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Nell
15 Jahre später
Ich erwachte durch ein Klopfen an meiner Zimmertür.
Müde wälzte ich mich auf die andere Seite und blinzelte vorsichtig. Die Sonne schien zwischen den dünnen Vorhängen hindurch.
Ich kaute einen Moment lang auf meiner Unterlippe, dann legte sich in mir ein Schalter um. Ich schlug die Decke zurück, rannte zur Tür und öffnete sie schwungvoll.
Ozea machte einen Schritt zurück und musterte mich von oben bis unten.
„Du bist ja noch gar nicht umgezogen!“, tadelte sie und trat ein. Ich hastete zu meinem Schreibtischstuhl, auf dem das Kleid für den heutigen Tag schon darauf wartete, getragen zu werden. Dann verschwand ich ins Badezimmer, zog mich um und ließ mir von Ozea die Haare machen.
„Wie stellst du dir den kommenden Tag vor?“, fragte sie, während sie einzelne Strähnen aus meinem Zopf fummelte.
„Du meinst meinen Geburtstag?“, hakte ich nach und konnte kaum stillsitzen. „Nun ja, ich werde ganz viele Geschenke bekommen. Die Familie wird zusammen sein und wir werden Kuchen essen!“
Ozea lachte, dann ließ sie von mir ab. „Fertig!“
Ich drehte mich ein paar Mal vor meinem Spiegel, dann atmete ich tief durch.
„Genieß den Tag“, sagte Ozea und ihre Stimme klang ungewohnt fest. Ich nickte und lächelte ihr entgegen.
Ihre einst vollkommen schwarzen Haare waren von einzelnen, grauen Strähnen durchzogen. Ihre grünen Augen waren von einem dunklen Wimpernkranz umringt und ihr dünner Körper steckte in einem weißen Kleid.
Wir gingen zusammen nach unten, durchquerten einige Räume des großen Schlosses und kamen schließlich ins Esszimmer. Es war ein langer Raum mit hohen Fenstern und hellen Wänden.
Meine Mom stand neben dem Tisch und diskutierte leise mit einem hochgewachsenen, muskulösen Mann. Es war Lenn Ivy, der Anführer der Green Eyes und zufällig mein Vater. Ich schnappte einzelne Wortfetzen auf.
,,… Es ist ihr Geburtstag! …“
,,… Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren! …“
Ich fluchte innerlich. Nicht schon wieder dieses Thema.
Seit einiger Zeit verhielten sich Mom, Dad und auch Ozea immer merkwürdiger. Sprachen andauernd von diesem Thema und wenn ich sie darauf ansprach, machten sie dicht.
Ich hatte die Nase gestrichen voll von dieser Geheimnistuerei und eilte auf sie zu. „Können wir endlich essen?“
Mom zuckte zusammen und wandte sich lächelnd zu mir um. „Natürlich, mein Schatz, alles Gute zum Geburtstag!“
Dad wünschte mir das Gleiche und wir setzten uns.
Ozea hatte alles Mögliche vorbereitet. Es gab Süßes, Deftiges, Saures, allerlei Getränke und Obst. Ich machte mich über das Essen her und übersah die Blicke meiner Eltern dabei nicht. Irgendetwas war hier faul.
Als ich fertig war, legte ich das Besteck ordentlich ab und heftete meinen Blick auf Mom. Sie spürte es sofort und versuchte mich anzulächeln, scheiterte aber kläglich. „Gibt es Probleme im Volk? Rebellen? Werden wir von den Blue Eyes bedrängt? Oder sind es vielleicht die Red Eyes?“, zählte ich die Möglichkeiten auf. Dad stieß ein tiefes Lachen aus und lehnte sich zurück.
„Du bist so erwachsen geworden, meine Kleine“, murmelte er gedankenverloren. Ich rümpfte die Nase. „Das beantwortet aber nicht meine Frage.“
„Es ist alles in allerbester Ordnung!“, warf Mom schnell ein und lächelte.
„Hört auf, mir etwas vorzuspielen! Ich bin jetzt fünfzehn, verdammt! Sagt mir endlich, was los ist!“, rief ich und ballte die Hände zu Fäusten.
Mom senkte den Blick, sie sah plötzlich sehr müde und verzweifelt aus.
„Tut mir leid …“, murmelte ich, meinte es aber nicht wirklich ernst. Dad atmete tief ein und wieder aus. „Du weißt ja, dass es acht Völker gibt: die Blue Eyes, die Gray Eyes, die Purple Eyes, die Black Eyes, die Yellow Eyes, die Brown Eyes, die Red Eyes und uns, die Green Eyes“, fing er an. „Mit manchen sind wir verfeindet, mit manchen befreundet. Ich führe im Moment Krieg gegen die Blue Eyes, Gray Eyes und mit den Red Eyes waren wir noch nie befreundet. Die Lage ist sehr angespannt und deshalb habe ich mir gedacht“, er tauschte einen kurzen Blick mit Mom,,,dass wir so eine Art Austausch mit den Blue Eyes machen. Das heißt, ein Junge – wir haben ihn bereits bestimmt und er ist gestern hier angekommen – wird bei uns einen Austausch machen. Und wir möchten ihn dir heute gerne vorstellen.“
Ich war mir fast sicher, dass das nicht der Grund war, warum er seit Tagen mit Mom stritt, aber mein Interesse war geweckt. „Er ist also schon im Schloss?“, fragte ich und versuchte meine Aufregung zu unterdrücken.
Dad nickte und lächelte, es sah ziemlich gezwungen aus, aber ich hatte keine Lust, mir an meinem Geburtstag Gedanken über sein unechtes Lächeln zu machen. Deshalb nickte ich ebenfalls und sah ihn fragend an.
„Du willst ihn gleich sehen?“, riet er zwinkernd. Ich errötete und senkte den Kopf. Oh mann, warum ließ mein Dad einen Austausch mit einem Jungen aus einem Volk zu, gegen das er Krieg führte?
„Na komm“, mischte sich Ozea ein und erhob sich. „Ich stell dich ihm vor.“
„Aber ich muss mich zuerst umziehen!“, warf ich ein und sprang auf.
„Du siehst blendend aus“, meinte Mom. Ich rollte die Augen.
„Das Grün deiner Augen passt perfekt zu weißer Spitze!“, fügte sie hinzu.
„Aber das Kleid ist so eng … und ich will mich ja bewegen können.“ Ich rauschte aus dem Raum, bevor Mom noch mehr Einsprüche hervorbringen konnte.
Nachdem ich mich in eine lockere Jeans und ein weites T-Shirt geschmissen hatte, beeilte ich mich, wieder nach unten zu kommen. Mom und Dad waren nicht mehr im Esszimmer, nur Ozea lehnte an einer der hellen Wände.
Als ich eintrat, stieß sie sich ab und kam auf mich zu. „Du bist so schnell groß geworden“, hauchte sie und legte beide Hände an meine Wangen.
Ich blinzelte sie verwirrt an. Ozea war immer wie eine zweite Mutter für mich gewesen. Wenn Mom oder Dad keine Zeit für mich hatten – sie war immer da gewesen und hatte mich in allem unterstützt. Ich liebte sie wie einen Teil der Familie und das war sie für mich vor Geburt an.
„Warum sagst du das?“, meine Stimme zitterte leicht.
Ozea seufzte und ließ die Hände sinken. „Ich mache mir Sorgen um dich.“
„Warum?“
„Schwierige Zeiten stehen bevor. Ich bin die Seherin deines Vaters, ich habe die kommenden Dinge vorhergesehen.“
Meine Brust wurde eng. „Was wird passieren? Was hast du gesehen?“
Ozea schloss die Augen und presste die Lippen zusammen. „Dein Vater führt Kämpfe gegen drei Völker …“, hob sie an.
„Die Gray Eyes hat er fast besiegt, mit den Blue Eyes haben wir doch jetzt einen Austausch – da stehen die Chancen gut – und gegen die Red Eyes führt so gut wie jedes Volk Krieg“, versuchte ich, vielmehr mich selbst als sie zu überzeugen.
Ozea schüttelte den Kopf. „Dein Vater wird den Krieg nicht gewinnen. Lenn Ivy wird versagen!“
Ich zuckte zurück. Ihre Stimme war plötzlich laut geworden und ihre Augen funkelten wie tödliches Efeu. Der Schmerz saß tief. Wenn selbst Ozea, unsere Seherin, nicht an den Sieg glaubte, wer tat es dann?
„Ich möchte nicht, dass du es jemandem erzählst“, stellte sie klar. Ich nickte, ohne nachzudenken. Die dunkle Vorhersage würde nur Unruhe verbreiten und die Leute in Angst versetzen.
„Und jetzt geh und genieße den Tag, solange du die Möglichkeit dazu hast“, murmelte sie und verschwand mit eiligen Schritten.
Wie benebelt machte ich mich auf den Weg aus dem Schloss. Ozeas Worte zogen tiefe Furchen in meinem Kopf und hackten meine klaren Gedanken wie Staubkörner beiseite. Dein Vater wird den Krieg nicht gewinnen. Lenn Ivy wird versagen!
Ozea hatte Angst, große Angst, und das verhieß nichts Gutes. Auch ich hatte Angst. Angst um meine Familie, meinen Vater, dem ich nichts erzählen durfte. Wenn er wüsste, dass er keine Chance hatte, könnte er sich wenigstens noch geschlagen geben, aber das Wort einer Seherin war Befehl und stand in diesem Fall auch über dem des Anführers.
Als ich auf den großen Vorplatz des Schlosses trat, empfingen mich einige meiner Freunde. Sie wünschten mir alles Gute und wir alberten eine Weile herum. Aber ich war mit meinen Gedanken nicht vollkommen bei der Sache. Mit den Augen suchte ich den Platz ab, doch Ozea war nicht da. Wahrscheinlich hatte sie sich zurückgezogen und war beschäftigt.
Jemand stieß mir seinen Ellenbogen in die Seite und ich fuhr herum.
„Bist du dabei?“, lachte Liam und sah mich fragend an.
„B… bei was nochmal?“ Ich kam mir ein wenig blöd vor.
„Wir wollen nachher noch mit dem Neuen in den Wald gehen und ihm unsere Kräfte zeigen. Vielleicht können wir danach auch noch ein bisschen trainieren“, sagte er und hob dabei eine Braue. Seine hellgrünen Augen funkelten. Ich nickte zustimmend.
„Habt ihr ihn schon gesehen? Den Neuen, meine ich?“, fragte ich meinen besten Freund. Liam sah gut aus. Er hatte dunkle Haare, einzelne Sommersprossen auf der Nase und seine hellgrünen Augen waren ausdrucksstark. Aber zwischen uns war nichts – nicht mehr als tiefe Freundschaft jedenfalls.
Liam wurde ernst. „Wie kann man den denn übersehen?“
Er konnte ihn offensichtlich nicht leiden. Das fing ja gut an.
Doch er machte eine Bewegung mit dem Kinn und deutete so die Richtung an. Ich hauchte Liam einen Kuss auf die Wange und suchte mir einen Weg durch die vielen Menschen, die sich inzwischen vor dem Schloss versammelt hatten. Ich erspähte meinen Vater, er war gut einen Kopf größer als die übrigen Leute und stand neben meiner Mom. Als ich die beiden erreicht hatte, trat auch der Junge in mein Blickfeld, der bei ihnen war. Er war größer als Liam, allgemein größer als die meisten Jungs in seinem Alter, hatte dunkelblondes Haar, war muskulös gebaut und seine vollen Lippen hatten sich zu einem breiten Grinsen verzogen. Ich warf einen kurzen Blick auf seine Augen. Sie waren blau, natürlich, er kam ja auch von den Blue Eyes. Aber es war kein gewöhnliches Blau. Die Tiefe dieser dunklen Farbe sog mich förmlich auf und für einen kurzen Moment vergaß ich alles andere um mich herum.
„Ah, da ist ja meine kleine Prinzessin!“, rief Dad und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Meine Wangen fingen an zu glühen und meine Finger wurden schwitzig. Als ich Moms misstrauischen Blick sah, der auf meinem weiten T-Shirt lag, wurde mir übel.
„Luan, das ist meine Tochter Nellanyh!“, stellte Dad mich vor.
Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. Warum nannte er vor Fremden immer meinen ganzen Namen? Ich hasste diese acht Buchstaben. Normalerweise nannten mich meine Eltern Nelly, höchstens mal Lanyh. Unter Freunden war ich einfach nur Nell – und so sollte es auch sein.
„Hi“, sagte Luan und reichte mir seine Hand. „Nellanyh, ein schöner Name. Selten, aber schön“, fügte er hinzu. Seine Stimme war angenehm und weich. Ich hätte mich wahrscheinlich hineingelegt, wenn ich gekonnt hätte.
Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch.
„Nelly …“, Mom beugte sich vor und machte eine vielsagende Geste zu Luan. Ich lächelte flüchtig und legte meine Hand in seine.
Als wir uns berührten, stoben tausend Gefühle in mir auseinander und hinterließen ein einziges Caos. Schüchtern zog ich meine Hand wieder zurück und senkte den Arm.
„Wie lange er hier bleibt, ist noch nicht ganz klar“, versuchte es Dad mit einem Gespräch, ,,aber es werden auf jeden Fall mindestens vier Wochen sein“.
Ich biss mir auf die Lippe. Vier Wochen also.
„Wir lassen euch dann mal allein“, lächelte Mom, ich nahm es ihr aber nicht ab. „Ach und- Liam hat mir gesagt, dass ihr später noch in den Wald gehen wollt, seid bitte zurück bevor es dunkel wird.“
Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich war fünfzehn, verdammt. Keine drei mehr.
„Das kenne ich“, sagte Luan plötzlich. Ich hob die Lider und blinzelte zu ihm auf.
„Wie alt bist du?“ Wow, das Erste, was ich zu ihm sagte und ich hatte keinen Sprachfehler ans Licht befördert. Ich war stolz auf mich.
Er grinste mich an und kleine Grübchen bildeten sich auf seinen gebräunten Wangen. „Sechzehn.“
„Ah“, war das Einzige, was mir dazu einfiel. Die Luft zwischen uns schien elektrisch aufgeladen und zum Explodieren gespannt. Mir war unglaublich heiß.
Plötzlich beugte sich Luan zu mir hinab. „Willst du mir das Schloss zeigen?“
„Auch draußen bleiben“, stammelte ich.
Er sog scharf die Luft ein und hob eine Braue. Erst jetzt wurde mir klar, was ich gerade von mir gegeben hatte. Mir war zum Heulen.
Dann grinste er auf einmal. „Klar, wir können auch draußen bleiben.“ Kurz darauf stieß er ein schnelles „Aahh“ aus und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Ich habe ganz vergessen – alles Gute zum Geburtstag!“
Ich wurde rot. „Danke.“
Bevor Luan noch etwas erwidern konnte, zwängte sich Liam zu uns durch.
„Liz will sofort aufbrechen, die anderen sind auch dafür“, verkündete er den Vorschlag seiner Zwillingsschwester. Keinen Augenblick später stand sie neben mir und fiel mir um den Hals. Sie sah exakt so aus wie ihr Bruder Liam, nur eben die weibliche Variante.
„Oh Nell, alles, alles Gute!“, rief sie und erwürgte mich dabei fast.
Ich lachte und schob sie sanft von mir. „Danke!“
Dann wandte ich mich an Liam. „Okay, von mir aus können wir sofort aufbrechen.“
Er nickte und verschwand in der Menge. Liz und ich folgten ihm, Luan bildete den Schluss.
Unterwegs wurde ich von einigen Bekannten und Freunden meiner Eltern angesprochen, die mir gratulierten, und schließlich trafen wir auf Peroll. Er war der General der Armee meines Vaters und die beiden waren auch privat gut befreundet. Peroll war oft im Schloss und verbrachte Zeit mit Ozea und mir. Ich mochte ihn. Er hatte eine Glatze und einen stets ordentlichen, grauen Oberlippenbart. Als er mich erkannte, fasste er mich an der Taille an und hob mich hoch, als wäre ich nicht schwerer als eine Feder, und lachte. „Da bist du schon fünfzehn!“, rief er und setzte mich wieder ab. Dann beugte er sich hinunter und flüsterte: „Und nachher habe ich auch noch eine Überraschung für meine kleine, große Enkelin!“
Er nannte mich fast immer so und ich hatte mich inzwischen daran gewöhnt. Da er selbst keine Kinder und so auch keine Enkel hatte, schien es ihn froh zu machen, mich so zu nennen, und in gewisser Weise war er auch so etwas wie ein Opa für mich.
Ich küsste ihn lächelnd auf die Wange und winkte ihm zum Abschied zu, bevor ich mich beeilte, den anderen zu folgen.
Als wir endlich unter uns waren, gesellte sich auch der Rest der Gruppe zu uns. Brian, Jess und Nara wünschten mir ebenfalls alles Gute, doch mein Blick fiel auf May. Sie war tatsächlich auch gekommen.
May war ein schlankes Mädchen mit hüftlangen, blonden Haaren. Sie zog jeden Jungen an sich, der sich ihr auch nur näherte. Aber sie sah nun mal wirklich gut aus, das konnte selbst ich nicht leugnen. Dazu kam, dass außer Jess keiner sie so wirklich leiden konnte – Jungs ausgeschlossen –, deshalb wunderte es mich auch, dass sie gekommen war.
„Hi, Nell“, trällerte sie, doch ihr Blick huschte gleich weiter zu Luan, der dicht hinter mir stand. „Bist du der Austauschschüler von den Blue Eyes?“, rief sie übertrieben und riss die Augen auf.
Luan trat neben mich und lächelte sie breit an. „Freut mich, dich kennenzulernen.“ Er reichte ihr die Hand.
Ich unterdrückte ein Augenrollen, als May ihre weißen Zähne zeigte und sich an ihn ranschmiss. „Ich liebe die Blue Eyes. Auch wenn unser Anführer diesen hirnrissigen Krieg gegen euch führt, weil er denkt, ihr seid böse.“
Ich ballte die Hände zu Fäusten. Was war bei der denn für ein Schalter ausgefallen? Sie beleidigte gerade in aller Öffentlichkeit meinen Vater! Eine Hand legte sich auf meine Schulter, ich fuhr herum.
Es war Liam. „Reg dich nicht auf. Sie wird sich nur freuen, wenn du jetzt auf sie losgehst“, murmelte er und seine grünen Augen funkelten verständnisvoll. Ich schloss die Augen und als ich sie wieder öffnete, hatte May Luan bereits mit sich gezogen und lief dicht neben ihm auf den Wald zu.
Mit steifen Schritten folgte ich ihnen.
Da ich heute Geburtstag hatte, durfte ich mir auch aussuchen, wo wir hingingen. Ich schlug den schmalen Pfad zur Waldlichtung ein, meinem Lieblingsort. Dort wuchs hohes Gras, man konnte die perfekten Sonnenuntergänge beobachten und es gab genug Platz, um mit Pfeil und Bogen zu üben. Da ich aus feinem Hause kam, wie es Mom immer nannte, gehörte es sich für mich eigentlich nicht, wie ein Junge zu schießen oder im Wald unterwegs zu sein. Ich ging auch nicht mit den anderen zur Schule, sondern wurde von Ozea im Schloss unterrichtet. Ich hasste es.
Seit meinem zwölften Geburtstag durfte ich zum Glück Bogenschießen und hatte diese Sportart schnell für mich entdeckt. Seither verbrachte ich jede freie Minute beim Training im Wald.
„Und, wie findest du es hier?“, fragte May engelsgleich und blickte mit großen Augen zu Luan auf. Er grinste schief. „Es ist wunderschön.“
Ein warmes Gefühl breitete sich in mir aus, als er das sagte. Ihm gefiel dieser Ort genauso sehr wie mir.
„Das ist mein absoluter Lieblingsplatz!“, schwärmte May und hüpfte auf die Lichtung zu. Ihre langen Haare wellten sich leicht und die Sonne glitt über ihren Kopf hinweg, als könne sie kaum genug von ihr bekommen.
Ich presste die Lippen aufeinander. May verbrachte nie Zeit im Wald.
„Jaaaa“, Liz dehnte das Wort bewusst lang und zog mich hinter sich her. „Wir haben uns ja noch gar nicht richtig vorgestellt. Also das ist Nell, wie du sicher schon mitbekommen hast. Sie ist die beste Bogenschützin in ihrer Altersklasse und total begabt darin, ihren Mittelpunkt aufzurufen“, meinte sie zu Luan.
Ich errötete, als ich sah, wie sich seine Lippen erneut zu einem Lächeln formten. Es stimmte zwar, was sie sagte, ich war eine ziemlich gute Bogenschützin und den Mittelpunkt aufrufen konnte ich besser als die meisten. Das war das A und O des Trainings. Der Mittelpunkt war sozusagen die Quelle unserer Kräfte. Die Green Eyes hatten Efeu als Kennzeichen. Mit dieser Kraft konnten wir die verrücktesten Dinge anstellen. Aber es war mir mehr als unangenehm, dass Liz mich so hervorhob.
„Und das sind Jess, Nara und Brian. Wir gehen alle in dieselbe Klasse“, stellte Liz weiter vor. „Nur Nell hat das Glück, im Schloss unterrichtet zu werden – privat.“ Das letzte Wort betonte sie besonders und sah Luan dabei mit großen Augen an.
„Ich wüsste nicht, was das mit Glück zu tun hat“, stichelte May und schob sich neben den Blue Eye.
„Ist doch egal“, schaltete sich Liam ein und stellte auch sich und seine Zwillingsschwester vor.
„Und jetzt lasst uns endlich anfangen“, drängte Jess mit leuchtenden Augen. Bevor jemand etwas erwidern konnte, hob sie die Hände und richtete ihre Fingerspitzen auf einen der Bäume, der am Rand der Lichtung stand.
Mit konzentriertem Blick hob sie langsam die Arme und aus den Wurzeln des Baums schoss Efeu. Es wuchs und wuchs, schlängelte sich den Stamm hinauf und verharrte, als Jess die Arme wieder sinken ließ.
„Wow“, machte Luan und nickte anerkennend. Jess strahlte ihn an.
„Aber ich kann noch viel mehr“, behauptete May und stellte sich vor Jess.
Luan hob eine Braue. May lächelte süß. Dann drehte sie sich um und warf sich die langen Haare über die Schulter. Sie deutete mit dem Kinn auf eine kleine, blaue Blume, deren Blüten sie in voller Pracht präsentierte. May schloss langsam ihre Finger und richtete den Blick unverhohlen auf die kleine Blume. Die Blüten der Pflanze wackelten, dann knickte der Stiel ein. Das Blau wurde von einem modrigen Grau erstickt und schließlich löste sich die Blume in Staub auf. Mit einem arroganten Lächeln drehte sich May wieder zu uns.
Luan hatte schweigend zugesehen. Dann streckte er die Hand aus und deutete auf ihr Werk. „Das war echt gut! Nein, es war hervorragend.“
May kicherte und ihr Blick huschte über seine Schulter hinweg zu mir. Ohne, dass sie die Worte aussprach, konnte ich sie deuten.
Tja, das war’s dann wohl für dich.