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1.4 Die Ermordung der Juden Österreichs
ОглавлениеDie Zerschlagung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn führte im Jahr 1918 zur Bildung der eigenständigen Republik Österreich. Im Jahr 1937 belief sich die Bevölkerung auf 6 725 000 Einwohner. Zum Zeitpunkt des Einmarsches der deutschen Truppen im März 1938 lebten 206 000 Personen in Österreich, die auf Basis der »Nürnberger Gesetze« als Juden galten. Rechtlich gleichgestellt waren die Juden seit 1867. Das Zentrum der jüdischen Kultur bildete die Hauptstadt Wien, die nach 1918 hohe Zuwachsraten jüdischer Migranten zu verzeichnen hatte, die sich zumeist der deutschsprachigen Kultur verbunden fühlten und aus vormaligen Gebieten der Doppelmonarchie zuwanderten. Aufgrund blutiger Pogrome kamen bereits während des Ersten Weltkriegs zahlreiche galizische Flüchtlinge nach Wien. Der Antisemitismus war in Österreich spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu allgegenwärtig und fand seine Resonanz in den Wahlerfolgen der antisemitischen Christlichsozialen Partei, deren Führer Karl Lueger (1844–1910) Karriere als Bürgermeister Wiens machte. In den 1920ern gewannen in Österreich klerikal-faschistoide sowie nationalsozialistische Kräfte an Boden, für die Hitler bereits vor 1933 zum Idol avancierte. Am 13. März 1938 wurde der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verkündet. Unmittelbar danach kam es zu antisemitischen Übergriffen österreichischer Nationalsozialisten, die Juden demütigten und diese zwangen öffentliche Gehwege und Plätze zu reinigen. In den ersten Wochen nach dem Anschluss Österreichs flohen Tausende Juden in die Schweiz sowie nach Italien.
Bereits wenige Tage nach der Proklamation des Anschlusses verschärfte sich der Terror. Büros der jüdischen Gemeinde sowie jüdischer Organisationen mussten schließen, zahlreiche jüdische Persönlichkeiten, Gemeindeführer und Aktivisten wurden verhaftet und in den Monaten April und Mai nach Dachau verschleppt. Die Gestapo plünderte jüdische Wohnungen und beschlagnahmte Kunst- und Wertgegenstände. Am 26. März 1938 folgte die Entlassung jüdischer Professoren und Lehrer. Noch im selben Monat wurden alle Juden aus der Armee entlassen. Die kollektive Beraubung der Juden erreichte einen ersten Höhepunkt durch die Auferlegung einer Kontribution in Höhe von 500 000 Reichsmark. In nur wenigen Wochen nach dem Anschluss sahen sich die österreichischen Juden mit antisemitischen Maßnahmen und Aktionen konfrontiert, die in Deutschland zwischen 1933 und dem Frühjahr 1938 erfolgten. Noch im März 1938 wurden die »wilden Plünderungen« von einer staatlicherseits organisierten »Arisierungswelle« abgelöst. Da sich Juden auch im privatwirtschaftlichen Sektor Entlassungen größeren Ausmaßes ausgesetzt sahen, standen sie innerhalb kürzester Zeit unter hohem ökonomischen Druck.
Über das auch in Österreich eingeführte Kinoverbot für Juden berichtet die im Jahr 1931 in Wien geborene Ruth Klüger (1931–2020), die als Kind nach Theresienstadt sowie nach Auschwitz verschleppt wurde, und als Achtjährige so gerne »Schneewittchen« von Walt Disney sehen wollte:
»Als es im Saal hell wurde, wollte ich die anderen vorgehen lassen, aber meine Feindin stand und wartete. Ihre kleinen Geschwister wurden ungeduldig, die Große sagte ›Nein, seid’s stad‹, und sah mich streng an. Die Falle war, wie gefürchtet, zugeschnappt. Es war der reine Terror. Die Bäckerstochter zog noch ihre Handschuhe an, pflanzte sich endlich vor mir auf, und das Ungewitter entlud sich. Sie redete fest und selbstgerecht, im Vollgefühl ihrer arischen Herkunft, wie es sich für ein BDM-Mädel schickte, und noch dazu in ihrem feinsten Hochdeutsch: ›Weißt du, dass deinesgleichen hier nichts zu suchen hat? Juden ist der Eintritt ins Kino gesetzlich untersagt. Draußen steht’s beim Eingang an der Kasse. Hast du das gesehen?‹« (Klüger 1992: 57)
In Wien und anderswo kam die Aneignung jüdischer Vermögen einem »Beutezug« großer Teile der nichtjüdischen Bevölkerung gleich, deren aufgestauter Neid und Hass sich nunmehr entluden. Neben der Verteilung der Beute an die neuen »Volksgenossen« sollte die gezielte Beraubung gleichfalls den Zwang auf Juden zur Auswanderung erhöhen, die organisatorisch unter der Kontrolle von Adolf Eichmann (1906–1962) stand. Die Zentralstelle für Jüdische Auswanderung in Wien wurde im August 1938 eröffnet. Während deutsche Juden, die unmittelbar nach 1933 auswanderten, noch einen Teil ihrer Habe retten konnten, wurden die österreichischen Juden im Jahr 1938 bereits vollständig um ihr Vermögen gebracht. Wenige Monate nach dem Anschluss führten die Novemberpogrome auch in Österreich zur Zerstörung von Synagogen sowie zur Verhaftung zahlreicher Juden und ihrer Internierung in Konzentrationslagern. In Wien blieb von den größeren Synagogen lediglich die Hauptsynagoge in der Seitenstettengasse wegen der Brandgefahr der umliegenden Gebäude erhalten. Die Konzentrationslagerhaft diente häufig einer neuerlichen Beraubung sowie einer Verstärkung des Drucks auf die Auswanderung. Zahlreiche jüdische Gemeinden lösten sich bereits Ende des Jahres 1938 aus finanziellen Gründen auf.
Von den 206 000 Juden im März 1938 wanderten 126 445 Juden noch vor Kriegsbeginn aus. Bevor den Juden die Auswanderung am 10. November 1941 vollständig verboten wurde, kamen noch weitere 2000 hinzu. Nicht allen Ausgewanderten boten ihre neuen Länder eine sichere Zuflucht, so gelangten im Verlauf des Krieges 15 000 Juden Österreichs erneut unter die deutsche Herrschaft. Bereits Anfang 1939 wurden 1048 staatenlose Juden, polnische Juden sowie kranke oder behinderte Juden nach Buchenwald verschleppt und dort umgebracht. Im Oktober 1939 wurden im Rahmen des sogenannten Nisko-Plans 1584 jüdische Männer nach Polen deportiert. Im Frühjahr 1941 verschleppten Massentransporte österreichische Juden nach Lublin. Der systematische Massenmord an den österreichischen Juden begann als im Oktober 1941 ca. 5000 Juden in das Ghetto Litzmannstadt (Łódź) des Generalgouvernements deportiert wurden. Von den Verschleppten waren bereits ein Jahr später nur noch 600 Menschen am Leben. Es folgten Deportationen nach Riga und Minsk, wo die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD mordeten. Bis Oktober 1942 fanden weitere Deportationen in die Vernichtungslager des Generalgouvernements statt. Ende 1942 lebten von den 206 000 Juden des Jahres 1938 nur noch 8102 Juden in Österreich, darunter zumeist Personen in sogenannten »Mischehen«. Von den ehemals 206 000 österreichischen Juden wurden ca. 65 000 ermordet, was einer Prozentzahl von über 30 % entspricht. Im April 1945 lebten 1000 bis 2000 Juden in Wien, im Jahr 1934 waren es einst 176 000.