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2. Kapitel

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Kurz darauf wandte sich der Kommissar an die alte Dame, die im Beisein Max Katers geduldig ausgeharrt hatte.

»Sie sind also Frau Eichhorn. Ich bin Kriminalkommissar Adam Zweifel.«

»Ein sehr passender Name«, sagte Frau Eichhorn nicht im Mindesten beeindruckt.

»Wen haben Sie denn nun wann gefunden? Erzählen Sie mal.« Der Junge neben ihr auf der Bank schien bei diesen Worten noch mehr in sich zusammenzusinken. Sie schaute den Kommissar mit ihren hellblauen Augen offen an.

»Ich ging im Walde so für mich hin … ach nein – das ist aus einer anderen Geschichte.« Sie kicherte leise und zwinkerte ihm zu. »Entschuldigung, Herr Zweifel, ich bin nicht mit allem einverstanden, was ich sage, müssen sie wissen.« »Na prima«, dachte Melzick bei sich, »noch eine Spinnerin.« Sie betrachtete sie etwas genauer: dunkelblaue Seidenbluse, strahlend weiße Hose, gelber Seidenschal, es sah alles sehr teuer aus. Silbergraues langes Haar, zu zwei Zöpfen geflochten, gebräuntes Gesicht mit erstaunlich wenigen Falten, flinke Augen, ein auffallender Pigmentfleck auf der rechten Schläfe. Alles in allem eine sehr eigenwillige Person mit viel Gold an den alten Fingern.

»Also ich war auf meinem Morgenspaziergang«, fuhr sie fort. »Genau genommen mache ich den nur jeden zweiten Morgen. Ich muss mir meine Kräfte einteilen.« Unwillkürlich warf Zweifel einen Blick auf den Rollator, der neben der Bank parkte.

»Wie üblich kam ich an dem Ententeich vorbei, dessen Ufer im Übrigen gerade von einem Biber neugestaltet wird. Zumindest will uns das ein Schild weismachen, welches die Kurverwaltung schon vor einem Jahr dort aufgestellt hat. Na – soll mir recht sein.« Sie hob kurz die Schultern und versank dann in Schweigen. Zweifel wartete. Er musterte den Jungen neben ihr, der einen jämmerlichen Anblick bot. Dann schaute er auffordernd zu seiner Assistentin hinüber.

»Das war jetzt aber noch nicht alles, oder?«, warf Melzick ein. Die Alte zuckte zusammen, als ob sie erst jetzt ihre Anwesenheit bemerkt hätte. Sie hüstelte etwas verlegen.

»Natürlich nicht, junge Dame«, überspielte sie den Moment. »Ich blieb für einen Moment stehen, warf einen Blick in die Runde und überlegte, bei wem ich mein Mittagessen einnehmen sollte. Sie müssen wissen, ich habe einen großen Bekanntenkreis und möchte niemanden benachteiligen.« Melzick zog die Augenbrauen hoch und schüttelte leicht verwundert den Kopf.

»Was meinen Sie damit?« Die alte Dame bedachte sie mit einem prüfenden Blick. Die hennaroten Dreadlocks, welche Melzicks Kopf zierten, fielen ihr erst jetzt auf.

»Nun, ich möchte reihum jedem meiner Freunde und Freundinnen das Vergnügen meiner Anwesenheit während der wichtigsten Mahlzeit des Tages bescheren. Wie klingt das in Ihren Ohren?«

»Ziemlich raffinierte Methode, um sich durchzufuttern.«

»Oh, Sie lieben klare Worte. Ich glaube, das gefällt mir.« Kommissar Zweifel lauschte geduldig diesem Dialog, dann räusperte er sich.

»Das Frühstück«, sagte er. Frau Eichhorn zuckte erneut zusammen.

»Was meinen Sie, Herr Kommissar?«

»Nun ja, je eher Sie uns alles erzählt haben, desto schneller kommen Sie zu ihrem Frühstück.«

»Ach ja – das Frühstück.« Sie betrachtete den Kommissar nachdenklich von oben bis unten. »Sie haben nicht zufällig etwas …« Zweifel hob abwehrend die Hände.

»Also gut, dann eben in aller Kürze. Ich ging an der großen Wiese vorbei, dort wo die höchsten Bäume im Park stehen. Und da sah ich ihn im Schatten liegen.« Mit diesen Worten versetzte sie dem Jungen, der mit geschlossenen Augen neben ihr kauerte, einen sanften Rippenstoß. Er kippte sofort zur Seite. Melzick sprang gerade noch rechtzeitig zu ihm hin und stützte ihn. Er öffnete die Augen und schaute verständnislos jeden der Reihe nach an. »War ein ziemlicher Schock für mich, Herr Kommissar, das können Sie mir glauben«, sagte die Alte und zupfte an den Ärmeln ihrer dunkelblauen Seidenbluse. »Vor allem, weil neben dran noch etwas lag. Ich blieb stehen wie angewurzelt. Ja – und dann bewegte er sich und …«, der Junge ließ ein Stöhnen hören. Melzick hatte ihn wieder gerade hingesetzt und hielt ihn mit einer Hand an der Schulter fest. »Und ich sah den anderen dort liegen«, sagte Eichhorn und nickte langsam.

»Haben Sie ihn erkannt«, fragte Zweifel. Sie richtete sich gerade auf.

»Ich kenne weder den Toten«, Pause, Seitenblick auf Ferdinand Alba zu ihrer Linken, »noch den Scheintoten hier.« Noch bevor der Kommissar etwas darauf erwidern konnte, war lautes Rufen aus der Richtung des Ententeichs zu vernehmen. Gleich darauf sahen sie eine ganz in schwarz gekleidete, große, hagere Frauengestalt mit wehenden graublonden Haaren quer über die Wiese laufen, wobei sie heftig mit beiden Armen winkte.

»Anna«, war zu hören, »Anna, Anna!«

»Da kommt mein Frühstück«, sagte Anna Eichhorn und nickte, als sei sie sehr einverstanden mit dieser Unterbrechung. Kurz darauf war die Ruferin bei ihnen angelangt. Auf den letzten Metern hatte sie merklich ihre Schritte verlangsamt und blickte nun misstrauisch und schwer atmend auf die Personen, die, womöglich in böser Absicht, ihre Freundin umzingelten.

»Hier bist du also«, stieß sie hervor. »Was sind das für Leute? Warum bist du nicht gekommen? Brauchst du Hilfe?« Bei der letzten Frage schaute sie den Kommissar feindselig an. Dies war Serafina Moor pur. Max Kater, der junge Mann vom Wachdienst, der sich bisher dezent im Hintergrund gehalten hatte, versuchte, sich mit wenigen Schritten noch etwas weiter zu entfernen, als ihr Habichtblick auf ihn fiel.

»Kater«, bellte sie, »was ist hier vorgefallen?« Der Angesprochene zuckte leicht zusammen und blieb stehen. Kommissar Zweifel verlor etwas an Geduld. Er zückte seine Marke und hielt sie kurz in die Luft.

»Adam Zweifel, Kriminalpolizei. Sie heißen?« Es folgte ein kurzer Blickkontakt zwischen den zwei Damen. Dann fixierte Serafina Moor den Kommissar.

»Darf ich Ihre Marke noch einmal etwas genauer sehen?« Melzick schüttelte leicht verwundert den Kopf, ohne dabei die Hand von der Schulter des Jungen zu nehmen, der regungslos und mit geschlossenen Augen der Dinge harrte. Zweifel griff nochmals, allerdings betont langsam, in die Innentasche seines Jacketts.

»Also, bevor das hier eskaliert, Serafina, lass es gut sein. Das ist wirklich ein echter Kommissar, ohne Zweifel«, sagte Anna Eichhorn. »Wir sind hier sowieso fertig, denn ich habe alles gesagt, was ich zu sagen hatte.« Serafina Moor hob eine Augenbraue.

»Worüber?«

»Später.«

»Ganz wie du meinst«, schnaubte ihre Freundin. Und, gegen den Kommissar gewandt: »Mein Name ist Moor, Serafina Moor.« Dies wurde mit geschlossenen Augen in einem herablassenden Ton hingeworfen. Zweifel ignorierte sie fürs erste, ebenso die letzte Behauptung Anna Eichhorns.

»Frau Eichhorn, ist Ihnen bevor, oder nachdem Sie die beiden dort liegen sahen, etwas Bemerkenswertes aufgefallen?«

»Es war ja zu erwarten, dass Sie danach fragen. Mir ist tatsächlich etwas aufgefallen. Kurz nachdem ich im Park angekommen war, am nördlichen Ende, dort wo das Labyrinth ist, Sie wissen schon, der Barfußpfad, die Leute laufen da im Kreis mit bloßen Füßen über alles Mögliche, schreien ab und zu vor Schmerz und finden es ganz toll.«

»Und da war also jemand?«

»Nein – da war Stille, keine Menschenseele. Daher fiel mir auch das Geräusch auf.«

»Was für ein Geräusch?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es kam irgendwie von weit her. Als ob jemand ein riesiges Gebläse laufen ließe und doch irgendwie anders. Es war nur kurz zu hören und dann nicht mehr, aber ich habe keine Ahnung, von wo es kam.« Sie zuckte mit den Schultern und machte Anstalten, aufzustehen. Ihre Freundin Serafina stützte sie am Ellenbogen. Anna Eichhorn machte mit dem Kopf eine leichte Bewegung in Richtung des Kommissars.

»Und das ist wirklich alles, Herr Zweifel. Wenn Sie in den nächsten Tagen das Bedürfnis haben sollten, mit mir zu plaudern, so bin ich sicher, dass Sie mich finden werden. Ich gehe jetzt.« Sie schnappte sich mit Hilfe Serafina Moors ihren Rollator und setzte sich mit ihr zusammen in Bewegung, einen verdutzten Herrn Kater und einen schmunzelnden Kommissar zurücklassend. Ferdinand Alba unterdessen schlug plötzlich die Augen auf.

»Sie sind weg«, sagte er mit einer unerwartet kräftigen Stimme. Melzick, deren Hand sich an seine Schulter gewöhnt hatte, ließ ihn los. Kommissar Zweifel bedachte den aus seinem Scheintod Erwachten mit einem langen, nachdenklichen Blick aus seinen fast schwarzen Augen. Dann fasste er einen Entschluss.

»Melzick, ich schlage vor, Sie bringen Herrn Alba nach Hause.« Dabei nickte er ihr zweimal kurz zu. Sie arbeiteten lange genug zusammen. Melzick verstand sofort. Sie sollte den Jungen alleine befragen.

»Können Sie aufstehen?«, fragte sie ihn.

»Jetzt schon«, sagte er.

»Herr Kater, wenn Sie noch einen Moment Zeit hätten«, sagte Zweifel nach einem kurzen Blick auf dessen Namensschild. »Wir treffen uns nachher in meinem Büro, Melzick.« Sie hob die Hand.

»Ay Käpt’n.« Zweifel wartete bis die beiden sich entfernt hatten. Dann drehte er sich zu Kater um.

»Schon lange dabei?« Kater zuckte die Schultern.

»Ich hab’ vor acht Monaten angefangen.«

»So so, gerade mal acht Monate. Aber Sie sind doch von hier? Ich meine, Sie kennen den Ort?« Kater schaute den Kommissar fragend an und nickte dann. »Sie kennen die Gerüchte, Sie wissen, wer mit wem, Sie haben Einblick in die Keller, wo die Leichen liegen …« Kater grinste und nickte abermals. »Hm, Hm.« Zweifel strich mit der flachen Hand über seinen kahlen Schädel, während er sich umblickte. Dann legte er dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Ich möchte, dass Sie mir einen Gefallen tun, Kater. Dieser Fall, wenn es denn einer ist, hat gerade erst begonnen. Es ist gut möglich, dass Sie mir später behilflich sein können, sozusagen als vorgeschobener Horchposten. Wollen Sie das tun?« Kater machte ein ernstes Gesicht und nickte nach kurzem Zögern. »Diese Frau Moor scheint Sie ja zu kennen.«

»Sie wohnt am Stadtrand in der alten Villa Fontenay. Hässlicher Kasten, wenn Sie mich fragen, aber ein wunderbarer Park drum herum. Ich war da mal Gärtner, aushilfsweise. Sie kommandiert gerne herum. Und sie hat ein gutes Namensgedächtnis. Leider.«

»Ist sie schon lange in Bad Wörishofen?«

»So zwei Jahre ungefähr.«

»Und woher kam sie?«

»Aus dem Norden. Sylt, soviel ich weiß. Prominentenviertel. Ihr verstorbener Mann hatte dort in Kampen ein riesiges Anwesen.« Zweifel schaute ihn anerkennend an.

»Sie sind wirklich gut informiert.« Sie tauschten ihre Mobilfunknummern aus, dann streckte er dem jungen Mann die Hand hin. »Auf gute Zusammenarbeit.«

Melzick und Ferdinand Alba liefen schweigend nebeneinander her. Er hatte die Hände in den Taschen seiner viel zu weiten Jeans vergraben. Die Sonne war nun höher gestiegen und hatte den blassen Dunst, der stellenweise über dem Kurpark gelegen hatte, vertrieben. Es waren nur wenige Menschen unterwegs. Erst am frühen Nachmittag würde es hier wimmeln, von Tagesausflüglern, alten Kurgästen und jungen Familien mit quäkenden Kindern. Melzick genoss die Ruhe und das langsame Gehen neben diesem merkwürdigen Außerirdischen. Am Ausgang des Parks lenkte er zielstrebig seine Schritte Richtung Norden, wo der Weg zwischen weiträumigen Wiesen hin zum Waldrand führte, wie sie verdutzt bemerkte.

»Sie wohnen doch nicht etwa im Wald?«, entfuhr es ihr. Er antwortete nicht, schob stattdessen, wie zum Trotz, die Hände noch tiefer in die Hosentaschen. »Ich bin bewaffnet«, sagte sie. Er drehte seinen Kopf kurz in ihre Richtung.

»Ich nicht«, war seine Antwort. »Und außerdem bin ich ziemlich bescheuert«, dachte Melzick. Bevor sie die Sache wieder ausbügeln konnte, blieb er plötzlich stehen.

»Haben Sie schon mal auf einen Menschen geschossen?« Sie antwortete nicht sofort, sondern schaute zum Waldrand hin, der in der Ferne vor ihnen lag. Ein schmaler Streifen Dunkelheit unter dem strahlenden Morgenlicht. Ein kleiner Rest der Nacht hatte sich dort unter einer dünnen Decke verkrochen.

»Hab’ ich.«

»Und?«

»Hab’ ihn getroffen.«

»Wo?«

»Wo ich wollte, am rechten Bein.« Sie schaute ihn an. »Können wir weitergehen?« Alba folgte ihr, sichtlich beeindruckt. Während sie schweigend den Weg fortsetzten, dachte sie an den Mann. Dachte an seine Beine, die vor ihr weggerannt waren, die in einer schäbigen Jogginghose gesteckt hatten, die sie ins Visier genommen hatte, bis er sich nach ihr umdrehte, atemlos, schon sehr weit weg. Und wie sie dann geschossen hatte, mit ruhiger Hand. Sie war die Beste gewesen in ihrem Ausbildungsjahrgang. Mit Abstand. Ein Talent, für das sie keine Erklärung hatte. Als sie den Mann getroffen hatte, schrie er auf, griff mit beiden Händen an sein verwundetes Bein, machte noch zwei, drei Schritte, kam ins Stolpern und stürzte. Sie war unfähig gewesen, sich ihm zu nähern. Sie hatte die Waffe weggesteckt und war einfach stehen geblieben wo sie war, bis die anderen kamen. Dieser Mann hatte kurz zuvor in der Innenstadt wahllos um sich geschossen: Ein Amoklauf. Es war ihr erster Einsatz gewesen. Seither hatte sie nie wieder geschossen, und wenn es nach ihr ging, würde sie es auch nie wieder tun. Mit einer unwilligen Kopfbewegung verscheuchte sie den Gedanken daran. Ihr kam in den Sinn, weshalb sie hier mit Alba durch die Gegend lief.

»Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte sie ihn.

»Achtundzwanzig. Was passiert jetzt mit dem Professor?«

»Er kommt in die Gerichtsmedizin. Wir wollen aus dem ungeklärten Todesfall einen aufgeklärten Todesfall machen.« Er nickte. Sie waren nun am Wald angelangt und folgten einem schmalen, kurvigen Weg. Struppiges Unterholz zu beiden Seiten. Hohes Gras. Brennnesseln, Brombeerbüsche, lange Schatten.

»Er hat mir sehr geholfen. Es hat …«, er stockte und holte tief Luft. Sie waren wieder stehengeblieben. Er rang um Atem. Sie schaute ihn fragend an, hob die Hand. Er wehrte sie ab. »Geht schon wieder. Wir sind gleich da.«

»Waren Sie befreundet?« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie kannten ihn schon länger.«

»Seit ein paar Jahren.

»Wie haben Sie …«, doch Melzick konnte ihre Frage nicht zu Ende formulieren. Sie starrte auf einen Punkt, etwas entfernt und in rund fünfzehn Metern Höhe. »Was ist denn das?«

»Wir sind da«, sagte er.

»Ist das denn erlaubt?«, fragte sie, den Kopf im Nacken.

»Typisch deutsche Frage«, sagte Alba und ergriff mit einer Hand eine Strickleiter. »Denjenigen, auf den es ankommt, habe ich gefragt.«

»Und wer ist das?« Er klopfte mit der anderen Hand auf den silbrig schimmernden mächtigen Stamm einer 250-jährigen Buche. Dann begann er, vorsichtig zu klettern.

»Achten Sie auf die sechste und die siebte Sprosse«, rief er ihr über die Schulter zu.

»Warum?«, rief sie zurück.

»Die sind präpariert. Ich mag keine ungebetenen Besucher.« Melzick schaute sich um, spähte zwischen den hohen, mächtigen Buchen, die sich an diesem Ort versammelt hatten, umher. Stille im Wald, von Bienen eingefangen. Sie schaute nach oben. Alba war schon verschwunden. Sie seufzte. Dann kletterte sie ihm nach in sein Baumhaus.

Mord aus heiterem Himmel

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