit diesen kümmerlichen Anhaltspunkten ließe sich der Fall jetzt noch, ziemlich genau zwölf Monate später, aufklären? Oder hatte Simon ihm nur eine Möglichkeit bieten wollen, sich für einige Zeit aus dem Routinebetrieb des Ersten Kommissariats zurückzuziehen, allein und unbeobachtet zu recherchieren, ohne ständig die heimlichen Blicke der Kollegen zu spüren, die sich besorgt oder auch hämisch fragten, ob Rogge es schaffte, sich wieder in die Mannschaft einzugliedern, ob er noch einmal über den Berg käme.
Mit der Schusswunde hatte er im Grunde sogar Glück gehabt. »Neun Millimeter Stahlmantel, mein Bester, die reinste Zimmerartillerie. Glatt rein, glatt durch, glatt raus.« Leinbusch verfügte über jenen speziellen Humor, den nur Arzte im langjährigen Dienst bei der Polizei erwarben, und auch Rogge hatte sich ein Grienen abgezwungen. »Gute Handwerker hier, Jens, die Schulter wird nicht steif bleiben, aber deine Karriere als Gewichtheber ist hiermit beendet.«
»Ich hatte schon auf Marathonlauf umgestellt. Was ist mit dem Jungen?«
»Vor zwei Tagen Exitus.« Sein Mitleid sparte sich Leinbusch für die unschuldigen Opfer auf. Eine Rumänenbande, fünf Männer, wenn man Jugendliche zwischen sechzehn und zweiundzwanzig überhaupt schon so bezeichnen durfte. Der Bruch in das Warenlager war hervorragend ausbaldowert, aber der Zufall machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Der Nachtwächter hatte einen Freund mit gebracht und deswegen missglückte der Überfall. Wächter und Freund konnten noch schießen, ein Einbrecher wurde tödlich getroffen, einer schwer verletzt, die drei anderen Täter verschanzten sich in den Büros. Rogge wollte weiteres Blutvergießen vermeiden. Der MEK-Einsatzleiter hatte ihn gewarnt: »Die sind schon tot, entweder legen wir sie hier um oder die Auftraggeber zu Hause, weil sie den Bruch verpatzt haben. In diesem Geschäft duldet man keine Zeugen.«
»Ich versuche trotzdem.«
»Mensch, Herr Rogge, die haben nichts mehr zu verlieren, die haben mit dem Leben abgeschlossen, was immer Sie denen versprechen.«
»Sorgen Sie bitte dafür, dass endlich der Dolmetscher kommt.«
Der Bullige hatte Recht behalten. Nach sechs Stunden waren zwei endlich mit erhobenen Händen herausgekommen, als plötzlich der dritte, jüngste an ihnen vorbeistürmte, direkt auf Rogge zu, die Pistole im Anschlag, das Gesicht zu einer Fratze aus Hass, Wut und Todesangst verzerrt, den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Zweimal konnte er noch schießen, bevor er unter dem Feuer der MEK-Leute zusammenbrach, und seine zweite Kugel durchschlug Rogges linke Schulter.
Verheilt war die Wunde wohl, aber manchmal zuckte ein stechender Schmerz durch seinen Arm und die linke Seite, der ihm die Tränen in die Augen trieb, und dahinter tauchte das Gesicht des Schützen auf, verzweifelt, hilflos, hoffnungslos, wie eine überscharfe Momentaufnahme. Auf Killen dressiert, hatten die Zeitungen geschrieben, vielleicht stimmte es sogar, aber den Dresseur hatten sie nicht ermittelt. Die beiden Überlebenden schwiegen immer noch eisern; sie hatten nicht einmal ihre Namen preisgegeben. Sickert, der im Landeskriminalamt die Einsätze gegen die Balkanbanden organisierte, hatte Rogge im Krankenhaus besucht: »Die werden auch keinen Ton sagen, Herr Rogge, Lieber lebenslänglich in einem deutschen Knast als nach Rumänien abgeschoben zu werden,«
»Womit müssten sie dort rechnen?«
»Wenn sie bis dahin keine Silbe aus geplaudert haben — eine schnelle Kugel. Wenn sie auch nur einen Namen genannt haben - tja ...« Er hob beide Hände. »Es gibt sehr unangenehme Methoden, diese Erde zu verlassen. Und an die Familienmitglieder möchte ich gar nicht denken.«
»Vermuten Sie das oder wissen Sie das?«
Sickert hatte unbehaglich gelächelt: »Ich weiß es, Herr Rogge. Aber ich werde Ihnen nicht verraten, woher.« Nach einer Pause hatte er widerwillig hinzugefügt: »Um Ihr Wohlwollen restlos zu verscherzen, will ich Ihnen gestehen, dass ich über Ihre Verletzung nicht unglücklich bin. Die MEK-Kollegen haben in Nothilfe geballert, das akzeptiert die Öffentlichkeit. Andernfalls würde es heißen, wir duldeten schießwütige Killer in unseren Reihen und so gefährlich und so brutal seien diese Banden doch gar nicht, das sei nur die Propaganda rechter Hardliner in der Polizei.«
»Und in der Politik«, hatte Rogge spöttisch ergänzt. »Ihre Fähigkeit, Trost zu spenden, überwältigt mich.«
»Dann hat sich mein Besuch ja gelohnt«, gab Sickert gemütlich zurück. »Übrigens schöne Grüße und gute Besserung auch von Peter Reineke.«
Nachdem Jödel geschildert hatte, wo und wie er die Frau aufgelesen hatte, informierte die Autobahnpolizei sofort die Kollegen in der Stadt. So heiße Kartoffeln schob man am besten gleich einen Teller weiter, zollte Rogge in Gedanken Beifall. Immerhin war die Routine angelaufen und - was immer man Grem vorwerfen konnte - er hatte nichts übersehen und nichts versäumt. Beim ersten Tageslicht hatten zwei Züge Bereitschaftspolizei das Gelände rings um den Parkplatz Feltenwiese abgesucht. Ohne Ergebnis, keine Spur von der fehlenden Oberbekleidung und den Schuhen der Frau. Und leider auch keine Spur von einer Handtasche mit Ausweispapieren.
Auch die ärztliche Untersuchung hatte ihnen nicht weitergeholfen. Die Frau war nicht vergewaltigt worden, es gab keine Anzeichen eines Notzucht-Versuchs, überhaupt keine Wunde oder Verletzung, die ihre Amnesie erklären konnte, nicht einmal Hämatome, die auf eine körperliche Auseinandersetzung hindeuten würden. Unter ihren Fingernägeln keine Hautpartikel, wie sie bei Abwehrreaktionen typisch waren. Eine Blutuntersuchung ergab eine Alkoholkonzentration von 0,6 Promille für den Zeitpunkt 1.00 Uhr am 16. September, aber sie konnte nicht sagen, wann und wo sie zuletzt etwas getrunken hatte. Auch nicht, ob und wann sie die Beruhigungspillen geschluckt hatte; die ermittelte Diazepam-Konzentration legte die Vermutung nahe, dass sie etwa 0,75 Milligramm sechs Stunden vor der Blutprobe eingenommen hatte. Ob und wie weit die Kombination von Alkohol und Valium die Amnesie ausgelöst haben konnte, blieb reine Spekulation, solange nichts über die Mengen und Umstände zu erfahren war. Ansonsten war die Frau organisch völlig gesund, Seh- und Hörstärke normal, ihre Zähne in einem beneidenswert guten Zustand.
Fingerabdrücke - nirgendwo registriert.
Der Abgleich der Vermisstenanzeigen mit den Merkmalen der Unbekannten füllte eine eigene Nebenakte. In zwei Fällen hatte Grem eine Gegenüberstellung arrangiert, beide Male negativ. Niemand schien die Frau zu vermissen.
Die zweite Nebenakte überflog Rogge nur. Wenn man alle gelehrten Spekulationen und unverständlichen Fachausdrücke wegließ, musste auch die Weißkittelriege bestätigen, was die Unbekannte plastisch so formuliert hatte: »Ich bin aufgewacht und saß neben einem netten Mann im Auto. Was früher war, ist ein graues Loch voller Nebel.« Grems Vermutung, sie sei eine hervorragende Simulantin, wollte kein Psychiater unterstützen, im Gegenteil, alle unterstrichen, dass sie ernsthaft mitarbeitete, um ihre wahre Identität herauszufinden. Doch selbst Hypnose führte keinen Schritt weiter und irgendwann im März musste Inge Weber, wie sie in den amtlichen Unterlagen jetzt genannt wurde - jeder Mensch brauchte einen Namen -, eine Krise durchlebt haben. An der Fixierung auf die vergeblichen Bemühungen, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren, drohte sie zu verzweifeln. Scheinbar aus heiterem Himmel erklärte sie dem Psychologen, der Mensch sei nicht dazu geschaffen, immer den Kopf nach hinten zu drehen, sie wolle jetzt nach vorne schauen, irgendwas unternehmen, tun, arbeiten.
Als Grem davon erfuhr, blühte er auf: Das war’s, sie hatte Angst, man werde ihr auf die Schliche kommen; jetzt noch einmal kräftig durch den Fleischwolf gedreht und er konnte diesen verdammten Fall abschließen. Die Sachverständigen waren anderer Meinung oder, wie Rogge stirnrunzelnd las, verschiedener Meinungen mit annähernd demselben Ergebnis.
Ihren Versuch, die Identitätskrise aus eigener Kraft zu meistern, konnten sie nicht missbilligen, allerdings auch nicht uneingeschränkt gutheißen. Wie auch immer, seit April ging sie nur noch unregelmäßig zu einem Psychologen, der sich Grems pausenlose Anrufe zum Schluss verbeten hatte: Nein, sie simuliere nicht, das graue Loch existiere immer noch und der Herr Kriminalhauptkommissar möge sich gefälligst gedulden und sich in Zukunft aller beleidigenden Äußerungen enthalten.
Diese Abfuhr - Durchschlag: an den Polizeipräsidenten - hatte Grem keine Ruhe gelassen und deswegen enthielt die dünne Beiakte Sprengstoff: Grem hatte Inge Weber überwachen lassen. Ohne den Betreuer zu informieren, den das Vormundschaftsgericht bestellt hatte, und gegen die Anweisung Simons. Doch die Mühe hatte nicht gelohnt. Inge Weber war in eine kleine Wohnung in einem scheußlichen Hochhaus eingezogen, in der Wilhelmstraße, und arbeitete als Halbtagsverkäuferin in der Bäckerei und Konditorei Krone, Semperstraße 144. Diesen Job hatte ihr der Betreuer besorgt. Inge Weber lief sehr viel zu Fuß, schien sich ausgesprochen gern zu bewegen, besuchte Symphoniekonzerte und Museen. Die Nachbarn und Kolleginnen schilderten sie als offen, energisch, humorvoll und zuverlässig; aus ihrer ungewöhnlichen Lage machte sie kein Geheimnis: »Guten Tag, ich werde Inge Weber genannt, meinen wahren Namen weiß ich nicht, weil ich mein Gedächtnis verloren habe, aber Sie müssen sich nicht fürchten, ich bin nicht verrückt.«
Selbst Grem hatte zähneknirschend einsehen müssen, dass sie nichts verheimlichte. Nicht einmal die Tatsache, dass sie in der Bäckerei einen Mann kennen gelernt hatte, Achim Schönborn, mit dem sie seit Mai ein Verhältnis hatte.
Rogge trommelte einen Marsch auf den Schreibtisch. Der liebe Grem forderte mit seiner Art viele Menschen zu unerwarteten Reaktionen heraus!
In der letzten Nebenakte war der Papierkrieg um die Sendung XY ... ungelöst vom März abgeheftet. In seiner Begründung hatte Grem offen zugegeben, dass er eine positive Personenidentifizierung nicht mehr erhoffe; sie war jetzt sechs Monate verschwunden, hätte also längst vermisst werden müssen, wo immer und mit wem immer sie früher gelebt hatte. Aber da war die Unterwäsche, ein sehr teures, nicht weit verbreitetes Produkt, und da gab es die drei Schmuckstücke, die sie getragen hatte, als sie mit Arno Jödel bei der Polizei erschien: eine flache goldene Armbanduhr, eine doppelreihige Kette echter Perlen und einer Schließe mit zwei Diamanten und ein goldenes Armband, besetzt mit Smaragden. Zumindest die Schließe der Perlenkette und das Armband waren Einzelanfertigungen. Wenn sie die rechtmäßige Eigentümerin dieser Stücke war, konnte sie vor dem grauen Loch keine arme Frau gewesen sein.
Das Ergebnis schenkte Rogge sich: nichts. Abgesehen davon, dass Grem seitdem in der Kantine häufiger angemosert wurde, wann er denn regelmäßig als Moderator im Fernsehen zu bewundern sei.
Und nun wollte Simon den Fall vom Tisch haben! Mit diesen Anhaltspunkten, Nachdem Rogge beträchtliche Löcher in die Luft gestarrt hatte, raffte er sich auf und rief ihren Polizeipsychiater an, im Hausjargon Bullentröster genannt.
Das Glück lächelte ihm, Sedelmann hob sofort ab: »Herr Rogge! Was kann ich für Sie tun?«
»Sie kennen den Fall Inge Weber?«
»Grems Waterloo? Ja, aus den Akten.«
»Dann müssten Sie mir eine Frage beantworten können. Die Frau saß in BH und Slip auf einer Bank. Ohne Schuhe. Es hatte zwar noch etwa zwanzig Grad Celsius, aber nach einiger Zeit muss sie doch zu frieren begonnen haben.«
»Richtig.«
»Hätte sie dann nicht aufwachen müssen?«
»Vorsicht, Herr Rogge. Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Es spricht viel dafür, dass die Kälte das Aufwachen ausgelöst hat, also die Reaktion, die sie in dem Auto dann erlebte. Aber an dem grauen Loch hätte das nichts geändert - aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.«
Bloß nicht festlegen, dachte Rogge resigniert, »Gut, Nach der Aussage dieses Jödels, die wir alle für korrekt halten, ist sie aber erst in seinem Auto aufgewacht. Kann ich daraus den Schluss ziehen, dass sie noch nicht sehr lange auf dieser Parkplatzbank gesessen hatte, als Jödel sie auflas?«
»Ich weiß, dass meine Vorbehalte Sie ärgern, aber trotzdem: möglich, ja.«
»Wie lange hat sie da gehockt? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Eine Stunde?«
»Tut mir Leid, auf das Eis lasse ich mich nicht locken.«
»Und warum nicht?«
»Herr Rogge, Sie gehen doch auch davon aus, dass sie irgendetwas erlebt hat, etwas Schreckliches, Ungewöhnliches, Fürchterliches, jedenfalls so schlimm für sie, dass ihr Verstand darauf mit Verweigerung reagiert hat. Mal laienhaft: Im Unterbewusstsein kann sie die Kälte gespürt haben, aber dieser Reiz muss nicht so groß gewesen sein, dass er die Blockade, die Hürde vor dem Bewusstsein, überwunden hat.«
»Schade.«
»Ja, tut mir Leid. Die Neuigkeit ist natürlich im Haus längst rum. Viel Glück, Herr Rogge.«
»Danke, das kann ich gebrauchen.«
Nach der Fernsehsendung hatte sich tatsächlich ein Autofahrer gemeldet, der am 15. September auf dem Parkplatz Feltenwiese gehalten hatte. Auf die Minute konnte oder wollte er sich nicht festlegen, gegen 23.20 Uhr war er eingebogen und ausgestiegen: Kniebeugen, Arme schwingen, etwas Hüpfen, ein paar Schritte hin- und herlaufen, eine Zigarette rauchen - Abfahrt gegen 23.35 Uhr. Auch zu der Zeit hatte kein Auto auf dem Parkplatz gestanden, dessen war er sich »ziemlich sicher«, also leider nicht hundertprozentig. Nein, er hatte keinen Menschen gesehen und eine Frau in Unterwäsche - nein, die wäre ihm doch bestimmt aufgefallen. Na schön. Laut Auskunft der Autobahnpolizei wurde die Feltenwiese selten angesteuert. Es gab keine Toiletten dort, kein Telefon, übrigens auch keine Beleuchtung, nur drei roh gezimmerte Holztische mit Bänken aus halben Baumstämmen; ein Fahrer würde sich gerade nachts überlegen, ob er nicht noch die vierzehn Kilometer bis zur Autobahnraststätte dranhängen sollte. Auch Jödel war nur abgebogen, weil er unbedingt musste.
Also mal angenommen: Der Zeuge hatte sich nicht geirrt, war um 23.35 Uhr wieder abgefahren. Zweite Annahme: In dem großen, dunklen Wagen, den Jödel um 23.55 Uhr beobachtet hatte, als der auf die rechte Spur zog, hatte vorher Inge Weber gesessen. Also konnte, was immer sich am 15. September abgespielt hatte, höchstens zwanzig Minuten gedauert haben.
Bevor er sich erneut über Simon aufregte, klingelte das Telefon: »Rogge, weißt du, wie spät es ist?«
»Sei gegrüßt, schöne Dörte«, sagte er ergeben.
»Von wegen gegrüßt! Wir waren zum Essen verabredet, vor einer Viertelstunde wolltest du mich abholen und jetzt nimmst du die Beine in die Hand, ich warte bei Renzler auf dich.«
Sie hatte bei Renzler einen der seltenen Zweiertische belegt und blitzte ihn finster an. Dörte von Sandau, ein Jahrzehnt jünger als Rogge, von Beruf Staatsanwältin, geschieden, seit einiger Zeit Rogges Nachbarin eine Etage tiefer, wartete nicht gerne, wie sie ihm mehr als einmal erklärt hatte. Obwohl er sonst nicht gerade begriffsstutzig war, hatte er lange gebraucht, bis er diese Sätze auf sich bezog.
»Lass dir was Überzeugendes einfallen!«, drohte sie und er schmunzelte.
Von dem Fall Inge Weber hatte sie gehört. »Und was will Simon von dir?«
»Dass ich herausfinde, wer sie ist.«
»Wieso du? Was hat die Mörderei mit Gedächtnisverlust zu tun?«
»Das musst du Simon fragen.« Rogge seufzte, weil sie die Stirn runzelte. »Ich glaube, er will mir einen Gefallen tun und mich aus dem Routinebetrieb rausziehen.«
»Verheizen.«
»Nein, das denke ich nicht, er weiß zu genau, wie verfahren die ganze Kiste ist.«
Dörtes skeptischem Blick hielt er stand. Sein Vertrauen in Simons Anständigkeit teilte sie nicht uneingeschränkt, sie war mit dem alten Fuchs mehr als einmal dienstlich zusammengerasselt, aber wenn Jens meinte, Karl Simon sei ein echter Freund, so wollte sie nicht widersprechen. Im vergangenen Dezember war sie seine Nachbarin geworden, ganz und gar nicht freiwillig, wie sie immer wieder betonte. Kurz zuvor hatten die Banken und die Gläubiger sich auf die Summe geeinigt, die sie zurückzahlen musste, nachdem der Ehemann haarscharf an einem Verfahren wegen Konkursbetrugs vorbeigeschlittert war. Da sie in Zuverlustgemeinschaft gelebt hatten, wie sie wütete, blieb ihr nichts anderes übrig, als die große Wohnung in einer alten Villa am Stadtpark aufzugeben und sich etwas Billigeres zu suchen. Rogge hatte von ihren Nöten gehört, und als er erfuhr, dass eine der Zweizimmerwohnungen in seinem Hochhaus frei werden sollte, informierte er sie. Notgedrungen griff sie zu, der Göttergatte Felix hatte sich seinen finanziellen Verpflichtungen durch Abtauchen entzogen, was die Gläubiger empörte, sie hingegen erleichterte, weil es kein Konto mehr gab, auf das sie den gerichtlich verfügten Unterhaltsausgleich überweisen musste. »Für den Scheißkerl auch noch löhnen? - Mit unserer Gesetzgebung stimmt was nicht.« Für einen lockeren Spruch war Dörte jederzeit gut, was den Umgang mit ihr angenehm erfreulich machte, ihre Karriere aber gewaltig hemmte. Und dann war sie die einzige Frau gewesen, die regelmäßig zu ihm ins Krankenhaus kam, meist in Eile, mit einer Unsentimentalität, die sogar die Schwestern erschreckte, immer voller Neuigkeiten und vor Optimismus platzend. »Ich mag Männer, die schwächer sind als ich«, erklärte sie fröhlich, aber als Rogge seinen linken Arm wieder gebrauchen konnte, das Argument also nicht mehr zutraf, meinte sie spöttisch, nun habe sie sich an ihn gewöhnt und er als Kriminalbeamter wisse ja, über welche Macht eine zornige Staatsanwältin verfüge.
»So, die Akten rufen nach mir.«
»Und ich werde eine schöne Bäckerin besuchen.«
»Pass auf, dass sie dich nicht mit Mehl einstäubt, und bring mir eine frische Baguette mit.«
»Zu Befehl!«
Die Semperstraße lag in einem Viertel, das vor der Erfindung der Betonplatten entstanden war, und die Bäckerei Krone befand sich in einem kleinen Einkaufszentrum. Es roch nach frischem Brot und warmem Gebäck, die drei Frauen hinter der Theke hatten gut zu tun, Rogge musste sich in eine kleine Schlange einreihen.
Inge Weber erkannte er nach den Bildern aus der Akte sofort. Zweite Hälfte dreißig, hundertfünfundsiebzig Zentimeter groß, knapp über sechzig Kilo, bestimmte Dinge registrierte er automatisch. Dunkelblonde lockige Haare, kurz geschnitten. Grüne Augen, hohe Wangenknochen, Stupsnase, breiter, voller Mund; ein schmales, ungewöhnliches Gesicht, das auffiel, das man nicht so leicht vergaß. Sie bewegte sich schnell und zielstrebig, Energie schien sie im Übermaß zu besitzen, aber sie lachte auch gerne und für jede Kundin hatte sie einen freundlichen Satz parat.
Langsam rückte er vor. Jetzt konnte er auch die Worte verstehen, die sie mit den Kundinnen wechselte. Sie biederte sich nicht an, dazu schien sie zu intelligent, und sie achtete bei aller verbindlichen Freundlichkeit doch auf Distanz. Das graue Loch hatte ihr Selbstbewusstsein erstaunlicherweise nicht beschädigt, dachte Rogge flüchtig, und nach der kurzen Zeit, die er sie beobachten konnte, war er sicher, dass sie früher privat und auch beruflich, was immer sie getan hatte, beliebt und erfolgreich gewesen war.
»Ja, bitte?«
»Ich hätte gerne eine frische Baguette und ein Pfund geschnittenes Graubrot.«
»Ja.« Als die Sachen auf der Glasplatte lagen, zückte er seinen Ausweis. »Außerdem möchte ich Sie gern sprechen, Frau Weber.«
Sie hob die Augenbrauen, las seinen Ausweis und stöhnte leise: »In einer Stunde habe ich frei. Können Sie so lange warten?«
»Kein Problem. Ich hole Sie ab, ja?«
»Bis dann, Herr Rogge.«
Mit etwas schlechtem Gewissen schlenderte er zu einem Geschäft auf der anderen Straßenseite. Kaufhäuser hasste er, die vielen Menschen, das Gewusel und die schlechte Luft stimmten ihn reizbar, aber neue Hemden brauchte er, daran führte kein Weg mehr vorbei; die Sandausche Freifrau drängte ihn, entweder zuzunehmen oder neue Anzüge zu kaufen. Im Krankenhaus und in dieser Folterwerkstatt von Reha hatte er fast fünfzehn Kilo verloren und darüber hinaus auch den Appetit. Schon vor dieser Schießerei war er mager gewesen, jetzt durfte er sich mit Fug und Recht als hager bezeichnen und Jacken und Hosen saßen großzügig, um nicht zu sagen: Sie schlotterten. Also neue Hemden und vielleicht ein, zwei Krawatten.
Das kurze Kleid stand Inge Weber gut, er lächelte anerkennend, was ihr nicht entging. Lange Beine, schmale Hüften, ein schöner Busen; im letzten Moment verbot er sich, ihre Maße zu schätzen und in seinem Gedächtnis zu speichern.
Während sie ihm die Hand gab, zerkaute sie ein Lächeln. »Wir kennen uns noch nicht.«
»Nein. Kollege Grembowski hat den Fall heute abgegeben.«
»Den Fall?«, spottete sie und schwang sich die Tragetasche über die Schulter. »Meinen Fall?«
Die Sonne tat des Guten fast zu viel, Inge Weber setzte eine sehr dunkle Sonnenbrille auf, was Rogge bedauerte, ihre lebhaften Augen verrieten viel.
»Sie sind eine Art Herausforderung für uns, Frau Weber.«
»Das hat Ihr Kollege immer anders, etwas gröber formuliert.«
»Kollege Grem neigt zu einer gewissen Direktheit«, stimmte er zu und lachte leise.
»Das ist sehr diplomatisch ausgedrückt, Herr Rogge. Darf ich fragen, was Sie im Präsidium machen?«
»Ich bin Leiter des Ersten Kommissariats.«
»Des Ersten - das ist doch die Mordkommission?«
»So heißen wir in den Krimis. Aber präzise definiert sind wir zuständig für Taten gegen Leib und Leben und die persönliche Freiheit.«
»Das heißt konkret was?«
»Wenn Sie zum Beispiel gewaltsam, gegen Ihren Willen, zu diesem Parkplatz gebracht worden wären, fiele das in meine Zuständigkeit.«
»So ist das!« Sie holte tief Luft: »Herr Rogge, ich wollte eigentlich zu meinem Gymnastikklub.«
»Mein Auto steht da drüben.«
»Nein, danke, ich brauche Bewegung und frische Luft. Hätten Sie was dagegen, mich dorthin zu begleiten? Es sind nur etwa zwanzig Minuten.«
»Gerne. Ich hocke sowieso zu viel am Schreibtisch.«
Leider verbarg die Sonnenbrille ihre Augen, sie drehte kurz den Kopf zu ihm und Rogge vermutete, dass sie ihn halb erstaunt, halb amüsiert betrachtete.
»Na denn.« Sie schlug ein beachtliches Tempo ein. Nach einer Weile gestand Inge Weber unvermittelt: »Mit diesem Herrn Grembowski bin ich nicht ausgekommen.«
»Ja, ich kann’s mir gut vorstellen, Grem hält Sie nämlich für eine Simulantin.«
»Und Sie? - Glauben Sie auch, ich spiele Theater?«
»Nein«, erwiderte er friedfertig.
»Gott sei Dank«, murmelte sie. »Aber Sie sind doch nicht vorbeigekommen, um mir das zu sagen?«
»Nein, ich wollte Sie einmal sehen, mir ein Bild von Ihnen machen.«
Das schien sie zu erheitern, aber sie antwortete nicht.
Mehrere Minuten liefen sie schweigend, sie bog in den Reschenpark ab und erkundigte sich ernsthaft: »Gehe ich zu schnell?«
»Nein, noch kann ich mithalten.«
»Dieses Stehen - ich hab hinterher das Gefühl, meine Beine sind doppelt so dick.«
»Können Sie sich zwischendurch nicht mal setzen?«
»Doch, natürlich, aber heute war wieder ein Betrieb, man ist gar nicht dazu gekommen.«
»Ja. Frau Weber, eine Frage hätte ich allerdings: Als Sie in Jödels Auto auf gewacht sind — wie haben Sie das alles betrachtet, das Auto, die Autobahn, dann die Polizei? Ist Ihnen das fremd vorgekommen? Oder vertraut?«
»Darauf sind die Psychiater auch herumgeritten. Nein. Ich war natürlich erstaunt und verwirrt, eine ganze Zeit auch ängstlich, aber nicht wegen der Gegenstände oder Personen, sondern wegen meiner Situation.«
»Sie sprechen ein völlig akzent- und dialektfreies Hochdeutsch.«
»Alle vermuten - oder gehen davon aus, dass ich auch vor meinem grauen Loch in Deutschland gelebt habe.«
Er nickte zufrieden. Auch Grem hatte in seiner persönlichen Beurteilung ihre schnelle Auffassungsgabe und Intelligenz hervorgehoben. Aber weil Grem sich in den Gedanken verrannt hatte, sie täusche den Gedächtnisverlust vor, war er nie auf die logische Alternative verfallen: Entweder schwieg Inge Weber über ihre Vergangenheit, weil ihr Gedächtnis tatsächlich blockiert war - oder sie schwieg, weil sie etwas zu verbergen hatte; in beiden Fällen durfte er von ihr keine Informationen erhoffen.
Der Reschenpark war nicht groß, zweihundert Meter lang, um die fünfzig breit, ein grüner Fleck in dem dicht bebauten Viertel. Am Ausgang Collinistraße hielt Inge Weber sich links, jetzt schlenderte sie sehr viel langsamer.
»Was werden Sie tun, Herr Rogge?«
»Das weiß ich noch nicht«, wich er aus. »Mit Leuten reden.«
»Verhaften Sie diese Psychiater!«
»Warum denn das?«
»Weil die mich wahnsinnig machen. Reden geschwollen daher, stehlen meine Zeit und produzieren nur warme Luft.«
»Vorsicht, Frau Weber, wenn das ein Haftgrund wäre, gäbe es viel Platz in der Stadt.«
»Nix dagegen!« Sie lachte fröhlich, blieb stehen und nahm die Brille ab. »Ich bin da. Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen, Herr Rogge.«
»Ebenfalls, Frau Weber. Und viel Spaß bei der Gymnastik.«
Auf dem Rückweg zu seinem Auto setzte Rogge sich für eine Zigarettenlänge auf eine Bank im Park. Wenn Inge Weber heuchelte, hatte er es mit einer beachtlichen Gegnerin zu tun. Und dieser Spaziergang hatte nicht nur seiner Gesundheit genutzt, sondern ihm auch einen Anhaltspunkt gegeben: Sie war kräftig und energisch, keine Frau, die man rein durch Einschüchterung dazu bekam, ein Kleid und die Schuhe auszuziehen, brav in einem Auto sitzen zu bleiben und sich dann widerstandslos auf einem Parkplatz abladen zu lassen wie ein überflüssiges Möbelstück. Schön, vor der Mündung einer Pistole reduzierte sich jeder Mut, aber neben der körperlichen Kraft, eine Gegenwehr zu versuchen, verfügte sie auch über das nötige Temperament, um viel zu riskieren.
Auf der Rückfahrt ins Präsidium musste Rogge vor einer Ampel einmal hart auf die Bremse steigen, weil er das Umspringen auf Gelb verdöst hatte. Hinter ihm kreischten Reifen, instinktiv sah er in den Rückspiegel, es hatte gerade noch gereicht, aber zwischen beide Stoßstangen passte wahrscheinlich nur noch ein Blatt Papier. Entschuldigend hob er eine Hand, doch der Fahrer senkte rasch den Kopf, als wolle er verbergen, was er von dem Trottel vor ihm wirklich dachte.
»Blödmann!«, grummelte Rogge verärgert. Einer dieser unerträglich schönen Sonnenbrillentypen.
Den Rest der Strecke fuhr Rogge vorsichtiger, schaute häufiger in den Rückspiegel, aber er begann sich erst zu wundern, als er vom zweiten Ring in die Einbahnstraße abgebogen war und dieser Schönling immer noch hinter ihm hing. Wollte der was von ihm? Doch als er auf den Parkplatz des Präsidiums steuerte, gab der Knabe Gas und röhrte ganz knapp hinter seinem Heck vorbei. Es gab schon seltsame Geschöpfe auf Gottes weiter Welt!
Von den zehn Planstellen des Ersten Kommissariats waren drei nicht besetzt. Kollege Schubert lag nach einem Autounfall immer noch in der Klinik, der Trümmerbruch wollte einfach nicht verheilen. Nach der Versetzung der Kollegin Ackermann musste ihre Stelle im Zuge der Sparmaßnahmen sechs Monate frei bleiben. Für den Kollegen Henrich, der zu einem Lehrgang abgestellt war, gab es erst recht keinen Ersatz. Früher hatten zwei Frauen die Sekretariatsarbeiten im Dienstzimmer erledigt; seit dort der Computer Einzug gehalten hatte, war eine Stelle gestrichen worden. Es klemmte an allen Ecken und Kanten und die Schutzpolizei verlangte lautstark, mehr als bisher bei der Kripo zu sparen. Das immer schon wenig harmonische Verhältnis hatte einen bösen Knacks bekommen, nachdem das Tageblatt Anfang des Jahres ein von der Schutzpolizeiführung ausgearbeitetes Organisationskonzept veröffentlicht hatte. Danach sollten das Präsidium drastisch verkleinert und auf allen Revieren selbstständige Kriminalwachen eingerichtet werden. Uniform macht dumm und machtgeile Imperialisten hatte der Bund der Kriminalbeamten in seinem BdK-Verbandsorgan zurückgekeilt, was genau den falschen Auftakt für eine, wie Rogge fand, längst überfällige Reformdiskussion abgab. Im Moment wurde geschimpft, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Unmittelbar vor den Personalratswahlen hatte der BdK in einer Öffentlichkeitsaktion die ob der steigenden Kriminalität verunsicherten Bürger aufgefordert, Möbel und technisches Gerät für die völlig unzureichend ausgestattete und deshalb so erfolglose Schutzpolizei zu spenden; die Erfinder der Aktion rieben sich die Hände, es flössen tatsächlich Spenden, und die Schutzpolizeiführung, die zähneknirschend diese Wohltaten in Empfang nehmen musste, überlegte krampfhaft, wie sie diese Gemeinheit heimzahlen konnte. Seit einiger Zeit kursierten Memoranden und Unterschriftenlisten aller möglichen Gruppen im Präsidium und Rogge wollte nicht darauf wetten, dass seine Leute seine dienstliche Anweisung befolgten, sich aus diesem Zank herauszuhalten und keine Stellung zu beziehen. Natürlich war dieser Befehl längst im ganzen Haus bekannt und einte wahrscheinlich die Zerstrittenen wenigstens in einem Punkt, nämlich in ihrer Abneigung gegen den Leiter des Ersten K., der sich bis jetzt geweigert hatte, seine Meinung kundzutun. Grem gehörte zu den lautstarken Verteidigern der Kripo und reagierte wie der Stier auf das rote Tuch, wenn er nur die Wörter Gewerkschaft der Polizei hörte. Und er verfocht mit Grem’scher Sturheit die These, dass jeder gegen ihn sei, der sich nicht explizit für ihn aussprach.
Oberkommissar Hans Kirchbauer hatte alle zu der üblichen Abendbesprechung zusammengerufen. Obwohl Rogge sich hundertprozentig auf ihn verlassen konnte, war Rogge mit seinem Vertreter, der überall seine Ohren aufsperrte, das Gras wachsen hörte und jede Intrige im Voraus witterte, nie recht warm geworden. Das behinderte sie nicht im täglichen Geschäft, führte aber dazu, dass sie privaten Kontakt mieden.
Der Einzige, der diese Spannung nicht zu spüren schien, war Hauptmeister Kilian Haindl, ein schwarzlockiger Energie- und Temperamentsbolzen und umtriebiger Hansdampf in allen Gassen. Kili, wie er allgemein genannt wurde, hatte das große Los gezogen, bei einem steinreichen Onkel mietfrei in einem großzügigen Apartment zu wohnen und die gar nicht so alten Autos seines Onkels, wie er spottete, auftragen zu können. Geldsorgen kannte er folglich nicht, notfalls half der liebe Onkel aus, der immer noch hoffte, Kili würde eines Tages sein Geschäft übernehmen. So konzentrierte sich der Herzensbrecher in erster Linie auf Frauen, dann auf seine Computer und zum Schluss auf seinen Beruf. Rogge schätzte Kilis Intelligenz und Fantasie, bemängelte aber dessen Bereitschaft, fünf auch einmal gerade sein zu lassen.
Wie immer hatte es Kili geschafft, sich neben die Kollegin Petra Steiniger zu drängen, die ihn mit permanenter Missachtung strafte und seine täglichen Annäherungsversuche hoheitsvoll abprallen ließ, weshalb Kili sie gerne Petra Peiniger nannte. Dann allerdings startete die große Obermeisterin sofort unter die Decke. Sie war wirklich eine schöne Frau, was Kili automatisch herausforderte, und besaß einen dicken Kopf, was Kili einfach nicht wahrhaben wollte.
Dagegen gab die schüchterne Erika Scholz zu erkennen, dass sie für Kili viel übrig hatte, sehr zum Ärger ihres Kollegen Peter Dingeldey, der sich vergeblich um Erika bemühte. Obermeister Dingeldey kultivierte im Übermaß, was Kili Haindl abging, Gründlichkeit und eine schwerblütige Langsamkeit, die den Umgang mit ihm nicht eben erleichterten.
Kommissar Achim Born war der scharfe Hund des Ersten, klein, drahtig und ungeduldig. Mit Bello Born arbeitete niemand gern zusammen, weil Born verlangte, dass sich alles nach ihm richtete. Bei Kili zog er damit regelmäßig den Kürzeren, mit Dingeldey brachte er nicht die nötige Geduld auf und sein bevorzugter Partner Schubert, den ein gesundes Phlegma vor allen Aufregungen schützte, faulenzte im Krankenhaus, wie Born regelmäßig schimpfte. Permanenter Krieg herrschte zwischen Born und Hertha Wassmuth, ihrer Dienstzimmerkommandantin, die in dreißig Jahren so viele Kommissare hatte kommen und gehen sehen, dass der Grauhaarigen niemand mehr imponierte, geschweige denn Furcht einjagte. Tüchtig und zuverlässig war sie, das erkannten alle an, und Rogge schmunzelte oft bei dem Gedanken, sie habe von allen Kollegen am besten gelernt, sich durch Bärbeißigkeit unnütze Arbeit vom Halse zu halten. Anerkanntermaßen kochte sie den besten Kommissariatskaffee des Präsidiums und ihre Technik, für die Kaffeekasse zu sammeln, streifte oft den Tatbestand der Nötigung.
Die laufenden Fälle waren schnell besprochen, man konnte über Kirchbauer denken, was man wollte, sein Geschäft verstand er und Rogge saß deshalb schweigend auf der Fensterbank und hörte nur mit halbem Ohr zu, bis Kili ihn direkt anflachste: »Im Hause schleicht das Gerücht umher, du würdest den Leibwächter für eine schöne Frau spielen.«
»Simon hat mir diese Inge Weber aufs Auge gedrückt.«
»Ach nee! Will er Grem eins überbraten?«
»Möglich.«
»Was ist denn mit der Weber wirklich los? Simuliert sie?«
»Nein, das glaube ich nicht.« Dabei schüttelte Rogge unmerklich den Kopf, damit Kili seine nächste Frage verschluckte, die ihm auf der Zunge lag. »Ich habe auch schon eine Idee und werde in den nächsten Tagen was nachprüfen.«
»Das hört sich an, als würdest du dich ausklinken,«
»Ja, das habe ich vor. Im Augenblick braucht ihr mich nicht und für den Fall, dass es eng wird, hinterlasse ich bei Hertha, wo ihr mich finden könnt.«
Kili wollte noch etwas sagen, aber Rogge blinzelte ihm zu und sein Adlatus kapierte, drehte sich zu Petra um und schmeichelte: »Was meinst du - haben wir auch eine Idee, die wir mal überprüfen müssen?«
Dingeldey knurrte, Erika Scholz seufzte und Petra kicherte: »Sicher, Kili, du könntest mein Auto waschen.«
»Das ist keine Idee, das ist eine Schnapsidee.«
»Du weißt doch, dass ich nur Wein trinke.«
»Wein trinken und Wasser predigen!« Kili schüttelte empört den Kopf, von Borns finsterer Miene nicht die Spur beeindruckt. Eines Tages würden die beiden gewaltig zusammenrasseln, Kili hielt Bello für einen aufgeblasenen Westentaschendiktator und Born hasste die Unabhängigkeit eines Mannes, der auf jede Hierarchie pfiff.
»Okay, das war’s dann, einen schönen Abend noch.« Wie immer hatte Kirchbauer genau zum richtigen Zeitpunkt eingegriffen, aber Rogge überlegte auf dem Weg in sein Zimmer, warum ihm diese Fähigkeit seines Stellvertreters so unsympathisch war.
Simon saß noch an seinem Schreibtisch: »Klar, kommen Sie hoch.«
Das Gespräch verlief nicht so, wie Rogge sich das vorgestellt hatte, Simon weigerte sich, seine Entscheidung anders oder ausführlicher zu begründen als heute Vormittag.
»Ich will den Fall vom Tisch haben.«
»Streng genommen ist es nicht einmal ein Fall, Herr Simon«, belehrte der Hauptkommissar seinen Vorgesetzten geduldig. »Es fehlt ein hinreichender Verdacht, um überhaupt eine Ermittlung aufzunehmen.«
»So kann man das sehen«, stimmte Simon mit unbewegtem Gesicht zu. Als Pokerspieler müsste er reich werden.
»Hat es mit Miriam Schönborn zu tun?«
»Nein.« Simon bestritt es so ruhig, dass Rogge ihn zweifelnd anschaute. »Ich weiß, dass wir uns damals nicht mit Ruhm bekleckert haben, und diesen Staatsanwalt Jagenow könnte ich heute noch erwürgen.«
»Ich habe heute mit Inge Weber gesprochen, aber den Namen Miriam Schönborn nicht erwähnt.«
»Völlig richtig, Herr Rogge. Mein Wort darauf, dass ich Schönborn nicht behelligen will. Miriam war eine schöne Frau, ein seltenes Talent, aber ich habe mir von vielen Leuten, die sie privat kannten, immer wieder versichern lassen, dass sie in ihrem Haus sterben wollte. Allein, ohne Zeugen, nicht in einem Krankenhaus. Und Schönborn hat von Anfang an zugegeben, dass er sich das Morphium illegal besorgt hat.«
»Sie war schön, begabt und reich, Herr Simon.«
»Auch solche Menschen erkranken an Krebs.«
Im Grunde stimmte Kogge Simon ja zu. Miriam Andersen hatte eine kometenhafte Karriere hinter sich, als sie Schönborn kennen lernte. Eine Altistin, der alle Kritiker vorhergesagt hatten, sie werde den Sprung an die Scala oder die Met mit Leichtigkeit schaffen. Dann heiratete sie diesen windigen Immobilienmakler, der so schnell viel Geld gescheffelt hatte, dass sich der Verdacht unsauberer Geschäfte einfach aufdrängte. Von einem Tag auf den anderen verzichtete Miriam Schönborn auf die Bühne, um nur noch Hausfrau zu sein, und sechs Monate nach der Hochzeit verließ sie die Villa in Steinfurth nicht mehr. Keine Erklärung, keine Begründung, nichts; die Zeitungen überschlugen sich. Ein Jahr später schlief sie auf ihrem Lieblingsplatz im Garten ein, einem Rondell mit einem kleinen Springbrunnen, das ringsum von dichten Ligusterhecken umgeben war. Erst nach ihrem Tod wurde bekannt, dass sie unheilbar krebskrank gewesen war, die letzten Monate hatte sie nur mit Morphium überstanden, das Schönborn bei Dealern besorgt hatte. Aus ihrem elterlichen Erbe hinterließ sie Schönborn mehr als sechs Millionen Mark, und als das große Gemunkel anhob, nur dank dieses Geldes sei Schönborn am Bankrott vorbeigeschlittert, leitete Staatsanwalt Jagenow ein Ermittlungsverfahren ein.
»Aber seltsam ist es schon«, fand Rogge nachdenklich.
»Wie meinen Sie das?«
»Schönborns erste Frau war reich und todkrank und jetzt unterhält er eine Beziehung zu einer Frau, die nicht weiß, wer sie ist.«
»Sie mögen Schönborn nicht?«
»Nein. Einen sachlichen Grund habe ich allerdings nicht, reine Antipathie.«
»Dank derer Sie nun rätseln, ob Schönborn entdeckt hat, wer sie ist, und darüber hinaus weiß, dass sie viel Geld besitzt.«
Rogge hatte seinen Verdacht nicht verbergen wollen, lächelte aber anerkennend, dass Simon ihn so schnell durchschaut hatte.
»Wir senden wieder einmal auf derselben Wellenlänge, Herr Rogge.«
»Doch Sie haben Ihren Text verschlüsselt.«
»Nein.« Simon reagierte gelassen. »Mir will einfach nicht in den Kopf, dass in Deutschland eine Frau ein Jahr lang nicht vermisst wird. Und der heimliche Macho in mir fügt hinzu: eine Frau, die immer und überall die Aufmerksamkeit der Männer erregt haben muss.«
Rogge brummte zustimmend. Was Simon ausgesprochen hatte, war völlig richtig, doch zugleich ein Ablenkungsmanöver.
»Ich schaue mir morgen diesen Rastplatz mal an.«
Simon zuckte mit den Schultern. Einzelheiten wollte er nicht hören, Hauptsache, Rogge unternahm etwas. Aus einem Grund, den er immer noch nicht ausgesprochen hatte und auch nicht preisgeben würde, dachte Simon nicht daran, sich mit der Diagnose Gedächtnisverlust zufrieden zu geben,
»Deine Baguette.«
»Donnerwetter, ich hätte gewettet, dass du sie vergessen hast. Komm rein!« In ihren bequemen Schlamperhosen und dem weißen Russenkittel sah die Staatsanwältin sehr viel jünger aus als in den Kleidern, die sie bei Verhandlungen unter der Robe tragen musste.
»Es riecht gut.«
»Hast du Hunger?«
»Nein, danke, aber ein Bier würde ich gerne schnorren. Ich hab nichts mehr im Haus.«
»Gell, die Vorräte haben früher auch länger gehalten, was?«
Sie saßen abends oft in ihrer Küche. Ihr Wohnzimmer glich meist einem Schlachtfeld, weil sie die Angewohnheit hatte, ihre Akten auf allen waagerechten Flächen, ob hoch oder niedrig, auszubreiten, und laut aufschrie, wenn Rogge auf dem Sofa Platz schaffen wollte: »Ich find nichts mehr wieder.« An den beengten Raum hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt, schimpfte über die »Hundehütte« oder die »Schlafküche« und verfluchte den Ehemann, dem sie den Hals umdrehen würde, sobald derselbe in Reichweite geriet. Wenn Dörte lostobte, musste man sie gewähren lassen, das nahm Rogge geduldig hin, weil er durchschaut hatte, dass sie sich mächtig einschränkte und notgedrungen mit jeder Mark geizte.
»Na, hast du Simon zum Reden gebracht?«
»Nein. Er will nicht.«
»Für solche Fälle gibt’s Beugehaft.«
»Besorg mir einen Richter und ich beantrage sie.«
Über ihre Kochkünste schmunzelte er oft. Die Gerichtskantine erfreute sich zwar eines besseren Rufes, war aber tatsächlich keinen Deut anders als die im Präsidium, und dass die Staatsanwältin dort nur in Notfällen aß, verstand er gut. Aber warum sie sich abends von ihrem prächtigen Gewürzbord immer wieder in Versuchung führen ließ und harmlose Spiegeleier mit Oregano und Kümmelpulver ungenießbar machte, hatte er lange Zeit nicht begriffen. »Da fehlte der Pfiff«, jammerte sie, trübsinnig auf das widerlich schmeckende Produkt ihrer Würzkünste starrend. An diesen fehlenden Pfiff hatte er lange geglaubt, bis ihm einmal auffiel, mit welch fröhlicher Miene sie den Teller über dem Abfalleimer leer kratzte. Die Folge ihrer Kochversuche war nämlich, dass sie wenig aß und abnahm, und das wiederum konnte sie nach dem Kummerspeck, den sie sich während der Auseinandersetzungen mit den Gläubigern und der Trennung von ihrem Teuren angefuttert hatte, gut vertragen. Doch Rogge kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie ihm an die Kehle springen würde, sollte er seinen Verdacht äußern. Die Kränkung saß tief und ihr Kampf um die alte Figur gehörte zu dem selbst verordneten Programm, die Vergangenheit abzuschütteln. Was dagegen völlig wiederhergestellt schien, war ihre freche Klappe.
»Also machst du dich wirklich dran?«
»Im Schongang, Dörte.« Das Bier stimmte ihn ausgesprochen friedlich.
»Ich drücke dir die Daumen und setze dich vor die Tür.«
»Stimmt. Der Fall Gillbrecht.«
»Ich hab ein sauschlechtes Gefühl. Drei der Vergewaltigungen werde ich ihm wohl anhängen können, aber der Mord an der kleinen Elvira ...«
»Genetische Fingerabdrücke werden heute von allen Gerichten akzeptiert.«
»Sicher. Aber dass die in dem verdammten Labor keine Ordnung halten können. Ackerknecht hat mich überfallen und herumgetönt, dass er erstens von der Schlamperei gehört hat und zweitens den Beweis antreten will, dass die zum Schluss untersuchte Spermaprobe zweifellos von einem Mann, aber eben nicht von seinem Mandanten stammt.«
»Kannst du darauf nicht einfach verzichten?«
»Wie denn? Wenn ich’s rechtzeitig erfahren hätte, sicher, dann wär’s vielleicht auch ohne gegangen, aber als die Labormäuse endlich beichteten, hatte die Kammer die Klage schon angenommen.«
Und ausgerechnet Bello Born hatte die Ermittlungen geführt. Sexualstraftäter hasste er wie persönliche Feinde. Wenn Gillbrecht mit dem Mord durchkommen sollte, würde Born ausrasten. Hoffentlich nicht schon vor Gericht. Rogge hatte ihm unter vier Augen die Meinung gegeigt, weil er sich nicht darum gekümmert hatte, dass mit dem Spermaabstrich nichts schief ging, zumal zu dem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass Ackerknecht die Verteidigung übernommen hatte. Und Ackerknecht, zwei Meter groß und drei Zentner schwer, beherrschte alle Tricks; wenn sein Name fiel, schrillten bei Kripo und Staatsanwalt die Alarmglocken.
»Toi, toi, toi«, wünschte er und sie warf ihm eine Kusshand zu, die jeden anderen Mann von ihrer ungetrübten Zuneigung zu ihm überzeugt hätte. Rogge wusste es besser und machte sich keine falschen Hoffnungen.