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I. E I N F Ü H R U N G

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Je mehr mich die Leute bedrohen,

umso größer meine Zuversicht.

Martin Luther

Religiosität wird heute im Westen der Privatsphäre des Einzelnen zugerechnet, trotzdem erleben wir spätestens seit dem 11. September 2001 eine verstärkte Rückkehr der Religion in den öffentlichen Diskurs. Gleichzeitig nimmt das Interesse an der öffentlichen Bedeutung von Religion in allen Schichten der Gesellschaft immer mehr zu.1 Möglicherweise hat auch die alltägliche mediale Präsenz des Islam in den letzten Jahren dazu geführt, dass die gesellschaftliche Bedeutung von Religion zu überdenken ist.2

Der Präsident des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog, Kurienkardinal Jean-Louis Tauran, dankte den Muslimen jedenfalls kürzlich dafür, dass sie die Religion zurück in die öffentliche Sphäre Europas gebracht hätten.3 Von einzelnen christlichen Würdenträgern habe ich selbst gehört, dass sie mit Neid auf volle Moscheen beim Freitagsgebet blicken, während ihre eigenen Gotteshäuser weitgehend leer bleiben. Da schleicht sich bei mir manchmal der Verdacht ein, dass man sich von der Zusammenarbeit mit den konservativen Dachverbänden des Islam eine Wiederbelebung des Glaubens an sich erhofft. Als ob Gott in Europa ohne den Islam verloren wäre! Zieht man jedenfalls den Islam in Betracht, lebt Gott heute mehr denn je in Europa. Religion ist ein sinnstiftendes Teilsystem in den westlichen Gesellschaften und der Islam trägt zu ihrem multikulturellen Reichtum bei. Doch die dialogische Begegnung der Religionen und Weltanschauungen bleibt von radikalen Glaubensinhalten und -praktiken im Islam überschattet, die nicht selten auch zur Legitimation von Gewalt dienen und die ganze Welt damit in Angst und Schrecken versetzen.

Anhand der negativen Schlagzeilen über den Islam in der westlichen und islamischen Welt kann man davon ausgehen, dass der Islam sich in einer Sinnkrise befindet und die Muslime mitten in einer Zerreißprobe stecken. Die Moderne hat den Menschen von Grund auf verändert, die Glaubensvorstellungen und -praktiken des Islam allerdings sind weitgehend dieselben geblieben. Seit Jahrhunderten wird der Islam von einer konservativen Theologie beherrscht, was immer wieder in Gewalttaten mündet. Deshalb muss der Islam unbedingt reformiert werden. Wir können nicht anders als dem vorherrschenden Diskurs des Islam zu widersprechen und ihn kritisch infrage zu stellen. Dieser überfälligen Reform wird der konservative Islam sich nur mit Gewalt widersetzen können. Aufhalten können wird er sie jedoch nicht, denn der neue Kontext des Islam ist der Westen, der durch Meinungsfreiheit geprägt ist.

Die Reform des Islam richtet sich gegen die Macht des politischen Islam und der konservativen Gelehrten, deren veraltete Sichtweisen nicht mehr der Lebenswelt der Muslime im westlichen Kontext entsprechen. Solch ein konservativer Islam will einen Getto-Glauben in den muslimischen Gemeinden durch die eigene Abschottung und Abkapselung von der Mehrheitsgesellschaft im Westen konservieren. Die Reform des Islam predigt dagegen das Sichöffnen der Muslime gegenüber Angehörigen anderer Religionen sowie gegenüber andersdenkenden Menschen im Allgemeinen.

Die Islamreform, hier in Gestalt von 40 Thesen skizziert, ist eine öffentliche Anklage des seit Jahrhunderten herrschenden konservativen Islam, der das Privileg der absoluten Kontrolle von Körper und Geist aller Muslime unter keinen Umständen abgeben möchte. Sie ist eine bewusste Rebellion der Vernunft gegen den verstockten konservativen Islam, der die blinde Rückkehr zum Islam der Entstehungszeit des 7. Jahrhunderts propagiert. Sie ist der Aufstand gegen veraltete Islamdiskurse vergangener Epochen, die bis heute das kollektive Bewusstsein der Muslime in der ganzen Welt prägen. Der moderne humanistische Islam will nicht mehr und nicht weniger als den Islam von seinen verkrusteten Denkschichten befreien, seinen wahren Kern freilegen und ihn gemäß seiner heutigen Situation neu interpretieren.

Man würde die Bedeutung der Islamreform verkennen, würde man diese als konfessionelle Abspaltung im Sinne eines Schismas unter den Muslimen verstehen. Der humanistische Islam will vielmehr auf der Grundlage der Vernunft die Vielfalt in der Einheit deutlich machen, indem er historische Verfremdungen und Verklärungen in archaischen Diskursen aufdeckt. Im Rahmen eines Aufklärungsprogramms und mithilfe einer differenzierten und sachlichen Islamkritik will die Islamreform außerdem bewusst den Religions- und Sozialvertrag zwischen der politischen Macht, wie sie etwa durch die selbsternannten Vertreter der Muslime im Westen repräsentiert wird, und den konservativen Gelehrten, beispielsweise in Gestalt sogenannter Import-Imame, aufkündigen.

Das vorliegende Buch ist von einer leidenschaftlichen Sehnsucht nach Freiheit angetrieben und setzt den Akzent auf das Individuum als Souverän seines Selbst und seiner Existenz. Ohne Angst vor den Vertretern des konservativen Islam oder vor dem Vorwurf der Islamophobie möchte ich als liberaler Muslim Tacheles reden. Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Ich will nicht nur widersprechen, sondern auch den Finger in die Wunde des jahrhundertelangen kollektiven Verdrängens der Muslime legen. Als Mensch kann ich auch frei sein, deshalb nehme ich mir die Freiheit, die vorherrschenden Vorstellungen über den Islam, welche derzeit die Kollektive der Muslime prägen, infrage zu stellen. Ich möchte nichts anderes als neu über Gott, den Koran, die Tradition des Propheten und die Ideengeschichte des Islam nachdenken. Deshalb scheue ich nicht davor zurück, den Koran als religiösen Text, den Propheten Muḥammad (750–632) als historische Figur und die Tradition des Propheten als historische Aussagen und Praxis zu kritisieren.

Stillstand in einer Religion – und das gilt auch für den Islam – bedeutet Rückschritt und Stagnation. Er paralysiert den freien Geist. Stillstand führt auch dazu, dass eine Religion den Anschluss an die Menschen und an deren jeweilige Situation verliert. Solch eine Religion

„etabliert sich von vornherein als abschließend und beraubt den menschlichen Geist des Sinns für die Suche, die Nachforschung, die Verblüffung, das Abenteuer. […] Auf ein solches Skelett reduziert, wirkt der Islam, religiös und politisch, wie eine entleerte, unfruchtbare Perspektive, die nichts vom Fleisch der Fragen wissen will, die einen belagernden und aggressiven Monologismus begründet, taub für jeden Dialog und abgeschnitten von den Voraussetzungen, die eine Verbindung zwischen Personen und Völkern, Subjekten und Nationen eröffnen.“4

Der Islam hat auch eine unheimliche Seite, die in seiner Umgebung Unbehagen auslöst. Diese dunkle Seite ist immer dort erkennbar, wo die Religion von der Politik nicht zu trennen ist, wie etwa im gewalttätigen Fanatismus der Islamisten. Sie wird beispielsweise dort deutlich, wo die Kompetenzen des Throns nicht von der Kanzel in der Moschee zu unterscheiden sind oder wo Frauen im Namen einer religiösen männlichen Dominanz unterdrückt werden. Genau wie jede andere Religion kann der Islam auch gefährlich werden, wenn nicht klar zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen unterschieden wird und politische mit religiösen Interessen vermischt werden. Die Reform des Islam ist eine „Gegenpredigt“5 gegen die Predigten des konservativen Islam und seine politischen Herrschaftsansprüche.

Ist der Koran reformierbar? Wenn ja, wie soll seine Aufklärung aussehen? Man ist sich darüber einig, dass der Koran die wichtigste normative Quelle für alle religiösen, moralischen und rechtlichen Vorschriften im Islam ist. Als Heiliges Buch wird er verehrt, gefürchtet, missbraucht oder sogar gehasst. Er besteht aus Versen, deren Aussage klar und verständlich ist, er enthält aber auch mehrdeutige Verse (z. B. Koran 3:7). Er gilt mit den „Geheimnisvollen Buchstaben“ (z. B. Koran 2:1, 7:1 und 10:1) am Anfang von 29 Suren als wohl widersprüchlichstes Buch. Als literarisches Werk bietet er eine Fülle von Poesie und Prosa. Seine Sprache ist die Sprache des Friedens und die Sprache der Gewalt. Er ist mal tolerant, mal herzlos und erbarmungslos. Der in ihm beschriebene Gott ist mal zornig und hart strafend, dann wieder barmherzig und ein Freund seiner Verehrer. Die Auslegung bestimmter Suren kann über Frieden und Krieg, Leben und Tod entscheiden.

Für Muslime aller Couleur stellt der Koran das kollektive Gedächtnis und das Herz des Islam dar. Er verschafft sich historische, kontinuierliche Bedeutsamkeit durch seine multimediale Präsenz im Alltag der Muslime.6 Vielmehr noch gilt er als religiöse Erinnerungsbrücke zwischen seiner historischen Entstehungssituation im 7. Jahrhundert, seiner Rezeption in den folgenden Jahrhunderten und der jetzigen Zeit. Der Koran wird von den Muslimen als das Wort Gottes gesehen, das Maß aller Dinge, an dessen Vorschriften sie sich orientieren und das in ihrem alltäglichen Handeln den wichtigsten Platz einnimmt. Gemäß dem muslimischen Korandiskurs ist der Koran Gottes authentisches, unverfälschtes und letztgültiges Wort. Wer auch nur ein wenig am Wortlaut rüttelt, einen Teil von ihm ablehnt oder ihn gar als Menschenwerk betrachtet, gilt schnell als Häretiker und Apostat. Für Nichtmuslime, die aus unterschiedlichen Gründen Interesse an dem Heiligen Buch des Islam zeigen und es zu lesen versuchen, bleibt der Koran hingegen oft ein befremdliches Buch, bestenfalls ein schwer zugängliches literarisches Kunstwerk. Nicht zuletzt tragen die im deutschsprachigen Raum verbreiteten Koranübersetzungen unter den nichtmuslimischen Lesern zur Irritation bei. Hans Zirker, einer der bekanntesten Koranübersetzer, hat beispielsweise darauf hingewiesen, dass die kommunikative Sprachgestalt des arabischen Originaltextes in den deutschen Koranübersetzungen nicht in Betracht gezogen wird.7

Es entbehrt nicht einer ironischen Note, dass jeder Muslim zwar ein Koranexemplar besitzt, aber bis auf eine Minderheit kaum jemand mehr darin zu lesen weiß – ganz zu schweigen von denjenigen, die Arabisch nicht als Muttersprache sprechen. Es reicht nicht, dass die Mehrheit der Muslime einige Koransuren auswendig beherrscht, mit denen die gottesdienstlichen Handlungen verrichtet werden. Es muss eine ernsthafte innerislamische Debatte über den Umgang mit umstrittenen Suren im Koran, wie etwa mit den Schwertversen oder den Versen über die Unterdrückung der Frau, geben. Eine unabdingbare Voraussetzung für diese Auseinandersetzung der Muslime mit dem Koran beginnt mit der Veröffentlichung einer neuen Koranedition, die dessen Entstehungssituation im 7. Jahrhundert widerspiegelt.

Jeder Muslim ist in der Lage, durch intensive Auseinandersetzung mit dem Koran diesen gemäß seiner aktuellen Situation zu interpretieren und zu verstehen. Vom Deutungsmonopol der Gelehrten muss endlich Abschied genommen werden. Jeder Muslim muss sich selbst über seine Beziehung zu Gott und zu seinen Mitmenschen Gedanken machen. Anders ausgedrückt: Jeder Muslim muss selber denken, ohne fremde Anleitung, und sich von den kollektiven Zwängen befreien, die ihm seit Jahrhunderten auferlegt sind.

Tatsächlich ist der Islam ein wichtiger integraler Bestandteil des Alltags aller Muslime unterschiedlicher Konfession. Gott ist immer präsent im alltäglichen Handeln der Muslime, besonders das Bild von Gott als einem Strafenden. Die Reform des Islam will die Muslime auch von diesem Bild des tyrannischen Gottes und von der Angst vor der Hölle im Jenseits befreien. Sie können auf seine liebevolle Verzeihung hoffen, denn Gottes Barmherzigkeit im Diesseits und Jenseits ist grenzenlos und allumfassend (vgl. Koran 7:156 und 40:7). Seit Jahrhunderten diktieren die männlichen Theologen und Rechtsgelehrten des konservativen Islam den Muslimen und Musliminnen, wie sie ihr Leben zu führen haben, und drohen ihnen mit dem ewigen Höllenfeuer, wenn sie sich nicht an die Gebote und Verbote der koranischen Weisung halten. Doch jede Muslimin und jeder Muslim kann selbst den Koran lesen, verstehen und deuten, um zu Gott zu finden. Es gibt im Islam keine vermittelnde Instanz zwischen Gott und dem Menschen und eine solche ist auch nicht nötig. Auch Frauen können die Grundlagen des Islam im Rahmen ihrer eigenen Selbstbestimmung deuten und damit zum Ende der männlichen Dominanz in ihrer Religion beitragen. Deshalb braucht der Islam dringend Imaminnen.

Ist der Islam dabei, sich abzuschaffen? In seiner jetzigen, konservativen Form, die nicht mehr zeitgemäß ist, bekämpft er sich selbst. Denn der nicht reformierbare Islam in seiner politischen Ausprägung steht der universalen Ethik des mekkanischen Koran diametral gegenüber. Die islamische Welt benötigt nicht nur dringend eine sexuelle Revolution, die Frauen und Männer als gleichberechtigt anerkennt, sondern auch eine Islam- und Selbstkritik auf der Grundlage der Vernunft, die den Weg für die Etablierung eines modernen und humanistischen Islam ebnet. Denn: Auf einen kritikunfähigen, unaufgeklärten und frauendiskriminierenden Islam kann die Aussage „Der Islam gehört zum Westen“ niemals zutreffen.

Reform des Islam

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