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1. Es ist Zeit für einen
Europäischen Islam.

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Genau wie in allen anderen monotheistischen Religionen spielt die Vergangenheit eine essenzielle Rolle im Alltag der Muslime. Obwohl Geschichte nie abgeschlossen ist und in Übereinstimmung mit der Gegenwart immer wieder neu reflektiert und gedeutet werden muss, beansprucht im Islam eine kleine Gruppe konservativer Gelehrter die alleinige Deutungshoheit über die Vergangenheit für sich. Die Mehrheit der Muslime identifiziert sich blindlings mit dem von dieser Gruppe vorgegebenen kulturellen Erbe und hat offenkundig Schwierigkeiten damit, dieses kritisch infrage zu stellen. In der Folge leben sie zwar körperlich in der heutigen Zeit, denken jedoch im Geist des 7. Jahrhunderts. Viele träumen sogar von der Rückkehr zum Islam der Anfangszeit.

Bis heute bestreitet die Mehrheit der Muslime, dass die Gewalt etwas mit den Lehren des Islam zu tun hat. Gezielt wird die Gewalt zu Lebzeiten des Propheten, dessen Gemeinde als Vorbild für alle Muslime gilt, gegenüber den nichtmuslimischen Gesellschaften Europas völlig ausgeblendet. Es wird bewusst eine Dynamik des Verdrängens in Gang gesetzt, welche die Entstehung des Islam verklärt und idealisiert. Doch die Muslime sind sowohl das, was sie erinnern, als auch das, was sie vergessen wollen. So dienen den Islamisten als Handlungsanleitung einige medinensische Koranpassagen und das politische Handeln des Propheten selbst, somit kanonische Quellen der islamischen Rechts- und Religionslehre. Darüber hinaus beruft sich der islamistische Terror auf eine gewalttätige, theologisch gut fundierte Ideologie, die als Rezeption einer Ideengeschichte der Gewalt im Islam gelten muss. Man kann es nicht leugnen: Der gegenwärtige Islam wird von seiner gewalttätigen Vergangenheit heimgesucht.

Weder die kanonischen Quellen des Islam noch die Ideengeschichte der islamischen Wissenstradition sind selbstevident, sie alle bedürfen einer kritischen Auslegung. Die gegenwärtige Selbstbestimmung der Muslime kann allein durch eine zeitgemäße Auslegung der eigenen Ideengeschichte vollzogen werden. Muslimische Identitätsfindung in der Gegenwart, insbesondere im westlichen Kontext, kann nicht gelingen, wenn man sich dabei allein auf eine sakrosankte Interpretation der islamischen Vergangenheit bezieht. Anhand der kritischen Auseinandersetzung mit den kanonischen Quellen und der Wissenstradition des Islam ergeben sich hingegen vielfältige Möglichkeiten der Interpretation der eigenen religiösen Identität bei zeitgleicher Zugehörigkeit zu einer neuen Kultur. Diese Vorgehensweise kann Pluralität unter den Muslimen schaffen.

Ein gebildeter Muslim versteht, dass er historische Texte nicht neutral interpretieren kann. Er deutet sie immer im Kontext seiner jeweiligen Lebenssituation. So entdeckt er nicht nur seine religiöse Identität, sondern definiert diese anhand seiner Interessen und gemäß seiner Lebenswirklichkeit im Westen. Seine ererbten Werte müssen unbedingt mit den jeweiligen Werten der westlichen Kultur abgeglichen werden. Die Muslime im Westen können sich und ihre Lebenswelt besser verstehen, wenn sie sich nicht nur mit der Geschichte des Islam beschäftigen, sondern auch mit der Kultur, an der sie teilhaben. Nur ein kritisches und selbstreflektierendes Verstehen der islamischen Tradition ist geeignet, die gegenwärtige Existenz der Muslime zu bereichern. Besonders die Vielfalt der zeitgenössischen Lesarten des Koran ermöglicht es den Menschen, den Islam selbst neu zu verstehen, zu entdecken und ihre religiöse Identität mit den Grundsätzen der westlichen Kultur zu versöhnen. Nur so können die Muslime im Westen ein integrativer Bestandteil ihrer jeweiligen Gesellschaft werden und sich von der nostalgischen Erinnerung an das 7. Jahrhundert verabschieden – die Zeit der historischen Entstehung des Islam, die jedoch nichts anderes als eine kollektive Erinnerung ist. Ihre Zugehörigkeit zum Islam wird dann zur privaten Sache, primär sind sie nun Bürgerinnen und Bürger des Landes, in dem sie leben. Dieser Weg kann zu einer neuen muslimischen Identität im Westen führen. Nennen wir diese Identität einen „europäischen Islam“.

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