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Nell

Ich erwachte ruckartig, als mich jemand an den Schultern packte und schüttelte. Vor Schreck fuhr ich hoch und schlug um mich, bis ich losgelassen wurde und mir die zerzausten Haare aus dem Gesicht schob. Vor mir stand der Typ, der mich hierher gebracht hatte. War es gestern gewesen, oder vorgestern? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie lange ich geschlafen hatte. Mit rasendem Puls zog ich mir die Decke über die nackten Beine und sah ihn misstrauisch an.

„Jetzt gesellt sich zu stumm auch noch brutal – keine gute Mischung.“

„Halt den Mund und zieh dich um!“, unterbrach er mich scharf.

Ohne ein weiteres Widerwort nahm ich die Sachen entgegen, die er mir hinhielt. Weiße Hose, weißes T-Shirt, weiße Schuhe, welch kreative Farbwahl. Hastig eilte ich an ihm vorbei und warf einen flüchtigen Blick auf Lous Bett. Decke und Kissen lagen ordentlich aufgeschüttelt da und von ihr fehlte jede Spur. Mit einem unguten Gefühl im Bauch zog ich mir die verschwitzten Sachen aus und die neuen über. Das grelle Weiß blendete mich förmlich, als ich meine Haare kämmte und mir eine Strähne hinters Ohr schob.

Als ich das Badezimmer wieder verließ, stand er an der Tür und musterte mich von oben bis unten. Dann brummte er in seiner unnatürlich rauen Stimme: „Nenn mich Dexter.“

Ich hob eine Augenbraue, verkniff mir aber einen dummen Kommentar und nickte. Dexter öffnete die Tür und platzierte seine schwere Hand auf meiner Schulter, als er mich den Gang hinabführte.

„Jetzt kannst du erst einmal etwas essen und danach darfst du einen Blick hinter die Flügeltür werfen.“ Er beugte sich zu mir hinab und ich spürte seinen Atem neben meinem Ohr. „Luan wird auch da sein.“

Ich konnte die Schmetterlinge in meinem Bauch nicht unterdrücken und ärgerte mich umso mehr darüber. Eigentlich sollte ich diesen Typen hassen. Immerhin hatte er mich verraten – meine Familie verraten.

Aber es war genau diese Familie, die dich dein ganzes bisheriges Leben lang angelogen hat. Sie wussten, was du warst, und haben es dir verheimlicht.

Mit versteinerter Miene lief ich den Gang entlang und versuchte, nicht auf die stechenden Blicke der Erwachsenen zu achten, die sich in meinen Rücken brannten. Schließlich hielt Dexter vor einer Flügeltür, die aussah wie jede andere in diesem verdammten Gebäude, und öffnete sie, um mich hindurchzuschieben. Ich zog meine Schulter vor und schaffte es, seinen Griff loszuwerden, aber nur, weil er es zuließ. Wir betraten einen großen Raum, der mit etlichen Stühlen und Tischen ausgestattet war. Die meisten waren leer, nur an drei von ihnen saßen jeweils zwei Leute, alle erwachsen, und unterhielten sich leise. Dexter wies mir einen Platz an der Wand zu und fragte mich, was ich essen wollte. Nachdem er einige Dinge aufgezählt hatte, entschied ich mich für einen Apfel und ein Glas Wasser. Beides holte er mir von einer Art Theke und schaute mir dann stumm beim Essen zu, was alles andere als schön war. Ich trank gerade den letzten Schluck aus, als ein Junge, grob mein Alter, den Raum betrat. Wie ich wurde er von einem erwachsenen Mann begleitet, der noch grimmiger wirkte als Dexter. Die Haare des Jungen waren weiß, er wirkte müde und war schmächtig. Doch mein Blick wanderte sofort weiter zu seinen Augen. Sie waren hellgrau mit violetten Punkten um die Pupille. Die beiden kamen direkt auf uns zu und setzten sich an unseren Tisch.

Der Junge sah mich verlegen an und wich dann meinem Blick aus.

„Das ist David“, stellte Dexter vor. „Er wurde am selben Tag eingeliefert wie du und ihr werdet wahrscheinlich zusammen durch die Säuberung sowie die Vorbereitungen gehen.“

Ich versuchte ein Lächeln. „Hi, ich bin Nell.“

David hob den Kopf und die violetten Punkte in seinen Augen begannen zu leuchten. Er hob kurz die Hand, bevor er sie wieder unter dem Tisch verschwinden ließ.

„Carter“, Dexter wandte sich an Davids Begleiter. „Ist Amber soweit?“ Carter nickte, immer noch die grimmige Miene im Gesicht.

„Gut.“ Dexter erhob sich und platzierte wieder seine Hand auf meiner Schulter. Diesmal versuchte ich nicht, sie abzuschütteln.

„Wir kommen nach, wenn der Junge etwas Anständiges gegessen hat“, rief uns Carter hinterher, als wir den Raum verließen.

Als wir unter uns waren, drehte ich den Kopf und sah Dexter von der Seite an. Um seinen Mund hatte sich ein angespannter Zug niedergelassen und er blickte stur geradeaus. „Was haben Sie damit gemeint, dass David und ich zusammen zur Säuberung und Vorbereitung gehen?“

Er hob eine Braue. „Wir sind plötzlich beim Sie?“

Ich verdrehte die Augen. „Dann eben du.“ Auch wenn es sich merkwürdig anfühlte, ihn so anzusprechen.

„Das, was ich gesagt habe, meinte ich auch so“, war seine Antwort.

Nachdem wir etliche Türen und Gänge passiert hatten, blieb Dexter vor der Flügeltür stehen, die ich bereits kannte. Da er es erwähnt hatte, wusste ich auch, dass nun der nächste Tag war, doch das beruhigte mich keinesfalls.

Abteil 1 begrüßte mich mit einem trägen Plopp, als die Tür aufging und wir hindurchtraten. Vor mir tat sich ein Raum auf, der etwas größer war als der, in dem ich gefrühstückt hatte. An den Wänden standen kleine, silberne Tische, auf denen Spritzen lagen oder andere medizinische Utensilien verteilt waren, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Hinter einem Tisch in der Mitte des Raums saß Amber Notker und musterte mich aus ihren wachsamen roten Augen.

Und neben ihr stand Luan.

Seine dunkelblonden Haare wurden durch Gel zurückgehalten. Die breiten Schultern waren angespannt und seine Züge kühl, wie ich es von ihm nicht kannte. Und seine Augen … Die grell-gelben Streifen begannen zu glühen, als er mich sah, und hoben sich dadurch außergewöhnlich vom dunklen Blau ab, das sie umgab. Doch ihnen fehlte jeder Funke von Menschlichkeit oder Spott, wie ich es sonst gewohnt war. Ich suchte seinen starren Blick, doch als er es merkte, wandte er sich ab.

„Wie ich sehe, hast du die Laserstrahlen gut überstanden“, brach Amber Notker das unangenehme Schweigen. Ich drehte ihr den Kopf zu und sah sie an. „Die Creme von gestern, weißt du nicht mehr?“, fragte sie und kam um den Tisch herum auf mich zu.

Automatisch wich ich einen Schritt zurück und stieß gegen Dexters Brust. „Ja, ich erinnere mich.“

Sie lächelte breit. „Schön.“ Ein paar Augenblicke stand sie einfach da und musterte mich, dann klatschte sie in die Hände und ging zurück zum Tisch. „Wie du inzwischen bestimmt mitbekommen hast, befinden wir uns in Abteil 1, der Säuberung.“ Sie stützte sich an der Kante des Tisches ab und ihre roten Augen bekamen einen beunruhigenden Schimmer. „Die Säuberung bedeutet nichts weiter, als dass ich dich untersuchen werde und deinen Namen in eine Liste eintrage, in der alle Mutanten von A bis Z zu finden sind.“

Aha.

Amber Notker stieß sich mit den Handflächen ab und ging mit langen Schritten durch den Raum zu einem der Tische. Sie griff nach einem Blutdruckmessgerät und kam damit zu mir. Ein dünner Schweißfilm bildete sich auf meiner Stirn, als sie es mir mit kalten Händen umlegte. Angestrengt starrte sie auf meinen Oberarm, dann hellten sich ihre Züge auf. „Sehr schönes Ergebnis.“

Zufrieden ging sie wieder und kam mit einer Spritze zurück.

Mir schwand langsam endgültig die Kontrolle.

Die Rothaarige reinigte meine Armbeuge, doch bevor sie mir etwas unter die Haut schob, dem ich absolut nicht vertraute, zog ich meinen Arm zurück.

„Ich will das nicht“, sagte ich mit zittriger Stimme.

Amber Notker hob eine Braue. „Was du willst, zählt hier nicht.“

Sie sah mich mit gespieltem Mitleid an. Mein Blick schweifte zu Luan, der immer noch stur an mir vorbeistarrte, und ich wurde wütend. „Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Ich weiß nicht, was ihr von mir wollt. Außerdem sind meine Eltern verschwunden und ich habe erfahren, dass mein Vater gar nicht mein Vater ist und habe mich bisher über nichts beschwert. Aber so langsam finde ich, sollten mir mal einige Fragen beantwortet werden.“ Meine Stimme überschlug sich fast und jetzt endlich sah Luan mich an. Ich hatte selbst keine Ahnung, warum ich plötzlich so mutig war und meine Gedanken laut ausgesprochen hatte, doch sobald ich die Angst in seinen Augen entdeckte, bereute ich es.

Ein Stich in meinem Arm ließ mich zusammenzucken.

Amber Notker, sie hatte mir die Spritze mit so viel Wucht in die Haut gerammt, dass dunkelrotes Blut hervorquoll und meinen zitternden Arm hinablief. „Nur, damit du es noch einmal aus meinem Mund hörst“, sagte sie kühl, „wir legen nicht besonders viel Wert darauf, was unsere Tester wollen“. Schwungvoll drehte sie sich zu Luan um. „Oder, was meinst du?“

Sein Blick flackerte, als er sie ansah, seine Augen dann jedoch an meinem Arm hängenblieben, der inzwischen vollkommen rot war. Die Wunde brannte wie Hölle. Ich presste zwei Finger darauf, doch es half nichts.

„Wir legen gar keinen Wert darauf“, presste Luan hervor und wandte sich ab.

Amber Notker lächelte süßlich. „Fein.“

Wütend sah ich sie an, doch sie hatte bereits das Interesse an mir verloren.

„Dexter, bring sie zurück auf ihr Zimmer. Carter wird gleich mit David hier auftauchen und vorher muss erst das ganze Blut entfernt werden“, wies sie an und erst jetzt merkte ich, dass mein Blut bereits eine kleine Lache zwischen meinen Füßen gebildet hatte.

„Ach, und Nellanyh“, Amber Notker drehte sich schwungvoll zu mir um.

„Morgen früh erfährst du die Ergebnisse deiner Blutwerte und je nachdem, wie sie ausfallen, wirst du dann morgen schon oder erst übermorgen in Abteil 2 gebracht.“

Ich spürte Dexters schwere Hand auf meiner Schulter, als er mich zu sich umdrehte und aus dem Raum führte, ohne dass ich einen letzten Blick zu Luan werfen konnte. Mein Begleiter führte mich mit schnellen Schritten den Flur entlang, ich kam kaum hinterher. Seine breite Brust verbarg mich fast vollständig, trotzdem entging mir nicht, wie mich die Erwachsenen musterten, an denen wir vorbeikamen.

Als wir das Zimmer erreicht hatten und eingetreten waren, sprang Lou sofort vom Bett auf. Mit vor Schrecken geweiteten Augen kam sie zu mir und starrte auf meinen blutverschmierten Arm. „Was haben sie mit dir gemacht?“ Ihre Stimme zitterte. Dann hob sie den Kopf und schaute an mir vorbei zu Dexter. Ihr Blick wurde kalt. „Ihr seid solche –“

Die Tür wurde aufgerissen und ein Beamter in Uniform erschien. „Lauffeuer in Abteil 5! Der Verantwortliche hat die Kontrolle verloren!“, rief er dröhnend. Dexter reagierte sofort. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er Lou angewiesen, mich zu versorgen, und war ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer gerauscht, vergessen, abzuschließen hatte er jedoch nicht.

Überrumpelt sahen wir uns an, dann fing sie sich als Erste.

Hastig verschwand sie im Badezimmer und kam kurz darauf mit Klopapier wieder. „Was anderes gibt’s nicht“, murmelte sie, während sich das Papier mit meinem Blut vollsog.

Eine Weile standen wir schweigend so da, bis die Blutung endlich aufhörte und Lou die roten Fasern von meiner Wunde zog. Zu sehen war noch immer eine kleine Einstichstelle und es brannte unaufhörlich, doch wenigstens musste ich nicht mehr meine Finger darauf pressen und das Risiko, zu verbluten, ging damit wahrscheinlich auch unter.

Sie führte mich zum Bett und ich ließ mich erschöpft darauf nieder.

„Warum warst du heute früh schon weg, als ich abgeholt wurde?“, fragte ich schließlich. Lou versteifte. „Sie wollten mit mir über die Blutproben sprechen, die sie gestern genommen haben.“

Ich beugte mich vor. „Und?“

Sie drehte den Kopf und sah mich direkt an. Ihre grün-braunen Augen waren dunkel. „Es sieht nicht gut aus. Anscheinend hat die Lasercreme nicht gewirkt und ich habe zu viele Strahlen abbekommen. Ich muss heute Abend nochmal in den Behandlungsraum, damit Amber Notker mir irgend so ein Mittel spritzt, das mich von den Strahlungen befreien soll.“ Sie zuckte mit den Schultern.

Ich rutschte näher an sie heran. „Das wird schon“, versuchte ich sie etwas zu ermutigen, scheiterte aber kläglich.

Ein Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken. Lou warf mir einen verwirrten Blick zu und ich erhob mich zögernd. Normalerweise kamen doch alle immer ohne Vorwarnung hereingepoltert … Mit einem kurzen Blick über die Schulter drückte ich die Klinke nach unten und wurde stocksteif.

Luan musterte mich aus besorgten Augen und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. „Wie geht’s dir?“, fragte er mit rauer Stimme und neigte den Kopf.

Meine Unterlippe begann zu zittern. „Was kümmerst du dich darum?“

Er hielt inne, dann ließ er die Hand sinken und schaute an mir vorbei in den Raum. Ich versuchte, ihm den Weg zu versperren, doch er schob mich einfach zur Seite und trat ein. Wütend stieß ich die Tür hinter ihm zu und stockte. „Dexter hat sie vorhin doch abgeschlossen?“

Luan grinste hinterhältig. „Ich kann Schlösser mit einem einfachen Gedanken knacken, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt.“

Okay, dieser Kerl war definitiv gruselig. Ich schnaubte und folgte ihm zum Bett, von dem Lou mir entgegenstarrte.

„Ich bin übrigens Luan Moor und du wirst mich ab jetzt öfter sehen, wenn du viel Zeit mit Nell verbringst“, erklärte er entschieden. Ich musterte ihn verwirrt.

Lou erhob sich eilig und trat an uns vorbei. „Ich bin im Gemeinschaftsraum.“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und warf mir noch einen letzten, kurzen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Dann war ich mit diesem undurchschaubaren Typen allein.

Mit steifen Schritten ging ich an ihm vorbei und lehnte mich gegen die Wand, da Luan fast das gesamte Bett einnahm. Ich senkte die Lider und dann konnte ich mich nicht mehr zurückhalten. „Wenn du weißt, wo meine Eltern sind, dann sag es mir“, forderte ich ihn auf und bemühte mich um einen drohenden Unterton.

Er wurde ernst. „Warum sollte ich dir das verraten?“

Ich hob den Kopf und ballte die Hände zu Fäusten. „Wo – sind – sie?“

Er hob unbeeindruckt eine Braue und seufzte tief. „Ich weiß es nicht genau, aber ich weiß, dass sie in Abteil 1 untergebracht sind. Beziehungsweise …“, er sprach nicht weiter und ich erhob mich. „Was?“

„Ich glaube nicht, dass alle vier noch leben. Die Red Eyes wollten nur zwei von ihnen.“ Ich starrte ihn an, während sich eine kalte Hand auf meine Brust legte und mir jeden Atemzug erschwerte.

Er suchte meinen Blick und seine gelben Streifen zogen mich in einem undurchdringbaren Bann.

„Ich will nichts Falsches sagen, aber ich denke, dass deine Mutter und eure Seherin noch leben, aber der Anführer der Green Eyes und dieser Peroll –“ Er schüttelte den Kopf.

Meine Knie gaben nach, ich sackte zusammen. Bevor ich jedoch mit dem Rücken am Boden aufschlug, hatte Luan plötzlich seine Arme um meine Taille gelegt und hob mich hoch, als wäre ich nicht schwerer als eine Feder. Heiße Tränen brannten in meiner Kehle, doch ich wollte nicht vor ihm weinen. Nicht vor ihm.

„Es ist okay“, hörte ich seine tiefe Stimme neben meinem Ohr.„Es ist okay, Nell. Du kannst es rauslassen.“

Verwirrt blinzelte ich zu ihm auf. Als sich unsere Blicke trafen, begannen die gelben Streifen in seinen wunderschönen Augen zu leuchten. Und als er dann auch noch beide Hände an meine Wangen legte, war es endgültig um mich geschehen. Leise wimmernd neigte ich den Kopf an seine Brust und die Tränen rollten mir über die Wangen, durchnässten den Stoff seines T-Shirts an der Schulter, doch das schien ihm egal zu sein.

„Warum?“, schluchzte ich verzweifelt. „Warum mussten sie sterben?“

Er fuhr mit der Hand sachte über meinen Rücken und ließ sie dann auf meiner Taille ruhen, um mich näher an sich heranzuziehen. Doch er gab mir keine Antwort. Eine Weile standen wir einfach schweigend zusammen, ich weinte in seine Schulter und er legte das Kinn auf meinen Kopf und gab tiefe Laute von sich, die wunderschön klangen.

„Vor ein paar Tagen im Wald, weißt du noch?“, murmelte er schließlich, als meine Tränen versiegt waren. „Als du mich zum ersten Mal als Mutant gesehen hast. Ich habe die Kontrolle über mich verloren. Du hast es tatsächlich geschafft, dass ich einmal die Kontrolle verliere.“

Ich lächelte matt und löste mich von ihm. „Danke. Für gerade eben“, meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch.

Sein Blick füllte sich mit Wärme, die gleich darauf auf mich überging.

„Nein, du sollst dich nicht bedanken“, sagte er dann entschieden und ließ sich aufs Bett fallen. „Immerhin habe ich tatenlos zugesehen, wie dir Amber Notker eine Spritze in den Arm gerammt hat.“ Seine dunklen Wimpern senkten sich.

Nervös glitt ich neben ihm aufs Bett und konnte nicht verhindern, dass ich rot wurde. „Es gibt so vieles, was ich nicht verstehe.“

Luan drehte den Kopf und sah mich an. „Deshalb bin ich ja zu dir gekommen. Bevor du überwiesen wirst, will ich dir einige Fragen beantworten.“

Mein Magen zog sich zusammen, aber ich versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. „Peroll und Dad –Lenn –, sie sind wirklich fort? Für immer?“

„Ich nehme es stark an.“

In mir zerbrach etwas. Dunkelheit legte sich über mein Herz. Erneut griff die Kälte mit aller Kraft nach meiner Seele und zerrte unbarmherzig daran. Lenn war nie mein leiblicher Vater gewesen, das hatte ich erst vor weniger als 48 Stunden erfahren, doch er hatte mich immer wie seine eigene Tochter behandelt. Ich war sein Licht gewesen, seine Hoffnung. Und er meine. Jetzt wollte mir Luan erklären, dass er tot war? Einfach so? Ohne dass ich mich von ihm oder Peroll hätte verabschieden können? Mein Magen verkrampfte sich, ich schnappte nach Luft. Ich musste mich ablenken, musste auf andere Gedanken kommen, denn wenn ich jetzt keinen klaren Kopf behielt, wusste ich nicht, wie ich den nächsten Tag überleben sollte. Der Schmerz saß tief und das hässliche Loch in meinem Herzen würde sich nie wieder füllen, aber ich konnte nicht trauern. Nicht um Lenn und nicht um Peroll. Nicht jetzt und nicht hier. Ich hasste mich für diese Entscheidung, ich hasste es, dass ich meinen Schmerz unterdrückte und versuchte, nicht mehr daran zu denken, doch es musste sein. Der Tag würde kommen, an dem ich sie beide rächen würde, und dafür musste ich stark sein – sie hätten es so gewollt.

„Warum bin ich hier? Und was wollen sie von mir?“, wollte ich wissen.

Luan massierte sich die Schläfe. „Die Red Eyes machen gemeinsame Sache mit den Black und Blue Eyes. Zusammen haben sie dieses Lager gegründet, irgendwo im Nirgendwo. Sie suchen nach Mutanten aus allen Völkern und holen sie her, um an ihnen Tests durchzuführen.“

„Was für Tests?“, unterbrach ich ihn. Er ließ die Hand sinken und ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. „Sie testen die Stärke, die Kräfte und die verschiedenen Fähigkeiten der Mutanten. Ich weiß selbst nicht wirklich, was ihr Ziel ist, aber ich glaube, sie wollen uns als Waffen benutzen.“

Mir wurde kalt.

„Mit uns, den Mutanten, können die Red Eyes so gut wie jeden Krieg gewinnen. Die Besten von uns sind zu Dingen in der Lage, von denen normale Bürger nur träumen können“, fuhr er fort.

„Und warum bist du zu uns aufs Schloss gekommen und hast dich als ein Austauschschüler der Blue Eyes ausgegeben?“

Luan spannte die Schultern an. „Ich bin der Erste, der von den Red Eyes in den Außendienst geschickt wurde. Normalerweise kommen sie, sobald ein neuer Mutant entdeckt wird, immer mit großer Mannschaft an, weil natürlich keiner freiwillig mit ihnen geht. Bei dir ist es insofern schief gelaufen, dass ich eigentlich dein Vertrauen gewinnen sollte, um dich dann ohne großes Aufsehen ins Lager zu bringen. Aber dein Vertrauen hatte ich noch nie, das weiß ich nur zu gut und dann war da dein Fieber …“ Er brach ab.

Verwirrt sah ich ihn an. „Wann hatte ich denn Fieber?“

Er schüttelte den Kopf. „An dem Tag, als du mich mit den zwei Männern auf der Lichtung gesehen hast, haben wir ausgemacht, dass du in der Nacht zurückkommst, damit ich dir einige Fragen beantworte. Ich war da … und du auch, aber … du hattest hohes Fieber. Ich wusste nicht weiter und dann habe ich dich bis zur Straße getragen, an der Amber Notker bereits wartete. Ich hatte keine Wahl.“ Seine Stimme wurde flehend. „Ich konnte dich nicht einfach zurück zum Schloss tragen und dich vor die Tür legen. Und ich hatte auch keine Ahnung, dass Amber Notker auf uns warten würde. Sie haben dich mir einfach abgenommen und ich konnte nichts tun.“

Als sich die Fäden in meinem Kopf zusammengesponnen hatte, stieg Wut in mir auf. „Du hast mich also wirklich hintergangen – uns alle.“

Luan zuckte zusammen. „Ich hatte keine –.“

,,Man hat immer eine Wahl“, schnitt ich ihm das Wort ab.,,Du wolltest dich bei mir einschleimen und mich dann ausliefern.“

Ich fühlte mich entblößt und schnaubte. „Ist ja nicht ganz nach Plan gelaufen. Und was ist mit dem Auto? Als wir es gefunden haben, bist du abgehauen. Da hattest du deine Finger auch im Spiel, oder? Du wusstest, dass es die Red Eyes waren. Du wusstest es von Anfang an!“

„Nell …“.

„Hör auf.“ Ich beugte mich vor und sah ihn mit so viel Abscheu an, wie es nur ging. „Und du weißt sicher auch, warum meine Eltern überhaupt so plötzlich weg mussten, ohne mir Bescheid zu sagen, oder?“

Seine Schultern wurden steif. „Vom Lager aus wurde bei ihnen angerufen und gesagt, dass die Gray Eyes an der Grenze großen Ärger machen. Daraufhin sind sie losgefahren, völlig überstürzt … Aber davon wusste ich wirklich nichts. Das wurde mir erst erzählt, als ich im Lager angekommen bin.“

„Ich glaube dir kein Wort“, stieß ich hervor. „Dann war keiner mehr im Schloss, und du konntest in Ruhe … deine Arbeit zu Ende bringen.“

Meine Stimme überschlug sich mehrfach, so wütend und verletzt war ich.

Ich sprang auf, rannte zur Tür, öffnete sie und sah ihn auffordernd an.

„Verschwinde“, zischte ich. Luan sah mich flehend an, so verzweifelt hatte ich ihn noch nie zuvor gesehen. „Nell, ich hatte wirklich keine Ahnung, dass sie es so weit treiben würden und deine Eltern verletzen.“

„Verschwinde“, wiederholte ich lauter. Er stand auf und kam auf mich zu.

„Bitte, Nell … ich –.“

„Ich hasse dich, Luan Moor! Und weißt du was? Am Anfang, da habe ich dir sogar vertraut. Aber du hast Recht, jetzt ist es vorbei, jetzt ist alles vorbei.“

Mit Schwung packte ich seinen Oberarm und zog ihn nach draußen. Er sah mich überrascht an. Bevor ich noch einmal dieselbe Luft wie er einatmen musste, schlug ich die Tür zu und presste mich von innen dagegen. Ich wartete, bis er versuchte, sie aufzuschieben, aber es blieb still.

Keuchend trat ich einen Schritt zurück und starrte auf die Klinke. Fast wünschte ich mir, dass er zurückkam, unterdrückte den Gedanken aber so schnell wie möglich. Meine Wut auf Luan Moor, diesen Verräter, war so groß, dass ich mich fast übergeben musste.

Ein letztes Mal spürte ich den leichten Schauder auf meinem Rücken, dann entfernte sich Luan mit steifen Schritten und vor meiner Tür war keine Seele mehr.

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