Читать книгу Reform des Islam - Abdel-Hakim Ourghi - Страница 11
3. Jede Muslimin und jeder Muslim hat die Freiheit, den Koran so zu interpretieren, wie sie oder er will.
ОглавлениеDie Autonomie des Koran als religiöser Text setzt die Freiheit des Muslims als Exeget voraus und begründet gleichzeitig sein reflektierendes und sogar kritisches Verstehen, denn es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Entstehungssituation des Koran und der Lebenswelt des Exegeten. Die vielfache Exegese des Koran muss nicht unbedingt zu sich widersprechenden Interpretationen führen. Denn die aus einem freien und kreativen Umgang mit dem Korantext entstandenen Auslegungen können sich auch konstruktiv ergänzen und bereichern. Somit besitzt kein bestimmter Muslim oder keine muslimische Gruppe das Deutungsmonopol über den Koran. Dies bedeutet auch, dass jede Muslimin und jeder Muslim das absolute Recht hat, den Koran gemäß ihrer oder seiner Lebenswelt zu interpretieren.
Im Koran gibt es keinen Beleg dafür, dass es den Muslimen verboten wäre, frei zu denken. Immer wieder lesen wir im Koran den Aufruf, dass alle Muslime über ihre Religion und ihr Leben nachdenken und reflektieren sollen. In mehreren Kontexten ruft der Koran die Muslime dazu auf, sich ihrer Vernunft zu bedienen. Ausgedrückt wird dies mit verschiedenes Termini, die sich in einer spannungsvollen Weise ergänzen: Die Muslime sollen über den Koran „nachdenken“ (tadabbur, Koran 10:24 und 16:44); der Koran ist als Schrift in arabischer Sprache hinabgesandt, deshalb sollen sich die Muslime darüber „Gedanken machen“ (Koran 12:2 und 43:3); auch ist im Koran die Rede von Menschen, die in Sachen Religion „Verstand besitzen“ (ūlū al-albāb, Koran 3:190 und 38:29).
Mohammed Arkoun (1928–2010) betont, dass es im Islam keine Instanz gibt, die für sich die alleinige Autorität beanspruchen darf. Die Interpretationen des Koran könnten sich auf der Basis von Meinungsfreiheit und -verschiedenheit ergänzen. Deshalb sei der Koran, wie jede religiöse Schrift, offen für alle Interpretationen, die das Wort Gottes mit neuen Sinninhalten bereichern. Es sei selbstverständlich, dass der Koran nicht nur religiöse Informationen mitteile, sondern Kommunikation stifte und die Menschen zum Nachdenken ermutige. Daher sei die Freiheit der Interpretation grundlegend.32
Die Freiheit der Muslime bei der Exegese ist in meinen Augen ein wesentliches Element, besonders wenn es um die Etablierung eines diskursiven Islam im westlichen Kontext geht. Der Anspruch auf das Monopol einer einzigen und richtigen Lesart der kanonischen Quellen und der Wissenstradition kann von keinem Gelehrten und von keiner bestimmten Glaubensgemeinschaft oder Gruppierung, wie etwa hierzulande den sogenannten Dachverbänden, beansprucht werden, denn dies führt zur Unmündigkeit des Textes und des Lesers. Eine übergeordnete Lehrinstitution gab es in der Geschichte des Islam nicht und jeder heutige Versuch, eine solche zu schaffen, würde nicht nur das Verstehen des Islam und seiner Ideengeschichte stagnieren lassen, sondern die Freiheit der pluralen Interpretation aufheben.
Der Ruf nach der Autonomie des Koran als Text und nach der Freiheit der Interpretation ist eine Ermutigung der Muslime zur Erneuerung der islamischen Religion sowie die Voraussetzung für eine Wiederbelebung des freien Denkens aller Muslime. Die Freiheit der Koranauslegung impliziert auch die Freiheit all jener Andersdenkenden, die ebenfalls nach einer modernen und humanistischen Lesart des Koran streben. Selbstverständlich bedeutet freie Interpretation weder plakative Ablehnung noch Revolution gegen das historische Erbe der islamischen Kultur. Eine freie Interpretation ist darum bemüht, die kanonischen Quellen und deren Rezeption historisch-kritisch zu verstehen. Sie will den Koran bewusst von seinem hagiografischen Sinn befreien. Deshalb ist und bleibt die Freiheit des muslimischen Lesers als Exeget unantastbar.