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5. Kapitel
ОглавлениеAls sie weg war ging Zweifel hinüber zur Bürovorsteherin Frau Lucy.
»Alles gut?«, fragte er gut gelaunt, wie er es meistens war zu Beginn eines Falles. Frau Lucy schaute ihn über ihre schmale Lesebrille hinweg an, lehnte sich in ihrem Kingsize-Bürostuhl zurück, verschränkte die massigen Arme über ihrem gewaltigen Busen und reckte ihre zwei bis drei Kinne stolz nach oben.
»Seit dem Urknall nimmt die Unordnung im Universum in jeder Sekunde zu, das wissen Sie sicher, Herr Kommissar. Dieses Büro ist der Beweis dafür.«
»Das nennt man Entropie«, gab Zweifel zurück.
»Von mir aus. Jedenfalls – Sisyphos würde Herkules zu Hilfe rufen, hätte er meine Arbeit zu bewältigen«, schnaufte sie zufrieden.
»Wusste gar nicht, dass Sie sich mit der griechischen Mythologie auskennen.«
»Ach Gott ja, die Griechen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Das ist ja überhaupt der größte Mythos, dass die was mit der Arbeit am Hut haben.«
»Vorsicht, Lucy.« Zweifel nannte sie von jeher so, auch wenn er nicht wusste, ob das ihr Vor- oder Nachname war. Genau genommen wusste dies keiner im ganzen Kommissariat. »Wir wollen doch Zeus nicht erzürnen.«
»Apropos Zeus, Herr Kommissar, kennen Sie schon den neuen griechischen Imbiss in der Fußgängerzone gleich neben dem Café Habsburg? Sollten Sie mal ausprobieren. Die Dolmades mit Oliven in Knoblauch sind einfach göttlich.«
»Glaube ich Ihnen aufs Wort, Lucy. Danke für den Tipp. Könnten Sie mich vorher noch kurz mit diesem Dr. Wollmaus verbinden?«
»Schon wieder Arbeit!« Sie kicherte und griff in ihre rechte Schublade, wo stets ein ausreichender Vorrat an Nussschokolade lagerte – ausreichend für eine ganze Grundschulklasse. Sie brach ein ordentliches Stück ab.
»Muff daff gleif fein«, fragte sie der Ordnung halber.
»Sobald Sie runtergeschluckt haben«, versetzte Zweifel und ging wieder in sein Büro zurück. Was würde er wohl ohne sie anfangen. Einige Minuten später klingelte sein Telefon.
»Den Doktor kann ich gerade nicht erreichen«, sagte Frau Lucy mit einem tadelnden Unterton. Zweifel war nicht ganz klar, ob sie ihn wegen des Auftrags, oder Dr. Wollmaus wegen seiner Nichterreichbarkeit tadelte. In Wahrheit wollte sie gelobt werden, wie Zweifel wusste.
»Trotzdem besten Dank für Ihre Mühe und die schnelle Antwort.« Sie ließ ein abschließendes Schnaufen hören und legte auf. »Da ist wohl gleich noch ein Stück Schokolade fällig«, vermutete Zweifel und steckte sein prähistorisches Notfallhandy ein, mit dem man tatsächlich nur telefonieren konnte (nicht einmal die Uhrzeit zeigte es an). Es stammte noch aus der Zeit, als Manfred Krug Werbung für die Telekom machte. Er verließ sein Büro. Im Vorbeigehen nickte er Frau Lucy zu, die auf beiden Backen kaute.
»Ich versuch mal den Griechen«, meinte er.
»Laffen Fie eff fiff fmecken«, rief sie ihm hinterher. Er hatte schon fast das Polizeirevier verlassen, als er noch einmal umdrehte. Frau Lucy verschluckte sich fast vor Schreck, als er plötzlich wieder vor ihrem Tresen stand. Sie kaute zwar immer noch, war aber gerade dabei, eine frische Tafel aufzureißen. Zweifel sparte sich einen Kommentar und diktierte der ertappten Perle des Büros einen weiteren Auftrag.
»Lucy, sorry, ich hab’ doch noch etwas für Sie. Setzen Sie doch bitte eine Anzeige in alle relevanten Zeitungen.« Sie ließ die Schokotafel fallen und schnappte sich ihren Stenobleistift. »Wer hat am Montag, den 23.07. morgens ab …«, hier überlegte er kurz, »wann wird’s zurzeit gerade hell?« Sie zuckte mit den Achseln. »Halb fünf?« »Also gut, morgens ab halb fünf einen Heißluftballon über Bad Wörishofen und Umgebung beobachtet. Egal, ob in der Luft, oder am Boden. Hinweise bitte unverzüglich an blablabla … okay?« Frau Lucy nickte. »Also dann bis dann.« Und weg war er. Als er das klimatisierte Gebäude verließ, traf ihn die Hitze des Sommertages mit voller Wucht. Nach wenigen Minuten hatte er die Fußgängerzone erreicht, die sich um die Mittagszeit zunehmend bevölkerte. Der griechische Imbiss lag ganz am anderen Ende. Er verlangsamte seine Schritte. Links und rechts eilte man an ihm vorbei. Gegenüber von einem Café standen einige freie Stühle im Schatten einer Kastanie. Er setzte sich, nahm seine Sonnenbrille ab und begann über Marie-Theres Mindelburg und ihren Butler nachzudenken, der womöglich noch etwas mehr war, als nur ihr Chauffeur. Der Kellner des Cafés hatte ihn erspäht und kam herüber. Er kannte ihn bereits.
»Ganz schön heiß heute, Herr Kommissar. Wie wär’s mit einem Weißbier, natürlich alkoholfrei?«
»Danke, Hubert, ich nehme lieber einen doppelten Espresso.«
»Kommt sofort.« Hubert verschwand im Innern des Cafés. Zweifels Augen schweiften über die Fassade der gegenüberliegenden Gebäude, über die Fenster und Blumenkästen, während er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Ein älteres Ehepaar, offensichtlich Kurgäste, setzte sich wortlos auf die benachbarten Stühle. Er versuchte, ihr Alter zu schätzen. Darin war er sehr gut. Bei Marie-Theres Mindelburg indes war er sich nicht ganz sicher, aber sie konnte nicht viel jünger als 80 sein. Sonderlich schockiert war sie nicht gewesen. Eine Frau, die sich zu beherrschen weiß. Und die weiß, wie man andere beherrscht. Das Eine war wohl die Voraussetzung für das Andere. »Nicht philosophisch werden«, mahnte er sich, als Hubert von gegenüber mit einem kleinen Tablett auf ihn zukam.
»Hier draußen dürfen wir eigentlich gar nichts servieren, Sie wissen schon, wegen der Konkurrenz. Aber bei Ihnen mach ich eine Ausnahme, die soll sich ruhig ein bisschen ärgern«, murmelte er mit einem Seitenblick auf das ältere Ehepaar. Die beiden waren offensichtlich eingenickt.
»Danke, Hubert. Ich bring das Tablett nachher vorbei«, sagte Zweifel und gab ihm einen Fünfeuroschein. Neben dem doppelten Espresso und einem Glas Quellwasser lagen ein paar von den hausgemachten Pralinen auf einer kleinen Serviette. »Nachtisch vor dem Mittagessen! Warum eigentlich nicht?«, dachte Zweifel. Er nippte an seiner Tasse und rief sich die Szene am Hauptbahnhof in Erinnerung, wovon er Melzick noch gar nicht berichtet hatte. Nachdem er ausgestiegen war, hatte er einfach etwas abseits gewartet. Willoughby hatte den Wagen gestartet und war bereits fast in die Arnulfstraße abgebogen, als Zweifel die roten Bremslichter der Limousine aufleuchten sah. Gleichzeitig beobachtete er, wie ein elegant gekleideter schwarzhaariger Managertyp, Mitte dreißig, sich mit raschen Schritten näherte, einen schmalen Aluminiumkoffer in der Hand. Er stieg ein und Willoughby bog um die Ecke. »Dieser Willoughby«, dachte Zweifel und schob sich eine Praline in den Mund. »Very british, mit seinen weißen Chauffeurhandschuhen und seinem tadellosen Benehmen. War das nicht reichlich exzentrisch, ein waschechter Butler im tiefsten Allgäu?« Zweifel kamen seine wachsamen Blicke im Rückspiegel in den Sinn, während ihrer Fahrt nach München. Da war irgendetwas verborgen hinter dieser perfekten Fassade. Vorläufig nicht zu greifen, doch Zweifel hatte eine Witterung aufgenommen. Es war gut, dass dies gleich zu Beginn seiner Ermittlungen passierte. Dieser Fall würde ohnehin schwierig werden. Ein Kunstprofessor wird aus einem Heißluftballon geworfen und landet im Kurpark von Bad Wörishofen. Er konnte sich ausmalen, was die Presse daraus machen würde. Mit all den Komplikationen, die sich daraus ergeben würden. Aus seiner Berliner Zeit war er derlei gewohnt und hatte einen Weg gefunden, damit umzugehen. Allerdings war dies ein harter Lernprozess gewesen. Irgendwann hatte er aus reinem Selbstschutz beschlossen, sich von niemandem mehr in seine Arbeit hineinreden zu lassen. Sämtliche von außen herangetragenen Appelle, Verhaltensmaßregeln, gut gemeinten Ratschläge und böse gemeinten Beurteilungen seiner Arbeitsweise, die Politiker, Presse, Vorgesetzte, Kollegen, oder Nachbarn ihm zuteilwerden ließen, perlten an ihm ab wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Er nahm sie hin, beachtete sie nicht weiter und verfolgte seinen eigenen Weg. Was er brauchte, war ein Gegenüber, das nicht auf den Kopf gefallen war und mit dem er sich austauschen konnte. Das hatte er in Berlin gehabt, bis zu jenem schwarzen Tag. Und das hatte er hier in Melzick gefunden. Er leerte seine Tasse, warf die letzte Praline ein und trug das Tablett zum Café hinüber. Hubert kassierte gerade drinnen einen Tisch ab, sah ihn durch die Scheibe und hob kurz die Hand. Zweifel setzte seine Sonnenbrille auf. Als er sich umdrehte wäre er beinahe mit einer jungen Frau zusammengestoßen, die gesenkten Kopfes eifrig auf ihr Smartphone eintippte und ihn ignorierte. Das weckte seinen Jagdinstinkt. Er schlenderte gemächlich Richtung Griechenimbiss und hatte schon bald eine andere Kandidatin entdeckt: Eine junge Mutter, die einen Kinderwagen vor sich herschob und ganz in ihr Smartphone vertieft war. Das Baby schrie in immer kürzeren Intervallen, was sie jedoch nicht zu kümmern schien. Zweifel folgte ihr und wartete ab – immerhin wollte er ihr eine Chance geben. Sie nutzte sie nicht. Sie hatte weder Auge noch Ohr für ihr Kind. Kurz entschlossen war er mit zwei schnellen Schritten neben ihr und schlug von unten gerade so stark gegen ihre Hände mit dem verflixten Gerät, dass es in hohem Bogen in einem Blumenbeet verschwand.
»Heh, sind Sie verrückt geworden, verdammt?!«, schrie sie und stürzte zu den Rosen.
»Ihr Baby hat eine ›CLM‹ für sie«, sagte Zweifel. Sie kniete bereits auf dem Boden und wühlte, vorsichtig die Dornen meidend zwischen den Blättern und im Rindenmulch.
»Was ist los?«, schrie sie ihn in unverminderter Lautstärke über die Schulter hinweg an. »Was soll das sein?« Ihr Baby hatte wohl die kräftige Stimme von ihr geerbt und stellte dies als Untermalung ihres Geschreis immer deutlicher unter Beweis. Einige Fußgänger waren mittlerweile stehen geblieben.
»Kennen Sie das nicht?«, fragte Zweifel die junge Frau seelenruhig. »CLM, nicht SMS. Gibt’s schon sehr lange. Crying Loud Message.« Damit drehte er sich um. Einige der Umstehenden lachten. Eine ältere Frau meinte: »Nun nehmen Sie doch endlich mal Ihr Kind raus!« Zweifel ging weiter ohne sich umzudrehen. Nach einiger Zeit verstummte das Babygeschrei. Die »CLM« war wohl angekommen. Auf dem Weg zu seinem Mittagessen konnte Zweifel noch ein weiteres Opfer attackieren – einen schmalbrüstigen jungen Mann in einem viel zu engen, blau glänzenden Polyesteranzug, der ihm frontal in den Weg lief. Zwei kleine weiße Kopfhörer in den Ohren, virtuelle Tomaten auf den Augen. Auch hier ein geübter Schlag von unten gegen die simsenden Hände, nicht zu stark, nicht zu schwach. Auch hier ein in die Höhe steigendes, in der Sonne funkelndes Smartphone auf einer elliptischen Bahn. Reaktionsschnell fing es jedoch der Displayjunkie mit einer Hand auf, stöpselte lässig die Kopfhörer wieder ein und setzte seine lebensnotwendige Tätigkeit unbeeindruckt fort. Zweifel sah es mit Staunen und Respekt, schob sich seinen kirschkerngroßen Ärger in die Backentasche und ließ es gut sein für heute. Wenig später stand er an einem kleinen runden Bistrotisch, vor sich einen Teller, gefüllt mit in Knoblauchöl getränkten, glänzend schwarzen, köstlichen Oliven, auf denen zwei bis drei Dolmades-Röllchen thronten. Nach zwei Gabeln klingelte sein Handy. Das konnte nur Melzick sein. Er fingerte es aus der Innentasche seines Sakkos.
»Melzick!«
»Ja Chef, wo sind Sie gerade?«
»Vor einem Teller Dolmades mit Oliven.«
»Oh – ja, kann ich mir denken. Frau Lucys Geheimtipp. Den Knoblauch kann ich bis hier riechen.«
»Ach – das ist ja interessant.« Zweifel nahm eine neue Gabel voll in Angriff. »Haben Sie sonst noch etwas zu bemerken?«
»Allerdings. Ich komm’ gleich bei Ihnen vorbei. Schön langsam kauen, Chef.« Zweifel legte auf. Er kannte die ernährungstechnischen Ratschläge seiner veganen Assistentin zur Genüge. Und manchmal befolgte er sie sogar.