Читать книгу Der Wünscheerfüller - Achim Albrecht - Страница 8
III.
ОглавлениеAnfangs war ich sicher, dass ich dem Tod mit großem „T“ von der Schippe gesprungen war. Dann setzte man mir vorsichtig auseinander, dass mir der Tod seine Schippe gar nicht gezeigt hatte. Er hatte geblufft und der Bluff war gut. Schlecht nur, dass niemand außer mir an den Bluff glaubte. Deshalb hatten sie mir Handschellen angelegt, die sie am Bettgestell befestigten.
Da lag ich nun in einem halb gekippten Zustand, nackt unter meinem kratzigen Krankenhausflügelhemd und in Begleitung einer wie vollgeschissen wirkenden Windel um meine Hüften, die außer meinen gemarterten Testikeln jede Menge Kühlgel enthielt. „Man hätte auch Eiswürfel nehmen können, wenn das nicht so eine Sauerei machen würde“, sagte der Engel der Güte in Schwesterntracht, der mir schalen Tee aus einer Schnabeltasse verabreichte und alles das von meinem mageren Körper abwusch, was ich unfreiwillig von mir gegeben hatte. Ich konnte riechen wie ich stank, aber ich hatte kein Gramm Scham mehr übrig, um es hier einzusetzen und so senkte ich den Kopf und bettelte nach Schmerzmitteln.
Wenn ich wieder in einer besseren Verfassung bin, müssen Sie mir erklären, warum Krankenhäuser glauben, dass kranke Menschen lauwarmen Tee benötigen. Es kann keinesfalls das hoch qualifizierte und effiziente Personal der Klinik sein, das befürwortet, dass jeder Patient ohne Unterschied mit dem Sud bitterer Blätter und Kräuter traktiert wird, bis er den Verstand verliert. Nein, das Personal kocht, operiert, verwaltet und diagnostiziert. Es sind intelligente, aktive Menschen mit einem Auftrag und einem sozialen Gewissen. Ich denke, es ist das Gebäude selbst, das seinen unheimlichen Einfluss ausübt und den klaren Verstand mit Strahlen oder sonst was überlagert, sodass es zu massenhaften Schnabeltassenexzessen kommt. Momentan war ich nicht in der Lage mich zur Wehr zu setzen, aber bald würde ich zu einem Schnabeltassenverweigerer allererster Güte werden.
Es waren solche Gedanken, die ich wie einen zähen Brei in meinem Kopf wälzte und alleine daran mögen Sie erkennen, wie es um mich bestellt war. Mein Zustand verbesserte sich auch nicht durch den Besuch eines Polizisten mit krausen Haaren und besorgter Miene, der mir mit gelangweiltem Gesicht vorhielt, was ich begangen haben sollte. Angeblich war ich in das umfriedete Grundstück eines verstorbenen Finanzinvestors eingedrungen und hatte die Trauergesellschaft mit einem Messer bedroht, als die Witwe des Toten bemerkte, dass ich sie in betrügerischer Absicht um mehr als achtzig Euro erleichtern wollte. Erst das beherzte Eingreifen eines Leibwächters habe die Bedrohung für Leib und Leben der Anwesenden beendet.
Ich wollte lachen, weinte aber stattdessen, weil jede Muskelanspannung einen unerträglich ziehenden Schmerz durch meine Nervenbahnen jagte und der Tee durch den Katheter in meiner Blase als blutig aufbereiteter Urincocktail in einen Beutel tropfte. Der Polizist schien meine Vorstellung für ein Schuldeingeständnis zu halten und nickte bedeutungsschwer. Er ersparte mir die Durchsicht des kleinen Bündels Zeugenaussagen, die nach seinem Dafürhalten unwiderleglich waren, weil sie bis auf das letzte Komma übereinstimmten. Ich hatte so meine Ideen, wie es zu dieser Zusammenrottung identischer Falschaussagen gekommen war, aber ich brachte nicht viel mehr hervor als ein schwerfälliges Lallen, weil mir jemand in den letzten Stunden die Zunge durchgebissen hatte. Die Krankenschwester, die mir eine Kanüle in den gefesselten Arm gesteckt hatte, um meinen Körper mit anderen Dingen als Tee zu versorgen, meinte, das Durchbeißen der Zunge habe ich selbst besorgt. Jetzt hatte ich dreimal so viel Zunge im Mund als je zuvor und fühlte mich nicht gut dabei.
Meine liebe Mutter erschien am nächsten Tag an meinem Bett. Sie triefte vor illegalen Substanzen und schlechten Nachrichten. Mit theatralischer Geste hielt sie eine Zeitung vor mein Gesicht. Ich hatte es immerhin auf die dritte Seite geschafft. „Jugendlicher Trickbetrüger wird von Witwe des Bordellkönigs in die Zange genommen“. Die fette Schlagzeile machte Sinn und erklärte die rauen Umgangsformen. In Gedanken notierte ich mir, die Schadensersatz- und Schmerzensgeldklage gegen die Witwe fallen zu lassen. Die mageren Spalten käuten die Geschichte aus Sicht dieser Lügner wieder und verwiesen darauf, dass die Umstände des Todes des Pornomagnaten noch ungeklärt waren. Wie man hörte, war er an gewaltigen Kopfschmerzen gestorben. Hinter jedem der drei Einschusslöcher in seinem Schädel steckte eine Kugel kleinen Kalibers. Da konnte einem der Kopfschmerz schon mal ein Schnippchen schlagen. Der Ansicht war auch die Versicherung. Sie weigerte sich zu zahlen und die hinterbliebene Frau des Bordellkönigs fühlte sich zweifach beraubt. Und dann war ich aufgetaucht, nur weil die Todesanzeige vom „plötzlichen und unerwarteten Tod unseres geliebten Mannes, Großvaters und Onkels“ geschwafelt hatte. Was für ein ausgesprochenes Pech.
Die Schule hatte sich offensichtlich beeilt, ein Ordnungskomitee zusammenzurufen, das meinen sofortigen Schulausschluss empfahl. Soviel zu der heiligen Unschuldsvermutung, die alle rechtsprechenden und vollziehenden Kräfte in diesem Land band. Ich hatte nicht schlecht Lust auf diese heuchlerische Vereinigung angepasster Erzieher zu scheißen oder zumindest zu spucken, aber beides war aus körpertechnischen Gründen derzeit unmöglich. Ich würde es später nachholen, wenn ich rehabilitiert war.
Apropos Rehabilitierung. Meine Mutter fuhr sich nervös durch die Haare. Zur Feier des Tages waren sie schmutzig blond getönt und mit einem Seidenschal gebändigt. Die Polizei hatte sie befragt und sie hatte bereitwillig Auskunft gegeben. Schließlich wollte sie ihrem Jungen nicht schaden und alles sagen, was ihm nutzte. Sie glaubte fest an meine Unschuld. So ganz konnte sie sich nicht mehr an die Fragen erinnern. Es waren so viele. Und manche richtig hinterhältig, wie die nach übermäßigem Alkoholkonsum, nach Vorstrafen und dem ausgeübten Beruf. Ja, und das Messer habe man ihr gezeigt, sagte sie und fuhr sich mit der Zunge über die rosa geschminkten Lippen. Ich fixierte sie mit meinem besten Blick. Sie fingerte an ihrem Perlenhandtäschchen herum, das ich einmal auf einem Flohmarkt für sie gekauft hatte. Sie habe nicht gewusst, was sie sagen sollte. Es war ein ganz normales Messer. Eines, das jeder zuhause hat. Und dann sei ihr glücklicherweise Bert zu Hilfe gekommen.
Geht es Ihnen auch so, dass Sie mit bestimmten Wendungen im Leben überhaupt nicht kalkulieren, aber doch unterbewusst Vorsorge für den Fall der Fälle getroffen haben? Ein interessantes Phänomen. So erging es mir mit Bert. Am Vortag hatte der Polizeibeamte nach einem prüfenden Blick auf meine überdimensionierte Windel gefragt, ob ich mich soweit beruhigt hätte, dass man mir die Handschellen abnehmen könne. Ich hatte trotzig den Kopf geschüttelt, weil ich gerne weiterhin ein gedemütigter, ausgemergelter, gefolterter Windelmann sein wollte. Alles was recht ist, ich besitze die Gene eines Kampfschweins und in etwa dessen Intelligenz, wenn man bedenkt, dass ich eine Nacht zwischen Wunder, Wahn und Wirklichkeit angekettet an ein Metallbett verbrachte. Am Tag des Besuchs meiner Mutter sah ich das anders, denn beim Erscheinen von Bert verlor ich jede Selbstbeherrschung.
An guten Tagen hätte ich meine Mutter mit einem sarkastischen Lächeln bedacht und sie gefragt, ob der Vorname von Bert vielleicht „Camem“ sei. Und dann hätte ich ihr den Umgang mit ihm verboten.
An den Tagen, an denen ich an zerdrückten Hoden laborierte war ich weniger charmant. Meine Mutter hatte mir stockend, aber wortreich beschrieben, wie Bert für den ermittelnden Beamten das Messer identifizierte. Sie las es von einem Zettel ab, den sie geschrieben hatte. Es war ein Jagdmesser aus bestem Damaszener Stahl, eine Kostbarkeit der Messerschmiedekunst und genau das, was Leute wie wir auf dem Sprung von der Unterschicht zur Mittelschicht benötigten. Bert hatte es eindeutig wiedererkannt. Bert sagte: „Kein Zweifel, es gehört dem Jungen. Es ist sein ganzer Stolz“.
Bert war der ganze Stolz meiner Mutter. Ich hatte noch immer damit zu tun, die Lawine schlechter Nachrichten zu verdauen, als sie ihn hereinholte. Bert hatte Blumen dabei. Wahrscheinlich hatte er sie an einer Tankstelle gestohlen. Ich begann mit dem Augenrollen, das ich mittlerweile perfektioniert hatte und stieß unartikulierte Laute aus, die mir einen blutigen Schaum vor die Lippen pressten. Mit dem gefesselten Arm rüttelte ich an den Metallverstrebungen des Bettes und erzeugte alles in allem eine glaubwürdige Geräuschkulisse, die meine Pantomime der Empörung flankierte.
Meine Mutter schlug die Hände vor das Gesicht und rief: „Sieh nur, wie er sich freut.“ Ich rüttelte noch etwas mehr und glotzte auf den durchweichten Krepp der Blumenverpackung, die es sich auf meiner Brust bequem gemacht hatte. Bert war halb durch den Blütenstand minderwertiger Astern verdeckt. Er sagte: „Hallo, ich bin Bert.“ Anscheinend war er ein Anhänger der schlichten Ansprachen. Wesentlich facettenreicher war sein Outfit. Mit einiger Anstrengung konnte ich schwarze, gegelte Haare, ein halbes Pfund Goldschmuck und bunt gefärbtes Nappaleder erkennen. Wulstige, halb geöffnete Lippen hingen in der Luft und die aufdringliche Moschusnote des Aftershave fiel über mich her wie ein Würgeengel.
„Wir haben uns im Fitnessstudio kennengelernt, deine Mutter und ich. Wir kennen uns schon länger und haben entschieden, dass wir gut zusammenpassen.“ Gefaltete, manikürte Hände erschienen über dem Grünzeug des Blumenstraußes, der noch immer meine Sicht belästigte. „Tut mir leid, Junge – aber ich musste der Polizei die Wahrheit sagen. Sie hätten das mit dem Messer ohnehin rausgekriegt. Selbst deine Mutter hat zum Schluss das Messer klar identifiziert“. Die Stimme von Bert war genauso ölig wie seine pomadisierten Haare. Er hätte Prediger werden sollen. „Ich bin Boxtrainer“, sagte die Stimme stattdessen und wechselte von sakral zu entschlossen. „Dir fehlen offensichtlich der Vater und ein bisschen Disziplin. Keine Sorge, das kriegen wir schon hin, wenn du mal wieder zuhause bist. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um deine Mutter. Mach dir keine Sorgen.“
„Mach dir keine Sorgen“, flötete meine Mutter und sandte mir Kusshändchen, denen ich nur mit Mühe ausweichen konnte. Spitznasige Cowboystiefel mit Karomustern und grell rosa Pumps entfernten sich aus dem Zimmer. Sie schlurften und stöckelten im gleichen Takt. Sie hatten sich gegen mich verschworen. Der Auftritt von Bert und der Geliebten von Bert war eine Kampfansage. Ich machte mir eine mentale Notiz, dass zu Gwendolin, des Bordellkönigs Witwe, ein neuer Adept für eine offene Rechnung hinzugekommen war.
Bert, der Boxer, hatte sich offensichtlich entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen und meine vorübergehende Notlage durch dreiste Falschaussagen soweit zu verschärfen, bis er mich los war. „Selbst deine Mutter hat zum Schluss das Messer klar identifiziert“, hatte er gesagt. Ich schloss die Augen und versuchte zu ignorieren, was mir alles wehtat. Vielleicht hatte ich meine Eier, aber ganz bestimmt nicht meinen Kopf verloren. Meine Mutter hätte ohne das Zureden von Bert ein Damaszener Jagdmesser nicht meinem Besitz zugeordnet, selbst wenn es sie angesprungen und zum Tango aufgefordert hätte. Sie war eine suchtkranke, entwurzelte Frau. Mit ihr würde ich später abrechnen. Ich schnappte nach den Astern und begann die Blütenblätter mit den Lippen abzureißen.
Der Rest ist schnell erzählt. Meine Windelphase dauerte drei Wochen und einen weiteren Monat später war alles wieder in einem gebrauchsfähigen Zustand. Ich erhielt keine weiteren Besuche und keine Blumen mehr und ein Gericht, das weder zuhörte, noch an der Wahrheit interessiert war, verurteilte mich zu acht Monaten Jugendstrafe auf Bewährung. Ich verpflichtete mich an einer Antiaggressionstherapie teilzunehmen und leistete freiwillige Sozialstunden in einer Suppenküche für Bedürftige. Die Schule begründete meinen Rausschmiss mit gestelzten Worten und erteilte eine Rechtsmittelbelehrung, dass ich gegen diesen Verwaltungsakt im Wege des Widerspruchs vorgehen könne. Ich verzichtete und machte mir stattdessen eine mentale Notiz, damit ich die Rädelsführer dieser Kampagne nicht vergaß.
Der knorrige Alte hatte mich auf der Totenfeier ein „kleines Arschloch“ genannt und er hatte recht. Ich hatte klein und eng gedacht. Jetzt war ich von vielen Konventionen befreit und konnte das Leben eines Privatiers führen, das Leben eines großen Arschlochs.
Meine Bauchdecke und Teile der Oberschenkel hatten interessante Färbungen angenommen und waren druckempfindlich. Die neu gewonnene Sensibilität verlieh meinem bis dahin unauffälligen Gang etwas elegant Gleitendes. Ich trat mit den Zehenspitzen auf und rollte den Fuß über die äußeren Ballen ab, bis mich der Schmerz beim Aufsetzen der Ferse empfing. Ich war ein neuer Mensch. Mein Mountainbike war konfisziert, da es zur Ausübung einer Straftat benutzt worden war. Ausnahmsweise war ich über diese Fügung des Schicksals dankbar, denn der schmale Sportsattel hätte mir mit seinem delikaten Druck auf die Weichteile die Flausen ausgetrieben. So bewältigte ich die notwendigen Gänge meist zu Fuß.
Ich musste mit meinen Ressourcen haushalten, denn Bert hatte seine Boxerhände auf den Titten meiner Mutter und auf dem Budget. Bei aller Ausgabendisziplin, die er mit den einfachen Worten kommentierte: „Es gibt nichts, Schwanzlutscher“, brachte er es schließlich nicht übers Herz, sich selbst unangemessen zu benachteiligen. Bald parkte ein nachtschwarzer Geländewagen mit bulligen Aufbauten und bösen Scheinwerferaugen vor unserem Appartementhaus. Meine Mutter ackerte und soff im Akkord und am Ende des Tages war ich mir nicht sicher, ob der Wagen nicht alleine vom Flaschenpfand der beiden finanziert war. Vor mit tanzte der begnadete Boxtrainer herum wie eine grenzdebile Ballettschwuchtel und schwang die Fäuste in Andeutungen von rechten Haken und linken Geraden, die ihn aus der Balance und außer Atem brachten. Er war ein Triumphator auf Zeit und es war nur seinem schwach ausgeprägten Intellekt zu verdanken, dass ihm an Repressalien nicht viel mehr einfiel, als mir mit dem Rauswurf aus der Wohnung oder einer ordentlichen Tracht Prügel zu drohen.
Meine liebe Mutter nickte eilfertig zu seinem Schwadronieren und war augenscheinlich froh, wieder einen festen Freund zu haben, der ihr den rechten Weg zeigte. Immerhin schleppte sie sich ins Fitnessstudio und absolvierte ihre Leibesübungen. Mit ihren hypochondrischen Anwandlungen hatte sie ganz aufgehört. Bert konnte das weibische Gejammer nicht ausstehen. Also ließ sie es. Ganz einfach so. Man konnte fast neidisch werden. Der Mann hatte Einfluss auf sie, auch wenn er nur eine Karikatur war, die in einer gerechteren Welt den Müll anderer Leute sortiert hätte. Nur das Saufen wollte sie nicht lassen und wenn er nicht gerade boxte oder mit seinen unangenehmen Kumpels abhing, soffen sie beide.
Bis auf gewisse Schwierigkeiten beim Urinieren gesundete ich und der Herbst überfiel das Land mit heftigen Stürmen und Regengüssen. Die Bilanz des letzten halben Jahres sah düster aus. Meine Barmittel waren weitgehend erschöpft, ich war in bildungsferne Gefilde geworfen worden und in unternehmerischer Hinsicht herrschte Flaute. Nicht zu sprechen von den Schäden an meinem Körper und Gemüt, die die Serie von Fehlschlägen und Demütigungen hinterlassen hatte.
Von all dem heilte mich Susi. Susi war ein Wesen wie von einem anderen Stern. Bitte halten Sie mich nicht für naiv. Ich bin nicht leicht zu beeindrucken und meine romantische Phase hatte ich im Alter von acht abgeschlossen, als ich bemerkte, wie die von mir angehimmelte Zopfträgerin heimlich meine Matchboxautos stahl, während ich einen Blick auf ihren Schlüpfer werfen durfte. Ich war auch nicht schüchtern und griff nach der ersten mütterlichen Inkarnation, die sich meinem nach heiler Welt lechzenden Herzen bot.
Susi machte den besten Krautsalat, den ich je gekostet hatte. Sie behauptete, es liege am Essig und der zusätzlichen Portion Kümmel, die sie in das Gemisch gab. Ich denke, es lag an den stämmigen roten Armen und dem herzförmigen Gesicht, das beim Mischen einen ehrfürchtig konzentrierten Ausdruck annahm. Susi war eine kugelrunde, naturblonde Wucht, wenn Sie diesen abgedroschenen Ausdruck verzeihen, und die gute Seele der Suppenküche. Eine Menge abgerissener Gestalten fand sich zu den kostenlosen Mahlzeiten ein und unser bunt gemischtes Team aus Freiwilligen, Ein-Euro-Jobbern und Mitarbeitern sozialer Einrichtungen hatte alle Hände voll zu tun, die Mäuler zu stopfen. Susi hatte für alle ein gutes Wort und bemerkte es nie, wenn ich mich aus der Lebensmittelkasse bediente, um meine Hilfementalität materiell zu stützen. Ich verehrte sie dafür.
Sie war eine einfache, aber lebenskluge Frau. Als Leiterin der Einrichtung hatte sie von meinen kleinen Gesetzesübertretungen Kenntnis erhalten und ohne Vorurteile reagiert. Nach einem besonders gelungenen Bohneneintopf nahm sie mich beiseite und fragte geradeheraus, wie ich in einen solchen Schlamassel habe geraten können. Ich antwortete gewohnt einsilbig und defensiv und war umso überraschter, als sie bei der Erwähnung der Zahl Vier in helle Aufregung verfiel. Sie hielt mir keine Predigt von Tugend und Verzicht und trug nicht das Hohelied der Disziplin wie eine professionelle Dompteuse vor sich her. Nein, sie regte sich über die von mir berechnete Quersumme auf. „Das war der Fehler“, rief sie mit einem Leuchten im Gesicht und klatschte mir ihre Hand auf meinen Oberschenkel, der ängstlich zur Seite zuckte und froh war, dass das Klatschen weit genug von der Körpermitte entfernt stattfand. Wie sich herausstellte, war Susi Amateurnumerologin, die sich in kabbalistischen Zahlendeutungen ebenso gut auskannte wie in der Runenkunde und anderen esoterischen Berechnungstechniken. Sie gab mir den Glauben zurück. Sie war hinreißend, als sie mir mit Pathos in der Stimme erklärte, dass die Quersumme des Tagesdatums etwas für blutige Amateure sei und man vielmehr bestimmte entscheidende Schlüsselwörter und persönliche Schicksalsdaten, wie das Geburtsdatum, zahlenmagisch umsetzen müsse. Ihrer geschätzten Meinung nach war ich am Tag meiner Demütigung aus purer Unwissenheit und falsch berechneter Selbstsicherheit in ein kosmologisch bedingtes Störfeld hineingeschliddert, das ich bei genauer Berechnung hätte vermeiden können. Und damit war die Sache für sie erledigt. Ich liebte sie dafür.
Kein Wunder, dass ich mich ihrer annahm, als sie Kummer hatte. Zufällig belauschte ich an einem lausig kalten Tag ihre Unterhaltung mit einem ausgezehrten Geschöpf, das in der Küche für die Ausgabe des Obstes zuständig war. Susi hatte Probleme mit ihrem Mann. Er hinterging sie. Er machte sie traurig und sie vernachlässigte den Krautsalat.
Genügend Gründe für mich einzugreifen. Es war ein erhebender Moment. Ich war auf dem Weg ein Altruist zu werden. „Altruist“ war besser als „Menschenfreund“. Es war ein mächtiger, fast in Vergessenheit geratener Ausdruck aus dem Lateinischen. Er war geeignet für die Zahlenmagie. „Altruist“ ist zwei, und zwei kann ein großes Arschloch sein.
Sie werden es sehen.