Читать книгу Varius - Adina Wohlfarth - Страница 8
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Nell
Einen Moment lang konnte ich ihn nur anstarren, dann legte sich in mir ein Schalter um und ich stürmte los.
Liam fluchte abermals und folgte mir eilig. „Es ist weiter südlich bei der Pfadkreuzung passiert.“
Ich wusste sofort, wo wir hinmussten, und beschleunigte meinen Lauf. Meine Gedanken rasten unkontrolliert und hinterließen ein riesiges Chaos.
Keuchend und außer Atem erreichte ich die Pfadkreuzung.
Ich sog scharf die Luft ein, als ich den Wagen meiner Eltern sah. Er lag verkehrt herum und die Beifahrertür stand offen. Das schimmernde Blech schien zu dampfen und eine Hitzewelle schlug mir entgegen.
Plötzlich spürte ich wieder diesen leichten Schauder auf dem Rücken und eine warme Hand legte sich auf meine Schulter. Ich fuhr herum und erblickte Luan.
Seine Züge waren hart und verschlossen, doch seine Augen funkelten matt.
„Ich habe das Auto gefunden“, murmelte er.
Meine Unterlippe zitterte leicht und meine Hände schlossen sich automatisch. Mit unsicheren Schritten stolperte ich auf den Wagen zu. Liz stand daneben und musterte mich besorgt, als ich auf die Knie fiel.
Ich stützte mich auf den Handflächen ab und neigte den Kopf nach vorne, um ins Innere zu sehen. Die zerfetzten Sitze waren blutverschmiert und einige Haarsträhnen klemmten im Lenkrad.
Mehr war da nicht. Keine Mom, kein Dad und auch Ozea oder Peroll waren nicht da. Mit starrem Blick richtete ich mich wieder auf und stolperte zurück. Meine Haare fielen mir ins Gesicht, winzige Schweißtropfen bildeten sich auf meiner Stirn. „Mom?“, hauchte ich. Meine Stimme klang heiser. „Mom!“
Keine Antwort – natürlich nicht.
Liz trat neben mich und fiel mir um den Hals. „Wir haben sie überall gesucht. Keine Spur von ihnen. Nichts!“
Ich löste mich von ihr und spürte die Tränen, die mir in den Augenwinkeln brannten. Ich hielt sie nicht auf und sie brannten sich wie Narben in meine Haut. Verzweifelt suchte ich mit den Augen die Umgebung ab, doch ich wusste, dass ich nichts finden würde.
„Wie … wie kommt das Auto in den Wald?“, fragte ich schluchzend und wandte mich den Jungs zu. Luan wich meinem Blick aus, was mich wütend werden ließ.
„Wir haben keine Ahnung, Nell.“ Liam schüttelte den Kopf. „Die Straße ist hier ganz in der Nähe, es wäre also nicht schwierig gewesen, es hierher zu bringen.“
„Aber warum?“, fuhr ich ihn an. Plötzliche Verzweiflung überrollte mich. „Warum sollte jemand meinen Eltern wehtun, sie dann verschwinden lassen und ihr Auto verstecken? Ich versteh das nicht.“
Der Wald kam auf einmal immer näher, Dunkelheit und Leere legten sich wie ein schwarzes Tuch über mich. Ich konnte kaum noch atmen. „Wer tut so etwas?“, rief ich und fiel nach hinten. Dumpf landete ich auf dem harten Boden und ein eiserner Schmerz fuhr mir den Rücken hinauf. Ich hörte Liz‘ zitternde Stimme, als sie sich neben mich kniete und mich an sich drückte. Ich spürte Liam, der mir einen schweren Arm um die Schultern legte. Luan wandte sich ab und verschwand im Wald. Doch das alles verschwamm, als mir klar wurde, dass meine Eltern weg waren. Ozea weg war. Peroll. Und vielleicht … nein! Diesen Gedanken wollte ich nicht zu Ende bringen.
Doch mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich es bereits getan hatte.
Vielleicht würde ich meine Eltern nie wiedersehen.
Ich spürte einen eindringlichen Blick auf mir, als ich langsam wieder einen klaren Kopf bekam. Ruckartig öffnete ich die Augen und rechnete damit, noch immer im Wald zu liegen, doch unter mir spürte ich die weiche Matratze meines Bettes.
Verwirrt richtete ich mich auf und das Erste, was ich sah, war Liz.
Sie saß auf der Bettkante und ihre wunderschönen, grünen Augen flackerten ängstlich. Ich stöhnte leicht und massierte meine pochende Schläfe.
„Was ist passiert?“, murmelte ich und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Unter meinen glasigen Augen hatten sich zwei dunkle Ringe platziert, meine Haut war blass und meine Lippen trocken.
„Du warst plötzlich irgendwie weg. Also mit deinen Gedanken“, fing sie an. „Liam hat dich zurückgetragen und ich habe dir etwas Frisches angezogen.“
Als sie meinen unwohlen Blick bemerkte, huschte ein leises Lächeln über ihr Gesicht. „Mein Bruder war nicht dabei.“
Einer meiner Mundwinkel hob sich etwas und ich richtete mich halb auf.
„Was ist mit Luan?“
Liz verzog das hübsche Gesicht. „Wie kannst du bei all dem, was passiert ist, an ihn denken?“ Sie machte eine abfällige Geste. „Er ist abgehauen und hat sich nicht mehr blicken lassen.“ Sie legte ihre Hand auf meine und drückte sie.
„Wie geht es jetzt weiter?“ Ich wollte eigentlich gar keine Antwort.
„Mom und Dad sind da und haben schon die Wächter informiert. Nach deinen Eltern, Ozea und Peroll wird bereits gesucht, aber …“, sie sprach nicht weiter und ich wusste, was das hieß. Es sah nicht gut aus. Niemand konnte wissen, wo sie waren, ob sie noch lebten. Ob es überhaupt eine Chance für sie gab. Alles lag nun im Ungewissen.
Liz beugte sich zu mir hinab. „Sie werden sie finden. Ich glaube fest daran, und Liam auch. Alles wird gut, am Ende wird alles gut“, redete sie leise auf mich ein, als ich wieder anfing zu weinen.
Ich liebte sie dafür, dass sie für mich da war, und dass sie versuchte, die Situation so verträglich wie möglich zu machen. Aber es war sinnlos.
Kalte Schauer jagten mir über den Rücken, als mir bewusst wurde, dass jemand sie womöglich gehasst haben musste. Warum sonst klebte ihr Blut auf den Sitzen? Ich war mit meinen Nerven vollkommen am Ende.
Liz schob mir eine Strähne aus dem Gesicht und kniff mir leicht in die Wange. „Liam wartet vor der Tür. Er … er macht sich große Sorgen um dich und möchte dich sehen.“
Ich hob den Kopf und blinzelte die einzelnen Tränen fort. „Er kann reinkommen“, schniefte ich und zwang mich, nicht weiter zu heulen.
Liz nickte und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, dann erhob sie sich und eilte zur Tür. „Ich frag mal unten nach, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt.“ Dann drückte sie die Klinke nach unten und Liam quetschte sich an ihr vorbei.
Mit einem besorgten Schimmer in den Augen kam er zu mir und ließ sich auf meinem Schreibtischstuhl nieder. „Wie geht’s dir?“
Ich verzog das Gesicht. „Beschissen kommt dem glaube ich ziemlich nahe.“
Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und setzte eine finstere Miene auf.
„Was ist?“, fragte ich und umarmte mich selbst, weil ich plötzlich fröstelte.
„Luan ist weg.“ Verbissen schüttelte er den Kopf. „Dieser Typ war mir von Anfang an nicht geheuer.“
Seine Worte versetzten mir einen leichten Stromschlag. „Glaubst du wirklich, dass er was mit der Sache zu tun hat?“
Liam sah mich überrascht an. „Natürlich, Nell. Das ist doch mehr als offensichtlich!“ Wütend erhob er sich und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. „Es ist meine Schuld. Hätte ich ihn nicht an dich herangelassen, wäre das vielleicht alles nicht passiert.“
Ich rollte mit den Augen. „Du kannst mich nicht immer beschützen, Liam.“
Plötzlich stand er direkt vor mir und sein Blick bohrte sich in meinen.
„Doch.“ Er beugte sich zu mir hinab und ich konnte seinen schnellen Atem auf meinen Lippen spüren. Das war eine ganz, ganz, ganz schlechte Idee. Ich schluckte und wollte ihn wegschieben, aber es war bereits geschehen.
Liam küsste mich.
Das musste aufhören, sofort. Liam war nur ein Freund. Ich hatte nie mehr als Freundschaft zwischen uns gewollt. Und ich dachte, ihm ging es genauso.
Ich spürte seine Lippen auf meinen und wie er den Kuss intensivierte.
Mir wurde immer unwohler. Mit letzter Beherrschung legte ich beide Hände an seine Brust und drückte ihn sanft von mir weg. Keuchend sah er mich an. Dann schien er zu merken, was er gerade getan hatte, und drehte sich weg.
„Tut mir leid, Nell. Ich wollte nicht –“
„Ist schon gut.“ Ich biss mir auf die Unterlippe und senkte den glühenden Kopf. Liam wandte sich wieder zu mir und ich spannte mich automatisch an.
„Es war ein Ausrutscher, okay? Können wir uns darauf einigen?“, fragte er hoffnungsvoll. „Liz – verdammt – Liz darf auf keinen Fall etwas davon erfahren.“ Ich hob beide Hände. „Von mir sicher nicht.“
„Gut“, er wandte sich ab. „Ich geh dann mal.“
An der Tür blieb er noch einmal stehen. „Wir finden sie, das verspreche ich dir.“
Ich seufzte erschöpft und lief zum Fenster. Auf dem Vorplatz entdeckte ich Liams Eltern. Mason brach gerade mit einem Suchtrupp in den Wald auf. Taylor erteilte Anweisungen und eilte dann auf Liz zu, die ihrem Vater folgen wollte.
In mir zog sich alles zusammen.
Plötzliche Wut übermannte mich und ich straffte die Schultern.
Mit den Augen folgte ich Liz und Liam, die sich einem weiteren Suchtrupp anschlossen und kurz darauf zwischen den dichten Bäumen verschwanden. Der gesamte Platz vor dem Schloss war mit Wächterwagen zugestellt, deren Fahrer sprachen in Funkgeräte oder erhielten Informationen daraus. Alles lief auf Hochtouren. Und dann sah ich auf einmal wieder Luan vor meinem geistigen Auge. Er lief durch den Wald. Er bewegte sich schnell und geschmeidig. Dann blieb er stehen und drehte sich ruckartig um. Sein finsterer Blick wurde von Schrecken abgelöst, als er mich direkt ansah.
Ich trat einen Schritt zurück und das Bild erlosch. Doch ich würde mich nicht wieder zurück in mein Bett verkriechen und heulen. Ich fing gar nicht erst damit an, mich über die erneute Einbildung zu wundern, denn ich wusste instinktiv, wo Luan war. Und ich würde ihn zur Rede stellen.
Von einer unbeschreiblichen Wut angetrieben, hetzte ich durch den Wald.
Bald hatte ich die Stelle gefunden, wo Luan in meiner Einbildung gestanden hatte. Ich war eine gute Fährtenleserin, deshalb fand ich seine Fußspuren schnell und folgte ihnen zielstrebig.
Schließlich fand ich mich auf der Lichtung wieder, verharrte aber im Schutz der dichten Bäume. Ich hatte mich nicht getäuscht. Luan war da, aber er war nicht allein. Flankiert von zwei stämmigen Männern hockte er auf der gegenüberliegenden Seite. Ich kniff die Augen zusammen, doch über diese Entfernung konnte ich weder etwas Genaues sehen, ganz zu schweigen davon, etwas zu hören. Ich musste näher heran und genau in diesem Moment ärgerte ich mich noch mehr darüber, dass er mir nicht gezeigt hatte, wie lautlos er sich bewegte. Vorsichtig umrundete ich die Lichtung und als ich auf einige Meter herangekommen war, hielt ich inne. Die fremden Männer hatten beide blaue Augen, ein Doppelkinn und einen behäbig wirkenden Körper. Ich hätte sie mit Leichtigkeit ausschalten können und das würde ich auch tun. Siegessicher tastete ich nach hinten, um Bogen und Pfeile hervorzuholen, doch ich griff ins Leere.
Meine Waffen lagen noch im Schloss in meinem Schrank. Ich fluchte laut. Beide Männer hoben den Kopf und starrten in meine Richtung. Dann erhob sich der rechte und stapfte mit schweren Schritten auf den Busch zu, hinter dem ich Deckung gesucht hatte.
Bevor ich fliehen konnte, hatte er die Blätter mit seinen dicken Armen zur Seite geschoben und starrte mich feindselig an. Vollkommen unerwartet packte er meine Handgelenke, hob mich hoch und zerrte mich gewaltsam aus meinem Versteck. Ich versuchte mich zu befreien – vergebens. Der Dickarm riss meine Arme hoch und presste sie mir auf dem Rücken zusammen. Ich unterdrückte einen schmerzverzerrten Schrei.
„Wer bist du?“, schnauzte der zweite und baute sich vor mir auf. Ich warf Luan einen kurzen Blick zu. Er hatte sich ebenfalls aufgerichtet und musterte mich leicht verbissen, leicht belustigt.
Moment mal … fand er das etwa lustig?
Ein sengender Schmerz strahlte von meiner Wange ab, als der Schnauzer mich schlug. Ich wimmerte leise.
„Hast du mich nicht verstanden?“, grollte er und schnaubte.
„Das reicht jetzt“, knurrte Luan finster und im nächsten Augenblick sackte der Schnauzer mit einem dumpfen Stöhnen zu Boden. Dickarm musste mich loslassen, als Luan auch auf ihn losging und ihn einfach ohne mit der Wimper zu zucken zusammenschlug.
Dann richtete er sich wieder auf und sah mich aus funkelnden Augen an.
„Hast du wirklich geglaubt, du könntest um die ganze Lichtung schleichen und uns belauschen, ohne dass ich es gemerkt hätte?“
Ich spürte die Hitze, die meine immer noch schmerzenden Wangen zum Glühen brachte und senkte die Lider, sodass mir die Haare vors Gesicht vielen.
„Wahrscheinlich.“
Luan näherte sich mir vorsichtig. „Und dann hast du auch noch Bert und Pert vergessen.“ Er schüttelte den Kopf und grinste. „Nicht besonders vorteilhaft.“
Ich sah ihn ungläubig an. „Und wer bitteschön sind Bert und Pert?“
Sein Grinsen wurde breiter. „Bert, der Bogen, und Pert, die Pfeile.“
Ich hob eine Braue und konnte ihn einen Moment lang nur anstarren.
„Wenn dann Perts“, verbesserte ich und musterte ihn unsicher.
„Gut, einigen wir uns auf Bert und Perts – neue, beste Freunde“, sagte er in Plauderstimme und ich hätte ihm sein überhebliches Grinsen am liebsten aus dem Gesicht geprügelt. Mit letzter Beherrschung wandte ich mich den am Boden liegenden Männern zu. Schnauzer hatte eine üble Kopfwunde, aus der dunkelrotes Blut quoll, und Dickarm hatte seinen Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Beide lagen vollkommen leblos und starr vor mir.
„Sind sie …“
„Tot? Ja, das sind sie“, beendete Luan meinen Satz und schien sich nicht im Geringsten darum zu kümmern. „Ich habe kurzen Prozess mit ihnen gemacht.“
Mit zitternder Unterlippe sah ich zu ihm auf. Er hatte zwei Menschen gewaltsam umgebracht, und ihm war es egal?
Er zuckte mit den Schultern, als ob er meine Gedanken gelesen hätte, und klopfte sich Staub von der Jeans. „Wenn du wüsstest, wieviel mehr oder weniger unschuldiges Blut an meinen Händen klebt, dann würdest du mich verabscheuen.“
„Das tue ich jetzt schon“, presste ich hervor und wich zurück.
Luan hielt inne und sah mich an. „Jetzt weißt du es ja auch.“
Ich schluckte schwer und stolperte noch einen weiteren Schritt rückwärts.
Er richtete sich vollständig auf und legte den Kopf schräg. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich bin hier nicht der Böse.“
Ich lachte auf. „Nicht? Es ist ja auch nicht so, dass du gerade zwei Menschen aus deinem eigenen Volk getötet hast.“
Luan schnaubte. „Wie kann man so klug aussehen und gleichzeitig so dumm sein?“ Er machte eine abfällige Kinnbewegung in Richtung der Leichen zu unseren Füßen. „Sie tragen Kontaktlinsen. In Wirklichkeit sind ihre Augen rot.“
Perplex starrte ich ihn an. Luan erwiderte meinen Blick kühl. „Wir können nicht hierbleiben. Ich bringe die beiden weg und du tanzt in dein kleines Schlösschen. Wenn sich der Trubel bei euch gelegt hat, kommst wieder genau hierher und ich lasse mich auf eine Fragestunde ein, okay?“, schlug er vor. Ich starrte ihn immer noch an.
Luan hob beide Brauen. „Erde an Nellanyh?“
Sofort hatte ich mich wieder gefangen. „Nenn mich nicht so.“
Schnippisch fügte ich hinzu: „Und woher weiß ich, dass ich dir vertrauen kann und du mich nicht kidnappen willst wie diese beiden?“
Ein Lächeln huschte über seine Lippen. „Weißt du nicht. Aber wenn du nicht kommst, wäre das echt ärgerlich, weil ich mir dann den gesamten Abend inklusive Nacht den Hintern abfrieren würde, während du im warmen Bettchen süße Träume träumst.“
Aha, jetzt wusste ich auch, dass er mich kidnappen würde, wenn ich nicht kam. Also sagte ich zu, ohne wirklich zu wissen, worauf ich mich da einließ.
Wie beruhigend.
Als ich den Vorplatz des Schlosses erreicht hatte, kamen mir Liam und Liz entgegen. Beide hatten rote Flecken auf den Wangen und große Augen.
„Wo warst du?“, rief Liz und stürmte auf mich zu.
Überrascht stolperte ich ein paar Schritte rückwärts. „Im Wald, mir geht es gut.“
Sie löste sich von mir und musterte mich skeptisch. „Sag das nächste Mal bitte Bescheid, okay?“
Liam stellte sich neben sie. „Wir haben uns echt Sorgen gemacht.“
Ich seufzte und hob beide Hände. „Ja, ich melde mich das nächste Mal schriftlich ab.“
Seine Augen verdüsterten sich. „Die Lage ist ernst, Nell.“
Ich fuhr zu ihm herum. „Das weiß ich, Liam. Es sind übrigens immer noch meine Eltern, die verschwunden sind. Aber trotzdem brauche ich keinen Babysitter, und schon gar nicht zwei.“ Einen Moment lang schien er eine bissige Antwort geben zu wollen, dann schnaubte er nur und wandte sich ab.
Liz kaute misstrauisch auf ihrer Unterlippe herum. „Zwischen euch, da ist doch was“, fing sie an.
Ich senkte den Blick. „Alles wie immer.“
„Nell, ich kenne dich besser als du dich selbst. Was ist passiert, als ihr beide allein in deinem Zimmer wart?“ Sie sah mich eindringlich an.
Ich fluchte innerlich und hätte am liebsten einen Baum ausgerissen, so viel überschüssige Energie hatte ich. „Das ist doch egal, Liz. Hör bitte auf, danach zu fragen. Und bitte … bitte fühl dich nicht immer so verantwortlich für mich. Ich komme auch allein klar.“
Liz zuckte leicht zusammen und sah mich ungläubig an. „Nell …“
„Nein, nicht Nell“, ich schloss einen Moment die Augen. Wie sehr ich diese Situationen hasste, in denen man kurz davor war, etwas zu verraten, und man wusste, dass die Welt danach nicht besser aussehen würde.
„Ich habe Liam geküsst. Aber es war nicht mit Absicht. Es ist einfach so passiert. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass zwischen ihm und mir mehr ist, als zwischen dir und mir. Wir sind und bleiben beste Freundinnen und –“
Liz sog scharf die Luft ein. Jetzt war ich es, die zusammenzuckte. Das war eigentlich nur die halbe Wahrheit, denn Liam hatte mich geküsst, nicht andersrum. Aber ich wollte ihn schützen und um jeden Preis verhindern, dass Liz auf ihn sauer war.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Warum? Warum küsst du meinen Bruder?“ Jedes einzelne ihrer Worte ließ mich schaudern.
„Du hast mir versprochen – an dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben –, da hast du mir versprochen, dass du ihn niemals mehr lieben wirst als mich.“ Ihre Stimme klang heiser und brüchig.
Ich streckte eine Hand nach ihrer aus, doch sie zog den Arm zurück.
„Aber das tue ich doch immer noch nicht. Ich liebe deinen Bruder nicht mehr als dich. Ihr seid beide immer wie Geschwister für mich gewesen. Es war ein Ausrutscher. Ich war so von Gefühlen überrumpelt … und Liam war in dem Moment zufällig da“, versuchte ich sie zu überzeugen.
Liz schnaubte, was für mich wie ein Messerstich in den Bauch war. Und dann ging sie, ohne ein weiteres Wort, mit langen Schritten über den Vorplatz davon. Ich sah ihr nach und fühlte mich auf einmal so hilflos und allein gelassen wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Mom war fort. Dad war fort. Ozea war fort. Peroll war fort.
Und jetzt auch noch Liam und Liz.
Mit unsicheren Schritten ging ich zurück in mein Zimmer und ignorierte die Wächter, die mich zu beruhigen versuchten. Irgendwann kam Taylor in mein Zimmer. Ich wusste nicht mehr, wie spät es war, auf jeden Fall war längst die Sonne untergegangen. Sie stellte mir eine Tasse Tee auf den Nachttisch und verschwand wieder.
Die Nacht war kalt und der Mond hinter einem schwarzen Vorhang verborgen. Nichts regte sich im Unterholz. Leiser Wind strich mir die Haare aus dem Gesicht und fuhr unter meinen dünnen Schlafanzug. Ich fröstelte. Doch innerlich – innerlich glühte mein ganzer Körper. Die Hitze versengte zuerst meinen Magen, fuhr durch meine Adern und entflammte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Als sie bei meinen Lungen angelangt war, schnürte sie mir die Luft ab und ich hörte mich röcheln. Mein gesamter Körper wurde von einem Beben erfasst. Ich wusste, wo das Feuer hinwollte. Wo es mich am besten vernichten konnte. In meinem Herzen. Mit züngelnden Flammen griff es nach ihm, streckte sich und tobte, als es sein Ziel nicht zu fassen bekam. Einzelne Schweißperlen lösten sich von meiner Stirn und rollten mir übers Gesicht. Hinunter zu den Wangen, verklebten meine müden Wimpern und liefen mir in den Mund. Mein Körper würde verbrennen, doch nicht von außen, sondern qualvoll von innen. Und dann legten sich plötzlich zwei starke Arme um meine Taille und hoben mich hoch. Im nächsten Moment wurde ich an eine breite Brust gedrückt. Ich nahm einen vertrauten, warmen Geruch wahr, konnte ihn jedoch nicht einordnen. Meine Mundwinkel hoben sich leicht, als eine beruhigende Stimme in mein Ohr säuselte, eine Hand über mein Haar fuhr und es mir aus dem verschwitzten Gesicht schob. Ich murmelte etwas, was ich selbst nicht verstehen konnte, und dann begannen die schäbigen Umrisse der Bäume näher zu kommen. Sie rückten vor, wie von unsichtbarer Hand getrieben, und versperrten mir und wem auch immer den Weg nach draußen. Die Luft wurde erneut aus mir herausgepresst und ich keuchte. Die Hand fuhr meinen Rücken hinab und wieder hinauf, doch ich bekam immer noch keine Luft, nach der meine wunden Organe schrien. Äste und Zweige bogen sich zu mir hinab, griffen nach mir, schlugen mir ins Gesicht und kratzten mir die heißen Wangen auf. Und dann wurde alles schwarz und leer und still.