Читать книгу Extra Krimi Paket Sommer 2021 - A. F. Morland, Pete Hackett - Страница 14

VII.

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Von der Weser her wehte es scheußlich kalt herauf, obwohl keine Wolke am hellblauen Himmel zu sehen war. Die vier Männer auf dem Kai drängten sich enger zusammen, um den Wind abzuwehren, der durch ihre zu dünnen Mäntel blies. Die beiden großen waren unzweifelhaft Brüder, bei flüchtigem Hinschauen konnte man sie glatt verwechseln. Der einzige Uniformierte hob das Sprechfunkgerät an den Mund: »Alles auf Position?«

»Alles klar!«, schnarrte es zurück.

Der kleine Frachter glitt im Zeitlupentempo auf die Mauer zu. Breite Rostbahnen an der Seite und ein notdürftig festgelaschter Baum zeugten davon, dass die Kolotai ihre beste Zeit hinter sich hatte und die Reederei an Reparatur und Unterhalt sparte. An der Reling lehnten mehrere Männer, andere liefen nach achtern und zum Bug, um die Leinen klarzumachen. Hinter dem Schlepper quirlte es jetzt gewaltig auf, die Trosse spannte sich und die Kolotai wurde noch langsamer.

Gönter saß auf dem anderen Ufer in einem Auto und beobachtete das Anlegemanöver im Fernglas. Ein Seelenverkäufer, dachte er traurig. Es war schon arg, was da unter der russischen Flagge herumschipperte, manchmal nur durch Farbe und Hoffnung zusammengehalten. Jede Wette, dass so ziemlich jede Sicherheitseinrichtung marode war, aber er hatte durchgesetzt, dass niemand an Bord ging, um zu kontrollieren.

Die vier Männer warteten immer noch, traten manchmal von einem Fuß auf den anderen, um sich aufzuwärmen. Kreutzer hatte jetzt auch, ein Glas an den Augen und grunzte zufrieden vor sich hin: »Deckladung. Hinter der ersten Luke, wie gemeldet.«

Die Leinen flogen, das Schiff kam zur Ruhe, die Gangway wurde ausgeschwenkt. Hinter dem Heck bewegte sich ein Gittergerüst, der Kran rollte schon heran. Zwei Männer bogen um die Ecke eines Schuppens und marschierten zügig auf die Gangway zu, als wollten sie unbedingt die Ersten sein, die an Bord gingen. Die Brüder drehten sich ein wenig, einer hielt eine Videokamera in der Hand, die er auf der Schulter des anderen abstützte, der ihm zugleich Deckung bot. Die beiden Eiligen achteten nicht auf die Vierergruppe. An Deck erschien ein Trumm von Mann, zwei Meter groß und fast genauso breit, mit einem riesigen Vollbart, der dringend nach Kamm und Schere verlangte. Er winkte den an Bord Kommenden zu, schüttelte dem vorderen begeistert die Hand, als wolle er ihm den Arm ausreißen, und umarmte ihn dann. Den zweiten Mann begrüßte er weniger stürmisch. Danach verschwanden die drei Männer.

»Also dann!«

Die vier Männer setzten sich in Bewegung; auf dem anderen Ufer legte Gönter das Glas zur Seite und ließ den Motor an. Jetzt dauerte es noch knapp eine Stunde, bis die Formalitäten erledigt waren und die ersten Ladungsstücke an Land gehievt wurden. Frühestens am Nachmittag würden der Ladungskontrolleur und die Zöllner die Kisten öffnen können; sie wussten, wo sie suchen mussten, und hatten sich heute Morgen noch einmal die Dias angesehen, um sich alle Einzelteile einzuprägen. Achttausend Verzögerungszünder für Granaten aus alten sowjetischen Beständen, vielleicht zerlegt und als technisches Material deklariert; eigentlich unverständlich, warum Eschenbach sie hier in Bremerhaven Zwischenlagern wollte. Es sei denn, die Zünder wurden umgerüstet - dazu würden die Federn und Teleskopstifte passen, die er aus Tschechien bezogen hatte.

Ungeduldig wartete Gönter in seinem Hotelzimmer, bis Kreutzer anrief und im vereinbarten Code meldete: »Wir sind auf Öl gestoßen.«

»Dann bohrt mal schön vorsichtig weiter«, empfahl Gönter heiter. Es traf sich gut, jetzt erreichte er ohne Hast noch die letzte Maschine nach Köln. Eschenbach würde sich nicht herausreden können, damit hatten sie ein Glied aus der Kette herausgesprengt, und mit den Zündern konnten sie ihn legal wegen der in Rotterdam aufgespürten Chemikalien, mit denen sich Sprengsätze herstellen ließen, unter Druck setzen. Hoffentlich! Denn seit ihre Quelle versiegt war, fehlten ihnen Tipps und der Gegner lernte dazu. Wer telefonierte oder faxte noch, seit es Internet und E-Mail gab? Weinert würde fluchen, wenn er erfuhr, dass Zoll und BND eng zusammenarbeiteten und den Verfassungsschutz von dieser Aktion ausschlossen. Selbst vom Mailen machten die Burschen immer weniger Gebrauch, sie verließen sich auf mündliche Absprachen, weil sich alle aus diesem oder über diesen Verein kannten. Vorgestern hatten sie in Frankfurt am Flughafen einen Kurier aus Athen gefasst, der in seinem Koffer 500.000 Dollar transportiert und ihnen allen Ernstes versichert hatte, er wüsste nicht, für wen das Geld bestimmt sei; sein Auftrag lautete, mit dem Koffer so langsam, dass man ihn verfolgen konnte, in ein x-beliebiges Hotel zu gehen, dort zwischen 18 und 22 Uhr sein Zimmer nicht zu betreten und mit einem anderen Koffer am nächsten Morgen abzureisen. Es klang abenteuerlich, aber leider sehr wahrscheinlich.

Die kleine Turbo-Prop-Maschine schaukelte und tanzte. Viele Jahre war Gönter selbst geflogen, seine CPL war noch gültig, aber im Amt sah man es nicht gerne, wenn er sich an den Knüppel setzte. Wenn er in der Kabine hockte, flog er mit dem Arsch mit, Turbulenzen störten ihn nicht, sein Magen hatte sich daran gewöhnt; Jets mit ihren Reisehöhen über dem Wetter lagen ihm zu ruhig in der Luft.

Also würden sie ihr Computersystem mit ein paar neuen Einzelheiten füttern können. Die Kolotai gehörte der Baltic Eastern Transports und an der russischen Reederei waren Harald Lanckenbroick und Klaus Ochtenhoff beteiligt, die sie von anderen krummen Geschäften schon kannten, aber leider noch nie vor Gericht hatten überführen können. Darauf - und nur darauf - kam es an.

Dass Ellwein gerne internationale Ringe, sozusagen Mafia im Frack, aufdecken würde, verstand Gönter zwar, aber in Wahrheit interessierte es ihn nicht. Darüber sollten sich seine Vorgesetzten den Kopf zerbrechen, er brauchte handfeste Tipps und Hinweise auf illegale Importe und Exporte. Handfeste, brauchbare und vor allem richtige Tipps. Was nutzte ihm Agentengeschwätz, der Irak habe sich mit Indonesien zusammengetan, um über Singapur elektronisches Material aus Japan zu beziehen? Sobald die Ware in Deutschland zwischenlandete, wurde sie lohnend. Nur dann!

Offiziell war er zwar zur loyalen Kooperation mit den Diensten vergattert worden, aber bei den monatlichen Berichten, die er im Amt abstattete, registrierte er seit Jahresanfang spürbare Zurückhaltung. Und mit Weinert, der hinter jedem Baum einen Verfassungsschädling witterte, kam er inzwischen überhaupt nicht mehr klar. Das grenzte doch mittlerweile an Paranoia! Diesen Eschenbach in aller Öffentlichkeit als Waffenschieber vorgeführt, mit Hilfe der Presse und des Fernsehens und der äußerst hilfreichen Kollegen von der Steuerfahndung, bewirkte mehr Abschreckung als komplizierte Überwachungen, deren Ergebnisse sich in Nebel auflösten. Deshalb hatte Gönter auch verschwiegen, dass Eschenbach einen obskuren politischen Studienkreis finanzierte. Denn Weinerts Tölpel kriegten es in ihrem Übereifer fertig, daraufhin einen so schönen Fang wie heute zu vermasseln, weil sie das Wild vergrämten.

In seiner Wohnung fand Gönter ein Fax mit zwei Wörtern vor: Weinert kocht. Kein Absender.

Gönter faxte an Ellwein zurück. Nicht zu viel Salz in die Suppe.

Freitag, 15. September

Angi - also Angela oder Angelika, die Wirtin - war noch bleicher als an den Tagen zuvor. Ihre Hände zitterten, sie hatte wenig oder schlecht geschlafen. Nach der kurzen Szene, in der Olli seine Frau gestern Abend verscheucht hatte wie ein lästiges Insekt, glaubte Rogge Gertruds Andeutung unbesehen, dass die Ehe nicht funktionierte, und überlegte müßig, warum diese Frau einen solchen Rüpel geheiratet hatte.

Zwar schien die Sonne unverändert, aber es war kühler geworden und am Nachmittag zogen Wolken auf. Schloss Falkenberg enttäuschte ihn, die zehn Mark Eintritt fand Rogge ausgesprochen happig und die Führerin mit Nickelbrille und schmalen Lippen leierte ihren Sermon herunter, als hasse sie alle Touristen und speziell Schlossbesichtiger. Mit dem Bus fuhr er nach Herlingen und ging ins Revier.

Wibbeke bot wieder Kaffee an: »Sie sehen besser aus, Herr Kollege.«

Dass er sich auch besser fühlte, wollte Rogge nicht zugeben. »Herr Wibbeke, erzählen Sie mir etwas über den Wirt und die Wirtin des Bären?«

»Ach du meine Güte.« Der Oberkommissar raufte sich die Haare. »Da sind Sie gleich über das große Drama des Dorfes gestolpert.«

»Tja, wofür hat man eine Spürnase.«

»Ja, ja. Also. Angelikas Eltern gehörte der Bär. An sich ein nettes Ehepaar, ordentlich, zuverlässig, fleißig, aber irgendwie keine Wirte. Ich hab mich da auch nie wohl gefühlt und heute glaube ich auch zu wissen, warum, die beiden Vogts schämten sich ihres Berufs.«

»Weil sie was Besseres sein wollten?«

»Nein, nein, sie waren nicht hochmütig, aber irgendwie immer auf Abwehr. Und dann so schrecklich bemüht, das nicht merken zu lassen: Gefällt es Ihnen, geht es Ihnen gut, was können wir für Sie tun - also, es passte einfach nicht zu einer Dorfkneipe.«

»Und Tochter Angelika sollte auf keinen Fall Wirtin werden.«

»Genau so. Na ja, der Mensch denkt, der Trieb lenkt, die schöne Angi wurde schwanger.«

»Sagen Sie bloß, von diesem Bierfass Olli.«

»Ach was, doch nicht von dem. Den Vater - also: den Erzeuger - hat Angi eisern verschwiegen. Aber nun war was unterwegs, die Schande, so galt das noch auf dem Dorf, war kaum noch aufzuhalten, und der alte Vogt verheiratete sein einziges Kind mit Anton Lohse.«

»Genannt Olli.«

»Ein ziemlicher Tunichtgut. Aber was soll ich Ihnen sagen: Mit dem Bären geht’s seitdem aufwärts. Olli verkörpert alles, was ein Wirt nicht sein soll, er ist mürrisch und unfreundlich und grob, aber der Laden läuft, und ich denke mir, der alte Vogt hat Ollis Wirtsqualitäten erkannt.«

»Was ist aus dem Kind geworden?«

»Tot. Überfahren vor - ich glaube, vier Jahren.« Wibbeke fluchte leise und sehr unfein. »Fahrerflucht.«

»Wie hat es Angi aufgenommen?«

»Sie schweigt seitdem. Und Olli ist richtig aufgeblüht, seit ihm der Bastard nicht mehr jeden Tag über die Füße stolpert.«

Rogge nickte und spielte mit seiner Zigarette, bevor er seufzend über die Hürde sprang: »Herr Kollege, ich wohne im Bären. In einem kleinen Gästehausanbau im Garten, acht Zimmer und alle modern eingerichtet, mit Telefon, Fernseher, Bad. Wie hat Olli das finanziert? Doch nicht mit dem Ertrag aus dem Bären.«

»Wahrscheinlich nicht. Ich vermute mal, mit Angis Mitgift. Den Vogts gehörte ziemlich viel Land, das sie verpachtet hatten, und das hat Olli Stück für Stück verkauft. Der Bär ist übrigens nicht immer so leer wie jetzt, im Hochsommer gibt’s im Stockbachtal einen bescheidenen Tourismus.«

»Das hat so viel gebracht?«

Nach einer Weile schaltete Wibbeke und lachte gutmütig: »Vergessen Sie die Quote nicht.«

»Welche Quote?«

»Die Milchquote. Offiziell betrieb der alte Vogt einen Milchwirtschaftshof mit hundert Stück Großvieh. Im Sinne des Gesetzes war er Bauer und Eigentümer. Und für die Quote soll der alte Lehnert eine Unsumme gelöhnt haben, wie man munkelt, aber die Bauern geben sich dumm und sind gerissen, die wissen ganz genau, wann sie schweigen müssen.« Über seine Grimasse musste Rogge laut lachen. »Übrigens auch vor der Polizei und dem Finanzamt.«

»Olli und Angie haben keine Kinder?«

»Nein ... Herr Rogge, Ihren mitleidigen Blick sparen Sie sich lieber auf.“ Angi könnte gehen, wenn sie wollte, so viel Angst vor dem Gerede der Leute und der Schwäche seiner Tochter hatte der alte Vogt nun auch nicht. Es gibt einen Ehevertrag, der Bär gehört ihr und Olli ist nur Angestellter seiner Frau.«

»Was Sie so alles wissen«, stichelte Rogge und Wibbeke schmunzelte: »Viel Wissen ersetzt die halbe Arbeit.«

»Haben Sie eigentlich mal im Bellhorner Motel nach Inge Weber recherchiert?«

»Ich nicht und so viel ich weiß, Grem auch nicht. Aber ich glaube, die wären zu mir gekommen, wenn diese Frau dort Gast gewesen wäre.«

»Warum sollten die das tun, Herr Kollege?«

»Weil die beiden Eigentümer wissen, dass wir einen Blick auf sie und ihre Gäste haben. Wenn da Volljährige ihre Nächte miteinander verbringen, geht uns das nichts an, aber manche Schläferinnen sehen etwas sehr jung aus, und den Skandal möchte sich das Motel nicht leisten, dass wir da eines Nachts laut klopfen und brüllen: Ziehen Sie sich etwas über und halten Sie Ihre Personalausweise bereit!«

»Fahren Sie bitte einmal hin und erkundigen Sie sich offiziell? Ich möchte mich da nicht blicken lassen.«

»Geht in Ordnung, Herr Rogge.«

Vor dem Revier gab Rogge seinem inneren Schweinehund einen Tritt und marschierte den Weg zurück nach Stockau am Bach entlang. Simon würde schäumen, wenn er hörte, wie sein Erster Hauptkommissar den Fall anging, mit langen Wanderungen und Schlossbesichtigungen, doch wenn Simon ihm diese Urlaubsmasche verbieten wollte, musste er mit der vollen Wahrheit herausrücken.

Wibbeke würde im Motel nichts erreichen, aber es war gut, wenn möglichst weit gestreut wurde, dass die Kripo den Fall Inge Weber nicht ad acta gelegt hatte.

Vor Stockau wurde Rogge von einem Fahrradfahrer überholt, der mächtig strampelte; Rogge hatte sich bei dem Klingeln ziemlich erschrocken. Der Knabe zischte in einem Affentempo an ihm vorbei, sein Haarschopf wehte regelrecht hinter ihm her. Ein alter Bekannter!

In Stockau begegnete Rogge ihm wieder, diesmal schob er manierlich sein Rad und redete eifrig auf eine junge Frau ein, die kannte Rogge auch, sie war von dem Quartett mit offener Missachtung begrüßt worden. Beide waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie ihn gar nicht beachteten; Rogge musterte die beiden unauffällig. Er war etwa 1,75 Meter groß, wog um die siebzig Kilo, braune Haare, schmales Gesicht. Sie hatte ein herzförmiges, puppenhaftes Gesicht, brünette, halblange Haare, 165 Zentimeter, um die sechzig Kilo. Braune Augen, wie Rogge feststellte, als sie ihn flüchtig ansah. Rein äußerlich passten sie gut zusammen.

Wibbeke hatte Rogge daran erinnert, dass Kühe kein Wochenende kannten, der Bauer also jeden Tag zum Melken recht früh aufstehen musste, und deswegen stockte er einen Augenblick, als er die Gaststube betrat. So voll hatte er den Bären noch nicht erlebt, Gertrud stellte neue Rekorde auf und die Wirtin half beim Servieren aus. Rechts, auf den Junggesellen-Radaubrüder-Bänken, hatte sich das Quartett niedergelassen und schien fest entschlossen, Gertrud zur Verzweiflung zu bringen. Olli zapfte und spülte pausenlos und stützte sich ausnahmsweise nicht mit einer Hand ab. Unter der Decke bildete sich bereits der schmutzig blaue Baldachin aus Zigaretten- und Pfeifenrauch. Bald würde es heiß und stickig werden, Rogge schauderte und zwang sich zu einem Lächeln, als Gertrud ihm eine Kusshand zuwarf. Und wieder erhaschte er einen hasserfüllten Blick des Hinkenden, der ihn, wahrscheinlich vom Bier beflügelt, sekundenlang böse anglühte.

Rogge bestellte Heringsstip nach Art des Hauses und befolgte die Regel, dass Fisch schwimmen müsse, aber der immer noch zunehmende Lärm und die schlechte Luft gingen ihm schwer auf den Geist. Verstimmt brach er bald auf und atmete vor der Tür tief durch.

Danach wusste er selbst nicht, warum er wieder zur Feltenwiese hinaufbummelte, vielleicht, weil er den Weg kannte und seine Lungen lüften wollte. Alle, die ihm vorwarfen, er rauche zu viel, begriffen nicht, dass Raucher besonderen Wert auf frische Luft legten. Der Halbmond wurde von Wolken bedeckt, es war unangenehm dunkel und Rogge trat vorsichtig auf, um nicht in einem der Löcher umzuknicken.

Das Auto entdeckte Rogge nur durch Zufall, weil plötzlich seitlich ein roter Punkt aufleuchtete. Irritiert blieb er stehen, der Punkt wurde dunkler, verschwand aber nicht, und dann schaltete Rogge: Da hatte sich jemand eine Zigarette angezündet. Der dunkle Streifen vor ihm musste schon der Buschsaum sein, das Auto parkte keine zwanzig Meter neben dem Wirtschaftsweg. Unschlüssig zupfte Rogge an seinem Ohrläppchen, es sah ganz so aus, als vergnüge sich da ein Pärchen, und Voyeurismus verabscheute er. Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen, im Auto leuchtete die Innenlampe auf, weil eine Tür geöffnet worden war, und fast hätte der Hauptkommissar vor Überraschung gepfiffen. Die junge Frau, die da ausstieg, war nackt, bückte sich nach hinten zur Rückbank und holte ein Bündel heraus, das sie auf die Motorhaube legte. Ihre Kleidung, im Stehen zog es sich bequemer an.

Rogge klemmte die Mundwinkel ein und schlich noch etwas weiter in den Schatten der Büsche. Striptease paradox bekam er nicht alle Tage geboten. Jetzt stieg auch der Mann aus. Er schien wesentlich älter zu sein und holte seine Brieftasche hervor, ging um den Wagen herum und gab ihr etwas, das sie in den Ausschnitt stopfte. Nun ja, eindeutiger ging’s nicht. Der Mann versuchte, die Frau zu umarmen, was sie mit einer obszönen Geste abwehrte, daraufhin ließ er sie rasch stehen und flüchtete hinter das Steuer. Der Motor sprang an, die Scheinwerfer leuchteten auf und Rogge klopfte sich innerlich auf die Schulter: Die jetzt angestrahlte junge Frau kannte er, die Kassiererin aus dem Supermarkt. Das Auto wendete, im letzten Moment duckte der Hauptkommissar sich vor dem Licht, der Kegel wanderte weiter und Rogge richtete sich schnell auf, um das Kennzeichen zu lesen. Landkreis Neuenburg. Knapp vierzig Kilometer über die Autobahn. Liebe und Triebe überwanden auch lange Strecken.

Als sich seine Augen wieder auf die Dunkelheit eingestellt hatten, sah er gerade noch, dass die Frau dem Auto Richtung Parkplatz folgte, also nicht ins Dorf hinunterlief. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

Rogge ließ ihr zwei Minuten Vorsprung, bevor er in bester Indianermanier hinter ihr herpirschte. Unter den Bäumen konnte er nichts sehen und die Autobahn übertönte ihre Schrittgeräusche. In der letzten Kurve vor dem Parkplatz blieb er stehen, überlegte und tastete sich dann nach links zwischen den Stämmen durch. Es war finster, dazu knackten pausenlos trockene Zweige unter seinen Schuhen, zum ersten Mal dankte er für den Lärm der Autos, es rauschte gleichförmig. Die Menschheit eilte freitags heim ins Wochenende und endlich erkannte Rogge auch zwischen den Stämmen und dem Krüppelgehölz die vorbeigleitenden Lichtpunkte.

Aber wo war die Frau abgeblieben?

Fast hätte Rogge sich zu weit vorgewagt und huschte erschrocken zurück hinter einen Baum. Sie saß allein auf einer der Bänke und rauchte, das Glutpünktchen hatte ihn gerade noch rechtzeitig gewarnt. Was zum Teufel trieb sie hier um diese Zeit? Wartete sie auf jemanden? Die beiden Abstellstreifen waren leer.

Nach einer halben Stunde kniffen seine Waden, er konnte nicht mehr still stehen. Die Frau hatte sich noch nicht gerührt und die Frage, warum er sich hier wie ein Sittenstrolch versteckte und lauerte, beschäftigte ihn immer mehr, während die Rechtfertigung, eben hier habe vor einem Jahr auch Inge Weber regungslos gesessen, allmählich fadenscheinig erschien. Fünf Minuten noch, schwor Rogge sich, und nach zwei Minuten wurde er erlöst. Ein Auto rollte mit hoher Geschwindigkeit auf den Parkplatz und bremste, dass die Reifen quietschten; der Fahrer sprang heraus, die Frau war aufgestanden, ging ihm entgegen, und als sie sich begrüßten, zweifelte Rogge keinen Moment, dass die beiden sich kannten. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, der Mann warf sich auf den Fahrersitz und dann bekam Rogge den Mund nicht mehr zu: Kurz vor der Ausfahrt bog der Wagen mit Frankfurter Kennzeichen in den Wirtschaftsweg ab; an dem zittrigen Scheinwerferlicht konnte Rogge verfolgen, dass er bis zum Buschsaum weiterschaukelte, dort erloschen die Lichter.

Prima, Jens, du kannst bei der Sitte anfangen!, lobte er sich sarkastisch. Was die beiden trieben, konnte er sich ausmalen. Die moralische Seite entrüstete ihn nicht, allenfalls gab ihm die Sorglosigkeit zu denken, mit der die junge Frau zu Werke ging. Und natürlich die Frage, wie oft sie hier oben ihren Nebenjob ausübte. Auf dem Rückweg verzichtete er darauf, den Wagen zu finden.

Im Bären brannte noch Licht, nach kurzem Zögern trat Rogge noch einmal ein und stellte verblüfft fest, dass die meisten Gästen bereits gegangen und viele Lampen schon ausgeknipst waren. Ein kluger Kopf hatte Fenster geöffnet, der schlimmste Mief war abgezogen. Rechts, auf der Krakeeler-Bank, saßen noch drei junge Männer; zwei beschimpften sich, drohten mit den Fäusten und lallten gewaltig herum, viel zu betrunken für eine ordentliche Prügelei, bei jeder heftigen Bewegung schwankten sie, dass sie von der Bank zu stürzen drohten. Dabei waren sie so mit sich beschäftigt, dass sie den dritten gar nicht beachteten, der Hinkende brütete über einem fast leeren Bierglas und stieß nur ab und zu einen seiner Kumpel in den Rücken, wenn der so weit nach hinten kippte, dass er den Hinkenden berührte. Am Tresen hingen zwei alte Männer, die leise miteinander redeten, Gertrud hatte sich zu einem jungen Paar gesetzt, das Rogge auf den ersten Blick wieder erkannte, der junge Mann mit dem Zopf und die junge Frau, die von dem Quartett so geschnitten worden war; beiden war er auch heute Nachmittag begegnet.

»Hei, Herr Rogge!« Gertrud winkte ihm so energisch zu, dass er zu ihrem Tisch hingehen musste; der Hinkende hob schwerfällig den Kopf und stierte ihn an, sagte aber nichts.

»Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«

»Gerne«, antwortete er gleichmütig; eigentlich wäre er lieber wieder gegangen.

»Das ist Herr Rogge. Das ist meine Freundin Monika.« Ein schneller, bittender Blick streifte ihn und er nickte rasch, versprochen war nicht vergessen. »Monikas Freund, Johann Thelen.«

»Guten Abend.«

Der junge Mann brummte etwas Unverständliches, seine verkniffene Miene signalisierte, dass er über Rogges Anwesenheit alles andere als erfreut war. Dagegen musterte Monika ihn unsicher und Rogge ahnte, dass Gertrud seinen Beruf ausgeplaudert hatte.

»Was trinken Sie? Noch ein Bier?«

»Gerne. Ein großes bitte.«

»Ist schon in Arbeit.« Sie sprintete davon und Monika lächelte ihn etwas verkrampft an. Offenkundig hatte sie Angst vor ihm, diese Reaktion kannte Rogge nur zu gut. Bevor er etwas sagen konnte, brüllte der Hinkende: »Noch ein Bier.«

Gertrud ließ sich nicht beeindrucken, auch die beiden Männer am Tresen reagierten nicht und Rogge murmelte, scheinbar besorgt: »Der hat den Kanal eigentlich schon voll.«

»Benno?«, schnappte der junge Mann. »Der hört erst auf, wenn ihm das Bier aus den Ohren tröpfelt.«

»Benno? Und wie weiter?«

»Brockes.« Nach kurzem Zögern setzte der junge Mann hinzu: »Benno der Kotzbrocken.«

»Jo!«, mahnte Monika.

»Ist doch wahr.«

Thelen zuckte die Achseln. Rogge ließ absichtlich eine halbe Minute verstreichen, bevor er gleichmütig fortfuhr: »Es muss auch solche Typen geben.«

Monika griff nach Thelens Hand, der sie zuerst zurückziehen wollte, dann aber tief Luft holte, weil er sich unter Rogges forschendem Blick zu einer Art Erklärung genötigt fühlte: »Benno und seine so genannten Freunde machen uns das Leben schwer, wo sie nur können.«

»Warum denn das?«

»Ich wohne auf dem Scherkenhof.«

»Tut mir Leid, das sagt mir nichts.«

»Ein Ökohof.« An der Art, wie Thelen die beiden Wörter herausstieß, war leicht zu erkennen, dass der junge Mann Kritik oder Spott erwartete und deshalb wie ein Igel in Verteidigungsstellung gegangen war.

Den Gefallen würde Rogge ihm nicht tun.

»Seit wann hat der Bauer umgestellt?«

»Seit vier Jahren.« Rogges Frage hatte Thelen verblüfft und Rogge meinte gutmütig: »Dann haben Sie ja das Schlimmste hinter sich.«

Auch Monika staunte ihn an. Aus den Augenwinkeln verfolgte Rogge, wie Gertrud dem Hinkenden das Glas hinknallte, als würde sie es ihm am liebsten an den Kopf schmeißen.

»Verstehen Sie was von ökologischer Landwirtschaft?«

»Nein. Wenigstens nicht viel. Eine Bekannte hat Landwirtschaft studiert und einen Hof im Münsterland übernommen, den sie umgestellt hat. Von ihr weiß ich etwas über die Schwierigkeiten.«

Thelen entspannte sich, auch Monika atmete auf, und als Gertrud sich wieder zu ihnen setzte, schaute sie erleichtert von einem zum anderen.

»Zum Wohl.« Er trank langsam, die drei jungen Leute hatten nicht zufällig zusammengesessen, das war ihm klar, und nun musste Rogge noch herausfinden, warum Gertrud ihn an den Tisch eingeladen hatte.

»Nee, über den Berg sind wir noch nicht«, sagte Thelen plötzlich. »Aber es sieht so aus, als würden wir es schaffen.«

»Wir?«

»Wir sind eine Kommune.« Wieder zeigte Thelen diese aggressive Abwehr, als wolle er sich im Voraus jede hämische oder kritische Bemerkung verbitten. Doch Rogge hatte ihm mindestens dreißig Lebensjahre und fünfundzwanzig Berufsjahre bei der Kripo voraus, komplizierte Gesprächspartner beeindruckten ihn nicht.

»Ja, so was kenne ich.« Er lächelte flüchtig. »Irgendwann wird sich die EU überlegen müssen, ob der bäuerliche Familienbetrieb neben den Agrarfabriken wirklich das A und O ist.«

Irgendwie schien Thelen enttäuscht, dass er auf Verständnis stieß. Auf Rogge machte er den Eindruck eines anständigen, aber ziemlich unreifen jungen Mannes, dem zum stoßfesten Selbstvertrauen noch viel fehlte.

»Sind Sie Landwirt?«

»Nein, gelernter Elektriker.«

»Aha. Und Sie, Frau ...«

»Ziegler.«

»Leben Sie auch auf dem Hof?«

»Nein, ich bin Arzthelferin.« Ein merkwürdiger Stolz klang durch. Sie stand auf eigenen Füßen und das schien sie bei aller Liebe auch von ihrem Freund zu erwarten, der den versteckten Vorwurf sofort parierte: »Moni, noch drei Jahre, dann haben wir’s gepackt.«

»Hoffentlich!«, versetzte sie spitz. Gertrud hüstelte nervös und ihr zu Gefallen meinte Rogge bedächtig: »Warum nicht? Meine Bekannte hat sich auch durchgebissen, allerdings war und blieb das größte Problem für sie die Direktvermarktung.«

»Für uns auch«, gab Thelen zu, vielleicht nur erleichtert, dass er einen uralten Streit mit seiner Freundin in Gegenwart eines Fremden nicht aufwärmen musste.

»Mein Eindruck ist, dass die Ökologen eine Menge vom Anbau verstehen, zu lang aber zu stolz waren - oder zu große Individualisten -, um eine ertragreiche Vermarktungsorganisation aufzubauen. Haben Sie denn einen festen Großabnehmer?«

»Einen. Ein Golfhotel.« Thelen verzog das Gesicht und Rogge erlaubte sich zum ersten Mal etwas Spott: »Wissen Sie, es gibt den schönen Spruch: Wenn du sie nicht unterkriegen kannst, verbünde dich mit ihnen.«

Darauf seufzte Thelen schwer und Gertrud kicherte: »Jo will den Bären beliefern, weigert sich aber, einmal eine Preiskalkulation für unsere Speisekarte zu machen. Wir müssen schließlich auch leben.«

»Olli schwimmt doch auf Bier.«

»Klar, mit dem Essen kämen wir nicht über die Runden.«

»Ihr müsstet ja nicht sofort alles umstellen ...« Auch dieser Streit schien nicht neu zu sein, Gertrud wehrte sich gelassen und nach einiger Zeit tauschte Rogge einen amüsierten Blick mit Monika. Sie tat zwar so, als langweile sie dieser Disput, aber den Stolz auf ihren Freund konnte sie nicht verhehlen. Ihre Nervosität hatte sich gelegt und Rogge würde sich hüten, von sich aus das Thema Vergewaltigung anzuschneiden.

»Wenn Sie gestatten, würde ich Sie alle zu einer Runde einladen. Gertrud, Sie auch.«

Gertrud, so stellte sich heraus, mochte keinen Alkohol, die beiden anderen nahmen wie er noch ein Bier, und als Gertrud zum Tresen lief, wachten alle Durstigen auf und bestellten Nachschub.

Zu Rogges Verblüffung nutzte Thelen die Gelegenheit, ihn direkt zu fragen: »Gertrud hat uns erzählt, dass Sie bei der Kripo sind.«

»Ja.«

»Sind Sie eigentlich dienstlich hier?«

»Halb und halb.« Antworten musste er und lügen wollte er nicht. »Sie lesen doch Zeitung?«

»Na klar.«

Vor dem nächsten Satz wurde Rogge unterbrochen, eine junge Frau betrat den Bären und Rogge hielt unwillkürlich die Luft an. Die Verkäuferin aus dem Supermarkt, die er oben auf der Feltenwiese bei ihrem Nebenerwerb beobachtet hatte. Auch Thelen und Monika Ziegler ließen sich ablenken und schauten zu ihr hin; sie warf den Kopf in den Nacken und setzte sich zu dem Hinkenden, zu Benno Brockes, der aus seinem Bierdunst auftauchte und sie abschätzig musterte.

»Wer ist denn das?«, fragte Rogge leise und Monika Ziegler antwortete ebenfalls unterdrückt: »Sie heißt Andrea Wirksen.«

»Sie arbeitet hier im Supermarkt, nicht wahr?«

»Ja.«

Benno runzelte die Stirn, während Andrea sich an ihn drängte und ihm etwas zuflüsterte. Die beiden Betrunkenen neben dem Paar hatten das Interesse an Andrea Wirksen schon wieder verloren und vertieften sich erneut in ihren sinn- und ziellosen Streit.

»Was trinkst du, Andrea?«, rief Gertrud, mit dem Zapfen beschäftigt.

»Auch ein Bier.«

Rogge hätte das Paar gern weiter beobachtet, Andrea schien ziemlich gereizt auf Benno einzureden oder ihm Vorwürfe zu machen, der Riese verzog verächtlich den Mund; was er hörte, gefiel ihm nicht, doch sie schien entschlossen, sich nicht unterbrechen zu lassen. Ob sie gerade erzählte, was sie oben auf der Feltenwiese getrieben hatte? Leider räusperte sich in dem Moment Thelen, der für Andrea Wirksen so wenig Sympathie und Interesse aufbrachte wie für Benno Brockes, und Rogge musste sich notgedrungen wieder ihm zuwenden.

»Wo war ich ...? - Ach ja. Dann können Sie sich sicher an die Frau erinnern, die man auf dem Parkplatz gefunden hat.«

»Die ihr Gedächtnis verloren hatte?«

»Genau die. Wir wissen immer noch nicht, wer sie ist.«

»Und deswegen sind Sie hier?«

Scheinbar widerwillig nickte Rogge. »Warum ist sie gerade hier, auf diesem gottverlassenen Parkplatz, aus dem Auto gestoßen worden?«

Thelen spitzte überrascht die Lippen und Rogge blickte wie zufällig zu Monika Ziegler, die blass geworden war und sich erleichtert zu Gertrud umdrehte, die ein volles Tablett absetzte: »So, die letzte Runde, einverstanden?«

»Ich hab morgen frei«, sagte Thelen verwirrt.

»Müssen Sie nicht melken?«, erkundigte sich Rogge.

Thelen schüttelte stolz den Kopf: »Wir haben kein Milchvieh mehr. Nur noch Fleischrinder, in Robusthaltung.«

»Na, denn mal Prost.« Als sie die Gläser abstellten, kicherte Thelen unvermittelt: »So gottverlassen ist der Parkplatz gar nicht.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sind Sie mal da oben gewesen?«

»Natürlich.«

»Man kann von dem Parkplatz aus in den Wald fahren und da laufen merkwürdige Dinge ab. Manchmal wenigstens.«

»Ja?« Ein höfliches Desinteresse, Thelen reagierte gekränkt, die guten alten Verhörtricks funktionierten doch immer wieder.

»Vor allem, wenn es dunkel ist«, beteuerte er.

»Liebe findet überall statt«, kommentierte Rogge trocken, doch damit forderte er Thelen endgültig heraus: »Keine Liebe, Herr Rogge. Ganz andere Dinge.«

»Da bin ich aber gespannt.«

»Freunde von mir haben zweimal einen Lieferwagen gesehen, der in dem Wald parkte. Und dann kam über die Wiese ein anderer Wagen, zwei Männer luden etwas um und der Lieferwagen fuhr wieder auf die Autobahn.«

»Nachts? Im Dunkeln?«, zweifelte Rogge höflich und Thelen nickte eifrig, als müsse er den Skeptiker überzeugen.

»Glauben Sie, das hat was zu bedeuten?«

»Sie nicht? Im Dunkeln ein- und ausladen?«

Mit der Antwort ließ sich Rogge Zeit: »Ich weiß nicht. Vielleicht. Aber eigentlich glaube ich eher an ein harmloses Treffen. In meinem Beruf erlebt man Dinge, die glaubt einem kein Mensch, die kann man gar nicht erfinden.«

Thelen wollte etwas einwenden, aber Monika legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Ich will Ihnen mal eine Geschichte erzählen, die ich selbst erlebt habe. Eine Frau kommt auf ein Revier und meldet ihren Mann als vermisst ...« Mit der Geschichte von dem Zwillingsbruder hatte er schon mehrere Runden unterhalten, sie war auch mehr als kurios und unwahrscheinlich, erklärbar nur durch die Tage des Zusammenbruchs 1945. Eine Frau brachte auf der Flucht eineiige Zwillinge zur Welt, die neugeborenen Jungen wurden getrennt, als sich der Treck vor den nachrückenden russischen Truppen zerstreute und in alle Richtungen zerstob. Die Kinder wurden gerettet, von der Mutter gab es keine Spur und die Zwillinge wuchsen in Heimen und bei Pflegefamilien auf, ohne voneinander zu wissen. Dann verließ der eine Zwilling seine Frau, sie meldete ihn auf dem Revier als vermisst und begegnete auf dem Weg zurück in ihre Wohnung dem anderen Zwilling ...

Am meisten amüsierte sich Gertrud, sie besaß, wie Rogge argwöhnte, einen winzigen Hang zum Sadismus, gerade groß genug, um Gefallen an Katastrophen, Pannen und Verwicklungen zu finden. Thelen lauschte scheinbar ungerührt und Monika litt mit. Drei Personen, drei Temperamente. Die beiden Alten am Tresen schienen sich alles gesagt zu haben und dösten stumm über ihren leeren Gläsern. Auf der Bank der jungen Wilden war den Streithähnen die Kraft aus gegangen, einer hatte schon den Kopf auf den Tisch gelegt und schlief, der andere gähnte, dass es ihn schier zerriss. Benno Brockes flüsterte mit Andrea Wirksen, die ihm fast auf dem Schoß saß, und griff ihr dabei ungeniert an den Busen; sie wehrte ihn nicht ab. Plötzlich roch und schmeckte alles schal. Kneipenschluss.

»Eine verrückte Geschichte«, urteilte Thelen und wollte nicht zugeben, dass sie ihn beeindruckt hatte. Monika wischte sich verstohlen zwei Tränen weg und Gertrud holte tief Luft: »Was es nicht alles gibt ...«

»Vor allem gibt es kein Bier mehr«, jammerte Rogge theatralisch und zwinkerte ihr zu. »Ich verziehe mich.«

Als Rogge aufstand, rückte Andrea ein Stück zur Seite, was Brockes mit einem drohenden Grunzen quittierte; seine Augen waren jetzt rot unterlaufen und der tückische Blick, mit dem er Rogge und Gertrud bedachte, verhieß nichts Gutes.

»Soll ich Ihnen helfen ...?«

Die Bedienung hatte sein halblautes Angebot richtig verstanden: »Keine Angst, mit Benno werd ich fertig.«

»Dann wünsche ich Ihnen allen eine gute Nacht.«

Gertrud klatschte in die Hände, die beiden alten Knaben schossen auf ihren Hockern regelrecht in die Höhe: »Schluss für heute.«

Rogge saß noch am offenen Fenster und rauchte eine letzte Zigarette, als es leise an seiner Zimmertür klopfte. Verwundert, aber auch beunruhigt stand er auf.

»Herr Rogge?« Trotz des Flüsterns erkannte er Gertrud.

»Moment.« Was sollte das denn?

Doch sie schien gar nicht daran zu denken, dass er sie missverstehen könnte, sondern legte erleichtert los: »Gut, dass Sie noch nicht schlafen.«

»Wollen Sie hereinkommen?«

»Gerne.« Gertrud huschte ins Zimmer und wirbelte herum: »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken.«

»Wofür denn das?«

»Dass sie die - die Sache mit Monika nicht erwähnt haben.«

Ihm ging ein Licht auf: »Thelen weiß nicht, dass Monika ...?«

»Nein. Er darf es auch nie erfahren. Sonst rastet er aus.«

»Ich werde schweigen!«, versprach er großzügig und sofort verwandelte sich der gespannte Zug in ihrem Gesicht.

»Ich hab Blut und Wasser geschwitzt«, bekannte Gertrud. »Das hätte ich Ihnen vorher sagen müssen.«

»Es ist ja alles gut gegangen und jetzt weiß ich Bescheid.«

»Fein.«

»Sagen Sie mal, Gertrud, wenn Sie schon hier sind: Diese Andrea Wirksen, die da mit dem Brockes rumgeknutscht hat, wer ist das?«

»Andrea?« Sie runzelte die Stirn, ihr Blick wurde finster. »Die treibt’s mit allen.«

»Auch mit Benno Brockes?«

»Das war mal, Benno will jetzt nichts mehr von ihr wissen.«

»Und sie? Hat sie was für Benno übrig?«

»Ja, scheint so«, entgegnete Gertrud so zaghaft, dass er aufhorchte. »Manchmal hängen sie wie die Kletten zusammen und dann wieder kracht’s, dass man fürchtet, er schlägt sie tot.« Dabei strich sie unwillkürlich mit beiden Händen über ihren Busen und Körpersignale verstand er besser als sie.

»Der Benno ist hinter Ihnen her, was?«

»Klar«, erwiderte sie, wieder unbefangen. »Benno ist hinter jeder Frau her, und wenn er sie herumgekriegt hat, wirft er sie auf den Müll.«

»Was macht er beruflich?«

»Fahrer bei der Molkerei. So öde wie der ganze Kerl.« Bis jetzt hatte sie spontan geantwortet, aber weil ihm das leise Zögern vor ihren letzten Worten nicht entgangen war, verkniff er sich alle weiteren Fragen.

»Wegen Monika müssen Sie sich wirklich keine Sorgen machen.«

»Danke. Schlafen Sie gut.« Auch nach einem langen, schweren Tag konnte Gertrud nicht langsam gehen, sondern sie stürmte aus seinem Zimmer.

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