Читать книгу Extra Krimi Paket Sommer 2021 - A. F. Morland, Pete Hackett - Страница 16

IX.

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Draußen war es ungewohnt dunkel, Rogge atmete tief durch und stakste wie ein Storch zur Tür.

Der Schuss krachte so laut, dass es ihm die Ohren verstopfte und das Gehirn blockierte. Welcher Idiot - Rogge wollte sich umdrehen, verlor dabei das Gleichgewicht und plumpste wie ein nasser Sack auf den Boden. Wahrscheinlich keinen Moment zu früh, ein zweiter Schuss dröhnte, der Hauptkommissar presste sich an den Boden, jetzt wieder hellwach, und rührte sich nicht. Das hatte ihm gegolten.

Doch nun hörte er nichts mehr. Keine Schritte, kein weiterer Schuss, kein Knirschen von Sand oder Steinchen. Absolute Stille. In der Gaststube schien keiner etwas vernommen zu haben, niemand kam herausgestürzt oder rief.

Millimeterweise hob Rogge den Kopf. Nichts. Rechts, einen Meter entfernt, wuchs ein dichter Strauch neben dem Weg. Wenn er den erreichte ... - Schneckengleich schob er sich voran, ängstlich bemüht, den Körper nicht weiter als unbedingt nötig anzuheben. Aus dem Küchenfenster des Bären fiel etwas Licht in den Garten, aber hier war es eigentlich zu dunkel für einen Schützen ... und an einen Restlichtverstärker hinter dem Zielfernrohr wollte Rogge nicht denken ... geschafft.

Nach zwei Minuten beruhigte sich sein Atem. Jetzt hörte er auch das leise Klappern von Tellern aus der Küche. Wer immer auf ihn geballert hatte, gab sich mit den beiden Schüssen zufrieden. Oder er dachte, er habe getroffen, weil Rogge fast zeitgleich mit dem zweiten Schuss hingestürzt war. Nein, Vorsicht war immer noch der bessere Teil der Tapferkeit, den Eingang würde er nicht benutzen. Auf Knien und Ellbogen kroch Rogge bis zur Hausecke und richtete sich erst in ihrem Schutz auf. Bevor er zum Essen gegangen war, hatte er das Fenster zum Lüften seines Zimmers geöffnet, und wer zum Teufel wollte ihm vorschreiben, wie er sein bezahltes Zimmer betrat?

Trotzdem zog er die Vorhänge vor, bevor er das Licht anknipste.

Wenigstens hatten Hose und Jacke den zweiten Sturz des Wochenendes heil überstanden. Feuchte Erde, die würde trocknen, das konnte er morgen früh ausbürsten. Danach betrachtete er mit zusammengebissenen Zähnen das Telefon. Sollte er Hilfe holen ... ?

Rogge wälzte sich lange schlaflos in seinem Bett und dämmerte gerade hinüber, als ihn ein Geräusch hochriss. Merkwürdig gedämpft und doch ganz in der Nähe. Auf dem Flur? Vor seiner Tür?

Mit angehaltenem Atem horchte er, aber es wiederholte sich nicht, und als er endlich auszuatmen wagte, wusste er, dass er hellwach war und an Einschlafen nicht denken durfte, bis er eine Erklärung für das Geräusch gefunden hatte. Leise zog er sich Hose und Pullover über, schaltete das Licht aus, drehte im Zeitlupentempo den Schlüssel und zog die Zimmertür auf. Der Flur lag im Dunkeln, er trat hinaus und witterte. Wenn die Augen versagten, half manchmal die Nase oder ein siebter Sinn, einen versteckten Menschen zu ahnen. Doch ohne Erfolg, Rogge wollte sich schon wieder umwenden, als ihm ein schwacher Lichtstreifen auffiel, direkt über dem Boden, am Ende des Flures auf seiner Seite. Neue Gäste? Dann war das schwache Rauschen das Wasser, das in einer Dusche lief?

Verdammt, es würde ihm ja doch keine Ruhe lassen! Wütend auf sich selbst schlich Rogge in sein Zimmer zurück, tastete sich zum Fenster und stieg in den Garten hinaus. Ja, im letzten Zimmer brannte Licht, offenbar waren die Vorhänge vorgezogen, aber jetzt wollte er es wissen. Hauptkommissar Jens Rogge als Voyeur! Doch besser ausgelacht als noch einmal angeschossen!

Als hätte er es bestellt! Zwischen den beiden Vorhanghälften klaffte ein winziger Spalt, durch den er einen Ausschnitt des Zimmers beobachten konnte, das Fußende des Bettes. Dann bewegte sich das Laken und plötzlich stand ein nackter Mann im Zimmer, der sich abtrocknete. Rogge starrte ihn an wie ein Weltwunder, den Knaben hatte er noch nie gesehen. Wieder bewegte sich das Bettlaken, die Frau richtete sich auf und rutschte im Bett auf den Knien zum Fußende, um den Mann zu umarmen, der schon in seine Unterhose gestiegen war. Die nackte Schönheit kannte er, Frau Wirtin hatte also einen Liebhaber. Was Rogge ihr einerseits gönnte, ihn andererseits wegen ihrer Unvorsichtigkeit verwunderte. Oder konnte sie sicher sein, dass Olli sie hier nicht überraschte? Und wenn ja, warum?

Unbemerkt erreichte Rogge wieder sein Zimmer und lag im Dunkeln noch wach, bis er verstohlene Schritte und das vorsichtige Knacken der Haustür hörte. Danach schlief er schnell ein.

Montag, 18. September

Angi bediente ihn mit unverändert melancholischer Miene, seinen Blick meidend, und Rogge hütete sich, auf den Vorfall anzuspielen. Der Mann war etwas älter gewesen als sie, ein eher schmächtiges Hemd, auf jeden Fall das totale Gegenteil von Olli.

Wibbeke rollte das Metallkügelchen ratlos hin und her: »Was ist denn das, Herr Rogge?«

»Eine Kugel.« Im Tageslicht hatte Rogge die Einschlagstelle im Putz neben der Tür zum Gästehaus entdeckt und das Klümpchen vorsichtig herausgepult. Wahrscheinlich viel zu deformiert, um noch Züge zu erkennen, aber ihn interessierte in erster Linie, ob die Kugel aus einer Handfeuerwaffe oder einem Gewehr stammte. Ein Gewehrschütze musste sich nicht auf dem Gelände des Bären aufgehalten haben, Rogge hatte die beiden Männer vor Schönborns Villa nicht vergessen, dafür sorgte schon seine brennende Schulter. Dass sie geflohen waren, hatte wenig zu bedeuten, schließlich hatte er seinen Wagen seelenruhig vor Schönborns Haus geparkt. So ganz einfach wurde es einem Normalbürger nicht gemacht, an Hand des Kennzeichens einen Halter zu ermitteln, aber unmöglich war es für niemanden, selbst an einem Wochenende nicht.

»Und was soll ich damit?«

»An die KTU schicken. Ohne meinen Namen zu erwähnen.« Rogge schmunzelte, aber Wibbeke teilte seine Heiterkeit nicht.

»Sie verschweigen mir doch etwas!«

»Ja, tue ich. Aber ich gebe mein großes, mittleres und kleines Ehrenwort, dass ich alles beichte, wenn der Fall abgeschlossen ist.« Was, wie Rogge mit etwas schlechtem Gewissen dachte, noch lange dauern konnte.

Der Oberkommissar musterte ihn misstrauisch, resignierte aber schließlich: »Na schön, mir wird schon was einfallen,«

»Vielen Dank. Und wenn Sie den Kollegen etwas Dampf machen könnten ...«

Heute sündigte Rogge und besorgte sich in der Touristinformation einen Busfahrschein für eine Rundtour durch das so genannte Vorland. Erstens hatte er schlecht geschlafen, zweitens behinderte ihn seine Schulter und drittens musste er ja heute Nachmittag noch die Strecke von Herlingen nach Stockau zurücklaufen. Man kann alles auch übertreiben, pflichtete er seiner Entscheidung Beifall und war eingeschlafen, bevor der Bus das Ortsausgangsschild passierte.

Die Besichtigungsfahrt wurde so schlimm, wie er sich das ausgemalt hatte, einige Fahrgäste schleppten irre Mengen von Bier mit, das sie während der Fahrt systematisch und lautstark vernichteten. Die Kirchen und Klöster interessierten sie weniger, sie wachten aus ihrem Tran nur auf, als ihr Führer einen Fehler beging und erwähnte, dass die Klosterbrüder früher einen weithin gerühmten Bitterschnaps gebrannt hätten. Dass es den nicht zu probieren gab, beschäftigte die enttäuschten Saufköppe noch eine ganze Stunde.

Rogge bemitleidete den Führer, der sich aber nicht aus der Ruhe bringen ließ und seine Erklärungen immer schneller und lustloser herunterspulte. Er schien Kummer gewohnt. Das überteuerte Essen schenkte Rogge sich und bummelte an dem Bach entlang, immer noch unschlüssig, ob er morgen abreisen oder verlängern sollte.

Olli fischte mit dem Zimmerschlüssel einen Zettel aus dem Fach, den Rogge sofort auffaltete. »Ein Herr Simon wartet auf Rückruf.«

»Ach nee!« Rogge grummelte und Olli taxierte ihn aus verhangenen Augen.

»Meine Frau hat mir ausgerichtet, Sie wollten mir was auf den Schreibtisch legen.« Simon klang verschnupft.

»Ich hab’s mir anders überlegt.«

»Was soll das heißen?«

»Warum soll ich Ihnen Informationen geben, wenn Sie Ihre zurückhalten?«

»Ich halte nichts zurück.«

»Da bin ich anderer Meinung.«

»Das Grundgesetz garantiert die Meinungsfreiheit.«

»Eben.«

»Trotzdem irren Sie. Ich weiß nichts Konkretes, habe nur ein dummes Gefühl, mehr nicht.«

»Ich bleibe noch bis Ende der Woche.«

»Meinetwegen«, grollte Simon, bevor er grußlos auflegte, und Rogge schwankte einen Moment, ob er nicht zu weit gegangen war.

Gertrud freute sich, ihn zu sehen, und brachte ein Bier, bevor er sich richtig gesetzt hatte. »Den Tag gut verbracht?«

»Ach, es geht. In einem Reisebus mit einem Haufen angesoffener und grölender Faulpelze.«

Kritisch sah sie sich um: »Na, dafür wird’s hier heute umso ruhiger.«

Sie behielt Recht, Olli wankte um zehn Uhr aus der Gaststube, weil nichts mehr zu tun war, und sie setzte sich zu Rogge. Er war jetzt der einzige Gast und bot ihr an, sofort zu zahlen, damit sie schließen konnte.

»Eine halbe Stunde warten wir noch.«

»Von Benno und seiner Bande hat sich heute keiner sehen lassen.«

»Nee, die haben im Moment andere Sorgen.« Sie kicherte schadenfroh. »In der Disko hat’s am Samstag gewaltig Zoff gegeben. Eine Schlägerei, die Bullen - äh, die Polizei ist angerauscht und hat mächtig zugelangt.«

»Meine Kollegen können sich auch eine nettere Samstagabend-Beschäftigung vorstellen.«

»Und ob! Einige von Bennos Brüdern werden kräftig löhnen müssen.«

»Warum war Benno nicht in der Disko?«

»Richterliches Hausverbot seit Monaten.« Sie nickte nachdrücklich.

»Und Andrea Wirksen? Geht die in die Disko?«

»Wenn sie einen Dummen findet, der für sie blecht — klar.«

Warum Rogge sich so plötzlich entschloss, wusste er selbst nicht: »Gertrud, wer ist der Liebhaber der Chefin?«

Sie tat nur so, als sei sie schockiert, und als Rogge spielerisch eine Faust unter ihr Kinn stupste, hob sie beide Hände: »Okay, okay. Ziegler heißt er. Der Lehrer.«

»Monikas Vater?« Damit hatte sie Rogge verblüfft.

»Ja. Monika darf nichts davon wissen, ach Gott, das gäbe ein Drama.«

»Aber Sie wissend doch auch.«

»Weil die Chefin zu dämlich ist, die Bettlaken richtig im Wäschesack zu verstauen. Und das Zimmer sieht morgens immer aus! Sie haben gestern wieder rumgetobt.«

»Ja.«

»Olli stört das nicht, der hat kein Interesse mehr an seiner Frau. Aber Monikas Mutter - o je, halten Sie bloß den Mund.«

»Versprochen.«

Düster starrte Gertrud auf ihre gefalteten Hände, die Fingerknöchel leuchteten weiß von dem Druck. »Manchmal widert mich der ganze Laden ziemlich an. Die saufen und lügen und huren herum und immer muss ich so tun, als wäre ich zu dämlich, bis drei zu zählen. Lange halte ich das nicht mehr aus.«

Eine Gertrud mit einem moralischen Kater war sehr ungewohnt, Rogge betrachtete sie schweigend. Warum suchte sie sich nicht eine andere Stelle? So tüchtig, wie sie war, musste sie doch überall etwas finden.

Sie spürte seinen prüfenden Blick: »Heute bin ich nicht die große Nummer, wie?«

»Nein, aber sympathisch wie immer.«

»Damit ist der Tag ja gerettet.« Es sollte burschikos klingen, aber es verunglückte total, sie merkte es und seufzte: »Dann machen wir mal Schluss für heute.«

Bokholt und Mähl hatten das Schießpulver nicht erfunden, das war Weinert von Anfang an klar gewesen, aber so dämlich stellten sich nicht einmal Amateure an. Parkten direkt vor der Villa und ließen sich von Schönborn und einem Kriminalbeamten überrumpeln. Dann kriegten sie natürlich das große Hosenflattern, fuchtelten mit Ballermännern herum und flohen wie die Hasen vor dem Hund. In einem Auto mit einem tauben Kennzeichen, das sich nur ein Dienst beschaffen konnte. Wenn der zweite Mann wirklich von der Kripo gewesen war, hatte er sich die Autonummer gemerkt. Und im Bestand recherchiert ... Immerhin war diesen Vollidioten auf gefallen, dass sich Schönborn und der Kripomensch abgesprochen hatten. Was eine zusätzliche Komplikation bedeutete: Schönborn würde also von dem tauben Kennzeichen erfahren. Zumindest mussten sie davon ausgehen. Und damit war ihre wichtigste Spur erledigt, verschüttet, verboten, verbrannt. Rückzug auf der ganzen Linie! Großartig! Warum nur lief in diesem verfluchten Fall alles schief?

Nach fünf Minuten stemmte Weinert sich hoch. Es nutzte ja nichts, er musste beichten, welchen Bock der Verfassungsschutz geschossen hatte. Hoffentlich war Reineke einigermaßen gut gelaunt.

Dienstag, 19. September

»Ich würde gerne noch bis Freitag bleiben«, sagte Rogge leise, als Angi den Kaffee abstellte.

»Ich freue mich, dass es Ihnen bei uns gefällt«, antwortete sie herzlich. »Das Zimmer ist frei.«

Die Bewölkung hatte sich verzogen, aber die Sonne wärmte nicht mehr so wie in der Vorwoche. Rogge verließ sich wieder einmal auf seine Wanderkarte. Allein zu laufen störte ihn nicht, er ordnete dabei seine Gedanken und fühlte sich frei, wenn er auf niemanden Rücksicht nehmen und keine Fragen beantworten musste.

Bis jetzt hatte er sich nicht mit Ruhm bekleckert. Dank Gertrud hatte Rogge zwar viel erfahren, und bevor er abreiste, musste er noch herausfinden, warum sie so schnell Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Aber seine Anwesenheit hatte niemanden wirklich aufgescheucht, obwohl er sicher war, dass Gertrud eifrig im Dorf verbreitet hatte, welchen Beruf er ausübte.

Auf der anderen Seite - die beiden Männer vor Schönborns Villa. Mit einem gefälschten Autokennzeichen und bewaffnet. Und die beiden Schüsse. Irgendeinem Menschen war er schmerzhaft auf die Füße getreten, aber Rogge hatte keine Ahnung, wem und wann. Zuletzt Simons Geheimniskrämerei. Also wohl doch kein Fall einfacher Amnesie. Schönborn würde nach der Samstagepisode schon dafür sorgen, dass Inge Weber geschützt wurde, um die Sicherheit der Dunkelblonden musste Rogge sich nicht den Kopf zerbrechen. Wenn - und das stand leider gar nicht fest - die beiden geflüchteten Knaben wirklich an der Person Inge Weber interessiert waren und nicht doch einen Bruch ausspioniert hatten.

Über Mittag stand Rogge in einer Schmiede und schaute zu, wie zwei Reitpferde beschlagen wurden. In der Volksschule hatten sie ein Lesebuch benutzt, in dem der Schmied noch schmiedete, der Müller mahlte und der Bauer hinter seinen Rössern fröhlich pfeifend schritt. Du meine Güte, wo war das alles geblieben! Die sentimentale Anwandlung gestand er auch dem jungen Meister, der ihn auslachte: »Es kommt alles wieder. Ich hab gut zu tun, wenn Sie Richtung Weltersmühle laufen, sehen Sie gleich zwei Reiterhöfe. Und drüben in Sickenbach wird ein Golfhotel gebaut.«

In Sickenbach kam Rogge mit einer alten Frau ins Gespräch, die im Heimatmuseum Spitzen klöppelte. »Nein, leben könnte ich davon nicht, aber die Rente besseres schon auf!« Bei den Preisen der ausgestellten Stücke schluckte Rogge trocken,

Der Rückweg führte ihn durch die Halterer Berge, hier wurde Wein angebaut und er kaufte sich für zwei Mark ein Faltblatt für den Weinlehrpfad. Dass der Tourismus eine Industrie war, wusste er, aber womit man den Besuchern Geld aus der Tasche zu ziehen vermochte, erregte seine widerwillige Bewunderung.

Im Bären war nichts los. Gertrud hatte ihr Stimmungstief überwunden und brauste im gewohnten Tempo zwischen Tischen und Tresen hin und her. Olli stützte sich mit einer Hand ab, strich sich über den Kopf und war mit den Gedanken weit weg. Die Krakeeler-Bank blieb leer. Doch gegen halb zehn kam Andrea Wirksen in die Gaststube und setzte sich an einen Tisch, Rogge konnte sie im Profil mühelos beobachten.

Sie bestellte ein Bier und einen Klaren und schüttelte sich, nachdem sie den Schnaps gekippt hatte, ihre mürrischverkniffene Miene hellte sich auf, als habe sie etwas heruntergespült, was sie bedrückt hatte. Sobald sie bei Gertrud bezahlt hatte, ging sie zum Tresen und redete auf Olli ein, der sie von oben herab unbewegt musterte und verächtlich die Nase rümpfte, als sie hüfteschwenkend den Bären verließ. Eine Viertelstunde später hinkte Benno Brockes in den Raum, unterhielt sich kurz mit Olli und verließ sofort wieder die Gaststube. Seine hohen Gummistiefel wirkten durch Lehm und Dreck wie gepanzert.

Gertrud lächelte grimmig, ihr entging nicht viel.

»Wo wohnt diese Andrea eigentlich?«

»In der Hauptstraße.« Eine Sekunde zögerte Gertrud, aber die Boshaftigkeit siegte über ihre Diskretion: »Da wird sie heute aber nicht schlafen.«

»Sondern wo?«

»Bei Benno.«

»Wo liegt denn diese alte Schäferhütte?«

»Halbwegs Herlingen. An der Straße zum Deneckerhof.«

In der Nacht blieb alles ruhig.

Mittwoch, 20. September

Den Tag vertrödelte Rogge in Herlingen. Zum ersten Mal langweilte er sich, hockte in einem Café und studierte den Stockerboten von der ersten bis zur letzten Zeile, stöberte in der Buchhandlung und besichtigte die Kirche, die außer einem ehrwürdigen Altar und fragwürdigen Renovierungen künstlerisch nichts zu bieten hatte.

Um die Zeit totzuschlagen, lief Rogge auf der Landstraße zurück, ärgerte sich über die vielen Autos und bog dann in eine schmale Seitenstraße ein, die laut Hinweisschild zum Deneckerhof führte. Die Steigung war beachtlich, doch auf der Kuppe wurde man mit einem schönen Blick in ein Seitental belohnt, an dessen Ende Rogge hinter hohen Bäumen gerade noch einen Fachwerkbau erkennen konnte. Rechts lag die Schäferhütte, wie der Hauptkommissar vermutete, obwohl der Ausdruck Hütte nicht zutraf. Zwar gab es ein kleines Fachwerkhäuschen, aber auch zwei scheunengroße Gebäude, bis zur halben Höhe gemauert, darüber aus Holz gebaut. Die früheren Ställe? Das ganze Anwesen machte einen verlotterten, verlassenen Eindruck. Gemütlich schlenderte Rogge daran vorbei. Es passte zu Benno.

Auf dem Rückweg bemerkte er, dass die Dachfirste der Hütte und der Ställe etwas tiefer lagen als die Kuppe der Anhöhe. Also wind- und sichtgeschützt.

Mittlerweile kannte Rogge viele Gäste vom Sehen und um den einzigen Unbekannten, einen jungen Mann zweite Hälfte zwanzig, kümmerte sich Gertrud so angelegentlich, dass er grinsen musste. Ihre roten Ohren verrieten alles.

»Wie heißt er denn, Gertrud?«, flüsterte Rogge und sie seufzte: »Michael.«

Da hatte der Blitz gezündet, es brannte lichterloh.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit verbargen sie sich in dem Dorf. Es schien ausgestorben zu sein, nur in zwei Häusern war Licht, die anderen halb eingestürzten Gebäude lagen im Dunkel, die Straßenlaternen funktionierten wohl schon lange nicht mehr. Kein Hund bellte, keine Katze miaute. Es roch nach Verfall, als ob hier nie Menschen gelebt hätten. Nach dem letzten großen Oder-Hochwasser waren viele weggezogen.

Ellwein schauderte und der Grenzschutzoffizier betrachtete ihn herablassend. An die Einsamkeit hatten sie sich gewöhnt, auch an diese merkwürdige Stille, in der alle Geräusche auf Kilometer deutlich zu vernehmen waren. Nicht einmal die Blätter raschelten und das Oderwasser floss lautlos.

Auch so ein Schreibtischstratege, der längst von der Realität abgehoben hatte. Warum Ellwein sich seinem Trupp angeschlossen hatte, wusste der Offizier nicht so genau, das BGS-Gebietskommando hatte einen Besucher vom Bundesnachrichtendienst angekündigt und den dienstlichen Befehl übermittelt, ihm alle technischen Geräte im Einsatz vorzuführen, falls nötig und möglich. An welchem Fall der Mann arbeitete, wollte man dem Grenzschützer nicht verraten; das war ungewöhnlich, aber hier an der deutsch-polnischen Grenze würde noch viel Wasser die Oder hinunterfließen, bis man von normalen Verhältnissen ausgehen konnte.

Hinter der Scheune stand ein Unimog. Die Mannschaft hatte auf der Ladefläche einen Mast hochgeklappt, der an der Spitze eine riesige Halbkugel aus festem Kunststoff trug, die Öffnung zur Oder gerichtet, die knapp einen Kilometer entfernt lag. In der Mitte der Halbkugel war eine kleinere Halbkugel montiert, bestückt mit zwei empfindlichen Mikrofonen. Kabel verbanden sie mit einem anderen Unimog, auf dem sich die batteriegespeisten Verstärker mit den vielen elektronischen Störfiltern befanden. Während der Fahrt hatte der Oberleutnant mit lässigem Stolz erklärt, dass sie mit diesen Fernmikrofonen hören konnten, wenn auf der anderen Seite des Flusses Ruder in das Wasser tauchten, vorausgesetzt natürlich, Wind und Wellen spielten ihnen keinen akustischen Streich.

»Falls doch - was tun Sie dann?«

Ach du meine Güte, ein Anfänger. Es gab Restlichtverstärker. Infrarotnachtsichtgeräte. Transportable Radargeräte. An einigen Stellen, die von den Schleusern bevorzugt wurden, hatten sie auf dem Flussgrund Kabel verlegt, die jede Veränderung des Magnetfeldes, etwa durch ein darüber fahrendes Boot, registrierten. Ja, sie maßen so genau, dass sie inzwischen Vorhersagen konnten, was sich da näherte, ein Holz- oder Metallboot, groß oder klein. Und wenn die Polen mitspielen und ihnen eines Tages erlauben würden, die Kabel auch auf der polnischen Hälfte zu installieren ... Na ja, man durfte ja wohl noch träumen. Mit dem Schleusen wurde viel Geld verdient, wahrscheinlich schon mehr als durch Drogenhandel und -transport.

»Ernie, es geht los!« Der Mann mit den Kopfhörern hatte in normaler Lautstärke gesprochen, trotzdem schrak Ellwein zusammen, als sei eine Bombe explodiert.

»Und wo?«

Auf dem Mast bewegte sich die Halbkugel ganz langsam.

»Planquadrat 11-26.«

»Die alten Buhnen. Auf geht’s!«

Die Männer bewegten sich geschickt und sicher durch die Dunkelheit. Dunkle Uniformen, dunkle Sportschuhe, die Gesichter geschwärzt.

»Kein Geräusch!«, mahnte der Oberleutnant. »Bleiben Sie dicht hinter mir!« Er steckte sich den Knopfhörer ins Ohr und schaltete das Funkgerät ein.

Die nächste Viertelstunde wuchs sich zu einem Albtraum aus. Ellwein hätte nie geglaubt, dass es so finster sein könnte, dass man wortwörtlich seine eigene Hand vor den Augen nicht sah. Und in dieser schwarzen Hölle hasteten die Männer, als trainierten sie Langstreckenlauf. Den Grund für die Eile hatte ihm der Oberleutnant voller Erstaunen über so viel Naivität dargelegt: »Ja, was denken Sie denn? Die beobachten seit heute Mittag unser Ufer. Eine ungewöhnliche Aktivität, ein Mensch, den sie nicht kennen, und das Übersetzen wird um 24 Stunden verschoben. Oder an einen anderen Ort verlegt.«

Natürlich, das hätte Ellwein sich selbst sagen können, aber das tröstete nicht über die Bäume und Sträucher, den unebenen Boden, die Löcher und Rinnen hinweg. Erst aufwärts, das musste der Deich sein, dann abwärts. Nach drei Minuten stachen Ellweins Lungen, er keuchte wie ein Blasebalg und der Oberleutnant drehte sich ungehalten nach ihm um, sagte dann aber doch nichts. Dabei schleppten die anderen Männer noch jeder ein Ausrüstungsstück, Scheinwerfer, Akkus, Handschellen, Fotoapparate, Stricke, Netze. Und natürlich ihre Waffen, mit denen sie die illegalen Einwanderer, die viel Geld für diese Reise in das gelobte Land zusammengekratzt hatten, einschüchtern konnten. Oder gegen die Schlepper benutzten, die sich mehr als einmal den Weg zurück über die sichere Grenze freigeschossen hatten; schließlich wussten diese Leute sehr genau, was auf dem Spiel stand.

Kein Laut, nur das dumpfe Poltern der Sohlen; dann schimmerte ein hellerer Streifen auf, der Fluss, die Männer schwärmten aus, Befehle brauchten sie nicht, das war alles oft geübt. Der Oberleutnant warf sich zu Boden, hielt das Glas mit dem Restlichtverstärker vor die Augen und pfiff kaum hörbar vor sich hin.

»Da, schauen Sie mal!«, triumphierte er.

Auf dem flachen Glas leuchteten grünliche Konturen auf. Tatsächlich, ein Boot, nicht leicht zu erkennen vor dem unruhigen Hintergrund. Ellwein gab das Gerät zurück, sein Begleiter summte entspannt, hielt dann plötzlich etwas vor den Mund: »Trupp zwei auf die Buhne. Links halten, ducken.«

Es war nicht zu glauben, er brummte den Gefangenenchor aus Nabucco, brach plötzlich ab: »Licht!«

Keine zwei Sekunden später flammten zwei Scheinwerfer auf und tauchten die Szene in grelles Licht. Ein Boot hatte an der Buhne angelegt, ein Mann kniete auf den Steinen und hielt den Bug fest, während andere Männer eilig an Land sprangen, jetzt plötzlich innehielten, als sei ein Film gerissen.

»Na prima!«, lobte der Oberleutnant laut. »Das hat ja hingehauen.«

Die Truppe zwei erschien wie aus dem Wasser gestiegen an der Heckseite des Bootes, die Maschinenpistolen im Anschlag. Zehn Sekunden rührte sich niemand.

»Wir haben sie. Platt machen und Abmarsch zum Einsammeln.« Unendlich weit entfernt sprangen Motoren an, es war fast beängstigend, wie weit die Nacht den Schall trug. Plötzlich schnellte unten ein Mann hoch, raste in Zickzacksprüngen auf das Wasser zu, eine Maschinenpistole belferte einen kurzen Stoß, dann verschwand der Mann im Fluss.

»Los! Platt machen!«, brüllte der Offizier in sein Mikrofon und mit diesem Befehl brach die Hölle los.

Von allen Seiten stürmten dunkle Gestalten auf die immer noch Versteinerten zu, zwei oder drei versuchten dann doch zu fliehen, aber sie hatten keine Chance, wurden zu Boden gerissen und gefesselt. Die meisten wehrten sich nicht, wie gelähmt durch diese Explosion von Härte und Rücksichtslosigkeit.

Eine Minute später war alles vorbei.

»Ich hab zweiundzwanzig gezählt«, sagte der Oberleutnant gleichmütig. »Nummer 23 haben wir leider verpasst, aber der wird uns keinen Ärger mehr machen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Zurück schafft er es nicht mehr. Die Oder hat hier eine stärkere Strömung, als es aussieht. Na, da sind ja unsere Erntewagen.«

In dem verlassenen Dorf tranken sie Kaffee aus Thermoskannen und Ellwein ließ sein Zigarettenpäckchen herumwandern. Der Oberleutnant musterte ihn immer noch wie einen schrägen Vogel, trotz seiner Jugend versprühte er viel Zynismus und seine Leute spurten, wenn er lässig einen Befehl hinwarf. Ein Landsertyp, nicht unbedingt Vertrauen erweckend, aber sicher tüchtig, und von seinen Männern verlangte er nur, was er selbst leistete.

Beim ersten Morgengrauen brachen sie auf.

Bevor Ellwein in Berlin losgefahren war, hatte er ein kurzes und unangenehmes Gespräch mit einem furztrockenen Juristen geführt, der beim Geheimdienstkoordinator im Bundeskanzleramt arbeitete und das Wort Kooperation noch nie gehört hatte, sogar ausfällig wurde, als Ellwein seine Kenntnisse ausbreitete: »Es gibt ein loses Spitzelnetz in Polen, über das der Grenzschutz gelegentlich erfährt, wann und wo eingeschleust werden soll.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Unwichtig.«

»Von wegen. Wer?«

»Vergessen Sie’s, ich hab den Informanten auch schon vergessen.«

»O nein, so geht das nicht, das werden Sie ...«

»Genau so und nicht anders geht das.«

»Sie hören noch von mir! Sie Bond-Verschnitt!«

»Ich wusste gar nicht, dass man seine Eier abliefern muss, sobald man das Kanzleramt betritt.«

Das Netz existierte, sein Informant hatte ihn nicht betrogen und der forsche Oberleutnant hatte nicht nachgefragt, warum man ihn in dieser Nacht gerade an diesen Flussabschnitt kommandiert hatte. Aber das Netz konnte nicht auf Polen beschränkt sein, es musste weit nach Weißrussland und die Ukraine hineinreichen, wenn solche Meldungen bis zu achtundvierzig Stunden vor dem Schleusungsversuch eintrafen. Denn in Polen mussten sich die illegalen Einwanderer verborgen halten, weil sonst ihr Aufenthalt in einem so genannten sicheren Drittland aktenkundig wurde, oder anders: Sie mussten Polen so rasch wie möglich durchqueren, damit sie nicht - zufällig oder gezielt - entdeckt oder aufgehalten wurden. Dass diese Schleuserei trotz des Risikos ein grandioses Geschäft für die Schlepperbanden war, stand fest. Und wenn so eine Organisation erst einmal funktionierte, musste man sich nicht auf hilflose Menschen beschränken. Es gab Waren, Informationen, Gelder, Personen, die unbemerkt nach Deutschland zu schaffen waren - was äußerst generös bezahlt wurde. Oder aus Deutschland heraus.

Aber als Ellwein seine Idee vorgetragen hatte, den Grenzschutz einzuweihen, erstarrten die Gesichter vor ihm. Um Gottes willen! Das Netz aufrollen, dem man so viele Zugriffe auf illegale Einwanderer und falsche Asylbewerber verdankte? Und das zu einer Zeit, in der man jeden Tag im Zusammenhang mit der Zuwanderungsregelung eine neue Asylrechtsdebatte erwarten musste? War er denn von allen guten Geistern verlassen?

»Die Spionage ist nicht gestorben, nur weil die Sowjetunion nicht mehr existiert«, hatte Ellwein sie beschworen. »Das Geschäft ist sozusagen privatisiert worden, Patente sind jetzt wichtiger und lukrativer als Panzerzahlen und Raketenpläne und die Agenten schmuggeln nicht nur Menschen oder Zigaretten. Unsere alten KGB-Freunde arbeiten inzwischen auf eigene Rechnung, sie sind nicht weniger gefährlich, nur weil sie nicht mehr vom Obersten Sowjet entlohnt werden.«

Ellwein hatte gegen eine Wand gesprochen und zu den mildesten Beleidigungen gehörte noch die süffisante Frage, ob er für den BND händeringend neue Aufgaben suche, um seine Auflösung zu verhindern. Den schmerzhaftesten Schlag versetzte ihm ein Kollege, der ganz diskret murmelte: »Ich hatte doch läuten hören, dass Sie hinter einem rechten Ding her sind?!«

Dass er in ein Wespennest gestochen hatte, begriff Ellwein erst tags darauf: strikter Befehl, jede Kontaktaufnahme mit dem Grenzschutz war verboten. Wenn sein nächtlicher Ausflug bekannt werden würde, musste er mit einem Disziplinarverfahren rechnen. Aber Ellwein hatte nicht kneifen wollen, es gab Grenzen der Selbstachtung, die man nicht verletzen durfte, wenn man sich noch im Spiegel anschauen wollte, und von Gönter und Weinert hatte er die Schnauze gestrichen voll. Das war doch Kinderkram, herumzusitzen und Däumchen zu drehen, nichts zu tun und auf ein Wunder zu hoffen, während das Objekt sich über sie lustig machte. Okay, es gab Phasen, in denen man sich tot stellen musste, aber doch nur, um die Zeit abzuwarten, zu der man selbst aktiv werden konnte. Weinert würde das nie kapieren, und Gönter traute Ellwein nicht mehr hundertprozentig.

Sein Bekannter bedauerte am Telefon: »Die Sendung ist angekommen, aber dein Paket war nicht dabei.«

»Ein Päckchen ist ins Wasser gefallen.«

»Ja, hab ich auch gehört. Wahrscheinlich ist es jetzt ruiniert.«

Und wenn er nicht ertrunken war, würde der Mann diesen Weg nach Deutschland nicht mehr riskieren. Einmal pro Jahr reiste er ein und brachte Rohdiamanten mit, die ein Mitglied der Organisation unauffällig verkaufte. Der Erlös diente dazu, hiesige Agenten zu bezahlen oder Wissenschaftler zu bestechen, Patente zu erwerben oder Industriespionage zu finanzieren. Manche Regierungen zogen es vor, ihre Bestellungen auf diese Weise zu bezahlen, um keine Spuren bei den Banken zu hinterlassen.

Dem ersten, ungewöhnlich präzisen Tipp hatten sie nicht getraut, aber alle Einzelheiten trafen zu. Bei der letzten Kontrolle im Zug nach Wien musste etwas das Misstrauen des Kuriers so erregt haben, dass er sich nicht mehr auf seinen gefälschten Pass verlassen wollte. Zu der Zeit kannten sie schon seinen Tarnnamen und staunten nicht schlecht, als der Computer ihn bei der Auswertung einer Agentenmeldung identifizierte. Der Mann musste geahnt haben, wer das Boot aufgriff, und hatte lieber sein Leben als eine Festnahme riskiert. Also durften sie auch dieses Kapitel schließen.

Donnerstag, 21. September

Über Nacht war es kalt geworden, Rogge kehrte vor dem Gästehaus um und zog sich einen Pullover an. Die Sonne verbarg sich hinter einem grauen Schleier und auf seinem Marsch zum Beltenstein rüttelten ihn scheußlich kühle Böen durch. Sein letzter Wandertag, und wenn er Simon nicht erklärt hätte, er werde bis Freitag wegbleiben, wäre er heute schon abgefahren.

Von der ehemaligen Burg auf dem Beltenstein existierten nur noch wenige Mauern, der Eichenwald war bis zum Gipfel heraufgewachsen und nur durch eine kleine Schneise glitzerte wie ein heller Strich am Fuß des Berges die Bundesstraße, die hier auf der Trasse einer uralten Handelsstraße aus dem Böhmischen Richtung Rhein verlief.

Auf dem Parkplatz hätte Rogge sich am liebsten die Ohren zugehalten. Aus einem Bus stolperten, stürzten, drängten und purzelten Kinder heraus, die ihrem aufgestauten Bewegungsdrang durch Schreien, Toben und Rangeln erst einmal Luft machen mussten, bevor sie bereit waren, sich um eine energische Frau zu scharen.

Rogge schnitt eine Grimasse, blieb aber unwillkürlich stehen und hörte zu, nachdem sich ein Kreis um die Frau gebildet hatte. An die dreißig Kinder, zwölf, dreizehn Jahre alt, wie er schätzte, die meisten Jungen noch richtige Rüpelbolzen mit zu viel Kraft, einige Mädchen aber schon zurückhaltend, kleine gezierte Damen, die für solche Kindereien überhaupt kein Verständnis mehr besaßen. Ein Klassenausflug, Wandertag. Und die Frau mit den kurzen sandfarbenen Haaren und dem entschlossenen Kinn war die arme Lehrerin. Der Bus entfernte sich.

»So, jetzt schaut ihr alle mal runter ins Tal. Was seht ihr da?«

»Eine Straße.« - »Autos.« - »Luft.« Schrilles Lachen, ach Gott, was war man witzig.

»Richtig. Eine Straße. Und eine Straße, allerdings nicht so breit und glatt und asphaltiert, gab es hier schon vor über fünfhundert Jahren.«

Langsam schob sich Rogge näher heran und buchte ihr in Gedanken einen Pluspunkt gut. Laut anfangen, unmerklich leiser werden, der Lärm verstummte, alle mussten die Klappe halten und die Ohren spitzen, um sie verstehen zu können, den Trick lernten die Polizisten in der psychologischen Schulung beim Kapitel Umgang mit Demonstranten.

Schon damals herrschte auf der Straße viel Verkehr und hier oben auf der Burg saß der Beltensteiner, ein gefürchteter Raubritter, der immer wieder mit seinen Leuten den Berg hinunterstürmte und die Wagen überfiel, ausraubte oder von den Kutschern ein Wegegeld erpresste. Manchmal wehrten sich die Fuhrleute, es gab Tote, der Beltensteiner war nicht zimperlich und hinter den dicken Mauern trotzte er seinen Gegnern. Bis sich die Nürnberger und der Mainzer Erzbischof verständigten und mit einem richtigen Heer anrückten, um die Reichsacht an dem Beltensteiner zu vollstrecken.

Rogge grinste breit, an seine Schulzeit hatte er nicht die besten Erinnerungen, aber Geschichte von dieser Lehrerin gefiel ihm.

Sie warf ihm einen gereizten Blick zu, Rogge verbeugte sich knapp und sie fuhr fort. Fünf Minuten, dann brach sie ab: »So, den Rest erzähle ich euch oben auf der Burg.«

Prompt entwickelte sich ein mittleres Chaos. Dann bemerkte Rogge zwei Jungen, die sich strategisch geschickt in die Büsche abzusetzen versuchten,

»Vergesst es!«, rief er ihnen laut nach, schuldbewusst drehten sie die Köpfe zu ihm und er wies mit der Hand auf den Pfad: »Da geht’s rauf!«

Ihre Flüche las er nur von ihren Lippen ab und die wütenden Blicke ließen ihn kalt. Mit sich zufrieden kletterte Rogge den schmalen, steilen Weg hoch. Bei der nächsten Erklärung der Lehrerin mischte er sich schon unter die Schüler.

»Okay, in einer Viertelstunde geht’s weiter.« Die Bande stob wie ein aufgescheuchter Hühnerschwarm auseinander, Rogge fing wieder einen Blick auf und stellte sich vor: »Jens Rogge. Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«

»Sibylle Wagner. Nein, Sie stören nicht, und wenn Sie sich nützlich machen wollen, dürfen Sie die Nachhut bilden.«

»Alles klar. Einige Herrschaften gieren nach einer Zigarette, wie ich vermute.«

Sie lachte, was sie ausgesprochen sympathisch wirken ließ: »Schlimmer noch. Ich kann nicht alle Saftflaschen und -behälter kontrollieren.«

Den Rest des Tages war Rogge als Aushilfswächter engagiert, sie stellte ihn den Kindern vor und damit war für seine Unterhaltung gesorgt. Die jungen Damen siezten ihn ausnahmslos, die meisten Jungen duzten ihn und nur in zwei Fällen hatte er das Gefühl, dass darin aggressive Verachtung mitschwang. Von der Burg liefen sie ins Tal hinunter. Rogge musste alle seine Kenntnisse zusammenklauben, um zu erklären, wie Holzkohle gebrannt wurde, und die Lehrerin machte den Kindern klar, welchen Wert in früheren Zeiten Holz besaß, als Baumaterial und für das Heizen im Winter. Rogge räusperte sich und erklärte, dass Fleisch teuer und selten war, dass aus Hunger regelmäßig gejagt wurde, aber nicht jeder einfach schießen durfte. Es gab Wald- und Jagdrechte, außerdem Fischrechte, und weil Wald so wertvoll war, durfte auch nicht jeder Bäume schlagen, wie er wollte. Bei seinem Vortrag zerkaute die Lehrerin ein Lächeln und fragte hinterher halblaut: »Sind Sie Jurist?«

»Nein, Polizist.«

»Hervorragend, dann weiß ich ja, wie ich meine Terroristen notfalls einschüchtern kann.«

In der Kochenbachmühle war für Rogge und die Lehrerin gedeckt und sie unterhielten sich wie alte Bekannte. Zwei Mädchen setzten sich zu ihnen und begannen, ihm ein Loch in den Bauch zu fragen. Nein, er war kein Lehrer. Ja, er hatte auch Kinder. Nein, die gingen nicht mehr zur Schule. Ja, er war schon Großvater. Nein, er machte Urlaub. Ja, er lief gerne. Nein, er kannte Frau Wagner nicht von früher. Ja, er würde gerne noch bei ihnen bleiben.

»Dann is ja gut.« Und weg waren sie.

»Der Ritterschlag«, belehrte Sibylle Wagner Rogge und amüsierte sich.

Der restliche Tag verging wie im Fluge, und am meisten erstaunte und rührte ihn sogar, dass ihm die Kinder freiwillig die Hand gaben, als er sich verabschieden musste.

»Sie waren eine große Hilfe«, dankte die Lehrerin ernsthaft und Rogge verbeugte sich: »Das vernimmt man gerne.«

Gertrud schien ein wenig beleidigt: »Kein Essen heute?«

»Nein, danke, ich musste über Mittag eine Riesenportion Erbsensuppe mit Würstchen essen.«

»Nicht doch eine Kleinigkeit? Die Chefin hat falschen Hasen gebraten, der ist wirklich gut.«

»Also eine winzige Portion Bärenhase und einen gemischten Salat.«

Zufrieden spitzte sie die Lippen und wirbelte davon. Der Bär war mittelprächtig besucht, die schwarze Schönheit stand hinter dem Tresen und zapfte, Olli schien sich einen freien Abend zu gönnen. Zwei aus Bennos Bande hockten rechts auf der Bank und ödeten sich an, den einen zierte ein prächtiger, wenn auch schon schmuddeliger Kopfverband und Rogge musste an die Diskoschlägerei vom Wochenende denken.

Der falsche Hase schmeckte wirklich ausgezeichnet und Gertrud freute sich über das Lob: »Ich richt's der Chefin aus.«

Was sie auch sofort tat, die Schwarzhaarige suchte seinen Blick und verneigte sich ungezwungen. Was Rogge brav erwiderte und sich wieder einmal fragte, was sie über ihr Leben mit Olli denken mochte. Wenn sie lächelte, war sie verführerisch schön.

Olli erschien gegen 23 Uhr und löste seine Frau am Zapfhahn ab. So weit es ihm überhaupt möglich war, eine Stimmung zu zeigen, wirkte er heute selten zufrieden, fast aufgekratzt; er verzichtete sogar darauf, sich mit einer Hand abzustützen.

»Tja, Gertrud, wir müssen uns auch auf Wiedersehen sagen. Ich fahre morgen Vormittag.«

»Die Chefin hat’s schon erzählt.« Gertrud nickte betrübt.

»Ich komm bestimmt noch einmal vorbei.«

»Ja, sicher«, sagte sie zögernd und musterte ihn verlegen, bevor sie sich vorbeugte und hauchte: »Können wir - ich meine, ich würde Sie gern noch - also, haben Sie nachher noch Zeit für mich?«

»Ja, natürlich«, entgegnete Rogge ruhig.

»Fein, ich komm dann zu Ihnen.« Sie huschte davon, und als er ihr nachsah, fing Rogge von Olli einen wütenden, gehässigen Blick auf, der ihm zu denken gab. Es hatte ihm nicht gefallen, dass Gertrud einen Moment so vertraulich mit Rogge gesprochen hatte.

Der Wirt merkte, dass Rogge ihn beobachtet hatte, und schaute ihn ausdruckslos an. Dem Kerl würde ich nicht gern allein im Dunkeln begegnen, schoss Rogge durch den Kopf.

Das Telefon hörte er, als er sein Zimmer aufschloss.

»Rogge.«

»Hei, Chef, hier spricht Kili. Wir erwarten dich dringend auf dem Revier in Herlingen.«

»Wir?«

»Simon ist auch da. Beeil dich!«

Nachdenklich legte Rogge auf. Wenn Simon und Kili nach Herlingen gefahren waren, musste es wichtig sein. Wichtig genug, um sich mit drei Gläsern Bier im Bauch ans Steuer zu setzen.

Rogge parkte direkt vor der Wache und Wibbeke hielt ihm die Tür auf. »Sie werden mir eine sehr lange Geschichte erzählen müssen«, bemerkte Wibbeke trocken.

»Meinen Sie?«

»Nein, das weiß ich. Der Besuch sitzt in meinem Zimmer.«

Im Bereitschaftszimmer füllte eine Streifenwagenbesatzung Formulare aus. Der Schichtleiter löste ein Kreuzworträtsel, ein Radio dudelte kaum vernehmbar. Die meisten Lampen wären ausgeschaltet und der düstere Raum wirkte kalt und abweisend.

Als Rogge die Tür zu Wibbekes Zimmer öffnete, gähnte Kili, dass seine Gelenke knackten, und Simon schreckte aus einem Halbdusel hoch. Der Besuch entpuppte sich als ein spindeldürres Männchen, das vor Unruhe schlotterte. Seine wässrigen Äuglein flitzten hin und her, während er sich nervös die Handflächen an der Hose trockenrieb. Die grauen Haare waren dünn geworden, Rogge schätzte ihn auf zweite Hälfte fünfzig und wunderte sich, dass man ihn wegen dieses Würstchens hierher zitiert hatte.

»Hans-Peter Eckard, 57 Jahre alt, verheiratet, wohnhaft Neustadt an der Eltz, Wiesenstraße 122, Lagerist bei der Firma Elektro-Markt in Neustadt«, leierte Kili herunter.

»Guten Abend«, sagte Rogge leise und Eckard zog den Kopf ein.

Simon schlenkerte seinen eingeschlafenen Fuß, und sobald Wibbeke sich zu Eckard gesetzt hatte, verzogen sie sich zu dritt ins Nebenzimmer, Kili schloss die Tür.

Simon verbreitete schlechte Laune: »Wir haben ihn heute Abend geschnappt, auf dem Autobahnparkplatz Feltenwiese.«

Rogge hockte sich auf eine Tischkante und zog seine Zigaretten hervor. Deshalb also!

»Er war dort mit einem anderen Mann verabredet.«

»Der euch entkommen ist«, flachste Rogge, aber das bekam Simon in die falsche Kehle, er schnarrte vor Wut: »Sparen Sie sich Ihre witzigen Bemerkungen. Der andere wartete bereits mit einem Kombi in dem Wald hinter dem Parkplatz, und weil es noch hell genug war, haben wir sein Kennzeichen entziffern können.«

»Und über Funk abgefragt«, warf Kili schnell ein; die Spannung zwischen den beiden Männern, die sich sonst so gut verstanden, irritierte ihn. »Der Kfz-Halter heißt Anton Lohse, Stockau, Hauptstraße 29.«

»Olli!« Verblüfft schüttelte Rogge den Kopf, was Simon zu besänftigen schien, jedenfalls fuhr er in halbwegs normalem Ton fort: »Und weil mir Ihre Vorzimmermedusa mitzuteilen geruhte, dass Sie sich in einer Gastwirtschaft Zum Bären, Stockau, Hauptstraße 29, einquartiert haben, habe ich angeordnet, den Mann laufen zu lassen. Um Ihnen Schwierigkeiten zu ersparen.«

»Danke«, murmelte Rogge.

»Dieser Eckard kam mit seinem Lieferwagen auf den Parkplatz gefahren, ist in den Wald eingebogen und dann haben die beiden Männer umgeladen.«

»Hinter dem großen Ilexstrauch«, riet Rogge und Simon räusperte sich: »Sie wissen wieder mal mehr?«

Er wehrte ab: »Ich habe nur Ihre Anweisungen befolgt, Herr Rat.«

»Ja, sicher. Botanisiert, wie? Kartons mit Elektrogeräten.«

Ein Lagerist bei einem Elektromarkt, ja, da blieb nicht viel zu rätseln.

»Der Lohse ist dann mit seinem Kombi aus dem Wald herausgefahren, über eine Wiese hinunter ins Tal.«

»Sie heißt Feltenwiese und hat dem Parkplatz den Namen gegeben«, erläuterte Rogge.

Kili atmete durch: »Diesen Eckard haben die Kollegen dann auf dem Parkplatz hops genommen.«

»Für das Umladen gibt es Zeugen?«

»Vier Beamte, ihre Aussagen sind bereits protokolliert. Und genügend Fotos, die Filme sind schon im Labor.«

»Fein. Ich würde Eckard gerne etwas unter Druck setzen.«

»Von mir aus!« Simon starrte einen Moment zur Decke. »Ich verdufte.«

»Ein fester Wohnsitz - kann ich ihn laufen lassen?«

»Natürlich. Sonst liegt nichts gegen ihn vor, sagt der Computer.«

»Und wegen der Hehlerware ...«

»Soll Wibbeke erledigen. Das ist sein Revier. Gute Nacht.«

»Der hat es aber eilig!«, knurrte Kili, vorsichtshalber so leise, dass Simon nichts hörte.

Rogge grübelte. Für Simons hastigen Abgang gab es nur eine vernünftige Erklärung: Die ganze Geschichte sollte so lange wie möglich inoffiziell, auf dem kleinen Dienstweg, behandelt werden. Wogegen Rogge nichts einzuwenden hatte.

Eckard schwitzte vor Angst, er konnte einem Leid tun, aber Rogge musste die Gelegenheit nutzen: »Tja, da haben Sie sich ja ganz schön in die Scheiße geritten, Herr Eckard.«

»Was soll das heißen, wieso hab ich mich in etwas ...«Er war immer langsamer geworden, weil Rogge energisch den Kopf schüttelte: »Bitte kein Theater jetzt! Wir haben Zeugen, dass Sie Diebesgut in Ollis Wagen umgeladen haben, wir sind gerade dabei, Olli auffliegen zu lassen, an Ihrer Stelle würde ich ganz schnell und ganz brav auspacken.«

Wibbeke stand auf: »Ich besorg mal Kaffee, was meinen Sie?«

»Eine sehr gute Idee!«, pflichtete Kili bei. »Ich helfe Ihnen.«

Rogge schwieg eine Minute, in der sich Eckards Gesicht grau verfärbte. »Nun machen Sie schon! Wir werden Ihren Arbeitgeber verständigen müssen, das ist Ihnen doch klar.«

Daran hatte Eckard noch gar nicht gedacht, erst jetzt wurde ihm das ganze Elend in seinem vollen Ausmaß bewusst und nun sprudelte es nur so aus ihm heraus. Den Olli habe er auf dem Rennplatz kennen gelernt, na ja, wie man so ins Gespräch kommt, wenn die Pferdchen immer anders einliefen, als man getippt hatte. Geld konnten sie beide gebrauchen, beim Bier hatte Eckard Olli erzählt, wo er arbeitete und wie lässig diese Reklamationsfälle gehandhabt würden. Olli hatte beiläufig bemerkt, dass er viele Bekannte und Gäste habe, die sich gerne mal einen neuen CD-Spieler leisten würden, aber mit den Mäusen seien sie halt auch klamm. Vielleicht könne man sich ja gegenseitig helfen.

»Und wann war das?«

Vor drei Jahren. Bis jetzt sei ja auch alles glatt gelaufen. Wenn Eckard etwas beiseite geschafft hatte, rief er Olli an und sie trafen sich in dem Wald hinter dem Parkplatz. Ware gegen Geld, Eckard fuhr auf die Autobahn und über die B 111 gleich nach Hause zurück. Manchmal packte ein großer Mann mit an, dem man den Mund zugenäht hatte, aber Olli hatte nur gebrummt, der wüsste Bescheid und wäre in Ordnung.

»Wie oft haben Sie sich getroffen?« Rogge fragte gleichmütig und Eckard räusperte sich ausgiebig.

»Ein-, zweimal im Monat«, krächzte er.

Wibbeke und Kili hatten tatsächlich Kaffee aufgetrieben und Rogge lobte: »Herr Eckard ist sehr kooperativ.«

»Wie uns das freut«, knurrte Wibbeke. Einer musste ja den Part des hässlichen Bullen übernehmen und Wibbekes Uniform beeindruckte den Kleinen.

Nach der Pause beugte Rogge sich vor: »Also immer auf der Feltenwiese?«

»Ja.«

»Und das ist immer glatt gegangen?«

»Nei-ein.« Eckard schluckte verzweifelt.

»Nein? Warum denn nicht?«

»Manchmal war da zu viel Betrieb.«

»Abends? Auf dem Parkplatz? - Das glauben Sie doch selber nicht!«

Doch, bestimmt. Nicht direkt auf dem Parkplatz, auch nicht im Wald, aber auf der Wiese dahinter. Mein Gott, was da herumgevögelt wurde - da trieb sich so eine Dorfschönheit herum, eine richtige kleine Hure, die hatte Freier von wer weiß woher, manchmal hatte Eckard eine Stunde oder länger warten müssen, bis sie ihre Kunden abgefertigt hatte und die Luft rein war» Einige Male hatte sie so lange auf dem Parkplatz gesessen, weil sich wohl ein Freier verspätet hatte, dass Eckard weitergefahren war und Olli über Handy abgesagt hatte; Olli schimpfte auch immer über diese läufige Hündin, die ihn wohl kannte. Olli traute sich deshalb erst über die Wiese zu fahren, wenn er sich vergewissert hatte, dass auf der Wiese kein Wagen mehr parkte und die kleine Hure ins Dorf zurückgegangen war. Aber das war zum Glück nicht oft passiert.

Rogge erhaschte Wibbekes Blick und winkte unauffällig ab.

»Na schön, Herr Eckard, dann beschäftigen wir uns mal mit einem bestimmten Monat. Mit dem September im vorigen Jahr.«

Wibbeke schaltete sofort, Kili brauchte einige Sekunden, bis er glänzende Augen bekam, also hatte er die Akten auf Rogges Schreibtisch gelesen.

»Was soll da gewesen sein? Im September?«

»Am 15. September ist auf dem Parkplatz Feltenwiese eine Frau gefunden worden ...«

Er brach ab, weil Eckard eine heftige Bewegung machte: »Die ihr Gedächtnis verloren hat?«

»Ja, woher wissen Sie das?«

»Aus der Zeitung. Und später ist sie im Fernsehen gewesen.«

»Genau die. Also: vorigen September.«

Bei Rogges drohendem Ton rang das Männchen nach Luft: »Was hab - denken Sie etwa - damit hab ich doch nichts zu tun.«

»Wirklich nicht?«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Das soll ich Ihnen glauben?«

Wibbeke fuhr grob dazwischen: »Der Kerl lügt doch, Herr Kollege.«

»Moment mal, ich lüge nicht, im September bin ich gar nicht - im September war ich im Urlaub. Mit meiner Frau. In der Eifel. Sie können sie fragen.« Vor Erregung begann er zu stottern und zu sabbern.

»Pff. Seine Frau. Die wird uns Märchen erzählen, dass sich die Balken biegen.«

»Nein, warum denn - sie weiß doch gar nichts von meinen - warum sollte sie - wir waren wirklich in der Eifel.« Jetzt jaulte Eckard vor Verzweiflung, schaute flehend von einem zum anderen.

Rogge drohte leise, sodass der Kleine erneut zusammenfuhr: »Es gibt Zeugen, Herr Eckard.«

»Die können mich doch gar nicht gesehen haben, ich war doch gar nicht da!«

»Wer denn sonst?«

»Das weiß ich doch - vielleicht dieser Hinkende. Oder dieser Kerl mit dem großen Mercedes.«

»Ach, jetzt ist es auf einmal ein Mercedes«, höhnte Rogge, noch wie betäubt von dem Wort Hinkender. Wer das gewesen war, konnte er sich gut vorstellen.

»Ja, ein S 500 Coupé, blau metallic.«

»Toll!«, brüllte Kili los. »Was Sie nicht alles im Dunkeln sehen. Und das Kennzeichen?«

»H-PE und drei Ziffern, aber die hab ich mir nicht gemerkt.« Unter Kilis gespielter Wut hatte Eckard sich regelrecht geduckt; Wibbeke hatte Mühe, ernst zu bleiben.

»Aber die Buchstaben, die hat er sich gemerkt. Für wie dumm halten Sie uns eigentlich?«

»Es sind doch die Anfangsbuchstaben von meinem Namen!«, schrie der Kleine in heller Verzweiflung.

»Seine Initialen!«, jaulte Kili auf und schien zusammenzubrechen. »Nein, ich halt’s nicht mehr aus.«

»Mach du mal weiter, Kili!«, befahl Rogge düster und winkte Wibbeke. »Wir gehen ein wenig vor die Tür. Und wenn er nicht reden.will ...«

Wibbeke nahm eine Zigarette und fluchte leise: »Den Hinkenden kennen Sie?«

»Höchstwahrscheinlich Benno Brockes. Und die kleine Hure ist Andrea Wirksen, ich hab sie bei ihrem Geschäft beobachtet.«

»Und Sie glauben, Benno oder Andrea haben etwas gesehen?«

»Ich weiß nicht, Herr Wibbeke. Irgendetwas ist da faul an der ganzen Geschichte. Es kann mit dieser Frau zu tun haben, aber vielleicht auch mit einer ganz anderen Sache ...«

»Benno und Andrea, das ist ein Pärchen ...«

»Ja, schon, aber was ist mit Ollis Hehlerei? Da läuft was unter der Decke, Gertrud scheint zu wissen, um was es sich handelt, heute Abend wollte sie noch mit mir reden.«

»Gertrud ist in Ordnung«, betonte Wibbeke langsam.

»Ich hoffe«, erwiderte Rogge bedrückt.

Hinter der Tür erhob sich Kilis Stimme zum Gebrüll eines gereizten Löwen. Wibbeke griente verächtlich.

»Ich überlasse Ihnen das Würstchen«, entschied Rogge. »Diebstahl, Veruntreuung, Unterschlagung, machen Sie mit ihm, was Sie wollen. Im Protokoll soll nur nicht auftauchen, dass ich mich für die Leute interessiere, die sich im vorigen September auf der Feltenwiese herumgetrieben haben.«

»Geht in Ordnung. Er hat einen festen Wohnsitz, ich muss ihn laufen lassen. Wie haben Sie Ihren Rat dazu gebracht, vier Leute zur Bewachung des Rastplatzes abzustellen?«

»Simon hat ein schlechtes Gewissen. Deshalb diese Aktion.« »Und Olli?«

»Ich habe schon angekündigt, dass ich morgen früh abreise. Können Sie so lange warten?«

»Kein Problem. Zwei meiner Leute passen vor seiner Garage auf, falls Eckard ihn sofort anruft.«

»Er ist um 23 Uhr wieder im Bären erschienen.«

»Dann hat er keine Zeit gehabt, die Ware irgendwo hinzubringen«, sagte Wibbeke zufrieden.

Rogge grunzte: »Lassen Sie mir Brockes? Den brauche ich für meine Zwecke.«

Wibbeke nickte und Rogge fragte spontan: »Wissen Sie, dass Ollis Frau einen Liebhaber hat?«

»Nein, aber es verwundert mich nicht.«

»Na fein, dann sind wir uns einig.«

»Einschließlich des Versprechens, mir irgendwann einmal eine lange Geschichte zu erzählen.« Wibbeke schmunzelte und drückte die Zigarette aus. »Mein Schwiegersohn baut Wein an. Ganz ordentlich für hiesige Breitengrade.«

»Ich sage nicht nein.«

Als sie den Raum wieder betraten, schaute Rogge auf das Tonbandgerät und Kili drückte unauffällig die Aufnahmetaste. »Also, Herr Eckard, das Ganze noch einmal von vorne ...«

In sehr manierlichem Tonfall stellte Kili seine Fragen nach den Diebstählen und der erleichterte Eckard wiederholte bereitwillig sein Geständnis. An einem bestimmten Punkt schüttelte Rogge leicht den Kopf, Kili stoppte das Band und gemeinsam nahmen sie den Kleinen noch einmal in die Zange. Aber es lohnte die Mühe nicht. Ja, er hatte einen großen, hinkenden Mann gesehen. Und eine Frau, die zu Männern ins Auto stieg. Und mehrmals diesen Mercedes mit dem Hannoveraner Kennzeichen, im vorigen Sommer. Nein, sonst nichts.

Rogge schaute auf die Uhr.

»Was geschieht jetzt mit mir?«

»Das werden Sie von Oberkommissar Wibbeke erfahren.« Damit stand er auf und Kili kannte seinen Herrn und Meister gut genug, einen prächtigen Abgang hinzulegen: »Aber glauben Sie ja nicht, Sie seien uns los.«

Auf dem Marktplatz schöpften sie beide tief Luft. Die Wolken hatten sich verzogen, den Mond verdeckte leider ein Dach zur Hälfte, aber die Sterne funkelten. Es war sehr still und sehr friedlich.

»Was machst du jetzt?«

»Ich muss in den Bären zurück, Wibbeke wartet bis zum Morgen. Vielleicht können wir Olli täuschen, dass er mich mit seinen Scherereien nicht in Verbindung bringt.«

»Und ich peste das Kraftfahrzeugbundesamt.«

»Okay, wir sehen uns dann morgen - nein, verdammt, heute schon.«

»Ich glaube, die Staatsanwaltschaft hat Sehnsucht nach dir.«

»Gute Nacht, Kili.«

Rogge fuhr sehr langsam, müde und zugleich aufgekratzt. Hannover - das waren drei Stunden Fahrtzeit. Zwei, wenn man auf einer leeren Autobahn Tiefflug üben konnte. Etwas lang und weit, nur um eine Bordsteinschwalbe aufzupicken und zu vögeln. Eine Frau, die teure Unterwäsche trug und mit Schmuck für mehrere tausend Mark behängt war, passte eher in ein 500er Coupé.

Der Bär lag im Dunkeln, irgendwo mussten Wibbekes Männer warten und ihn jetzt beobachten, aber Rogge sah niemanden. So leise wie möglich rangierte er seinen Wagen auf den reservierten Streifen neben dem Garagentor und ging rasch zum Gästehaus. Alle Türen waren verschlossen. In seinem Zimmer fand er einen Zettel, unter der Tür durchgeschoben: Tut mir Leid, dass ich Sie versetzen muss, aber Michael ist noch gekommen. Ihre Gertrud.

Michael war wichtiger, stimmte Rogge belustigt zu.

Freitag, 22. September

Lautes Gebrüll weckte Rogge, das Geräusch von Schritten, Männer schrien, Türen knallten, er fuhr hoch, sein Herz raste, und erst nachdem sich der Schwindel gelegt hatte, verstand er: Wibbekes Männer hatten zugegriffen und sich Olli geschnappt. Rogge zog sich langsam an, lauschte auf ein Martinshorn, das sich entfernte, und packte gemütlich. Je später er nach vorne kam, desto besser.

Die Polizeiaktion hatte den Fahrplan des Bären völlig durcheinander gebracht, die beiden Frühstückstische waren wohl schon gedeckt, aber kein Mensch ließ sich blicken.

Nach einer Viertelstunde machte Rogge sich auf die Suche, öffnete die Tür zu den Privaträumen und rief laut: »Hallo?«

Die Tür zur Küche ging auf und die schöne Wirtin starrte ihn an, als sehe sie Rogge zum ersten Mal.

»Guten Morgen«, grüßte Rogge munter. Offiziell wusste er ja von nichts.

Sie runzelte die Stirn, ihr Blick kam aus weiter Ferne zurück und dann haute es ihn fast um: Sie lächelte, nicht mühsam oder höflich, sondern herzlich, geradezu fröhlich. »Guten Morgen«, erwiderte sie.

»Entschuldigen Sie, ich wollte nicht stören ...«

»Nein, nein. Es tut mir Leid, ich habe mich verspätet, Ihr Kaffee kommt sofort.«

Sieh mal an, dachte er amüsiert. Frau Wirtin schien von der Tatsache, dass die Polizei ihren Mann einkassiert hatte, nicht gerade erschüttert. Eher erleichtert. Ob sie etwas von Ollis Hehlerei geahnt hatte? Oder nur auf einen solchen Vorfall gewartet hatte?

Als sie das Tablett absetzte, hatte sie sich jedenfalls wieder gefangen. Ein Monatsgehalt für das, was hinter deiner schönen Stirn vorgeht, schoss Rogge durch den Kopf.

Aber sie sagte nichts außer »guten Appetit«, und als sie zum Tresen ging, musterte Rogge sie etwas aufgebracht. Enge Samthosen und ein enges, dünnes weißes Oberteil, für sie ging das gewohnte Leben weiter. Er zahlte und sie behielt das verträumte Lächeln bei.

»Grüßen Sie bitte Gertrud von mir«, bat er, was sie versprach: »Gerne, Herr Rogge. Alles Gute.«

Um zwei betrat Rogge sein Büro, bereit, die unvermeidliche Papierkriegsschlacht zu bestehen. Drei Stunden saß er vor dem Computer und tippte seinen Bericht, tastete die Druckbefehle und ging ins Dienstzimmer, wo der Drucker leise summte. Seine Leute hatten ihn nicht zu stören gewagt oder nicht bemerkt, dass er wieder an Deck war. Kili belämmerte Hertha mit einer langen Erzählung, sie schmunzelte, eigentlich mochte sie den Filou ganz gut leiden, aber sie würde sich lieber die Zunge abbeißen, als das zuzugeben.

»Gibt’s schon Ergebnisse von der KTU?«, unterbrach Rogge den Kaffeeplausch.

»Nein. Lohse und Eckard kriegen wir dran, aber das ist ja wohl nicht das, was dich im Moment beschäftigt. Ach ja, hier sind die drei Anschriften. Und dann hat vorhin Wibbeke angerufen, das Labor wolle sich nicht festlegen. Was meint er damit?«

»Lies meinen Bericht - ach, und schick einen Durchschlag an Wibbeke. Oder bring ihn hin, ich verreise übers Wochenende.«

»Schon wieder?«, argwöhnte Kili, die Stirn wie ein Dackel gefaltet.

Rogge holte tief Luft: »Weißt du, Kili, in diesem Laden ersticke ich manchmal.«

Samstag, 23. September

Um sechs Uhr ordnete er sich auf der Autobahn ein und staunte. Tiefflug konnte er zwar nicht üben, das gab sein betagter Wagen nicht mehr her, aber bis Hannover brauchte er nur ziemlich genau drei Stunden, obwohl die Autobahn kurz vor Hildesheim doch voll geworden war. Er folgte den Hinweisschildern ins Zentrum und stieg auf gut Glück im erstbesten Hotel ab; der junge Mann beglückwünschte ihn gemessen zum Wochenend-Sonderpreis, Sauna und Gymnastikstunde inklusive, und organisierte im Handumdrehen einen Stadtplan.

Drei Männer hatten im vorigen September einen Mercedes S 500 Coupé mit dem Kennzeichen H-PE xxx gefahren. Eine Adresse lag direkt an der Eilenriede, eine Straße fand Rogge in Hainholz, die dritte in Linden.

In der Klenzestraße musste er sein Auto in eine winzige Parklücke rangieren und sich wie ein Aal heraus schlängeln. Das Haus Nummer 19 war ein Neubau, bei dem an nichts gespart worden war, weder an Glas, Kupfer noch an Holz. Jede Wette, das waren Eigentumswohnungen, und zwar in der Preislage, die sich normale Sterbliche nicht leisten konnten, erst recht keine Hauptkommissare. Ein Coupé entdeckte er nicht, das Tor zur Tiefgarage war geschlossen.

Arno Welder schien das Penthouse zu bewohnen, Rogge rückte die Krawatte zurecht, übte noch einmal kurz das beflissene Gesicht und klingelte.

Eine etwas nörglerische Frauenstimme meldete sich; »Ja?«

»Guten Morgen, mein Name ist Rogge, ich bin mit Herrn Welder verabredet.« Zehn Sekunden später summte der Türöffner.

Der Architekt musste selbst beim Aufzug überlegt haben, was er an zwar überflüssigem, aber teurem Schnickschnack einbauen konnte. Rogge schnaufte mäßig beeindruckt und verließ den Käfig mit, wie er hoffte, serviler Eile und dienstbeflissener Miene. In der Tür stand eine leicht bekleidete Schönheit, die ihn geringschätzig musterte; eine brennende Zigarette hing achtlos zwischen ihren Fingern, was Rogge als starken Raucher vergrätzte, und während er sich vor ihr verbeugte, hüllte ihn eine Wolke eines schweren, süßlichen Parfüms ein. Kunstblonde Gespielin kurz vor dem Verfallsdatum, taxierte Rogge.

»Sie wollen zu Arno?«, quengelte sie und er nickte demütig: »Bitte.«

»Er kommt gleich.« Damit trat sie zur Seite.

Über Geschmack ließ sich bekanntlich nicht streiten, ebenso wenig darüber, dass diese Sammlung von nicht zueinander passenden Scheußlichkeiten ein aasiges Geld gekostet haben musste. Welder besaß mit Sicherheit keinen Stil, aber ohne jeden Zweifel ein dickes Bankkonto.

»Wollen Sie was trinken?«, erkundigte die Frau sich und verschliff die einzelnen Wörter.

»Wenn Sie einen Kaffee für mich hätten ...«

»Kaffee gibt's nicht«, beschied sie ihn verächtlich und glitt in einen Sessel, wobei ein Gutteil ihrer ohnehin spärlichen Bekleidung zur Seite geschoben wurde; die Dame war, vom Gesicht abgesehen, ganz ansehnlich, aber sonst ein Museumsstück, wie Rogge solche Frauen bezeichnete: Schau hin, aber lass die Finger davon. Bewusst dekorativ goss sie sich ein Glas Champagner ein, er betrachtete sie ausdruckslos.

Nach drei unbehaglichen Minuten spazierte ein großer, kräftiger, auffällig gebräunter Mann ins Wohnzimmer. Er mochte Mitte dreißig sein, trug auf der Stirn das Schild Sportfanatiker und unter dem Kinn den Hinweis: Vorsicht, verträgt keinen Spaß.

Rogge war er auf den ersten Blick unsympathisch und deshalb erhob er sich besonders höflich: »Herr Welder?«

»Ja.« Kein Gruß, auch Welder liebte es kurz angebunden da, wo er glaubte, auf Höflichkeit verzichten zu dürfen, und sein Blick verriet, dass er Rogge längst als unbedeutend, außerdem als lästig klassifiziert hatte.

»Mein Name ist Rogge, von der Firma Terrana Immobilien.« Sein erwartungsvolles Lächeln löste bei Welder nur ein Stirnrunzeln aus.

»Ja?«, machte Welder noch einmal, schon hörbar unfreundlicher.

»Ich komme wegen der Hotelanlage in Sunderloch.« Dabei griff Rogge mit großer Gebärde nach seiner Aktenmappe, was den Zweck nicht verfehlte.

»Sunderloch?«

Rogge verlangsamte seine Bewegung und zauberte einen Ausdruck von besorgter Unsicherheit auf sein Gesicht. »Ja, Sie wollten doch mit uns sprechen ...«

»Ich mit Ihnen?« Welder bekam schmale Augen.

»Ja, doch. Wegen der Hotelanlage, der Beteiligung ...« Er war immer leiser geworden.

»Wie heißt Ihre Firma?«

»Terrana Immobilien.«

»Kenne ich nicht.« Welder presste die Lippen zusammen.

»Das verstehe ich nicht. Ich bin doch extra aus Stuttgart ... Arno Welder, Klenzestraße.«

»Ja, der bin ich, aber Ihre Klitsche kenne ich nicht, und nun machen Sie, dass Sie verschwinden.«

Gegen einen sauberen Rauswurf wehrte Rogge sich nicht, langte nach seiner Mappe und verbeugte sich tief verletzt, aber höflich vor ihr und ihm. Sie gluckste, als habe eine Fliege Männchen gemacht.

Auf der Straße grinste Rogge. Hätte er sich ordnungsgemäß bei seinen Hannoveraner Kollegen angekündigt, würde er denen jetzt den Tipp geben, sich um die Einkommensverhältnisse dieses Arno zu kümmern.

Goldkettchen, Goldamulett, Rolex, das Seidenhemd halb bis zum Bauchnabel aufgeknöpft. Und so viele Haare auf der gebräunten Brust, freilich nicht dicht genug, die Tätowierung zu bedecken. Zuhälter-Uniform.

Den durfte er streichen! Seine sexuellen Bedürfnisse konnte Arno jederzeit in nächster Umgebung stillen.

Die Ulanenstraße verriet weniger Geld als die Klenzestraße und die Nummer 35 gehörte zu einer Zeile von Stadthäusern, die offenbar der Zerstörung ringsherum entgangen waren, Wand an Wand errichtet, mit den Giebel-Schmalseiten zur Straße.

Eberhard Böttiger schien über die Störung alles andere als erfreut. Er war Ende vierzig, mittelgroß und schleppte einen winzigen Bauch mit sich herum, der ihn zwar gemütlich aussehen ließ, aber seiner Eitelkeit ein schlechtes Zeugnis ausstellte. Und eitel schien er zu sein, Rogge erkannte dieses schnelle, nervöse Blinzeln, mit dem Kurzsichtige, die keine Brille aufsetzen wollten, ihre Nöte verbargen.

»Terrana Immobilien? Das muss ein Irrtum sein.«

»Ich habe von der Firma Ihren Namen und Ihre Anschrift erhalten«, stotterte Rogge.

»Hotelanlage in Sunderloch - tut mir Leid, Herr Rogge, davon hab ich nie gehört, das muss eine Verwechslung sein.«

»Ja, wird wohl«, gab Rogge zu und alles Elend einer langen, vergeblichen Fahrt schwang in den drei Silben so vernehmbar mit, dass Böttiger ihn mitleidig musterte. Aber trotzdem nicht ins Haus bat!

Nach zwei Stunden wurde ein günstiger Parkplatz frei, Rogge holte sein Auto und richtete sich auf eine lange Wartezeit ein, die zum Glück schon eine Stunde später endete. Böttiger verließ das Haus, begleitet von einer jüngeren Frau in einem Umstandskleid, Hand in Hand, und Böttiger bemühte sich um sie, als führen sie direkt zur Entbindung ins Krankenhaus. Was, wie Rogge schätzte, bei normalem Verlauf noch gut zwei Monate Zeit hatte.

Böttiger verfrachtete die Schwangere sorgsam in einer viertürigen Familienkutsche. Danach stürzte er ins Haus und kehrte mit einem Kleinkind auf dem Arm zurück, das er ihr ins Auto reichte, um dann den Klappwagen und eine Kinderliege zu holen, die er auf der Rückbank festschnallte. Dann legte sie das Baby in die Liege, während er den Klappwagen im Kofferraum verstaute und das Haus verschloss.

Rogge schüttelte den Kopf: Wie kompliziert Ausflüge mit Kleinkindern waren, hatte er schon vergessen. Rogge strich Böttiger von seiner Liste.

Sein letzter Kandidat hieß ebenfalls Eberhard mit Vornamen, Eberhard Fuhrmann, Van-Haaren-Allee. Grau angelaufene vier-und fünfstöckige Mietshäuser, die ihren besten Jahren nachtrauerten und aus großen, altmodisch hohen Fenstern triste auf ihn herabblickten. Die Straßenränder bis auf den letzten Zentimeter zugeparkt, ein großer Teil der Bürgersteige zugestellt und auf den beiden verbleibenden Fahrspuren rollte pausenlos der Verkehr.

Zunehmend gereizt kurvte Rogge durch das Viertel, bis er einen Parkplatz fand, und musste sich anschließend zur Van-Haaren-Allee durchfragen.

Zehn Mietparteien, Fuhrmann schien im obersten Stockwerk zu wohnen. Fünfmal klingelte er vergeblich, bis Rogge auf gut Glück den Knopf daneben drückte. Jetzt schnarrte der Öffner.

Im Treppenhaus roch es ungelüftet und die praktische Ölfarbe, ein scheußliches Oliv, blätterte an einigen Stellen ab. Im letzten Stock hatte ein alter Mann seine Wohnungstür einen Spalt aufgezogen und schaute ihm griesgrämig entgegen; Rogge schoss durch den Kopf, dass der Mann neben seiner Klingel unten ein Schildchen anbringen sollte: Verbitte mir jede Störung.

»Guten Tag, Herr Vorwerk, entschuldigen Sie bitte die Störung, mein Name ist Rogge, Jens Rogge.«

»Guten Tag«, quäkte der Alte.

»Ich bin ein alter Bekannter von Herrn Fuhrmann und wollte ihn besuchen, aber er scheint nicht zu Hause zu sein.«

Seine Antwort überlegte sich Vorwerk gründlich. »Nein.« Der Name Fuhrmann hatte bei ihm keine freundlichen Assoziationen ausgelöst.

»Wissen Sie zufällig, wo er ist? Oder wann er zurückkommen wird?«

Unwillkürlich spitzte der Alte die Lippen, als wolle er ausspucken. Zwischen ihm und seinem Nachbarn mangelte es offenkundig an Harmonie.

»Wir haben uns vor vielen Jahren aus den Augen verloren, und weil ich nun mal zufällig in Hannover bin ...«, bat Rogge.

»Keine Ahnung, wo der sich rumtreibt.« Das hörte sich so kratzig und falsch an, als feile Opa Vorwerk Stahl.

»Ich hab’s auch schon in der Firma versucht, aber da nimmt niemand ab.«

»In der Firma?«

Vorsicht, dünnes Eis! »Ja«, bestätigte Rogge verwundert, »wir haben uns bei Phoenix kennen gelernt.«

Das war zu viel für eine zornige Altmännerseele. »Der hat mal fest in einer Firma gearbeitet?«

»Sicher, ja, warum nicht?«

»Kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Wieso? Was macht er denn heute?«

»Klinkenputzer ist er. Vertreter.«

»Eberhard?« Wenn dramatisches Theater gewünscht wurde, konnte Rogge mithalten und die Rolle des entsetzten Ungläubigen beherrschte er berufsbedingt besonders gut. »Eberhard hat seinen Job aufgegeben?«

»Ich weiß nur, dass er Vertreter ist. Dickes Auto, große Sprüche, Schulden bis obenhin, immer neue Mädchen nebenan und ewig Lärm, rücksichtslos bis zum Es-geht-nicht-Mehr.« Jetzt war es heraus, das hatte er mal loswerden müssen, und was er Eberhard nicht an den Kopf werfen konnte, durfte er wenigstens bei seinem mitschuldigen Freund und Bekannten abladen.

Rogge fasste es nicht: »Eberhard? So kenne ich ihn gar nicht.«

»Dann wird es höchste Zeit, dass Sie Ihren Freund richtig kennen lernen.«

Rogge schüttelte den Kopf: »Da muss was passiert sein.«

Vorwerk meckerte vorwurfsvoll. »Wetten, dass er wieder unterwegs ist, um sich ein neues Flittchen aufzugabeln?«

»Aufzugabeln? Wo?«

»Meistens in Onkel Toms Hütte.«

Ach nee, er spionierte seinem ungeliebten Nachbarn also doch nach, aber Rogge wollte den Alten nicht darauf hinweisen, dass er sich verraten hatte.

»Das ist ja alles sehr betrüblich«, trauerte er. »Tja, vielen Dank auch und entschuldigen Sie bitte die Störung.«

Der junge Mann an der Hotelrezeption betrachtete ihn voller Zweifel, der mit Abscheu gemischt war: »Onkel Toms Hütte?«

»Ja, kennen Sie das Lokal?«

»Doch, ja. In der Nähe vom Steintor, im Rotlichtviertel.«

Das Lokal lag im doppelten Sinne des Wortes an der Grenze und Rogge betrat es erst, nachdem er zwei Straßen weiter ein dunkelblaues Coupé mit der Buchstabenkombination H-PE entdeckt hatte. Eine Kneipe mit schlechter Luft und lauter Musik, billig mit Resopaltischen und unbequemen Metallrohrstühlen eingerichtet, an den Wänden ein Spielautomat neben dem anderen, der Holzboden übersät mit Kippen. Einen Moment fürchtete Rogge, Giftzwerg Vorwerk habe sich geirrt, aber dann fiel ihm auf, dass sich keiner nach ihm umdrehte. Das Publikum war ausgesprochen gemischt, alte Männer und junge Frauen, und der Mann hinter dem Tresen fletschte die Zähne so liebenswürdig wie eine ausgehungerte Speikobra.

»’nen Bier«, brummte Rogge und bemühte sich, nicht auf die fleckige Sitzfläche des Hockers zu schielen. Bisher ging der Fall gewaltig zu Lasten seiner Garderobe.

»Zum ersten Mal hier?«, vergewisserte sich der Wirt.

Rogge unterschätzte die Fähigkeit dieser Leute nicht, einen Bullen zehn Meilen gegen den Wind zu riechen. »Ja. Bin mit einem Hardy hier verabredet.«

Das sagte dem Knaben nichts, er zuckte die Achseln und Rogge drehte sich sofort weg, eine Antwort erwartete er nicht.

Nach einer halben Stunde leistete er dem wütenden Nachbarn in einem Punkt Abbitte. Onkel Toms Hütte war tatsächlich eine Anbandelkneipe, zwar auf dem untersten Niveau, aber auf hohen Touren. Ab und zu kamen zwei Frauen zusammen herein, aber nie ein Paar, und wer sich allein an einen Tisch setzte, ob Männlein oder Weiblein, wurde sehr bald angesprochen. Die meisten gingen nach einer halben Stunde wieder, und zwar in Begleitung.

Rogge überlegte, wie er weiter vorgehen sollte, aber da wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Hinter ihm polterte es plötzlich bedrohlich, und als er herumfuhr, sah er, wie zwei Männer aufeinander einschlugen. Wie der Blitz schoss der Kerl hinter dem Tresen hervor, in der Hand einen gummibezogenen Knüppel, doch es lief nicht so ab, wie er sich das vorgestellt hatte. Den einen Kampfhahn erwischte er zwar sauber am Kinn, hatte aber eine Zehntelsekunde nicht aufgepasst und wurde deshalb voll von dem Stuhl getroffen, den der andere Streithahn mit mörderischer Wut schwang. Riesengebrüll, der Thekentyp ging zu Boden, riss einen Tisch mit um, andere Männer sprangen auf, Frauen kreischten, Glas splitterte und Rogge glitt eilig vom Hocker, kippte ihn einem Heranstürmenden, der bereits die Übersicht verloren hatte, in den Weg und schlängelte sich vorbei an dem Hektischen, der lang hinschlug, nach draußen. Drinnen tobte jetzt eine mittlere Völkerschlacht. Dass er seine Biere nicht bezahlt hatte, beschwerte Rogges Beamtengewissen nur mäßig.

Er schaute zwei Straßen weiter nach, das Coupé war verschwunden. Er machte sich auf die Suche nach einem Taxi.

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