Читать книгу Ein kleines, leichtes Glück - Adi Hübel - Страница 7

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3. Oase der Stille

Bis zur Mitte des unteren Raumes, dessen Fußboden aus lose gelegten Ziegeln bestand, roch es nach Harz und Wald. Ging man weiter, die letzten Schritte auf die kleine Holztüre in der linken äußeren Ecke zu, so veränderte sich der Geruch, stieg beißend in die Nase, vor allem im Sommer und an schon heißen Frühlingstagen. Trotz dieses Gestankes nach Gülle, war das Häuschen für Katharina ein Lieblingsort, eine Oase der Stille, der Ruhe und Sicherheit. Der Riegel konnte vorgeschoben werden und war von außen nicht zu öffnen. Im länglichen Kasten aus dicken Bohlen war die runde Öffnung im Abdeckbrett mit einem schweren Deckel verschlossen. Lange Jahre war das Sitzloch zu groß für ihr kleines, mageres Hinterteil. So balancierte sie vorsichtig auf dem Rand, die Füße in der Luft baumelnd, den Oberkörper weit vornüber gebeugt.

Dabei wurde die Sicherheit dieses kleinen Geviertes von ihr nicht einfach als gegeben vorausgesetzt, sondern ständiger Kontrolle unterworfen. Dem Abnehmen des Deckels folgte immer ein vorsichtiger Blick in die Grube. Man konnte nicht wissen.

Schon früh begann sie mit der Lektüre. Rechter Hand, an der Holzwand des Häuschens, war ein aus Brettern gefertigter Kasten festgeschraubt, in welchem Zeitungen, Kalender und sonstige veraltete Druckerzeugnisse steckten, alle fein säuberlich zerschnitten in handgerechte Vierecke. Hier und nur hier kann es gewesen sein, dass ihre Neugier auf das geschriebene Wort sich gründete. Eine Neugier, die täglich entfacht wurde, so oft Nachrichten über Geschehnisse in der nahen Kleinstadt oder den umliegenden Weilern sich Katharina in ihrer endgültigen Aussage vorenthielten. Die meisten Artikel blieben unvollständig, es fehlten Schluss oder Anfang, es fehlte die Hälfte eines Bildes oder einer Traueranzeige. Seitlich abgeschnittene Ränder, Sätze, von eifriger Hand schon nach den ersten Worten an ihrem Lauf gehindert, zwangen ihre Gedanken die Nachrichten willkürlich zu ergänzen. Doch diese Ergebnisse blieben unbelegbar und konnten sie nicht befriedigen. Von brennender Neugier erfüllt, begann jeden Tag aufs Neue die fieberhafte Suche. Zeitungsstücke wurden zusammengesetzt, gewendet, angepasst, verworfen, ausgetauscht, ein tägliches Puzzle, um das unvollkommene Bild der Welt ins erwartete Lot zu bringen. Der Erfolg blieb meist aus, unverrichteter Dinge verließ sie den Ort.

Andeutungen, Teile von Werbesprüchen, Ahnungen drohender Gefahren und vollendeter Verbrechen, Halbberichte von Festlichkeiten, Restdaten von Viehbeständen und Marktanalysen blieben ihr im Gedächtnis, begleiteten sie über den Tag in die Nacht und ließen sie gierig nach allem Geschriebenen greifen, das vollständig war, das endgültige Nachricht und Auskunft gab. Lesenswert immer alles, jeder gedruckte Buchstabe, alles, was ins Haus flatterte oder schon angekommen war und als wertvolle Schrift sich in der großen Kiste gesammelt hatte.

Der Dachboden oder genauer, damals die Bühne: ein verbotenes Geheimnis, dunkel, niedrig, ein winziges Fensterchen. Der große Holzkoffer, gefüllt mit Kalendern und Zeitschriften vieler Jahre, wurde zur Bibliothek. Im heißesten Sommer saß sie, staubumwirbelt oben, lange Nachmittage, las Geschichten über Heilige, ihre Herkunft, ihr Leben. So prägte sich ihr ein, wie sie geworden, was sie waren, ihre Taten, ihre Leiden um des Guten willen. Die Schönheit, die Vornehmheit und die Güte dieser Menschen überwältigten sie. Lange, lange betrachtete sie ihre Bildnisse, zutiefst mitfühlend mit den Leidenden. An einen Holzpflock gefesselt, durchbohrt von unzähligen Pfeilen, rührte sie vor allem der heilige Sebastian zu Tränen. Doch nicht nur Heilige wurden ihr Vorbild, auch die Bauern. Alte Bauernregeln machten sie auf Gesetzmäßigkeiten der Natur aufmerksam, bestimmten sie dazu, darauf zu achten, welche Witterung an welchem Feiertage herrschte, um die Wahrhaftigkeit der Voraussage die nächsten Wochen über zu prüfen. War der erwähnte Siebenschläfer wirklich so mächtig, um die nächsten Wochen über Regen oder Sonnenschein zu entscheiden?

Verließ sie an heißen Sommertagen nach wiederholten Rufen und Drohungen der Großmutter erschöpft ihre Dachluke, so war sie berauscht von Schönheit und Größe, Tugend und Mut und qualvoller Lust und dem Entschluss, auch ihr Leben wie die Heiligen in Rauch und Feuer hinzugeben.

Ein kleines, leichtes Glück

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