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1.2 Die Entrechtung der Juden Deutschlands 1938–1941

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Die Novemberpogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sowie die in den Tagen darauf einsetzende Verhaftungswelle von über 30 000 Juden, die in Konzentrationslager wie Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt wurden, markieren einen deutlichen Einschnitt und den Beginn der zweiten Phase des nationalsozialistischen Staatsantisemitismus. Im Zeitraum zwischen November 1938 und dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 sahen sich die deutschen Juden neben der Beraubung ihrer Rechte einer unmittelbaren physischen Gefährdung ausgesetzt, die zwar noch nicht den Charakter eines geplanten Genozids besaß, gleichwohl diesen bereits erahnen ließ. Die verschärfte Gefahrenlage erkannten viele Juden, sodass die Flüchtlingszahlen in den Wochen und Monaten nach den Pogromen sprunghaft anstiegen. Viele versuchten jetzt nur noch, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Angesichts der restriktiven Aufnahmepolitik vieler Länder erwies sich das Unterfangen indes als äußerst schwierig. Es begann das Ringen um Visa, Affidavits und Schiffspassagen, um die Aktivierung von Bekannten oder Verwandten im Ausland, die bereit waren zu bürgen, sowie um das Auftreiben benötigter Gelder angesichts der wachsenden finanziellen Verelendung der deutschen Juden. In den Jahren zwischen 1933 und 1939 verließen über 250 000 Juden das Deutsche Reich. Nach den Novemberpogromen erreichte die Massenflucht mit ca. 80 000 Juden ihren Höhepunkt.

Die Novemberpogrome offenbarten, dass sich die nationalsozialistische Judenpolitik in Richtung einer Existenzbedrohung genozidalen Ausmaßes wandelte. In der Reichspogromnacht sowie in den Tagen darauf wurden bis zu 1500 Juden ermordet oder starben an den Folgen der Übergriffe sowie der KZ-Haft. Im November verschärften die Nazis gleichfalls ihre Maßnahmen zur Beraubung der Juden. Am 12. November 1938 unterzeichnete Hermann Göring die Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit, die den Juden eine Kontributionszahlung von einer Milliarde Reichsmark (»Judenvermögensabgabe«) auferlegte. Der groß angelegte staatliche Diebstahl jüdischer Vermögen wurde begleitet von einer Beschlagnahmung der Versicherungsansprüche der Schäden, die jüdische Geschäfte wie Privatwohnungen durch die Novemberpogrome erlitten. Als weitere Maßnahme wurde am 12. November 1938 die Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben verabschiedet, die Juden u. a. das Führen von Einzelhandelsgeschäften sowie von Handwerksbetrieben ab dem 1. Januar 1939 untersagte. Diverse weitere Verordnungen, wie die vom 21. Februar 1939, welche den Juden die Ablieferung von Schmuck, Gegenständen aus Gold, Silber, Platin und Perlen auferlegte, erschwerten die ökonomische Lage der Juden zusehends, zumal angesichts des Tatbestands, dass eine berufliche Existenz für Juden ohnehin immer schwieriger geworden war.

Die soziale Isolation der Juden wurde vor Kriegsbeginn durch weitere Anordnungen verschärft, wie u. a. durch die Verordnung, dass jüdische Kinder keine öffentlichen Schulen mehr besuchen durften (15.11.1938) oder im April 1939 durch das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden, das den Kündigungsschutz für Juden aushebelte, die nunmehr auch in wohnungspolitischer Hinsicht von der nichtjüdischen Bevölkerung getrennt wurden.

Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 war der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Verordnung »Juden dürfen nach 8 Uhr abends (im Sommer 9 Uhr) ihre Wohnungen nicht mehr verlassen« vom selben Tag spiegelt bereits den »Polenfeldzug«. Den Überfall auf Polen nutzten die Nazis dazu, Juden überlebenswichtige Informationen vorzuenthalten sowie Kommunikationswege mit der nichtjüdischen Bevölkerung einzuschränken. Per Verordnung vom 23. September 1939 mussten Juden ihre Rundfunkgeräte abliefern. Einige Monate später kündigte die deutsche Post per Erlass vom 29. Juli 1940 den Juden ihre Telefonanschlüsse.

Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 ging mit der völligen Entrechtung der deutschen Juden einher. Es war folglich kein Zufall, dass nur wenige Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion die Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden festlegte, dass ab September 1941 alle Juden, die nach den »Nürnberger Gesetzen« als solche galten, vom vollendeten sechsten Lebensjahr an, einen »Judenstern« sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks in Nähe des Herzens fest aufgenäht zu tragen hatten. Inge Deutschkron berichtet:

»Es war der 19. September 1941, der erste Tag, an dem wir dazu gezwungen waren. Am Abend zuvor hatte ich diesen gelben Lappen wie vorgeschrieben an der linken Brust in Herzhöhe fest an den Mantel genäht. Die jüdischen Wohlfahrtsämter hatten jedem Juden vier solcher Sterne gegen ein Entgelt abgeben müssen. (…) Wie auch andere Juden hatte ich gelegentlich sehr erfreuliche Erlebnisse. Ich erinnere mich, wie Unbekannte in der Untergrundbahn oder auf der Straße, meist im dichten Gewühl der Großstadt, ganz nahe an mich herantraten und mir etwas in die Manteltasche steckten, während sie in eine andere Richtung schauten. Manchmal war es ein Apfel, ein anderes Mal Fleischmarken, Dinge, die Juden offiziell nicht erhielten. Dennoch, der ›Judenstern‹ schuf eine diskriminierende Isolation. Ich hatte das Gefühl, eine Maske vor dem Gesicht zu tragen. Es gab Menschen, die mich mit Hass ansahen; es gab andere, deren Blicke Sympathie verrieten, und wieder andere schauten spontan weg.« (Deutschkron: o.J.: 85/87)

Am 18. Oktober untersagte ein Erlass Heinrich Himmlers (1900–1945) den Juden die Auswanderung mit Wirkung vom 23. Oktober. Zum Zeitpunkt des »Himmler-Erlasses« lebten noch ca. 150 000 Juden im sogenannten »Altreich«. Der Krieg mit der Sowjetunion führte zu einer neuerlichen Welle antijüdischer Verordnungen, die nahezu alle Lebensbereiche umfassten. Exemplarisch seien an dieser Stelle aufgeführt: »Juden sollen keine Seife und Rasierseife mehr erhalten (26.6.1941)«, »Juden dürfen allgemeine Leihbüchereien nicht benutzen (2.8.1941)«, »Juden dürfen keine Zeitungen und Zeitschriften mehr kaufen (17.2.1942)«, »Kennzeichnungszwang für Wohnungen jüdischer Familien durch den Judenstern (26.3.1942)«, »Juden erhalten keine Zigaretten oder Zigarren mehr (11.6.1942)«, »Juden müssen ihre elektrischen und optischen Geräte, Fahrräder, Schreibmaschinen und Schallplatten abliefern (12.6.1942)«, »Juden dürfen keine Bücher mehr kaufen (9.10.1942)«. Am 26. Juni 1942 schreibt Victor Klemperer (1881–1960) in sein Tagebuch:

»Bisher durften Juden im Arbeitseinsatz [gemeint sind die zur Zwangsarbeit verpflichteten Juden, d. Verf.] ihre Fahrräder behalten. Neueste Verordnung: Fahrräder sind nur zu behalten, wenn der Arbeiter einen längeren Weg als 7 km hat. Gleichzeitig: Wer noch die Tram benutzen darf (Arbeiter jenseits der 7 km-Grenze), darf nicht mehr Zwölferkarten oder Umsteigehefte lösen, sondern nur noch die teuren Einzelbillette.« (Klemperer 1995: 145)

Insgesamt erließ das Nazi-Regime ca. 2000 antijüdische Gesetze und Ergänzungsverordnungen. Die Flut der Erlasse endete mit der 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom Juli 1943, welche die Juden als Rechtlose dem direkten Zugriff der SS unterstellte.

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