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I I I. D I E W Ä C H T E R D E S T E M P E L S

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Im offiziellen Diskurs der Wortführer der muslimischen Gemeinde in Deutschland und anderer konservativer Muslime, darunter auch der Neo-Muslime (Konvertiten), hat sich inzwischen die Ansicht verfestigt, der Islam sei nicht reformierbar. Der Islam sei keine christliche Religion, die Reformation der eigenen Lehre sei ein dem Islam wesensfremder Gedanke. Die Freiheit des Einzelnen ist selbst vielen Muslimen im westlichen Kontext suspekt und deshalb scheuen sie sich davor, die kanonischen Quellen des Islam, deren historische Rezeption in der Ideengeschichte der klassischen Wissenstradition und die Aktualität des Islam infrage zu stellen. Diese vehemente Ablehnung machen sich insbesondere Salafisten zunutze, die ihrerseits den Islam als Geisel nehmen. Die Angst vor Neuem und vor der Moderne scheint im Islam übermächtig zu sein. Ein tunesischer Islamreformer stellt fest:

„Das Neue schwimmt gegen den Strom, besonders wenn es um die Religion geht. Der konservative Mensch fürchtet das Neue. Er hat Angst vor unangenehmen Fragen, weil sie seine soliden und sicheren Überzeugungen erschüttern. […] Die Gegner der Reformer sind gewiss die Konservativen.“17

Der Autor weist darauf hin, dass die Ablehnung einer Reform im Islam mit der lähmenden Macht der Konservativen zu tun hat. Immer wieder hört man von diesen die These, der Islam brauche keine Reform. Entsprechend kann es den Muslimen in der ganzen Welt nur durch Bildung gelingen, vom blinden Glauben zu einem reflektierenden Glauben überzugehen.18 Die Verweigerer der Reform des Islam wissen genau, wie schwer es ihnen fällt, Wahrheiten über sich selbst und den Islam zu ertragen. Sie fürchten die Aufdeckung dieser kollektiven Verdrängungsmechanismen und erträumen und entwerfen im Gegenzug ein Bild des Islam, das der Realität nicht mehr entspricht. So schrieb die türkische Zeitung Milli Gazete am 9. September 2005 auf der vierten Seite:

„Der islamische Glaube braucht keine Reformen, Veränderungen und Erneuerungen. […] Die Thesen einiger Radikaler, Konvertiten und Reformer sind komplett falsch. Im Islam gibt es keine Reformen. […] Reformen und Veränderungen können nur in verdorbenen Religionen, in menschlichen Ideologien und Lehren durchgeführt werden.“19

Die zitierte Zeitung steht der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) sehr nah, die seit Jahren unter intensiver Beobachtung des Verfassungsschutzes steht.20 Wenn solche Ansichten in international vertriebenen muslimischen Tageszeitungen verbreitet werden, ist es kein Wunder, dass viele Muslime im Westen die humanistischen Begründungsversuche einer Islamaufklärung vehement ablehnen. Interessant scheint in diesem Kontext die Verwendung des Terminus „verdorbene Religionen“. Anscheinend handelt es sich um eine Anspielung auf das Judentum und das Christentum. Wenn die Muslime das tägliche Gebet praktizieren, rezitieren sie jeden Tag 17 Mal die erste Sure des Koran, „die Eröffnende“. In dieser Sure wird gebetet:

„Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinem Zorn verfallen sind und irregehen!“ (Koran 1:6–7).

Die gesamte muslimische Koranexegese ist der Auffassung, dass mit der ersten Gruppe die Juden gemeint sind und mit der zweiten die Christen.

Der konservative Islamwissenschaftler Muḥammad Sameer Murtaza, der den islamischen Dachverbänden sehr nahe steht, veröffentlichte im Jahr 2016 ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Titel Die gescheiterte Reformation, dessen Thesen zum größten Teil von den Überzeugungen der Salafisten und Dschihadisten nicht zu unterscheiden sind. Deshalb ist es angebracht, dieses Pamphlet genauer unter die Lupe zu nehmen. Ähnlich meinem Buch, aber in zynischem Tonfall, beginnt seine Einleitung mit den folgenden Fragen:

„Wann kommt es endlich zu einer Reformation im Islam? Wo ist der muslimische Martin Luther? Wo bleibt der längst überfällige Thesenanschlag im Islam?“21

Offensichtlich will der Autor nur provozieren. Denn schon der Titel seines ersten Kapitels benennt sein Programm. Er lautet: „Der Islam braucht keine Reformation“. Die liberalen Muslime trachteten danach, die islamische Tradition wegzuwerfen, und würden dadurch die Gemeinde der Muslime „auf dem Altar eines neuzeitlichen Individualismus opfern“.22 Hierbei handelt es sich um eine gravierende Unterstellung, die auf Murtaza selbst zurückfällt. Er gibt vor, sich mit der Reform des Islam auseinanderzusetzen, aber in dem gesamten Buch kommt nicht ein einziges Mal der arabische Terminus technicus für Reform (iṣlāḥ) oder Reformer (muṣliḥ) vor. Koranverse wie 11:88, wo es um Reform geht, oder 2:220, wo der Begriff „Reformer“ gebraucht wird, scheinen den Autor nicht im Geringsten zu interessieren. Auch Aussagen des Propheten, welche eine Reform des Islam legitimieren, bleiben gänzlich außen vor. Dies ist folgerichtig, denn Murtazas Grundthese lautet: Der Islam braucht keine Reform, alle Reformbewegungen sind gescheitert. In seiner Paranoia scheint er nicht einmal einen Unterschied zwischen der evangelischen Reformation und der Reformbewegung des Islam beziehungsweise den Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert zu machen.23 Diese Reform- und Erneuerungsbewegungen bezeichnet Rachid Benzine als eine Vor-Reform, deren Ziel die Wiederbelebung des Islam war.24

Murtaza scheint auf einem Feldzug gegen muslimische Reformer in Deutschland zu sein. Er übt hemmungslose Kritik an einigen Vertretern des liberalen Islam in Deutschland und unterstellt ihnen sogar Ahnungslosigkeit. Er macht auch kein Hehl daraus, dass er Sympathie für die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) und den Zentralrat der Muslime hegt.25 Beim Lesen seines Werkes gewinnt man schnell den Eindruck, dass der Autor von der Kanzel der Populärwissenschaften gegen alles predigt, was mit dem liberalen Islam zu tun hat. Das Buch scheint eine Abrechnung zu sein. Er beschuldigt die Liberalen der dramaturgischen Selbstinszenierung. Jedoch muss man als Leser konstatieren, dass der Autor beim Thema Reform des Islam selbst ziemlich überfordert ist. So heißt es bei ihm zum Beispiel:

Der ‚liberale Islam‘ ist ein neues Phänomen, das im Westen entstanden ist.“26

Ein solcher Kardinalfehler sollte einem Kritiker des liberalen Islam nicht unterlaufen. Seine unsachliche Kritik ist symptomatisch für die Haltung einiger muslimischer Islamwissenschaftler gegenüber aufklärerischen Stimmen im Islam. Solch ein gewagter Satz zeigt deutlich sein Wissensdefizit hinsichtlich des historischen Entwicklungsprozesses des liberalen Islam in der arabischen Welt. Es genügt an dieser Stelle, an einige Werke zu erinnern, die sich für einen liberalen Islam eingesetzt haben. Schon im Jahr 1885 erschien das Buch des algerischen Gelehrten Muḥammad Ibn Muṣṭafā Ibn al-Ḫūğa (1864–1915) mit dem Titel Beachtung der Sorge um die Rechte der Frauen, in dem es um die Befreiung der muslimischen Frauen ging. Fünf Jahre später verfasste der ägyptische Reformer Qāsim Amīn (1865–1908), der in Frankreich studiert hatte, sein monumentales Werk Die Befreiung der Frau.27 Zu den Hauptthesen des Werkes gehört erstens, dass der Aufruf zur Befreiung der Frau kein Verstoß gegen die Religion ist. Zweitens betont er, dass die Trennung zwischen Frauen und Männern nicht auf das islamische Recht zurückzuführen ist. Drittens – seine wichtigste These –, dass der in seiner Zeit sich ausbreitende Schleier überhaupt nichts mit dem Islam zu tun habe. Im Jahr 1925 dann schrieb der Reformgelehrte ʻAlī ʻAbd ar-Rāziq (1888–1966), der in Oxford studiert hatte, ein Buch mit dem Titel Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft.28 Seine wichtigste These besagt, dass es im Koran und in der Tradition des Propheten keine Legitimation für einen Herrschaftsanspruch gibt. Dass der Prophet auch Herrscher war, wäre eine geistliche und politische Entscheidung gewesen, die mit den damaligen Umständen im 7. Jahrhundert zu tun gehabt hätte. Mit dieser These wollte der Autor einen klaren Trennstrich zwischen dem Profanen und dem Heiligen ziehen, was zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der historischen Funktion des Propheten hätte führen können. Doch ʻAbd ar-Rāziq wurde aus seinem Amt als Richter entlassen und lebte bis zu seinem Tod zurückgezogen. Die Liste solcher Werke als Fundament für den liberalen Islam kann beliebig verlängert werden. Fest steht, dass es bereits all diesen muslimischen Reformern in erster Linie um „eine islamisch begründete säkulare Moderne“29 ging, die jedoch bis heute, auch im Westen, bekämpft wird.

Der oben zitierte Reformgegner Murtaza scheint außerdem der Überzeugung zu sein, dass die Erneuerungsbestrebungen im Islam aus den Moscheen kommen.30 Konkretes teilt er uns leider nicht mit. Schade, es wäre tatsächlich ein konstruktiver Vorschlag. Denn würden die Imame in den Moscheen sich mit der Vernunft versöhnen, wäre es möglich, eine Reform des Islam in die Tat umzusetzen. Die Geschichte der Moscheen im Westen, in denen Import-Imame tätig sind, zeigt jedoch, dass sie au contraire einen erheblichen Anteil an der gescheiterten Integration vieler Muslime haben. Es ist – mit Blick auf diese Moscheen – kein Wunder, dass die Mehrheit der Muslime nationalistisch und konservativ sind. Ein schlagender Beweis sind die Moscheen der DITIB und des Zentralrats der Muslime.

Die Import-Imame sind den heutigen Herausforderungen im Westen noch nicht gewachsen, deshalb sind sie nicht in der Lage, den Islam zu reformieren und sich an die Moderne der westlichen Kultur anzupassen. Diese Gelehrten, die von ihren Kollegen in der islamischen Welt letztendlich nicht zu unterscheiden sind, haben eine Art Frage-Verbot in den muslimischen Gemeinden Europas institutionalisiert. Mit vorgefertigten Antworten zwingen sie den Mitgliedern ihrer Gemeinden ihre Lehre auf und berufen sich dabei auf veraltete Sichtweisen, die angeblich für alle Zeiten und alle Orte gedacht waren. Ihre Predigten kommen als Gewissheiten daher, die zu befolgen sind und von niemandem in den Moscheen infrage gestellt oder bezweifelt werden dürfen. Jeder Imam, der die historisch-politische Rolle oder die Aussagen des Propheten, oder etwa den medinensischen Koran infrage zu stellen versucht, wird aus seiner Moschee verjagt. Denn die kanonischen Quellen sind ein Tabu.

Ein alternativer Ursprungsort einer Reform des Islam könnte der islamische Religionsunterricht sein. Der schulische Religionsunterricht wäre tatsächlich in der Lage, das Gesicht des Islam im Westen und die hiesige religiöse Landschaft zu verändern. Er könnte eine neue Generation des Islam in Europa an eine säkulare Gesellschaft heranführen, in der moderne Werte wie Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Pluralismus und Demokratie unantastbar sind.

Was die konservativen Muslime und ihre Vertreter in der intellektuellen Szene wie Murtaza hingegen propagieren, ist die Re-Islamisierung der Moderne. Sie predigen eine Gegenaufklärung als Denk- und Lebensmodell. Im Sinne dieser Re-Islamisierung ist Widerstand nicht nur gegen die Vernunft zu beobachten, sondern auch gegen alle aufgeklärten Bestrebungen, welche die religiöse Legitimität der historischen und gegenwärtigen Herrschafts- und Patriarchatsstrukturen auf den Prüfstand stellen.

Diesen Gegnern der Aufklärung geht es letztendlich um die Deutungshoheit. Sie wollen bewusst verhindern, dass die Muslime in Glaubensfragen und religiösen Angelegenheiten dem eigenen Gewissen folgen. Sie wollen bestimmen, wie die Beziehung des Menschen zu Gott aussehen soll. Darüber hinaus schüren sie unter den Menschen die Furcht vor einem Gott, der nur darauf wartet, sie schonungslos in die Hölle zu schicken. Seit Jahrhunderten versetzen sie die Muslime permanent in Angst.

Die Verweigerer der islamischen Reform wissen genau, dass der reflektierte Islam eine Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit bedeutet. Sie sind sich auch der Tatsache bewusst, dass die Muslime durch die Anwendung der Vernunft in ihrem Glauben und Handeln den Geist der Freiheit atmen könnten. Schließlich geht es in der Reform des Islam nicht darum, das Unmögliche zu wagen, um das Mögliche zu erreichen. Es geht lediglich darum, die kanonischen Quellen des Islam, die im Laufe der Jahrhunderte zu einem Menschenwort geworden sind, auf der Grundlage der Vernunft zu diskutieren, differenzierter wahrzunehmen und besser zu verstehen. Es geht darum, die Religiosität der Musliminnen und Muslime in Angstfreiheit wachsen und reifen zu lassen, hin zu mehr Kreativität und sozialer Mitverantwortlichkeit. Die Reform des Islam ist heute notwendig und auch möglich. Es fehlt uns lediglich der Mut dazu.

Ziel der Reform des Islam ist es, dass der Islam in religiösen Angelegenheiten auf dem Prinzip der Vernunft aufbaut. Es genügt nicht, nur über die Vernunft zu sprechen; die Muslime müssen sie sich im religiösen Diskurs zu eigen machen. Dadurch kann der Islam anderen Religionen und Weltanschauungen auf Augenhöhe begegnen. Unter Vernunft in der Religion verstehe ich auch die Trennung von Sakralem und Säkularem. Auch im Islam sollen Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit sowie Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern, zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen und zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Mittelpunkt stehen. Diese humanistischen Werte sind die Grundlage für ein tolerantes und friedliches Leben unter Muslimen, mit den Anhängern anderer Religionen und mit andersdenkenden Menschen.

Die Reform des Islam will für Muslime aller Couleur den Einfluss eines veralteten mittelalterlichen Islamverständnisses eindämmen. Hierbei geht auch um den sogenannten Islam des Konsenses (islām al-iğmāʻ)31, der den früheren Gelehrten nachgesagt wird, die ihre Lehre und ihre Diskurse in Eintracht gepflegt haben sollen. Interessant ist, dass viele muslimische Rechtsgelehrte auf den Konsens der Prophetengefährten (aṣ-ṣaḥāba) und der ersten Generation der Muslime im 7. Jahrhundert abheben. Durch die Kanonisierung des Konsenses als normative Bedingung in schariarechtlichen und anderen Fragen der Religion werden heutige Muslime genötigt, genau wie die Muslime von damals zu denken. Dieser Islam der autoritären Kollektivität kassiert die kreativen Kräfte der Individuen und zwingt sie zur bloßen Nachahmung.

Nie war die Aufklärung des Islam so notwendig wie heute, in der Zeit des globalen islamistischen Terrors. Nicht nur Muslime, auch viele Nichtmuslime sehen die Dringlichkeit einer konstruktiven Selbstkritik des Islam. Umso wichtiger ist eine Aufklärung, die betont, dass der Islam in erster Linie ein Glaube voller Spiritualität ist. Der Islam ist keine militante, die Weltherrschaft erstrebende Gemeinschaft. Er ist keine staatliche Ordnung mit einem Totalitäts- und Universalanspruch auf die ganze Menschheit. Er ist eine geistliche Bewegung, eine Religion, welche die Bindung des Individuums an Gott und den treuen Glauben festigen will. Der Islam besteht aus dem religiösen Angebot spiritueller Werte, die ein tiefes religiöses Leben ermöglichen und fördern. Nun sind wir herausgefordert, eben diesen aufgeklärten Islam zu etablieren.

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