Читать книгу Extra Krimi Paket Sommer 2021 - A. F. Morland, Pete Hackett - Страница 12

V.

Оглавление

Ihre Besprechungen fanden immer am frühen Abend statt, wenn die meisten Angestellten nach Hause gegangen waren und sie den dritten Stock für sich allein hatten. Das kleine Konferenzzimmer lag günstig, zwischen einer Aktenkammer und Ralf Weinerts Arbeitsraum. Das einzige Fenster ging zum Hof hinaus und auf der anderen Seite des Platzes erhob sich eine fensterlose Wand, die zu einer Lagerhalle gehörte. Ein scheußlicher Anblick, aber die beste Garantie, dass sie von dort nicht abgehört wurden, und die Techniker kontrollierten das kleine Konferenzzimmer vor jeder Sitzung auf Wanzen.

»Jockel Pertz hat mich angerufen«, begann Dieter Ellwein nüchtern. »Die Ehefrau dieses Tepper ist wieder in Deutschland und sucht ihren Mann. Möglicherweise, um endlich die Scheidung einzuleiten. Sie hat sich bei dem Staatsanwalt erkundigt, der seinerzeit das Verfahren auf Anweisung eingestellt hat. Sein Vorgesetzter hat sich mit Reineke in Verbindung gesetzt, der hat Pertz alarmiert.«

»Auch das noch!«, brummte Arno Gönter.

»Kann sie uns gefährlich werden?« Der rundliche Weinert sah zwar aus, als bringe nichts und niemand ihn aus der Ruhe, er neigte aber zu nervöser Hast und Ängstlichkeit.

»Kaum«, erwiderte Ellwein fest.

»Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum wir den Kerl nicht endgültig abschreiben.« Arno Gönter schaute Dieter Ellwein finster an. »Er nutzt uns doch nichts mehr.«

»Nein, nein«, widersprach Weinert. »Selbst wenn er sich verbrannt hat - wir müssen herauskriegen, ob und was er verraten hat.«

»Das wird er uns gerade auf die Nase binden«, knurrte Gönter. »Und was kann er schon auspacken? Wir haben doch diesen ganzen Zirkus nur veranstaltet, damit er immer schön abgeschirmt blieb.«

»Und was ist mit der Frau?«, warf Ellwein ein.

»Das hat Pertz am Wochenende geregelt.« Weinert kniff sich in die Nasenwurzel und presste die Lider zu. »Obwohl - ich glaub nicht mehr an die Ködertheorie.«

»Abwarten. Auf einen oder zwei Monate kommt es jetzt auch nicht mehr an.« Ellwein hütete sich, den Chef herauszukehren, pro forma waren sie nämlich gleichberechtigt und jeder besaß ein Vetorecht. Gleichwohl hatte es sich im Lauf der Jahre ergeben, dass er und der Bundesnachrichtendienst bestimmten und den Takt angaben, was den robusten Arno Gönter vom Zollkriminalinstitut nicht störte, aber den empfindlichen Weinert immer wieder kränkte. Wie immer sie diese Affäre über die Bühne brachten, eine Lehre war schon jetzt zu ziehen: Nie wieder ein Führungstrio. Als der erste Zweifel an Teppers Zuverlässigkeit auftauchte, hätte einer sofort entscheiden und befehlen müssen, statt dass sie wertvolle Zeit mit Diskussionen, Vertagungen und faulen Kompromissen vergeudeten. Nun klammerten sie sich an Strohhalme.

Gönter vom Zollkriminalamt schmunzelte behäbig. Zu dieser Aktion Tepper war er abkommandiert worden, er hatte sich nicht danach gedrängt, aber auch nicht gewehrt, weil er neugierig war, diesen geheimnisvollen Apparat einmal kennen zu lernen. Zu Anfang hatte ihn die Geheimniskrämerei beeindruckt, aber nach fünf Jahren zweifelte er an ihrem Sinn und überlegte immer häufiger, ob sie nicht eine Ersatzhandlung darstellte. Wenn seine Kollegen jemanden erwischten, hielten sie etwas in der Hand, Papiere oder Akten oder auch Waren, doch seine beiden Mitstreiter mussten sich mit vagen Andeutungen begnügen, Gerede, Gerüchten. Sobald Gönters Behörde zulangte, trat sie offen auf, Weinerts Verfassungsschutz hatte keine Exekutivrechte, dasselbe hatte für Ellweins Bundesnachrichtendienst im Inland gegolten; Ellwein und Weinert mussten deshalb im Schatten bleiben, sich ihre eigene Realität schaffen, was nicht nur den Blickwinkel, sondern auch die Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusste.

Weinert ahnte, was Kollege Gönter dachte, und manchmal beneidete er ihn um seine Handlungsmöglichkeiten. Das mündete meistens in hilflosem Zorn, dass sie auf die Hilfe anderer angewiesen blieben, diese mit Informationen fütterten, selbst aber nie den Ruhm kassierten. Was für ein Blödsinn! Und Ellweins schlecht kaschierte Überheblichkeit ertrug er von Mal zu Mal schwerer.

»Was Neues von unseren Freunden?«, erkundigte sich Ellwein jovial und Ralf Weinert schnaufte: »Nein. Da herrscht nach wie vor absolute Funkstille.«

»Nun denn. Ich würde vorschlagen, wir machen bis Ende des Jahres weiter. Widerspruch?«

»Das Konto ist gesperrt?«

»Nein, aber wir haben zwei Vertrauenspersonen zusätzlich eingesetzt. Wenn er versucht, Geld abzuheben, wird es hinausgezögert, bis wir uns dranhängen.«

»Einverstanden«, knurrte Gönter und stemmte sich hoch. Und dafür hatte er einen schönen Abend geopfert! Seit einiger Zeit plagte ihn der Verdacht, dass Weinert sie aushorchte und nicht mehr alle Karten offen auf den Tisch legte. Genau davor hatten ihn seine Chefs gewarnt, als er sich gut gelaunt abmeldete,

»Was bleibt uns anderes übrig?«, maulte Weinert.

»Prima. Dann hoffen wir, dass Pertz was erreicht hat.«

Sie verließen das Bürogebäude im Abstand von dreißig Minuten. Möglichst nicht zusammen gesehen zu werden zählte zu den einfachen Vorsichtsregeln.

Dienstag, 12. September

Auf der linken Seite des Rastplatzes stand nur ein Lastzug; der Fahrer schlief tief. Auf der rechten Seite, für Pkw reserviert, knatterte gerade ein überladener Kleinwagen heran. Rogge stellte sich ganz ans Ende. Viel los war hier wirklich nicht, der Platz bot auch wenig, was zu einer längeren Rast einlud. Drei Tische mit Bänken aus halben Baumstämmen und drei Papierkörbe. Auf der Autobahn herrschte vormittags um neun Uhr Hochbetrieb, der vielleicht dreißig Meter tiefe Streifen aus verkrüppeltem Nadelholz zwischen Straße und Parkplatz versperrte zwar die Sicht, dämpfte aber den Lärm nicht.

Die Autobahn schnitt hier den Nordhang eines Hügels. Auf der anderen Seite, hinter dem West-Ost-Fahrstreifen, stieg das Gelände an, dicht bestanden mit Nadelbäumen, Mehr als einmal hatte Rogge versucht, sich die Unterschiede zwischen Fichten und Kiefern zu merken, es gab da eine Eselsbrücke mit Hngern wie Züchte, aber die konnte er sich einfach nicht merken. Auf seiner Seite setzte sich der Wald fort; der Karte hatte Rogge entnommen, dass der Hang sich noch mehrere hundert Meter bis ins Stockbachtal erstreckte. Er lief ein paar Schritte weiter, Richtung Ausfahrt, und blieb vor einem Forstwirtschaftsweg mit tief ausgefahrenen Radspuren stehen. Neugierig spazierte Rogge den Weg entlang, der nach zwanzig Metern nach rechts abbog, sodass er eine ganze Strecke parallel zum Parkplatzstreifen verlief. Die hohen, weit auseinander stehenden Bäume erlaubten ungehinderte Sicht auf den Laster. Dann führte der Weg nach links, jetzt entfernte er sich von dem Parkplatz. Nach vielleicht hundertfünfzig Metern hörte der Nadelwald auf, sein Saum war mit niedrigen, undurchsichtigen Büschen bewachsen. Dahinter lag die Feltenwiese, eine riesige Fläche mit leichter Neigung; der Wirtschaftsweg verlief quer den Hang hinab und schien unten in eine asphaltierte Straße zu münden. Die Autobahn war an dieser Stelle immer noch zu hören, aber nunmehr schwach, wie ein stetes, nicht sehr angenehmes Rauschen.

So genau wusste Rogge gar nicht, wonach er Ausschau hielt. Immerhin schien es möglich, dass der Wagen, in dem Inge Weber gesessen hatte, gar nicht über die Autobahn auf den Parkplatz gekommen war; wer sich in der Gegend auskannte, konnte unten im Tal durchs Dorf fahren, bis zu der schmalen, ausgebauten Straße, dann den Wirtschaftsweg hochsteuern bis auf den Parkplatz und sich von dort auf die Autobahn einfädeln. Eine Auffahrt, die nicht im Autoatlas verzeichnet und bestimmt nicht im Sinne der Erfinder war; aber Rogge wusste, dass an vielen Stellen die langen Strecken zu den regulären Autobahnauffahrten abgekürzt wurden.

Von dem Dorf unter ihm sah Rogge nur die Dächer und den Kirchturm. Jenseits des Baches, auf dem Gegenhang, glänzte halbrechts in der Sonne ein weißes Gebäude, die Schrift auf dem Dach konnte er auf diese Entfernung nicht entziffern.

Nach den tiefen Spurrillen zu schließen wurde der Wirtschaftsweg recht häufig genutzt. Rogge sah sich um und stutzte. In dem Gras vor dem Buschsaum entdeckte er Reifenspuren, links und rechts, und als er sich bückte, fand er die gleichen Spuren auf der Wiese, alle von dem Weg abzweigend. Einen Moment grinste er. Die Lösung eines alten und immer noch akuten Problems: Wo war man mit seiner Freundin ungestört? Ein Auto besaß heute fast jeder, aber mit sturmfreien Buden sah es schlechter aus.

Er schlenderte nach rechts, den Blick auf den Boden gerichtet. Und ob hier Autos geparkt hatten! Der Buschsaum war nicht planvoll gepflanzt worden, sondern wild entstanden, es gab Buchten und Nischen, zwischen einigen Büschen sogar kleine Labyrinthe mit unverkennbaren Hinweisen, geknickten Asten, abgerissenen Blättern, an einer Stelle glänzten Öltropfen. Und dann entdeckte Rogge eindeutige Zeugnisse, bräunlich angelaufene Tempotücher und gebrauchte Kondome. Bonbonpapier, Kippen, zwei zerknüllte Zigarettenschachteln, leere Bierdosen. Vergnügt spazierte er zurück. Vorsorgliche Gemüter hatten sogar große Steine aus den Spuren beseitigt und die Löcher mit Erde aufgefüllt, was ja wohl bedeutete, dass hier häufiger Verkehr im doppelten Sinne des Wortes stattfand. Jenseits des Wirtschaftsweges das gleiche Bild, in Gedanken klopfte Rogge sich auf die Schulter und zelebrierte mit Winnetou Blutsbrüderschaft, während er am Rand der Büsche entlangschlich und den Boden links und rechts musterte.

Von der Feltenwiese stand nichts in Grems Akten. Der 15. September des Vorjahres war ungewöhnlich warm gewesen, in der Nacht war es für die Jahreszeit zu wenig abgekühlt. Ein Wetter für Liebespärchen?

Zur Kontrolle ging Rogge den Wirtschaftsweg noch einmal Richtung Parkplatz zurück. Unmittelbar hinter den Büschen entdeckte er auf dem braunen Teppich aus trockenen Nadeln eine schwach ausgefahrene Spur zwischen den Stämmen, nach zwanzig Metern schlug sie eine Kurve nach rechts und endete hinter einem prächtigen und übermannshohen Ilex. Wenn hier ein Auto parkte, konnte es vom Wirtschaftsweg aus nicht gesehen werden, es sei denn anhand von eingeschalteten Scheinwerfern und Rücklichtern. Und eine Wendespur, entstanden beim Rückwärts-vorwärts-Rangieren. Donnerwetter! Als normaler Spaziergänger, der sich nach langer Fahrt nur die Beine vertreten wollte, hätte Rogge auf diese Einzelheiten auch nicht geachtet.

Ein wunderschöner Vormittag zum Spazierengehen! Warm und sonnig, der wolkenlose Himmel zeigte ein seidiges Blau. Bis ins Tal brauchte Rogge auf dem Wirtschaftsweg eine gute Viertelstunde. Der mündete tatsächlich in eine asphaltierte Straße, die nach hundert Metern auf die Hauptstraße stieß, unmittelbar vor dem Ortseingangsschild Stockau, Kreis Herlingen. Zur Autobahn ging es nach links, der nächste Ort musste Dreschbach sein, wenn Rogge die Karte richtig im Kopf hatte.

Das Dorf schlug Rogge aufs Gemüt. Obwohl ihn der Lärm, die Enge und die Hetze in der Stadt manchmal bis zur Weißglut erregten, würde er an dieser menschenleeren Stille ersticken. Zwölf Höfe links und rechts der Straße, ein kleiner Platz mit Kirche, Kneipe und Supermarkt. Gleich daneben ein windschiefer Fachwerkbau, dazu ein scheußliches mehrstöckiges Mietshaus, das vom Einsturz bedroht schien. Das Regendach an der Bushaltestelle hing zerbeult und schräg auf seinen Stützen. Am anderen Ende des Ortes kehrte Rogge um, ein Hund näherte sich ohne sonderliches Interesse und begutachtete ihn aus der Entfernung, bellte und wedelte aber nicht. Von hier aus konnte Rogge die Buchstaben auf dem großen weißen Gebäude lesen: Meierei Stockbachtal. Bis jetzt hatte er nur eine Seitenstraße entdeckt, die nach rechts zu einer Brücke über den Bach führte. An ihr lagen die wenigen Neubauten, Ein- und Zweifamilienhäuser, manche Gebäude noch unverputzt, als habe das Geld dazu nicht mehr gelangt. Oder die Zeit des Häuslebauers. Hauptstraße und Brückenstraße, Fantasie wurde nicht verschwendet.

Wenn es ein soziales Leben gab, spielte es sich auf dem kleinen Platz ab. Die Kneipe hatte noch nicht geöffnet, Rogge amüsierte sich über den Namen Zum Bären. Mittagstisch ab 12 Uhr. Links an dem frisch renovierten Klinkerhaus vorbei führte ein Weg nach hinten, in eine Art Garten; er blieb vor dem niedrigen Zaun stehen und staunte ein wenig über den modernen einstöckigen Bau: Gästehaus. Ein Bärenzwinger, witzelte er erheitert. Wer mochte sich hier wohl einmieten?

Das Kirchlein war verschlossen, Rogge spazierte über den kleinen Friedhof, auf dem hohe, breitkronige Buchen wuchsen.

Im Schatten ihres Laubes herrschte eine kühle Ruhe. Der Supermarkt verdiente seinen Namen; offenbar wurde hier alles feilgeboten, was der Mensch brauchte, von Zeitungen über Briefmarken, Gummistiefel und Batterien bis hin zu Ersatzreifen.

Eine ältere Frau verließ den Laden, sie schleppte ein schweres Netz und warf Rogge einen misstrauischen Blick zu. Seinen höflichen Gruß erwiderte sie nicht.

Keine Polizeistation; das nächste Revier lag in Herlingen und auch die Notrufsäule neben dem Wartehäuschen war nicht mehr fest verankert.

Die Tür des Bären wurde geöffnet, eine junge Frau brachte ein neues Schild heraus und hängte es neben dem Eingang auf. Heute: Jägerschnitzel mit gemischtem Salat und Pommes frites für 8,00 DM. Als die Frau sich umdrehte, lachte sie Rogge zu und er winkte zurück. Wer's drall liebte, musste seine Freude an ihr haben, mittelgroß, enge weiße Bluse und enger, kurzer schwarzer Rock, sie zeigte, was sie hatte, und auch am Lippenstift hatte sie nicht gespart.

Ein ganz hübsches Gesicht, dachte Rogge und schaute ihr nach. Aufgeweckt - nein, ausgeschlafen. Diese brünetten Afro-Löckchen gefielen ihm allerdings gar nicht. Hier tanzt der Bär! Über die Unterschiede zwischen dem Land und der Stadt staunte er immer wieder.

Jetzt muhten irgendwo Kühe, der Polizist kratzte sich den Kopf und überlegte, was Bauern im September eigentlich taten. Ernten? Umpflügen? Säen? Ziemlich erschreckend, wie wenig man über die wichtigen Alltagsdinge wusste. Auf dem Marsch über die Feltenwiese zurück wurde ihm warm. Der Lastzug war weggefahren, dafür rüstete sich eine Familie aus Norddeutschland zum Picknick, die Kinder tobten schreiend durch den Wald und achteten nicht auf die Rufe der besorgten Mutter.

Nach fünf Kilometern tauchte das Schild für die Abfahrt Dreschbach/Bellhorner Berge auf und Rogge ordnete sich rechts ein. Berge war eine hübsche Übertreibung, er kannte diese hügelige Gegend, weil er sich am Wochenende gelegentlich hierher verirrte, rund um den Bellhorner Stausee konnte man stundenlang durch Wald laufen und auf dem Wasser war immer etwas los. Fast hätte er die Abzweigung nach Stockau verpasst und dann zockelte er eine ganze Weile hinter einem hochbeladenen Heuwagen her, der Traktor röhrte aus Leibeskräften und Rogge schaltete in den zweiten Gang zurück. Einmal sah er eine Gruppe von Männern, die von niedrigen Bäumen Obst pflückten und wie Artisten auf ihren Leitern herumturnten. In Stockau parkten jetzt Autos auf dem kleinen Platz, Rogge hielt nicht an und auf der Strecke nach Herlingen freute er sich an dem Stockbach, der auf der rechten Seite unter ihm in vielen Kurven plätscherte, eingerahmt von Weiden, Büschen und einem mit rostbrauner Erde belegten Wanderweg. Ab und zu zweigten schmale Wege ab, bessere oder eher schlechtere Einfahrten, die zu Gehöften am Hang oder einzeln stehenden Häusern führten.

Herlingen mochte an die fünftausend Einwohner haben, ein typisches Kleinstädtchen, das wohl nur wegen seiner zentralen Lage Sitz der Kreisbehörden geworden war. Polizeirevier und Post teilten sich am Markt einen Altbau, dessen Proportionen und Rokoko-Fassade den Ehrgeiz eines früheren Adeligen verrieten.

Oberkommissar Wibbeke bekam den Mund nicht zu: »Herr Rogge! Was verschlägt Sie in unser Nest?«

»Die dienstliche Höflichkeit!« Er lachte und winkte unauffällig mit dem Kopf Richtung Hinterzimmer.

Wibbeke schaltete sofort: »Das ist einen Kaffee wert, was meinen Sie?«

»Sie retten einen Verdurstenden.«

Der Kaffee stellte sich als um Klassen besser heraus als die Einrichtung des Büros und Wibbeke, dem Rogges schneller Rundblick nicht entgangen war, zuckte die Achseln: »Stramme Haltung ersetzt festes Mobiliar.«

»Und nicht besetzte Planstellen.«

»Na klar.« Der Oberkommissar griente schräg, überall war es das gleiche Elend.

»Also, Herr Wibbeke, ich möchte halb dienstlich, halb privat vermelden, dass ich mich in der nächsten Zeit hier herumtreiben werde, hauptsächlich in Stockau.«

»Aus einem bestimmten Grund?«

»Inge Weber. Mein Abteilungsleiter Simon hat mich mit dem Fall beglückt.«

»Heiliges Blechle! Mag er Sie nicht leiden?«

»Nein, eigentlich haben wir uns ganz gut zusammengerauft. Aber Kollege Grembowski ist keinen Schritt weitergekommen.«

»Ich verstehe. Und warum gerade Stockau?«

Rogge seufzte leise. Der Henker mochte wissen, ob und wann er auf Wibbekes Hilfe angewiesen war, und außerdem hielt er nichts davon, Kollegen einfach etwas an den Kopf zu knallen und jede Erklärung zu verweigern.

»Sie kennen den Fall?«

»Natürlich. Bis Weihnachten war das hier das große Kneipengespräch.« Dabei strahlte der Oberkommissar. »Und dann dieses XY ... ungelöst - zum ersten Mal in seiner Geschichte wurde Stockau im Fernsehen erwähnt. Davon zehrt man hier lange.«

»Haben Sie gezielt nach der Frau gefragt?«

»Nein, von Tür zu Tür sind wir nicht gegangen. Aber der Stockerbote hat die beiden Bilder dreimal gebracht, jedes Mal schön groß und an prominenter Stelle. Wenn jemand die Frau kennen sollte, hatte er Gelegenheit, sich zu melden.«

»Damit sind wir beim Thema. Ich habe sie mir angesehen, Herr Wibbeke, so eine Frau lässt sich nicht einfach das Kleid wegnehmen.«

»Plus Handtasche, Schuhe und Strümpfe«, ergänzte Wibbeke ernsthaft und klemmte die Mundwinkel ein.

»Plus Handtasche und Schuhe, sicher. Strümpfe - ich weiß nicht, es war ein sehr warmer Tag.«

»Sie vermuten also, sie hat das Kleid freiwillig ausgezogen?«

»Mit irgendeiner Theorie muss ich ja anfangen. Deshalb habe ich mir den Parkplatz angesehen, und auch die Feltenwiese.«

Weil Wibbeke eine Grimasse schnitt, hob Rogge die Hand: »Sie wissen, was da an schönen Abenden und in lauen Nächten abläuft?«

»Klar, da wird gerammelt, was das Zeug hält.«

»Wenn die Frau nun mit einem Mann verabredet war, zu eben diesem Zweck?«

Nach einer Bedenkpause schüttelte der Oberkommissar den Kopf: »Ich weiß nicht, Herr Rogge. Eine Frau, die für mehrere tausend Mark Schmuck trägt - ob die sich wirklich für Freiluft-Auto-Sex interessiert?«

»Sie meinen, sie hätte ein Motel vorgezogen?«

»Ja, zum Beispiel diesen schauerlichen Schuppen oben am Beilhorner See oder das Gästehaus des Bären.«

»Daran habe ich auch schon gedacht. Was, wenn der Mann es nicht wagen konnte, in das Motel oder in den Bären zu gehen?«

»Weil man ihn oder sie erkannt hätte?«

Rogge schmunzelte nur und Wibbeke kratzte sich verlegen den Kopf. Auf diese Idee war er noch nicht gekommen.

»Bis heute Morgen war ich auch fest davon überzeugt, die Frau hätte in einem Wagen gesessen, der über die Autobahn zu dem Parkplatz gekommen ist. Bis ich mir die Fahrspuren auf der Feltenwiese und im Wald näher angesehen habe.«

»O je, da haben Sie was am Wickel.« Wibbeke stöhnte, das Thema war ihm unangenehm. »Wie oft haben wir da schon eingegriffen und Strafzettel verteilt. Und das Forstamt bekniet, endlich eine Sperre einzubauen. Aber alles für die Katz. Wer sich auskennt, benutzt den Wirtschaftsweg und den Parkplatz als wilde Autobahnauffahrt.«

»Na fein. Unterstellen wir mal, die Frau war mit jemandem verabredet, der hier Bescheid weiß. Sie fahren über die Feltenwiese zum Waldrand, es kommt zum Streit, vielleicht, weil sie mehr als das Kleid nicht ausziehen will, er gibt Gas, entfernt sich Richtung Autobahn und sie dackelt zum Parkplatz, weil sie ja irgendwie wegkommen muss, sich aber nicht ins Dorf traut.«

»Glauben Sie denn, dass diese Inge Weber simuliert?«

»Ich würde meine Hand weder für ein Nein noch für ein Ja ins Feuer legen.«

Was Wibbeke wirklich von Rogges Theorie hielt, ließ er nicht erkennen, sondern rührte lange in seiner Tasse. Rogge betrachtete ihn ausdruckslos, bis Wibbeke unwillig Luft holte: »Einen Versuch scheint es wert.«

»Ja. Deshalb werde ich mich im Bären einquartieren, unter meinem Namen auftreten und allen Stockauern umgehend auf die Nase binden, warum ich im Dorf herumlungere.«

»Sie wollen also Staub aufwirbeln.«

»Oder jemanden nervös machen, ja. Und wenn ich völlig danebenliege - nun, dann habe ich zwei Wochen ausgespannt und den regionalen Tourismus angekurbelt.«

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie ein großer Fußgänger vor dem Herrn sind.«

Rogge lachte. Zwar hatte er Wibbeke nicht überzeugt, damit hatte er auch gar nicht gerechnet, aber der Oberkommissar würde mitspielen.

»Am besten besorgen Sie sich drüben in der Buchhandlung Steffen eine Wanderkarte.«

»Danke für den Tipp. Warum heißt dieser Hang Feltenwiese?«

»Felten, Hermann Felten war mal der größte Bauer hier im Tal, vor dem Krieg war das. Ein grober Klotz und stur wie ein Felsen. Aus der Schulzeit hatte er einen Intimfeind, den Sohn eines Landarbeiters, der auf keinen grünen Zweig kam. Dieser Ohlig biederte sich bei den Nazis an und wurde endlich Kreisbauernführer. Worauf Felten einen saugroben Brief an den Gauleiter schrieb, eine Partei, in der Ohlig was geworden sei, könne ja nur aus Dummköpfen und/oder Verbrechern bestehen.«

»Oha!«

»Es wurde mehr als Oha, Herr Rogge. Zwischen Felten und Ohlig brach der Krieg schon vor 1939 aus und irgendwann 1941 oder 1942 wurde Felten abgeholt.«

»Was ist aus ihm geworden?«

»Auf der Flucht erschossen. Offiziell. Was in Wahrheit geschehen ist ...«

»Und Ohlig?«

»Den hat’s 1947 erwischt. Mit einer Hacke erschlagen, der Täter ist nie gefunden worden. Der Feltensohn war zwar in Verdacht geraten, hatte aber ein mehr oder minder stichfestes Alibi. Anfang der fünfziger Jahre hat er verkauft und ist weggezogen. Seitdem heißt dieser Hang die Feltenwiese.«

Dorfgeschichten; Rogge sah Wibbeke nachdenklich an. Alte Rechnungen, nie abgeschlossen, nie als erledigt verbucht.

»Eine Frage noch: Im Bären bedient eine junge Frau, ich hab sie heute Vormittag zufällig vor dem Gasthaus gesehen.«

»Gertrud Leiwen.« Wibbeke schnalzte mit der Zunge. »Ein ziemlicher Feger. Sie liebt Trinkgelder, fesche Männer und wilde Spritztouren. Aber ein ordentliches Mädchen.«

»Dann bin ich ja genau der richtige Gast.« Der Kripomann stand auf. »Ab und zu schaue ich vorbei, Herr Wibbeke.«

»Viel Erfolg. Eine kleine Warnung noch: Der Bär ist das Stammlokal von ein paar jungen Männern, die zu viel Kraft und zu wenig Grips haben. Und kein Mensch kommt hier auf die Idee, wegen einer Rauferei mit blutigen Nasen und ausgeschlagenen Zähnen die Polizei zu holen.«

»Danke, ich werde aufpassen.«

In dem Buchladen bediente ihn ein junges blasses Mädchen, das vor Nervosität zappelte, der lange Pferdeschwanz pendelte pausenlos. Aber sie fand auf Anhieb die gewünschte Wanderkarte und piepste zum Abschied aufgeregt: »Hoffentlich hält sich das Wetter.«

Auf dem Markt wurden die Stände abgeräumt, zwei Männer mit rot-weißen Armbinden fegten im Zeitlupentempo Papier, Gemüse- und Obstabfälle zusammen. Man hielt ein letztes Schwätzchen, hier schien jeder jeden zu kennen. Was für Stockau wohl noch mehr zutraf.

Hertha Wassmuth schluckte zweimal trocken: »Wo, Chef?«

»Das Gasthaus heißt Zum Bären, in Stockau. Ich lass mein Handy an, für alle Fälle, und Kili schärfen Sie ein, dass ich ihn dort erst sehen will, wenn ich ihn gerufen habe.«

Als leidgeprüfte Vorzimmerchefin hatte Hertha die kurze Erschütterung schon überwunden.

»Und wenn sich Simon meldet, sagen Sie ihm nur, ich sei auf seinen Wunsch hin im Urlaub unterwegs.«

»Was im Klartext heißt, er soll nicht erfahren, wo Sie sich herumtreiben.«

»So ist es.« Dabei zwinkerte Rogge und Hertha schnaufte genussvoll. Der Moment, in dem sie Kriminalrat Simon und Bello Born jede Auskunft darüber, wo der Chef steckte, mit Rogges Segen verweigern durfte, würde ihr ein innerer Parteitag werden.

Nachdem Rogge zu Hause einen großen Koffer gepackt hatte, einschließlich aller Bücher, die er schon immer hatte lesen wollen, fuhr er zur Staatsanwaltschaft. Die Freifrau Dörte begrüßte ihn mit einem verkniffenen Lächeln, das er richtig interpretierte: »Ackerknecht hat also zugeschlagen?«

»Hat er.«

»Aber da du nicht in Tränen aufgelöst bist, vermute ich mal - nicht con brio, sondern moderato.«

»Genau so, und ich kann dir flüstern, das beunruhigt mich mehr, als wenn er die ganz große Show abgezogen hätte.«

»Was wäre, wenn er von der Schuld seines Mandanten überzeugt ist und deshalb alles unterlässt, was den Mörder seiner gerechten Strafe entziehen könnte?«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, gestand sie. »Aber ich kann ihn ja schlecht danach fragen - oder?«

»Nein, aber du kannst dieses Gutachten ganz klein spielen und abwarten, ob und wie er sich darauf stürzt.«

»Viel anderes bleibt mir auch nicht übrig.« Sie nahm die Schultern zurück und streckte trotzig das Kinn in die Höhe.

»Du bist die schönste und gefährlichste Staatsanwältin, die ich kenne«, applaudierte Rogge. »Schrecklich schade, dass ich in einen dienstlichen Urlaub fahren muss.«

»Auch am Wochenende?«

»Mal sehen! Ich melde mich, tschüss.«

Der Bär brummte noch nicht, aber rekelte sich schon. Der große Gastraum war L-förmig angelegt und im BrauereiEinheitsstil möbliert: Tische mit heller Lindenholzplatte, stabile Stühle mit Schaumstoff-Sitzpolstern und an den Wänden die übliche Kollektion von Ziertellern, Pokalen, Wimpeln und schauerlichen Landschaft-mit-Tier-Ölschinken. Von dem Windfang mit einem altmodischen dichten Filzvorhang trat man direkt an den Tresen, hinter dem ein Riese stand, eine Hand aufgestemmt. Sein Gesicht war so kugelrund wie sein Bauch, er rollte seine Schweinsäuglein, denen wahrscheinlich nichts entging, und fuhr sich mit der anderen Hand immer wieder über die glänzende Glatze. Bei der Verteilung von Sympathie hatte ihn die Vererbung entschieden benachteiligt und Rogge schoss durch den Kopf, dass der Knabe sich wohl das Motto eines römischen Cäsaren zu Eigen gemacht hatte: Die Gäste mögen mich hassen, solange sie mich nur fürchten. Immerhin sah der Wirt so aus, als würde er mit jedem Raufbold spielend fertig. An der Theke saßen zwei alte Männer und stierten in leere Gläser, im Gastraum, der sich links nach hinten erstreckte, grölte eine unsichtbare, aber hörbar angeheiterte Männerrunde.

»Guten Tag«, grüßte Rogge höflich. »Ich hätte gerne ein Zimmer mit Bad.«

»Zimmer mit Bad.« Der Riese grunzte erfreut, ein Logiergast schien sich in dieser Jahreszeit nicht häufig in den Bären zu verirren.

»Vorerst für eine Woche.«

»Eine Woche.« Der Wirt fuhr mit der Hand zum Kopf, überlegte es sich anders und massierte sein Kinn. »Gut, eine Woche.«

»Und was kostet das?«

»Mit Frühstück fünfzig Mark pro Nacht. Eine Woche - dreihundert zwanzig.«

»Fein.«

»Gertrud!«, röhrte der Wirt los. »Gast für Zimmer eins.«

Wie der Blitz kam die Gerufene um die Ecke gefegt, setzte das volle Tablett mit leeren Gläsern so schwungvoll ab, dass es über die Metallplatte schabte und genau vor dem Wirt stehen blieb. »Zehn und zehn.«

Mit einem Tempo, das Rogge schwindelig machte, tippte sie die Bestellung in die Kasse ein, langte gleichzeitig nach einem Brett mit acht Schlüsseln und strahlte Rogge an: »Würden Sie bitte mitkommen?«

Als sie das Zimmer aufschloss, atmete er heimlich erleichtert auf. Er hatte mit Schlimmerem gerechnet, doch der Raum war groß, hell, sauber und praktisch eingerichtet, sogar mit Fernseher und Telefon, Einbauschränken und einem kleinen Tisch, an dem er schreiben konnte.

»Gefällt es Ihnen?«

»Ja, sehr schön, vielen Dank.«

»Ich bringe noch die Handtücher. Frühstück gibt’s von sieben bis zehn, vorne im Lokal.«

»Prima. Wie steht’s mit Abendessen?«

»Was Kleines können Sie jederzeit vorne bestellen. Und wenn Sie eine Amtsleitung haben wollen, bitte eine Null vorwählen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.«

Damit wollte sie losstarten, er musste sie zurückrufen, um ihr das Fünfmarkstück in die Hand zu drücken.

»Vielen Dank!« Sie hatte eine sehr direkte Art, ihm in die Augen zu schauen, nicht dreist, aber eine Spur aufdringlich - nein, vereinnahmend.

Zwei Minuten später war sie wieder da und werkelte wie der Wirbelwind im Bad, Rogge sah ihr lächelnd zu und bedankte sich: »Wir sehen uns nachher.«

Nachdem sie davongeschossen war, öffnete er das Fenster. Bis auf zwei Hühner, die empört los gackerten, war kein Geräusch zu hören, weder von der Autobahn oder der Dorfstraße noch von vorn aus der Gaststube. Fast zu ruhig für seinen Geschmack; er schüttelte über sich selbst den Kopf und begann auszupacken.

Gegen 19 Uhr brummte der Bär aus tiefster Kehle; Gertrud rotierte wie ein Kreisel, der dicke Wirt schaute immer noch griesgrämig drein, aber arbeitete nur scheinbar langsam, die beiden waren ein gut aufeinander eingespieltes Team. Bier und Schnaps flössen in Strömen, die Durchreiche zur Küche wurde rhythmisch geöffnet und geschlossen. Mehr durch Zufall hatte Rogge einen Tisch in der Ecke des L bekommen und bald festgestellt, dass er für seine Zwecke den besten Platz besetzt hatte. Die Gaststube war durch unsichtbare Striche in drei Abteilungen auf geteilt. Am Tresen und rechts davon, an zwei Tischen mit Holzbänken entlang der Wand, tobten sich die jungen Männer lautstark und durstig aus. In seiner Abteilung herrschte etwas mehr Ruhe und deutlich weniger Durst, und in dem langen Strich des L saßen die Älteren, zum Teil mit Frauen und Kindern, und unterhielten sich. In den seltenen Momenten, in denen sie nicht laufen musste, lehnte sich Gertrud an die Ecke des Tresen, Rogge genau schräg gegenüber, sodass sie alle Tische überschauen konnte. Ab und zu begegneten sich ihre Blicke, dann strahlte sie ihn fröhlich an, als sei er bereits ein Freund und Stammgast. Den meisten Krach veranstalteten die vier jungen Männer rechts von ihm, und wenn die so dumm waren, wie ihre lauten und ordinären Sprüche andeuteten, gnade Gott ihren Kindern, Das große Wort führte ein ungewöhnlich langer und kräftiger Kerl mit einem hässlichen Gesicht, er sah aus wie ein brutaler Schläger. Einmal verschwand er hinter der Tür zu den Toiletten und Rogge bemerkte, dass er leicht hinkte. Sofort sank an dem Tisch die Lautstärke. Als er zurückkam, stieß er beinahe mit Gertrud zusammen, sie standen einen Moment zusammen, Rogge konnte nur ihr Gesicht im Profil sehen und hatte das Gefühl, dass Gertrud sehr zornig auf eine Bemerkung des Langen reagierte. Er versuchte, ihr einen Arm um die Taille zu legen, aber mit einer schnellen Tänzelbewegung entzog sie sich ihm und die drei Kumpane - die gespannt zugeschaut hatten - verspotteten den Hinkenden wegen seines Misserfolgs.

Nach dem zweiten Bier zahlte Rogge; das Essen hatte mehr durch Quantität als Qualität überzeugt, aber mit dem Trinkgeld knauserte er nicht und Gertrud beäugte ihn fast wohlwollend, während sie ihm eine gute Nacht und angenehme Träume wünschte. Rogge schob schon den Stuhl zurück, als eine junge Frau Anfang zwanzig den Bären betrat, von dem Quartett mit ausgelassenem Hallo begrüßt. Sie zögerte, drehte den Kopf zur Tür, eine andere junge Frau kam herein und das anzüglichfröhliche Gelächter der jungen Männer brach wie auf Befehl ab. Die zweite Frau warf den Kopf in den Nacken und sagte etwas zu der ersten, die heftig nickte; zusammen gingen sie an Rogge vorbei in den hinteren Teil der Gaststube. Das Quartett starrte ihnen nach und Rogge, der sie unauffällig beobachtete, staunte über die halb verächtlichen, halb lüsternen Mienen. Mit der ersten Frau hätten sie sich gern zusammengesetzt, gegen die zweite hatten die drei etwas, doch am meisten wunderte ihn, dass der Große, der sich auf seinem Stuhl ganz herumgedreht hatte, um den beiden Frauen nachzuschauen, für einen Moment Spannung und Sorge erkennen ließ. Zwischen der so demonstrativ Geschnittenen und dem Großen, Hinkenden, knisterte etwas und dem Langen gefiel es gar nicht, dass diese junge Frau hier im Bären aufgekreuzt war.

Mittwoch, 13. September

Beim Frühstück stellte Rogge fest, dass außer ihm nur noch ein mittelalterliches Ehepaar im Bären wohnte. Er hatte tief geschlafen und war durch den Wecker aufgewacht, den er aus lauter Gewohnheit gestellt hatte.

Gertrud war nicht zu sehen, stattdessen brachte ihm eine Frau das Frühstück, bei deren Anblick er unwillkürlich den Atem anhielt. Lange und glatte schwarze Haare, schwarze Augen, ein schmales, etwas blasses, aber wunderschönes Gesicht. Sie trug schwarze Samthosen und ein enges weißes T-Shirt, mit ihrer Figur hätte sie sofort auf jedem Laufsteg anfangen können. Was hatte eine solche Schönheit in dieses Nest verschlagen?

»Guten Morgen«, grüßte sie mit gesenkten Augen. »Ich hoffe, Sie haben die erste Nacht gut geschlafen.«

»Ja, danke, hervorragend«, stotterte Rogge. Kein Zweifel, die Wirtin. Mit diesem groben Klotz verheiratet?

Die Mengen hätten für einen Schwerstarbeiter ausgereicht und der Kaffee erinnerte an Hertha Wassmuth, schwarz, etwas bitter und stark.

Als die Wirtin bemerkte, dass er fertig war, brachte sie ihm den Meldeblock: »Würden Sie sich bitte noch eintragen?« Auch jetzt sah sie ihn nicht an.

»Natürlich.«

Er füllte den Zettel korrekt aus; nach seinem Beruf wurde nicht gefragt.

Das Geld für die Wanderkarte hatte sich gelohnt. Fünf Stunden lief Rogge durch Wälder und Wiesen auf die Beilhorner Berge zu, machte ab und zu Rast und beschimpfte seine Muskeln und Gelenke, die gefälligst zur Kenntnis nehmen sollten, dass sie bei einem 55-jährigen Kriminalhauptkommissar noch nicht zu protestieren hätten. Zehn Jahre sollten sie Vater Staat und seinem Beamten noch dienen, dann könnte man über Ruhestand reden. Als endlich der Stausee zwischen den Hügeln vor ihm auftauchte, schalt sich Rogge einen Narren, dass er sich für den ersten Tag gleich einen solchen Gewaltmarsch vorgenommen hatte. Aber das Laufen hatte ihm gut getan, seine Lungen schienen wie durchgepustet, die Sonne strahlte wieder aus einem wolkenlosen Himmel, und wenn es stimmte, dass man einmal täglich seinen Kreislauf bis zum Schwitzen belasten sollte, dann hatte er das mit dem Aufstieg zum Uferweg geleistet.

Hier oben wehte ein schwaches Lüftchen, gerade genug, um die Segel flappen zu lassen, die Boote glitten majestätisch langsam über den See und einige Abgehärtete schwammen tatsächlich, Die Mehrheit sonnte sich aber auf den Uferwiesen, was Rogge sehr vernünftig erschien. Die allwissende Wanderkarte enthielt auch einen Busstreckenplan und auf der Rückfahrt kämpfte er mit dem Schlaf. Den holte er in seinem Zimmer nach.

An diesem Abend war der Bär nur schwach besucht. Gertrud empfahl ihm ein Essen, das ihn wenig begeisterte - gebratene Fleischwurst mit Gurken-Kartoffel-Salat, doch sein Magen knurrte so laut, dass sein Geschmack gar nicht erst konsultiert wurde. Das lautstarke Quartett ließ sich nicht blicken. Gegen neun Uhr schaute ein junger Mann herein, der seine langen braunen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Am Tresen bestellte er ein Bier und zu Rogges Verwunderung verzogen Gertrud und der Bezopfte sich in eine Ecke; sie tuschelten aufgeregt, bis der Wirt, dem der junge Gast nicht zu gefallen schien, seine Kellnerin unfreundlich in die Küche scheuchte. Der junge Mann stellte sein halb volles Glas empört ab und verließ grußlos den Bären. Kein Zweifel, er hatte etwas von Gertrud gewollt, sie sträubte sich. Während ihres Dialogs waren sie Rogge wie große Kinder vorgekommen, spontan und direkt, ohne jede Berechnung.

Extra Krimi Paket Sommer 2021

Подняться наверх