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2. Die Heilige Schrift des Islam an sich ist leblos.
Erst die Interpretation macht sie lebendig.

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Die Muslime müssen sich der Tatsache bewusst werden, dass sie mit dem Koran und der Tradition des Propheten als kanonische Quellen nicht mehr dort stehen, wo der Prophet Muḥammad damals im 7. Jahrhundert stand. Der Islam der ersten Gemeinde des Propheten (610–661) hat sich im Laufe der Jahrhunderte weiterentwickelt. Entsprechend ist der Korantext Gegenstand eines nie abgeschlossenen Interpretationsprozesses, der sich immer an die jeweilige Lebensrealität des Interpreten anpassen muss. Er lässt sich zu jedem Zeitpunkt unterschiedlich interpretieren. Die Interpretation befreit die Texte der islamischen Kultur von ihrer Leblosigkeit, ja mehr noch: Sie werden durch das Vorwissen der heutigen Muslime um neue Sinngehalte bereichert. Dies bedeutet aber auch, dass der Koran ohne Einbeziehung des gegenwärtigen Kontexts keinen Wert hat. Nur eine humanistische Lesart des Korantextes kann einen konstruktiven Beitrag zur Etablierung eines modernen Islam in einem westlichen Kontext leisten, indem sie sich auf das reflektierende und kritische Verstehen beruft und die Freiheit der Interpretation betont. Eine Deutungshoheit bestimmter Gruppen besteht nicht.

Die westliche Islamwissenschaft konzentriert sich bis heute zum größten Teil ausschließlich auf die Frage der geschichtlichen Genese des Korantextes. Allein seine Vorgeschichte und seine Redaktion sind zentrale Themen, ebenso wie die jüdischen, christlichen und anderweitigen Einflüsse auf den Koran. Womöglich mit der Absicht, die Originalität des Koran als Offenbarungsbuch in Zweifel zu ziehen, bewegt sich die westliche Koranwissenschaft methodisch zwischen der historischen und der rezeptionsgeschichtlichen Analyse. Man wollte bisweilen nichts anderes, als die Heilige Schrift der Muslime als eine epigonale Reprise des Gedankenguts aus dem Alten und Neuen Testament zu beschreiben. Demnach wäre der Koran nichts anderes als ein nachbiblisches Werk im Sinne eines Fortschreibungstextes, der von Muḥammad verkündet wurde.

Bewusst will man seinen Status als Gottes Wort in Form einer Offenbarung nicht anerkennen. Diese Haltung, inzwischen auch vertreten durch die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth, scheint ihre Wurzeln in der historischen Rezeption des Korantextes durch Nichtmuslime zu haben. Das harte Verdikt einer Epigonalität des Koran zu anderen heiligen Schriften in der westlichen Islamwissenschaft der Gegenwart erinnert an die Anfänge des klassischen Orientalismus. Bereits der orthodoxe Theologe und Kirchenvater Johannes von Damaskus (gest. um 750), der etwa ein Jahrhundert nach dem Tod des Propheten wirkte, stellte Muḥammad im zweiten Teil seines theologischen Werkes Quelle der Erkenntnis über die Häresien (De Haeresibus) als falschen Propheten und Vorläufer des Antichristen dar. Als erster Gelehrter betrachtete er den Islam nicht als eine eigenständige Religion, sondern bezeichnete ihn als eine christliche Denomination mit gewissen Irrlehren und klassifizierte ihn somit als jüngste unter den christlichen Häresien. Diese Denkart setzt sich bis in die Gegenwart der westlichen Islamwissenschaft fort.

Eine solch verzerrte Rezeption hat zwei Konsequenzen: Erstens wird der Korantext allzu häufig aus seinem aktuellen Kontext herausgerissen behandelt, ganz zu schweigen von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit seinen Themen. Während also der Historizität des Koran ungleich viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, interessiert sich die westliche Islamwissenschaft kaum für dessen Inhalte. Zweitens ist die Frage nach der Urheberschaft des Korantextes, die sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk der westlichen Koranwissenschaftler zieht, in der Islamwissenschaft zentral. Und bis heute schreiben die Vertreter dieses Faches die Autorenschaft dem Propheten Muḥammad zu. Damit will man nichts anderes, als dem Koran seine Natur als Gottes Wort abzusprechen und ihn stattdessen zu einem Machwerk des Propheten zu erklären – stets einhergehend mit dem impliziten Vorwurf, Muḥammad habe beim Verfassen des Koran aus anderen heiligen Schriften abgeschrieben.

Ein unmittelbares Indiz für die Autonomie des Koran von seinem historischen Ursprung ist der Korantext selbst. Nicht nur die Prozessualität der Textgenese bei seiner Verkündung, sondern auch seine kommunikative Sprachstruktur verleihen dem Koran als Text eine gewisse Originalität und Eigenständigkeit, die ihn nicht unmittelbar mit anderen heiligen Schriften vergleichen lässt. Seine vielgestaltigen Redeformen und Sprachakte bezeugen deutlich eine große literarische Partitur, welche eine immer wieder neue Lektüre des Korantextes ermöglicht und legitimiert. Als selbstreferentieller Text mit einer interpretativen Fortschreibung seiner selbst in Form eines Korantextwachstums verhält sich der Korantext in seiner stilistischen und sprachlichen Intention wie ein literarischer Text, welcher seinen eigenen Inhalt und seine eigene Sprachform zum Gegenstand macht. Er wiederholt sich nicht nur, sondern kommentiert sich ständig selbst und bereichert seine Themen mit neuen sprachlichen und inhaltlichen Informationen.

Der Leser entdeckt einen Wandlungsprozess durch die Sprach- und Stilentwicklung im Korankorpus selbst. Diese illustrieren deutlich die Debattenlandschaft zwischen dem Propheten und seiner Hörerschaft im 7. Jahrhundert. Der Korantext ist somit nicht nur eine religiöse Schrift, sondern auch ein literarisches Werk par excellence. Nicht nur seine Heilsgeschichten, sondern auch die zahlreichen Termini, welche einer kommunikativen Textentfaltung im Sinne einer Sinnerweiterung unterliegen, sind ein deutlicher Beleg hierfür. Durch seine Autonomie illustriert er die Sinnentfaltung seiner eigenen internen Exegese – die Schrift legt sich selbst am besten aus und wird durch die Exegese des Menschen entfaltet und bereichert. Der Koran spricht jedoch nicht von selbst, es sind die Menschen, die ihm Sinn verleihen.

Vorab soll verdeutlicht werden, dass ich zwischen dem humanistisch-ethischen und politisch-juristischen Koran unterscheide. Der Teil des Koran hingegen, der zur politischen und sozialen Organisation der Gemeinde des Propheten diente, kann nur aus seinem Entstehungskontext verstanden werden. Er hat keine Anwendungsgültigkeit in der heutigen Lebenswelt der Muslime. Dazu gehören auch die sogenannten Schwertverse, die Koranpassagen über den Umgang mit den Juden und Christen sowie die Koranstellen über die Stellung der Frau.

Historisch-kritisch gesehen kann zwischen dem historischen Muḥammad auf der einen Seite und dem Koran als Quelle des Glaubens auf der anderen unterschieden werden, denn der Prophet selbst war schlicht ein Verkünder von Gottes Wort. Ein Bezug allein auf die Inhalte des Korantextes befreit die historische Erforschung des Propheten auch von späteren muslimischen theologischen Projektionen, die ihn zum Beispiel als Analphabeten sehen.

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