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6. Sommerleuchten

Die Kinder genossen es, so vielfältige familiäre Beziehungen zu haben. Für sie war es wichtig, Zuneigung und Abgrenzung in dieser großen Gruppe einzuüben, waren sie doch, das Haus relativ einsam gelegen, aufeinander angewiesen. Früh schon durften und mussten sie auch kleine Aufgaben im Haus übernehmen. Dabei wurde das Besorgen von Lebensmitteln in einem nahe gelegenen Weiler für Kathi zu einer Lieblingsbeschäftigung. Alleine, zu zweit oder zu dritt zogen die Kinder, einen Korb und den Einkaufszettel schleppend, durch die Wiesen zum etwa halbstündig entfernten Laden. Hier betraten sie das Paradies der Waren. Dürftig ausgestattet in jener Kriegs- und Nachkriegszeit, gab es hier doch Dinge, die ihnen den „Mund wässrig“ machten.

Hatten sie ihre schmalen Einkäufe erledigt, machten sie sich nicht sogleich auf den Weg. Möglichst unbemerkt, schlüpften sie zusammen mit den Weilerkindern in den Lagerschuppen, um sich aus Schachteln und Körben und Kisten die herrlichsten Landschaften und Höhlen zu bauen. Irgendwann machten sie sich dann erschrocken und überstürzt auf den Heimweg, hoffend, die Zeit sei stehen geblieben und Großmutter und Tanten würden ihre wiederholt eingelegten Schleckpausen, in denen sie vorsichtig mit den nassen Zeigefingern in kleinsten Mengen vom eingekauften Zucker naschten, nicht bemerken. Doch die Zeiten waren karg und die Tanten übersahen wenig. Haushalten und sparen war lebensnotwendig und an solchen Abenden büßten sie ihre süßen Orgien mit dem Verzehr saurer Träuble ohne alles.

Neben den kleinen Pflichten, zu denen auch das Futterholen und das Füttern und Misten der Stallhasen gehörte, das Hühnereintreiben, das Feuerholzstapeln an der Hauswand, das Unkrautziehen und das abendliche Gießen des Gartens, vertrieben sich die Kinder die Zeit mit den unterschiedlichsten Spielen. Eines bestand darin, sich wieder und wieder über der obersten Zaunstange auszuhängen, kopfunter und haltlos hin- und herzupendeln und sich am Ende mit einem geübten Schwung in die Hocke zu katapultieren, ohne mit dem Hinterteil den Boden zu berühren. Dieses Gefühl des Schwingens und Fliegens fanden sie auch auf der Schaukel, die Onkel Hans ihnen an der Teppichstange befestigt hatte: zwei Seile mit einem kleinen Holzbrett mit Einkerbungen an den Seiten. Nichts konnte schöner sein als, angestoßen von den älteren, immer höher und höher zu schwingen, in ein Gefühl der lustvollen Schwerelosigkeit und der Angst gleichzeitig hineinzugleiten, mit jedem Schwung ein Stückchen näher dem Himmel und der Sonne.

Ganz erdverbunden war dagegen ein anderes Spiel, sicher nicht von allen als gleich angenehm empfunden. Die Kinder gingen, wie damals auf dem Lande üblich, aber auch der damaligen Not gehorchend, ab Anfang März barfuß. Je wärmer es wurde, desto angenehmer war es, nur mit den blanken Füßen, ohne die meist zu kleinen und engen Schuhe über Gräben zu hüpfen und nach dem Regen in Pfützen und Wagenradfurchen zu waten. Am interessantesten jedoch waren die Kuhfladen. Die Kühe des Nachbarn, eines richtigen, großen Bauern, wurden zweimal am Tag von der Weide am Hausberg, dem Biel, den Weg entlang des Hauses der Großeltern zum Melken eingetrieben. Es fehlte den Bäschen und Vettern also nicht an Material für ihre Mutproben. Die etwas älteren Fladen besaßen an der Oberfläche schon eine dicke graubraune Haut und es war sogar möglich, beim Betreten trockenen Fußes davonzukommen. Für Kathi bedurfte es hier keiner Überwindung. Sie liebte den eben ins Gras oder auf den Weg geklatterten Brei. Saftig und warm und grün quoll er beim Hineintreten üppig zwischen den Zehen hervor.

Die hinter dem Garten ansteigende Weide benutzten die Kinder im Sommer als Rutschbahn. Im Schuppen hatten sie eines Tages, von Reisig halb verdeckt, ein altes Metallschild gefunden. Es hatte wohl einstmals, noch zu Vorkriegszeiten, zu Reklamezwecken an irgendeiner Stall- oder Scheunenwand gehangen und den Bauern und Bäuerinnen der Umgegend die Spielbank in Lindau als einen Ort der Entspannung und des Glückes angepriesen. Nun war das Emaille der Vorderseite an einigen Stellen abgesprungen, die Schrift unvollständig, doch für ihre Zwecke gerade recht. Auf dem vom Tau feuchten Gras rutschten die Kinder alleine oder zu zweit, steuerlos unter großem Geschrei bergabwärts. Schmutzig zu werden, war für sie meist kein Problem, stand doch außer dem kalten Wasser des Brunnens den ganzen Sommer über ein mit Wasser gefülltes Wännchen zur Erwärmung in der Sonne, in dem sie Abend für Abend abgebürstet wurden.

Einmal allerdings waren sie mit ihrer Rutschbahn nicht sehr glücklich. Der sogenannte Weiße Sonntag eines der Vettern wurde gefeiert. Katharina war mit ihrer Familie nur kurz zu diesem Anlass zu Besuch gekommen. An Sonntagen und kirchlichen Festen gingen auch die Kinder, trotz Hunger und Armut aufgeputzt, mit ihrem Sonntagsgewändern einher. Während die Erwachsenen noch beim Kaffee saßen, schlichen sie sich an diesem Tag vom Katzentisch davon, mit dem Schild hinauf zum Biel. Ging die erste Fahrt noch gut, so landeten doch ausgerechnet die beiden Basen mit ihren besten Kleidern in einem riesigen Kuhfladen. Weinend, die Strafe schon ahnend, liefen sie, verfolgt von den johlenden Vettern, heimwärts. Und wie sie befürchtet hatten, setzte es Schläge und ein, unter Schimpfen und Drohungen veranstaltetes schrecklich kaltes Bad im Brunnen. Vorerst war diese Art des Spiels für Kathi tabu, sie hatte den Spaß daran verloren.

Ein kleines, leichtes Glück

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