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Nell

„Sie hat M-1?“, schlussfolgerte Felicity ungläubig und musterte mich dabei, als sei ich ein stinkendes Insekt. Luan nickte und verschränkte die Arme vor der Brust, sodass sein schwarzes T-Shirt über seinen Oberarmen spannte. Meine Gedanken drifteten kurz ab und ich stellte fest, dass alle männlichen Mutanten nur schwarz trugen und alle weiblichen nur weiß. Irgendwie langweilig …

Doch ich wurde schnell und hart zurück in die Realität katapultiert.

„Es ist noch nicht bewiesen, aber Amber Notker ist hin und weg von ihr“, murmelte Luan und setzte eine gelangweilte Miene auf.

Felicity stöhnte und fing an, ihre Schläfe zu massieren. „Na super. Ein Krüppel am Bein hat uns gerade noch gefehlt.“

Ungläubig stieß ich die Luft aus. „Ich stehe gerade neben dir, falls du es noch nicht mitbekommen hast“, fuhr ich sie an.

Sie verzog die vollen Lippen zu einem herablassenden Grinsen. „Nicht doch so aufregen, Kleine. Du bekommst schon rote Ohren.“

Meine Hände begannen so stark zu zittern, dass ich sie zusammenballte. „Ich bin keine Kleine“, knurrte ich finster und hielt ihrem Blick stan. Felicity warf sich mit so viel Schwung die Haare über die Schultern, dass ihre Spitzen gegen meine Wange schlugen. Es brannte höllisch, doch ich ließ mir nichts anmerken.

„Komm nachher auf mein Zimmer. Ich wurde in die 11 einquartiert“, sagte sie zu Luan. „Dann kann ich dir sagen, warum ich hier bin.“ Mit einem letzten, herablassenden Blick auf mich drehte sie sich endlich weg und stakste mit schwingenden Hüften aus dem Gemeinschaftsraum. Ich blieb vor Wut kochend zurück und starrte auf die Stelle, an der sie verschwunden war, als könne ich sie dadurch stolpern lassen. Luan machte neben mir ein tiefes Geräusch und ich löste meinen Blick von der Tür.

„Was war das denn?“, fragte er und musterte mich finster.

Ich schnaubte. „Sie hat angefangen, mich grundlos zu beleidigen.“

„Ach bitte, sei nicht kindisch, Nell.“ Er winkte ab und schüttelte den Kopf. Da dieses Gespräch immer sinnloser wurde, und ich sowieso keine Chance gegen ihn hatte, wechselte ich das Thema.

„Wo ist meine Mom?“

„Nell –.“

„Wo ist sie?“

Luan seufzte. „Deine Stimmungsschwankungen sind echt nicht auszuhalten. Und da könntest du sowieso nicht einfach reinspazieren.“

Zum ersten Mal, seit ich hier war, konzentrierte ich mich auf meinen Mittelpunkt. Ich spürte Energie, die mein Blut durchströmte. Ich spürte meine gewohnten Kräfte, aber auch eine neue, unbekannte Kraft. Sie ließ mich schneller atmen, machte mich stärker und mutiger.

„Das ist eine ganz, ganz schlechte Idee“, warnte Luan und spannte die Schultern an. Ruckartig drehte ich ihm den Kopf zu. Ich spürte den Mittelpunkt, der in mir tobte wie ein Tornado und endlich freigelassen werden wollte. Meine gesamte Energie ballte sich in meinen Händen und ich fixierte mein Ziel.

Ich würde mich nicht aufhalten lassen, auch nicht von ihm. Ich wollte zu meiner Mom, es war mein gutes Recht. Ich musste sie sehen.

Ich hob die Arme und die Energie schoss aus meinen Handballen ins Freie. Von der unglaublichen Wucht wurde ich nach hinten geschleudert, fing mich aber wieder, bevor ich zu Boden ging. Die Mutanten im Raum hoben die Köpfe und musterten mich feindselig, doch das war mir egal. Erneut rief ich den Mittelpunkt auf und ließ meine Kräfte zum zweiten Mal frei. Eine Wasserfontäne schoss aus meinen Händen auf Luan zu, doch bevor sie ihn erreicht hatte, hob er beide Arme und erhellte den Raum mit einem Lichtblitz. Geblendet ging ich zu Boden und verlor die Kontrolle über meine Energie, die nun in unregelmäßigen Abständen aus mir herausschoss. Mein ganzer Körper bebte und zitterte. Ich hörte aufgeregte Schreie und um mich herum brach Chaos aus. Stühle wurden umgestoßen und die Leute verließen hektisch den Raum. Ich hob den Kopf und sah Luan über mir. Er hielt beide Arme erhoben und Energie knisterte über seinen Handballen.

„Bring deinen Mittelpunkt unter Kontrolle“, befahl er.

Ich schüttelte schwer atmend den Kopf. „Nein.“

„Bring deinen Mittelpunkt unter Kontrolle oder ich werde es tun!“ Jetzt fauchte Luan und seine Brust bebte.

„Nein!“ Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre es mir nicht gelungen, wieder zur Ruhe zu kommen. Die Energie in meinem Körper machte es mir unmöglich, aufzuhören.

Er presste die Lippen aufeinander. „Nell, ich will dir nicht wehtun, aber wenn du nicht tust, was ich dir sage, wird es so kommen.“

Ich schüttelte erneut den Kopf. Tränen hatten sich in meinen Augenwinkeln gebildet, während ich vor ihm auf dem Boden kauerte. „Ich glaube nicht, dass du ein Problem damit hättest, mir wehzutun.“

Ich sprang auf und ließ die gestaute Kraft frei. Wasserfontänen fluteten den Raum und zwei Efeuranken fraßen sich um Luans Beine.

Doch er schleuderte sie einfach weg und baute sich vor mir auf. „Ich habe versucht, es zu verhindern, aber du willst anscheinend wirklich nicht auf mich hören.“

Plötzlich schossen Lichtblitze an seinen Armen hinab und blendeten mich. Kurz darauf spürte ich einen stechenden Schmerz in der linken Schulter. Ich taumelte rückwärts, bis ich mit der Hüfte gegen einen Tisch stieß. Verzweifelt nahm ich wahr, wie sich Luans Energie durch mich hindurchbiss und meine Gedanken verschleierte. Ich begann zu glühen, aber nicht von außen, sondern von innen. Es fühlte sich an, als würden meine Adern durchtrennt und Eingeweide von innen ausgekocht werden. Nach Atem ringend taumelte ich und fiel wieder zu Boden. Den Schmerz des Aufpralls nahm ich kaum wahr und als sich die Energie einen Weg zu meinem wild schlagenden Herzen durchgebahnt hatte, wurde alles schwarz um mich herum.

***

Mit einem fernen Tosen im Kopf erwachte ich aus meiner Ohnmacht.

Blinzelnd öffnete ich die verschleierten Augen und krümmte mich, als ein eiserner Schmerz von meiner linken Schulter ausstrahlte. Eine kräftige Hand legte sich auf die gesunde Schulter und drückte mich sanft zurück ins Kissen. Dexters Gesicht erschien. Seine Stirn war gekräuselt und die roten Augen hatten einen merkwürdigen Glanz.

Dann spürte ich einen wohligen Schauder auf dem Rücken und war wenig überrascht, als kurz darauf auch Luans Gesicht erschien. Seine sonst gebräunte Haut war blass und unter seinen besorgten Augen lagen dunkle Ringe.

„Was ist passiert?“ Meine Stimme klang rau und war fast eine Konkurrenz für Dexters.

Er lächelte und ließ sich auf einen Stuhl neben dem Bett fallen. „Du hast gegen Luan gekämpft und dann musste er dich ruhigstellen, bevor du dir oder anderen ernsthaften Schaden zugefügt hättest“, erklärte er stumpf.

Ich lachte matt und schloss die Augen. Ja sicher. Luan musste mich ruhigstellen, weil ich sonst eine Gefahr für mich und andere gewesen wäre. In Wirklichkeit hatte mich Felicity zur Weißglut getrieben und Luan hatte seinen Teil dazu beigetragen.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Luan und sobald ich seine tiefe Stimme hörte, fühlte ich mich wohler.

Ich öffnete die Augen und sah ihn an. „So, wie ich wahrscheinlich aussehe“, erwiderte ich.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und die vollen Lippen öffneten sich leicht. „Du hast ganz schön viel Power.“

Ich hob eine Braue und ließ sie dann wieder sinken, weil mir keine Antwort darauf einfiel. Ihm schien es zu genügen, denn er setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.

„Ich lass euch dann mal allein“, mit einem Schnaufen stand Dexter auf und klopfte sich den nicht vorhandenen Staub von der Hose.

Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, biss ich mir auf die Unterlippe und wich Luans Blicke aus. Nach einer Weile des peinlichen Schweigens brach er die Stille. „Es tut mir leid.“ Jetzt schaute ich ihn an und erschauderte, als ich ihn so verzweifelt sah. „Ich habe echt Mist gebaut. Mal wieder. Und ich habe deine Gefühle verletzt, deinen Stolz – ich habe dich verletzt und deshalb dürfte ich gar nicht hier sein. Du hast jemand bessern verdient als mich, der hier jetzt sitzt und …“ Er hob den Kopf und sah mir tief in die Augen. Sofort war ich wieder von den grell-gelben Streifen gebannt und konnte den Blick nicht abwenden.

„Liam sollte jetzt hier sein. Er sollte deine Hand halten, dir die Augen öffnen damit du endlich verstehst, wie dumm ich bin.“

Der Gedanke an meinen besten Freund versetzte mir einen tiefen Stich. Ich senkte den Kopf und war hin- und hergerissen, was ich dazu sagen sollte. Ich konnte Luans Handeln nachvollziehen, jeder hätte das Gleiche getan und eigentlich war ich diejenige, die sich entschuldigen musste, denn ich war durchgedreht ohne Rücksicht auf Luan. Ich musste endlich anfangen, mich nicht mehr wie ein kleines Mädchen zu verhalten.

„Und was ist, wenn ich das nicht will?“ Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. Luan zog die Brauen zusammen und sah mich verwirrt an.

Ich schluckte. „Wenn ich es okay finde, dass du jetzt hier bist und nicht er?“

Sein Blick flackerte. Einen Moment lang sah er mir einfach nur tief in die Augen, aber dann schüttelte er den Kopf. „Ich bin ein Idiot“, knurrte er.

„Ein Vollidiot“, verbesserte ich und versuchte ein Lächeln. „Aber ich bin nicht besser.“

„Du solltest mich hassen, Nell. Das ist das einzig Richtige im Moment. Das wird dir einige unangenehme Situationen ersparen.“

Mit aufkommender Verzweiflung sah ich ihn an. „Ich hasse dich aber nicht. Ich weiß, dass ich es sollte. Du bist gemein und doof und ich kenne dich überhaupt nicht. Ich sollte dich hassen und ich weiß, dass ich das gestern zu dir gesagt habe, aber es stimmt nicht. Ich kann nichts dagegen tun.“

Vorsichtig richtete ich mich auf und suchte seinen Blick. Als er mir wieder und wieder auswich, streckte ich eine Hand aus und umfasste sein Kinn. Die schüchterne Berührung ließ ihn erschaudern und endlich sah er mich an.

„Ich hasse dich nicht“, wiederholte ich und ließ die Hand sinken. „Ich weiß, was du getan hast. Ich weiß, dass du meine Familie und mich verraten hast und ich weiß, dass du mit Felicity … eine gewisse Verbindung hast. Und ja, ich weiß auch, dass du sie sicher liebst und sie dich auf jeden Fall liebt und dass ich das nicht schön finde, aber es ist dein Leben und ich habe darin nichts verloren.“

Luan beugte sich vor und legte eine Hand an meine Wange, die sofort zu glühen begann. Unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, als er sprach. „Ich liebe Felicity nicht.“

Diese vier Worte genügten mir. Ich glaubte ihm, ich glaubte ihm voll und ganz, obwohl ich mein Leben gerade überhaupt nicht verstand. Alles passierte so schnell. Einem Ereignis folgte das nächste und wenn ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, musste ich mich schon wieder mit neuen beschäftigten. Ich fühlte mich vollkommen fehl am Platz, verstand so gut wie gar nichts. Ich vermisste meine Familie und meine Freunde, gleichzeitig hatte ich keine Ahnung, was ich von Luan halten sollte. Von meinen unkontrollierbaren Gefühlen für ihn.

Er öffnete leicht den Mund und sein Atem kitzelte meine angespannten Lippen. „Weißt du, was ich jetzt gerne tun würde?“, fragte er, während sein Daumen in kreisförmigen Bewegungen über meine Wange strich.

„Was denn?“, meine Stimme überschlug sich fast.

Er legte den freien Arm um meine Taille, um mich noch ein Stück näher an sich heranzuziehen. „Ich würde dich sehr gerne … berühren.“

Ich schluckte. „Das machst du doch schon.“

„Stimmt.“

Mein Herz begann zu rasen, als er den Kopf leicht schräg legte und dann stockte es, als er mich losließ. „Wir sollten die Zeit sinnvoller nutzen.“

Verwirrt sah ich ihn an, dann wurde ich wieder rot und nickte.

„Was du noch nicht weißt, ist, dass Felicity und ich bisher die einzigen Mutanten im Lager waren, die M-1 haben“, begann Luan und setzte sich auf den Stuhl, auf dem zuvor Dexter gesessen hatte. „Jetzt hat Amber Notker eine ziemlich sichere Spur, dass du es auch hast, und das ist wie zehn Geburtstage auf einmal.“

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen das Bettgestell und begann, an meinen Haarspitzen zu fummeln. „Das geht Felicity natürlich gewaltig gegen den Strich.“

„So kann man es auch sagen.“

„Und warum ist sie hier?“, wollte ich wissen.

Er hob eine Braue. „Das weiß ich selbst nicht. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sie mich sehen wollte. Immerhin kennen wir uns seit knapp sechs Jahren und haben in der Zeit einiges durchgemacht. Sie ist zurzeit noch in Abteil 10, aber wird wahrscheinlich bald, genau wie ich, in den Außendienst gehen.“

Mein Gehirn war immer noch komplett überfordert. „Und dein Bruder? Wo ist er?“, fragte ich und ließ meine Haare in Ruhe.

Luan holte tief Luft. „Zurzeit in Abteil 9. Er hat kein M-1 und wird deshalb Tag für Tag von den Red Eyes erniedrigt. Er … er war der Grund, warum ich der Sache zugestimmt habe, dich hierher zu bringen. Hätte ich mich geweigert, für die Red Eyes zu arbeiten oder wäre ich nicht mit dir zurückgekommen, hätten sie ihm schlimme Sachen angetan“, sagte er verbissen und voller Abscheu.

Ich riss die Augen auf. Verstand ich das gerade richtig?

„Aber dann ist ja alles gar nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür, dass ich jetzt hier bin. Du wolltest nur deinen Bruder beschützen. Warum hast du das nicht gleich gesagt?“

Er schnaubte. „Weil es nichts geändert hätte. Eigentlich sollte ich froh sein, dass du mich gehasst hast. Das machte alles einfacher.“

„Ach ja?“, schnappte ich und sah ihn wütend an. Nur er war in der Lage, meine Gefühle von jetzt auf gleich explodieren zu lassen.

Zaghaft klopfte jemand an die Tür und ich hob den Kopf. „Ja?“

Die Tür wurde geöffnet und Lou kam herein. Logan blieb vor dem Zimmer stehen und verschwand aus meinem Sichtfeld, als die Tür zufiel, doch ich wusste, dass er immer noch direkt davorstand.

Besorgt schob ich die Decke zurück und erschauderte, als meine nackten Füße den kalten Boden berührten. Dann stand ich entschlossen auf und eilte auf Lou zu. Sie sah vollkommen erschöpft aus. Ihre Haare waren wieder fettig und hingen strähnig vor ihrem blassen Gesicht. Über den braun-grünen Augen lag ein matter Schimmer, ihre Lippen waren trocken und aufgeplatzt.

„Was ist passiert?“, fragte ich und führte sie zu ihrem Bett.

Lou fasste sich an die Kehle, als würde es ihr Schmerzen bereiten, zu sprechen. „Wir können nicht zusammen in Abteil 2 untergebracht werden. Ich muss hier bleiben.“

„Ich weiß“, murmelte ich und drückte ihre Hand. Mit gläsernem Blick sah sie zu mir auf. „Ich soll nur ein paar Sachen holen, aber dann muss ich wieder in die obere Etage.“

Ich bat sie, sich auszuruhen, und verschwand im Bad, um die Tasche mit dem Foto ihrer Mom zu holen. Als ich kurz in den Spiegel sah, erblickte ich hinter mir Luan. „Ich gehe dann mal …“

„In Raum 11“, beendete ich vielsagend seinen Satz. Er seufzte nur und verließ das Zimmer. Ich trat wieder zu Lou und reichte ihr die Tasche. „Ich habe das Foto gesehen“, sage ich leise. „Die Frau darauf ist deine Mom?“

Sie nickte müde und kramte, bis sie das Papier gefunden hatte und sich an die Brust presste. „Sie hieß Amy.“

„Hieß?“, wiederholte ich, während mir eisige Schauder über den Rücken jagten.

„Mom ist an einer Lungenentzündung gestorben. Ist schon etwas länger her.“

„Lou, das … das tut mir so leid.“

Sie verzog den Mund. „Das ist lieb, ändert aber nichts.“

Ich nickte stumm und umarmte sie lange und fest.

Als sie von Logan wieder in die obere Etage begleitet wurde, kam Dexter zurück. Wir gingen zusammen essen, unterhielten uns aber kaum. Danach musste ich wieder in den Behandlungsraum und Amber Notkers Miene nach zu urteilen, gab es etwas Tolles zu erzählen.

„Bevor ich die Neuigkeiten verkünde“, trällerte sie und wurde etwas ernster. „Nach dem kleinen Zwischenfall im Gesellschaftsraum hast du keine Schmerzen mehr?“

Ich rieb mir die linke Schulter, sie tat aber kaum noch weh.

„Schön, schön“, meinte die Ärztin. „Und wegen deiner Mom: Wenn du umquartiert wurdest, kannst du sie vielleicht heute Abend noch sehen.“

Ich sah sie erstaunt an und mein Herz begann zu rasen. „Danke!“

Amber Notker machte eine wegwerfende Handbewegung und räusperte sich. „Luan kann jetzt leider nicht hier sein, da er zusammen mit Felicity an einem neuen Auftrag arbeitet, aber er wird es ebenfalls noch heute erfahren.“ Sie verschränkte die Arme vor der schmalen Brust und schien kaum stillhalten zu können. Es war seltsam, sie in so einer Situation zu sehen.

„Wir haben endlich unsren dritten Achat!“, rief sie laut und drehte sich einmal, was fast albern aussah. Außer ihr und mir war nur noch Dexter im Raum. Als ich ihm einen verwirrten Blick zuwarf, blickte er mich nur ehrfürchtig an.

„Das heißt jetzt was genau?“, versuchte ich die Lage zu erfassen.

Sie strahlte. „Mutanten mit M-1 bezeichnen wir als Achate. Sie sind unglaublich vielfältig und bunt, eben wie die außergewöhnlichen Steine“, erklärte sie. „Und du bist ab heute die Dritte im Bunde. Luan, Felicity und du, ihr drei werdet ein unschlagbares Trio, eines, das keines der acht Völker je gesehen hat.“

Ich sah sie regungslos an. Dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, was hier vor sich ging, schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Luan und ich wäre wahrscheinlich gerade so aushaltbar. Aber Felicity? Das könnte umständlich werden. Es war verrückt, denn ich kannte sie noch keine 24Stunden und hatte kaum mit ihr geredet, aber dieses Mädchen war auch so schon anstrengend genug.

„Aber wir müssen bei der Sache bleiben“, mahnte sich Amber Notker selbst und hob die Brauen. „Dexter wird dich jetzt in Abteil 2 begleiten und dir dein neues Zimmer zeigen. Da Lou leider noch in Abteil 1 bleiben muss, wirst du dir erstmal mit David eins teilen müssen.“

David? Erst nach kurzer Überlegung fiel mir der Typ mit den violett-grauen Augen wieder ein, der mit Felicity zusammen an einem Tisch gesessen hatte.

„Und meine Mom?“, hakte ich nach. Amber Notker spitzte die Lippen.

„Wie gesagt, wahrscheinlich wird sie heute Abend auf dein Zimmer gebracht.“

Nachdem sie Dexter die neuen Schlüssel zugesteckt hatte, führte er mich zu meinem alten Zimmer zurück, damit ich meine Sachen packen konnte. Ich beeilte mich und verließ das Zimmer mit einem letzten Blick auf Lous Bett. Mir war plötzlich kalt geworden und das lag nicht an dem dünnen T-Shirt. Dexter führte mich eine gefühlte Ewigkeit durch die verzweigten Gänge und schließlich gelangten wir an einen Tunnel, der von zwei Wärtern versperrt wurde. Er zeigte die Schlüssel, die ihm Amber Notker gereicht hatte, und sagte ausdruckslos: „Achat.“

Die beiden Männer musterten mich kurz und angespannt, dann ließen sie uns in den Tunnel hinein. Er war mit grellen Lichtern erhellt und ich musste die Augen zusammenkneifen, weil es so blendete. Am Ende des Tunnels traten wir durch eine weitere Tür und ich hörte Dexters raue Stimme über mir. „Willkommen in Abteil 2.“

Ich erschauderte leicht und sah mich um. Es sah eigentlich genauso aus wie in den Gängen von Abteil 1. Überall liefen konzentrierte Red Eyes herum, manchmal erkannte ich auch einen Black Eye. Doch es gab etwas, was anders war, das merkte ich sofort. Die Türen von einigen Räumen standen offen und die Zimmer dahinter waren viel größer als die in Abteil 1. Außerdem waren es insgesamt weniger Türen und Räume und auch die Gänge erschienen mir ein bisschen übersichtlicher.

Dexter führte mich gar nicht allzu lange herum und schon bald blieb er vor einer schmalen Holztür stehen. „Dein neues Zimmer“, verkündete er. „Du wirst es dir diesmal mit David teilen, aber du kennst ihn ja jetzt schon halbwegs.“

Vorsichtig lugte ich an seiner Schulter vorbei, als er die Klinke nach unten drückte. Wir traten in einen Raum, der fast die gleiche Größe hatte wie der, den ich mir mit Lou geteilt hatte. An einer Wand stand ein breites Regal, an der anderen zwei Betten. Wieder führte eine zweite Tür in das abgetrennte Badezimmer.

Ich ließ den Blick zurück zu den Betten schweifen, neben denen jeweils ein Stuhl stand. Auf einem von ihnen saß David. Er hatte den Kopf erhoben und musterte mich aufmerksam, während sein Blick jeder einzelnen meiner Bewegungen folgte.

„Deine Mom wird bald hergebracht“, meldete sich Dexter von hinten.

Ich nickte stumm und ließ mich etwas steif auf mein neues Bett fallen.

„Ihr habt gute zehn Minuten, ich bin vor der Tür“, er warf mir einen vielsagenden Blick zu und verschwand kurz darauf.

„Wir sind jetzt also neue Zimmer… Gefährten?“, versuchte ich ein einfaches Gespräch anzufangen und sah ihn von der Seite an. Er drehte mir den weißen Schopf zu und die ungewöhnlichen, grau-violetten Augen richteten sich abermals auf mich. Als er nichts erwiderte, versuchte ich es weiter.

„Du bist aber kein Achat, oder?“

David zog die Brauen zusammen. „Achat?“

Ich war froh, dass er überhaupt sprach, auch wenn es nicht besonders viel war, und erklärte ihm, was ich von Amber Notker erfahren hatte. Er hörte aufmerksam zu, unterbrach mich kein einziges Mal und ich begann langsam, ihn irgendwie zu mögen.

Sobald ich geendet hatte, klopfte eine schwere Hand gegen die Tür und kurz darauf erschienen Dexters breite Schultern. Hinter ihm trat auch Carter ein, Davids Begleiter. Ich spürte sie, auch wenn sie hinter den beiden Männern noch nicht zu sehen war. Ich spürte sie und mein Herz begann zu rasen.

„Wir gehen etwas essen“, teilte Carter David mit und die beiden verließen den Raum. Als sie auf dem Gang verschwunden waren, konnte ich sie endlich sehen. Ich sprang auf und rannte zu meiner Mom, schlang ihr beide Arme um den Hals und drückte sie an mich. Sie erwiderte meine Umarmung mindestens genauso fest und stürmisch und ich vergrub leise schluchzend mein Gesicht in ihrer Schulter. Eine Weile standen wir einfach so da und hielten uns in den Armen. Ich genoss ihren warmen Atem an meiner Wange und ihre beruhigende Hand, die langsam über mein Haar strich. Als wir uns voneinander lösten, konnte ich kleine Tränen in ihren Augen erkennen. Mir selbst rannen sie nur so übers Gesicht und ich versuchte gar nicht erst, sie aufzuhalten – ich wollte es gar nicht.

„Ihr habt eine halbe Stunde, dann muss deine Mom wieder in ihr Zimmer“, erklang Dexters raue Stimme neben mir. Sein eiserner Blick verriet mir, dass ich mich fügen musste, deshalb nickte ich.

Nachdem er noch einmal meine Mom gemustert hatte, verließ er abermals das Zimmer und wir waren allein. „Mom …“

„Lass uns erstmal setzen“, unterbrach sie mich und ich erschauderte leicht, als ich ihre ungewohnt heisere Stimme hörte. Wir ließen uns auf meinem Bett nieder und sie nahm meine zitternden Hände in ihre. „Wie geht es dir?“

„Gut …“ Auf einmal hatte ich keine Ahnung, was ich sagen sollte, deshalb hörte ich einfach nur zu, was sie mir erzählte.

„Weißt du … Ozea hat dir sicher auch erzählt, dass Lenn …, dass er den Krieg nicht gewinnen wird, oder?“

Ich nickte verwundert.

Sie atmete tief durch. „Aber damit war nicht gemeint, dass er den Krieg gegen die Gray Eyes oder gegen irgendein anderes Volk verlieren wird.“ Sie beugte sich vor und suchte meinen Blick. „Damit war gemeint, dass er den Krieg um dich nicht gewinnen wird. Er wird dich verlieren und“, sie wurde leiser, „so ist es nun auch gekommen.“

Ich blinzelte heftig. Der Blick meiner Mom brach mir fast das Herz. Ihre Augen waren dunkel vor Kummer, Schmerz und Verzweiflung.

„Er ist nicht mein Dad“, meine Stimme klang unwirklich. „Warum habt ihr mich die ganze Zeit angelogen?“

Sie drückte meine Hände. „Uns ging es immer nur darum, dich zu beschützen. Hättest du gewusst, dass du ein Mutant bist, wäre das zu gefährlich gewesen.“

„Warum?“ Ich biss mir auf die Lippe. „Ich wäre doch nicht so dumm gewesen und hätte mich selbst verraten.“

Mom schüttelte nur den Kopf. Ich fluchte leise und versuchte, mich zu konzentrieren. „Stimmt es, dass Lenn und Peroll … das sie tot sind?“

Sie schien förmlich in sich zusammenzusacken. „Ja. Beide sind sie … nicht mehr unter uns.“

„Aber Ozea lebt noch?“, fragte ich. Sie nickte. Auch wenn Lenn nicht mein Vater und damit nicht ihr richtiger Mann gewesen war, hatte sie ihn dennoch geliebt – und ich auch. Verdammt, er war für fünfzehn Jahre lang mein Dad gewesen. Wäre es möglich gewesen, hätte ich getrauert. Hätte mich auf ihrem Schoß zusammengekauert und hätte geweint, bis keine Träne mehr übrig war. Ich wäre in dieser dunklen Phase ertrunken wie ein hilfloses Kleinkind im offenen Meer. Aber ich konnte nicht. Ich konnte jetzt nicht trauern, auch wenn ich nichts lieber getan hätte. Ich musste weiterhin einen klaren Kopf bewahren, sonst würde ich durchdrehen. Und das würde nichts leichter machen – im Gegenteil.

„Die Red Eyes wollen sie aus irgendeinem Grund unbedingt lebendig. Vielleicht, weil sie eine so kluge Seherin ist und ihnen in vielen Bereichen hilfreich sein könnte“, meinte Mom. Sie wirkte trübsinnig und erschlafft, aber ich merkte auch, wie sie versuchte, ihren Kummer zu unterdrücken.

Für mich.

Ich stieß die angehaltene Luft aus. Die Frage lag mir seit der Sekunde auf der Zunge, in der ich erfahren hatte, dass Lenn nicht mein Dad war.

„Wer ist mein Vater?“

Mom begann ruckartig ihre Stirn zu massieren. „Das ist unwichtig.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das finde ich aber nicht.“

„Er hat uns im Stich gelassen, als ich kurz vor dem Entbinden war. Er hat sich gegen uns und für sein Volk entschieden! Er will von uns nichts wissen. Nicht einmal hat er nach dir fragen lassen. Nicht einmal habe ich wieder seinen Namen gehört. Nicht einmal habe ich ihn gesehen, seit er mich sitzenlassen hat!“, schrie sie plötzlich und ich sah sie erschrocken an.

„Mom, bitte“, fing ich an. „Es ist doch nur ein Name.“

Jetzt war sie es, die den Kopf schüttelte. „Dieser Name hat schon genug Schaden angerichtet, aber –“ Sie beruhigte sich ein wenig und seufzte. „Aber du hast Recht. Du sollst ihn wenigstens von mir hören anstatt von jemand anderem.“ Als sie mich ansah, funkelten ihre wunderschönen, grünen Augen wie geschliffene Smaragde. „Dein Vater ist Talis Water. Der Anführer der Blue Eyes.“

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