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VIII.

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Wissen Sie, was mit Ihnen nicht stimmt? Ich verrate es Ihnen. Sie sind einfach zu perfektionistisch, was die Ergebniserwartung anbetrifft.

Was Sie propagieren, ist eine Philosophie des Zauderns. Das übertriebene Nachdenken und Verharren ist der Vetter der Trägheit und die Vorstufe des Müßiggangs, der sich gerne in sehnsüchtigen Konjunktiven wie „hätte“, „müsste“ und „könnte“ artikuliert. Attribute der gewollten, aber niemals vollzogenen Veränderung führen zu einem fühlbaren Knirschen im Weltgefüge und letztendlich zu einem Stillstand, der die Räder des Fortschritts blockiert. Man kann diese Dinge in jedem halbwegs gelungenen Deutsch- und Geschichtsunterricht lernen, wenn man Ohren hat zu hören.

Wer erschauert nicht angesichts des Verderben bringenden Zauderrhythmus des K., den Kafka seine „dauerhaft gezauderten Wege“ in seinen Labyrinthen nehmen lässt? Zu welcher Elendsgestalt wandelt sich der selbstherrliche Wallenstein in dem Drama Schillers, als er sich um die Wende des 18. Jahrhunderts in ein Knäuel verschiedener Handlungsmöglichkeiten verstrickt sieht und das Zögern zur Maxime seines Handelns macht? Warum zögert in der Orestie des Aischylos der tragische Held, bevor er seine Mutter Klytaimnestra ersticht, obwohl er von der Notwendigkeit seines Tuns überzeugt ist?

Hat der Limbo-Zustand zwischen dem „nicht mehr“ und dem „noch nicht“ irgendetwas Gutes hervorgebracht außer dem törichten Lob, dass tiefe Denker methodisch zaudern, weil sie die negativen Folgen einer Affekthandlung abwehren wollen? In der ganzen Diskussion um Abwägung und Verhältnismäßigkeit wollen wir doch nicht vergessen, dass es die beherzten Macher sind, denen die Durchbrüche gelingen, die die Welt in Atem und am Laufen halten.

Genau das hatte ich aus uneigennützigen Motiven getan. Die öffentliche Meinung war auf meiner Seite. Das ein oder andere bigotte Blatt rief zwar halbherzig dazu auf, der Perversion, wie sie ihrer Meinung nach in der Absteige geschehen war, ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, aber die Mehrzahl der Medien schnürten aus der homoerotischen Skandalgeschichte eine spannungsgeladene und mysteriöse Fortsetzungsstory mit nachgestellten Bildern und aufgeputschten Details. Ein besonders engagiertes Boulevardblatt hatte die Witwe des Fleischers überredet, ihr die Exklusivrechte an dem Hintergrundmaterial ihrer Ehe zu überlassen und veröffentlichte in loser Folge Fotos des verstorbenen Benedikt im Kommunionsanzug und als Messer schwingender Metzger, Aufnahmen einer mehr als traditionell begangenen Hochzeit in weißem Kleid, Spangenschuhen, voll hochfliegender Hoffnungen und düster illustrierte Familiengeheimnisse, deren Bedeutung im Halbdunkel blieben.

Die Umsätze der Messerindustrie zogen augenblicklich an und die Schwulenvereinigung rief zu einem Protestmarsch gegen Diskriminierung auf, der von den Linken unterstützt wurde. Die Polizei ermittelte in alle Richtungen und vermutete persönliche Motive hinter der bizarren Tat. Goldlocke hieß in Wirklichkeit Stefan und entstammte einer einflussreichen Industriellenfamilie, die für Hinweise, wer ihren Sohn entführt und in hilfloser Lage in einem zweifelhaften Etablissement erstickt hatte, eine stattliche Belohnung ausgesetzt hatte. Nach der Lesart seiner Familie war ihr Sohn ein drogen- und skandalfreier junger Mann mit vielversprechenden Talenten und einer ganz und gar heterosexuellen Neigung, die er schon früh durch eine Verlobung mit einer untadeligen Elevin aus besseren Kreisen unter Beweis stellte. Der Betreiber des „Palais d’Amour“ wurde von Goldlockes Familie für die erlittenen Unbilden und dafür entschädigt, dass er bestätigte, den tragisch ums Leben gekommenen Sohn niemals zuvor gesehen zu haben. Im Überschwang der Gefühle fügte er ungefragt gerne hinzu, dass der junge Mann mitnichten schwul gewesen sein könne, so als ob er aus gefesselten nackten Leichen den Charakter herauszulesen vermochte.

Susi, die Frau des Metzgers, zeigte sich verweint und fotogen auf manchem Titelblatt und präsentierte ihre nichtssagende Geschichte einer Routineehe mit Routineproblemen und Routineannehmlichkeiten. Sie verneinte, von den Neigungen ihres Mannes gewusst zu haben und das einzig Sensationelle, das ein Magazin ausgrub, war ein Foto des angeheiterten Paares in Karnevalsverkleidung nach dem Besuch der „Rocky Horror Picture Show“. Alle interessierten Kreise verständigten sich stillschweigend auf einen Mord im Milieu und die Erkenntnis, dass das Herz eines biederen Fleischers unergründlich und abgründig sei. Susi hatte es nicht mehr nötig zu arbeiten, denn in ihrem Fall zahlte die Lebensversicherung schnell und ohne Aufsehen. Wenn es stimmt, was die anderen in der Suppenküche sagten, verabschiedete sie sich wegen des ganzen Rummels um ihre Person mit einer Mischung aus Wehmut und spürbarer Erleichterung. Sie träumte von einer Eigentumswohnung und einem erfüllten Leben an der Seite eines Mannes, der ihre Kochkünste und ihren Körper gleichermaßen zu schätzen wusste. Sie würde es schaffen und nie erfahren, wer ihrem Glück auf die Sprünge geholfen hatte.

Wie Sie richtig bemerken, hatte jeder etwas von meinem Eingreifen – außer mir. Ich hatte mir die Kleidung und ein Stück weit meine Nerven ruiniert. Ich war das Risiko eingegangen, dort stümperhaft zu agieren, wo ich keine Routine hatte. Andererseits – sollte ich etwa zuerst das Ausbeinen und Nähen erlernen, bevor ich zur Tat schritt? Hier schließt sich der Kreis der Argumente. Besser ist ein unvollkommenes Ergebnis in mehreren Anläufen als ein vollkommenes Zögern. So sehe ich das.

Meine Erfahrung mit der Sache war, dass es sich einfacher mit dem Prädikat lebte, ein großes Arschloch zu sein als ein menschenfreundlicher Altruist. Altruisten nimmt man im Alltag als gegeben hin. Es sind die Freiwilligen, die sich ehrenamtlich um andere kümmerten, die Helden des Alltags, denen man vor der Silvestergala mit warmen Worten öffentlich dankt, um sie möglichst schnell zu vergessen. Altruisten sind farblose oder fanatisch auf Gut gepolte Wesen, das schlechte Gewissen der Gesellschaft, der schmerzhafte Pickel auf der Seele, der eigenes Engagement einfordert. Man trifft sie in Kirchen und Gemeindezentren, bei elitären Wirtschaftsvereinigungen und in Vereinen, die sich um Erdbebenopfer in Südamerika, Mukoviszidose-Kranke und den vom Aussterben bedrohten gelbfleckigen Feuersalamander in den Alpenregionen sorgen. Überall tummeln sie sich und treten mittlerweile massiert in jeder Form und Gestalt auf.

Ich hatte nicht vor, mich an derartigen Aktivitäten zu beteiligen. Ich hatte ein für mich passendes Konzept gefunden, das mir die gesamte Verantwortung aufbürdete, aber auch die maximale Handlungsfreiheit beließ. Was ich von den anderen lernen konnte, war, dass Altruisten zugleich Arschlöcher sein konnten. In den Sprüchen des weisen Salomo heißt es, dass man dem Stier, der da drischt, nicht das Maul verbinden soll. Falls Ihnen diese Aussage zu kryptisch erscheint, wiederhole ich sie gerne: Für gute Arbeit soll man auch einen angemessenen Lohn erhalten, und wenn kein solcher geboten wird, muss man improvisieren. Wie Sie wissen, bin ich ein Meister der Improvisation und von meiner Grundeinstellung einem kleinen Kompensationsgeschäft für meine Mühen nicht abgeneigt. In Altruisten-Kreisen nennt man diesen Vorgang Aufwandsentschädigung. Wenn man es richtig anstellte, konnte man auch bei gemeinnützigen Aktionen eine angemessene Entlohnung erwarten. Ich wusste noch nicht genau, wie ich es anstellen würde, aber allmählich reifte ein Plan heran, den ich recht bald umzusetzen gedachte.

In der Zwischenzeit versuchte ich mir nicht allzu viele Sorgen zu machen und ertrug die erstickende Enge in der Wohnung meiner Mutter, wie es nur ein in sich ruhender Wünscheerfüller zu tun vermag. Nun, so ganz ruhte ich nicht in mir selbst, denn flüchtige Gedanken an das Mädchen im Bus und ein allgemeines Gefühl der Beklemmung belasteten mich. Es ist einfach nicht das Richtige, sich als selbstständiger junger Mann in einer gewerblich genutzten Dienstwohnung einzuigeln und in Schulbücher zu starren, während das Leben vorbeizieht, als hätte es mit einem nichts zu schaffen. Eine Zeit lang trotzte ich den eisigen Temperaturen und frequentierte Spielhallen und Hinterhofkasinos, wo ich bulgarische Fälschungen in beste Währung transformierte. Niemand beachtete den schlaksigen Mann, der sein Geld in homöopathischen Dosen einsetzte und wie ein Schatten verschwand, wenn er einige Scheine getauscht hatte.

An einem Tag, der sich mit dem Winter verschworen hatte, einer Tauperiode mit strengem Frost ein Ende zu setzen, kaufte ich mein erstes Auto. Das Fahrzeug war ähnlich unspektakulär wie der Betriebshof des Gebrauchtwagenhändlers. Er streute Asche auf den soliden Eispanzer, der sich wie ein milchiger Film aus Glätte über den Beton gelegt hatte. Seien Sie unbesorgt. Ich griff nicht unbeherrscht nach den Sternen. Im Gegenteil. Ich hatte mich für ein gebrauchtes koreanisches Modell entschieden, das viele Konsonanten und ebenso viele Vokale im Namen trug und sich sichtlich schwer tat, mit derartig widrigen Witterungsbedingungen fertig zu werden. Es war ein zierliches Ding mit nettem Gesichtsausdruck und einer Ausstattung, die ganz auf Frauen abgestellt war. Wenn man so sagen will, war es ein Auto zum Knuddeln.

Normalerweise hätte ich eher zu etwas Robusterem gegriffen, aber der unübertroffen günstige Preis und das Servicepaket siegten über die Leidenschaft. Ich redete mir ein, dass das Fahrzeug für den Stadtverkehr wie geschaffen und überdies mit seinen eindrucksvollen Verbrauchs- und Abgaswerten ökologisch mehr als korrekt sei. Derart seelisch gestärkt fuhr ich davon. Sie können sich vielleicht vorstellen, in welch geordneten Bahnen mein Leben verlief, wenn ich diesen Kauf zu den Highlights der letzten Wochen zählen musste. Zumindest gestattete es mir der Wagen, meinen Bewegungsradius wesentlich zu erweitern und ernsthaft auf Wohnungssuche zu gehen, denn dem Zusammenleben mit meiner lieben Mutter waren deutliche Grenzen gesetzt.

Ging mir die Frau, die mir das Leben geschenkt hatte, bislang auf den Geist mit ihrem tranigen Selbstmitleid, das sie dem Bruder Alkohol und dem tragisch verstorbenen Bert in die Arme trieb, hatte sie zwischenzeitlich einen Schalter umgelegt und erschien geradezu beängstigend alert und tatendurstig. Bisher war es mir gelungen, sie dank eines ausgeklügelten Anreizsystems auf der Schiene der Profitabilität zu halten. Jetzt schien sie mir in einem Höhenflug von Eigeninitiative zu entgleiten. Es ist richtig, dass ich ihr den Besuch eines Treffens der „Anonymen Alkoholiker“ ans Herz gelegt hatte, weil ich wie jeder gute Junge um den Zustand meines wertvollsten Investitionsgutes fürchtete. Sie sollte aus dem Stupor von Trauer und Alkohol, der sie umgab wie eine unsichtbare Mauer, entkommen, um mit frischen Kräften ihrem Gewerbe nachgehen zu können. Das war für uns alle wichtig, vor allem für die Einnahmenseite und den Kundenbindungsaspekt. Ein wenig Traurigkeit und Weltschmerz konnte man noch gut vermarkten, nicht aber eine niveaulose Inszenierung ohne Kraft und Fantasie.

Ich hatte mir vorgestellt, dass man sich bei den Treffen als Alkoholiker outete, um in der Gruppe Kraft zu schöpfen und die Last der eigenen kümmerlichen Existenz auf mehrere Schultern zu verteilen. So harmlos war es aber nicht, denn das System wirkte. Es wirkte Wunder und erwischte mich auf dem falschen Fuß.

Meine liebe Mutter wurde zu einer Gläubigen. Sie wurde zu einer Gläubigen mit Sendungsbewusstsein und Charakterstärke. Natürlich litt sie. Sie litt sogar wie ein Stück Vieh, aber sie kämpfte mit den dunklen Mächten, wie sie das Verlangen nach der dämpfenden Wirkung des Alkohols zu nennen pflegte, und kam eines schönen Morgens in der Realität an. Der ungeschminkte Tag hieß sie willkommen und brachte sie auf die Idee, sich neu einzukleiden. Bleich, aber voller Elan interessierte sie sich für modische Blazer, sportliche Blusen und einen extravagant geschnittenen Cardigan mit Schalkragen. Die Farben waren damenhaft dezent gewählt und die Accessoires strahlten jenen Frischekick aus, den man sich erlaubte, wenn man wusste, dass der Frühling vor der Tür stand. Bis hin zu den Slingpumps mit grün gepaspelten Ausschnitten und Fersenriemchen sahen die Kombinationen unschuldig und bezaubernd aus. Meine Mutter strahlte und ich machte mir Sorgen.

Wie ein Wirbelwind fegte sie durch die Wohnung und liebkoste mich mit cremezarten Fingerspitzen beiläufig neben dem Adamsapfel. Es war, als habe sie die neue Leichtigkeit des Seins entdeckt. Als sie von der Renovierung der Wohnung sprach und mit einem schelmischen Lächeln bemerkte, sie müsse ihr Leben von Grund auf ändern, machte ich mir noch mehr Sorgen. Ich bemühte mich um Gelassenheit und fragte mit betontem Desinteresse, wie sie ihre Laufbahn als Spezialitätendienstleisterin zu gestalten gedenke. Sie überlegte keinen Moment und hieß mich auf höchst alarmierende Weise ihr kleines Dummerchen. Das „Dummerchen“ flötete sie hinaus, als habe sie das Tremolo auf dem letzten Wortteil seit Tagen eingeübt. So wenig griffig die Formulierung war, so gut wusste ich, was sie zu bedeuten hatte – und Sie wissen es auch.

Der Mann nannte sich Alex. Sein Taufname war Alexander und er war trockener Alkoholiker. Es ist nicht, wie Sie denken. Alex war kein unangenehmer, gewalttätiger Schmarotzer, der sich in unsere Familie drängen wollte. Er war eine Respektsperson mit gutem Leumund und ausgezeichneten Manieren. Ihm lag am Wohl meiner Mutter und er konnte nichts dafür, dass das Wohl meiner Mutter sich nicht mit meinem Wohl deckte. Ich nehme an, er hatte über dieses Problem nie nachgedacht, obwohl das Denken und der Verzicht zu seinen Stärken zählten. Er war ein stiller, hagerer Zeitgenosse mit einer rot und blau geäderten Nase, die ihm von den Trinkerzeiten geblieben war. Zumeist kleidete er sich schwarz, denn schwarz ist die richtige Farbe, wenn man sich im Krieg mit dem Teufel Alkohol befindet. Er verdiente gutes Geld mit Vorträgen über die Gefahren des Alkohols und rettete immer dann neue Seelen, wenn er dünnlippig und mit dürren Worten über sein persönliches Martyrium berichtete, das damit begann, dass er seinen Wagen betrunken gegen einen Baum steuerte, dessen unterster Ast seine neben ihm sitzende Frau köpfte. Danach war er in einem Strudel von Besäufnissen und Abstürzen versunken, bis es ihm nach Jahren in der Gosse gelang, dank der „Anonymen Alkoholiker“ Fuß zu fassen. Er dramatisierte und beschönigte nichts. Er saß nur da und war bereit, die Last der anderen auf sich zu nehmen; und seit Neuestem verehrte er meine Mutter.

Grundsätzlich war an der Liaison nichts auszusetzen. Alex war ein Verehrer alter Schule. Er begnügte sich mit altmodischen Ritualen, wie Handküssen, dem guten alten Rezitieren von Gedichten und dem Überreichen von Pralinen und Blumengebinden. Zu mir verhielt er sich respektvoll und ohne Vorbehalte. Ich kann sagen, dass ich ihn fast mochte. Was ich ganz und gar nicht mochte war, wie er mein Leben durcheinander brachte, indem er meiner Mutter auf seine galante Weise Eigenständigkeit und Lebensmut einhauchte.

Anfangs versuchte ich sie auf subtile Art und Weise zum Trinken zu animieren. Ich deponierte ihre Lieblingsliköre und leckere Weine in Reichweite und beobachtete enttäuscht, dass sie ihre magische Anziehungskraft verloren hatten. Meine liebe Mutter schöpfte Trost aus anderen Quellen und Kraft aus sich selbst. Diese Form rasanter Emanzipation war nichts weniger als besorgniserregend.

Besorgniserregend ist es auch, wie einfach man Kaliumzyanid, volkstümlich Zyankali, beschaffen kann, wenn man ein aufmerksamer Oberstufenschüler ist und eine interessante Versuchsanordnung präsentiert. Man beginnt mit einer angeregten Unterhaltung mit einem vom Leben desillusionierten Chemiedozenten, der sich zu Höherem berufen fühlte und in den Niederungen des Schulalltags sein Dasein fristet. Es ist anzuraten, die Hobbys des Lehrers in Erfahrung zu bringen und auf deren Grundlage eine Versuchsreihe für ein Referat vorzuschlagen. Dem Dozenten ist bekannt, dass durch das Erhitzen von Blutlaugensalzen wie Kaliumhexacyanidoferrat (III) und Schwefelsäure Blausäure entsteht, die mit Kalilauge neutralisiert und anschließend eingedampft wird. Weniger sicher ist er sich bei dem alten Verfahren, bei dem Kaliumcyanid durch Einwirken von Kohlenstoffmonoxid und Ammoniak auf Pottasche bei hohen Temperaturen hergestellt wird. Der Mann hat seine Skrupel, aber er fühlt sich geschmeichelt, weil man an sein Fachwissen appelliert und seine Mitwirkung bei den Versuchen erbittet. Er stürzt sich in die Vorbereitungen, trifft mit Akribie die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen, zwingt dich zu einer detaillierten Versuchsbeschreibung, sinniert über den Bittermandelgeruch der farblosen Kristalle. Kurz, er ist überflüssig wie ein Kropf und doch die beste Tarnung, die man sich wünschen kann, wenn man die gewonnenen Kristalle abwiegt und ein gewisses Quantum für den Humanversuch beiseiteschafft. Man erhält eine gute Zensur für den erbrachten Nachweis der Haupteigenschaften des Kaliumsalzes der Blausäure und hat den Theorieteil mit Bravour hinter sich gebracht. Man hat gelernt, dass sich die Kristalle bei 25° C leicht in Wasser lösen und die tödliche Dosis Cyanid etwa 140 mg bei erwachsenen Menschen beträgt.

Alex freute sich über mein Interesse, als ich ihn unverfänglich nach seinem Körpergewicht befragte und ihn für seine Disziplin in allen Lebensbereichen lobte, als er antwortete, dass ihn die Abstinenz von Alkohol auch gelehrt habe, seinen Körper nicht mit anderen Genussgiften und übermäßigem Essen zu ruinieren. Er wiege schon seit Jahren 78 kg, was ihn weder zum Athleten, noch zum Asketen stempele. Ich weiß noch genau, welchen Satz er anfügte. Er wirkte ein wenig frömmlerisch, aber durchaus liebenswert. Er sagte: „Ich bin tätig durch den, der mir Kraft verleiht“ und seine schiefergrauen Augen hefteten sich mit Nachdruck an mein Gesicht. Das Gewicht meiner Mutter kannte ich ziemlich genau, denn bei einem Überschreiten der Marke von 55 kg begannen unansehnliche Wülste ihr Catwoman Kostüm auszubeulen und die darauf fixierte Kundschaft abzuschrecken, sodass wir regelmäßige Gewichtskontrollen zu einem Teil des Arbeitsablaufs gemacht hatten.

Wussten Sie, dass nur etwa ein Drittel der Menschen aufgrund ihrer genetischen Veranlagung in der Lage sind, den auf die Gefährlichkeit der Substanz hinweisenden Bittermandelgeruch von Zyankali wahrzunehmen? Ehrlich gesagt wusste ich es auch nicht, aber ich war dankbar für diese informative Lesefrucht, die mich dazu brachte, eine kleine Kolonie köstlichen Marzipankonfekts mit Zyankalilösung zu impfen, liebevoll zu dekorieren und in eine unwiderstehlich aussehende Geschenkverpackung zu hüllen, die sich kaum von den Verpackungen unterschied, mit denen Alex meine Mutter ansonsten überraschte. Die Pralinen fanden an einem Nachmittag ihren Platz vor der Rückbank seines Autos, wo sie den Eindruck erwecken mussten, als seien sie zufällig von der Sitzfläche gerutscht und sträflicherweise vergessen worden. Sie müssen zugeben, dass meine kleine Inszenierung genügend Platz für die Art Gottesurteil einräumte, die Alex so sehr schätzte.

Es war völlig ungewiss, ob und wann jemand die Nascherei zu sich nehmen würde. Vielleicht würde sich alles zum Guten wenden. Insgeheim hoffte ich, dass es so sein würde.

Eines konnte aber selbst ich nicht leugnen: Die kommenden Wochen waren unbekömmlich für Naschkatzen.

Der Wünscheerfüller

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