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Kapitel 5: Elizabeth Cunningham

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Um elf Uhr nachts machte sich Eric auf den Weg zum Botanischen Garten. Noch immer war es heiß. Die Hitze, die sich während des Tages in Mauern und Straßenpflaster gebrannt hatte, strahlte ab und verwandelte die Stadt in einen Backofen. Niemand konnte in einer solchen Nacht schlafen. Wer keine Klimaanlage besaß, um die schwere Luft aus der Wohnung zu vertreiben, suchte Abkühlung in einem Restaurant, am Strand, im Supermarkt oder im ungünstigsten Fall auf der Straße. Überall herrschte schlappes Gedränge. Bei noch immer dreißig Grad quoll St. Kilda gemächlich über. Der südlich des Zentrums gelegene Stadtteil erhob den Anspruch, kosmopolitisch zu sein. Waren es anfangs die reichen Bürger, die entlang der Bucht ihre Villen errichteten, um am Wochenende ihre Füße im seichten Wasser zu baden, siedelten sich nach dem Zweiten Weltkrieg jüdische Immigranten hier an. Sie brachten rege Geschäftstätigkeit in das ruhige Seebad. Konditoreien dominierten die Acland Street, einige von ihnen boten noch heute ihre Zartbitterschokoladenkuchen und -torten feil. Bald waren die letzten Villenbesitzer ausgezogen. Die verwaisten Herrschaftshäuser wurden in kleine, billige Wohnungen unterteilt, in denen Maler, Schriftsteller, Musiker, Tagediebe und Tagträumer eine Bleibe fanden und dem Stadtteil ein neues Bild verliehen. Sogar die Straßen trugen Namen ihrer großen Vorbilder: Tennyson, Byron, Shakespeare, Mozart. Doch zum Ruhm und zur Größe eines Patrick White oder Sydney Nolan brachte es niemand aus diesem Teil Australiens.

„St. Kilda ist ein Pseudokünstlerviertel“, pflegte Eric zu spotten. Dass Maryanne ihr erstes Buch gerade hier geschrieben hatte, deutete er als schlechtes Omen.

Obwohl immer mehr Yuppies in den Stadtteil zogen, Neureiche ihre Cabriolets vor neuen Luxusrestaurants parkten und Touristen aus aller Welt sich an den palmengesäumten flachen Strand verirrten, hatte der Stadtteil kaum etwas von seinem alten Charme verloren. Individualisten bestimmten nach wie vor das Bild. Doch selbst unter all den schrägen Vögeln, den Hippies, Irren, Künstlern, Schlägern, Huren und Betrunkenen, die tagtäglich die Straßen bevölkerten, fiel Eric auf, wenn er, elegant in Weiß gekleidet, mit seinem Blindenstock den Gehsteig entlangging. Wer ihn sah, drehte sich nach ihm um.

Seine Haut war weiß, weiß wie Schnee. Auch sein Haar wirkte weiß, tatsächlich war es farblos, transparent, es reflektierte das Weiß der Haut. Eric war groß und kräftig. Und er war schön.

„Interessant schön“, hatte Maryanne jedes Mal korrigiert, wenn jemand sein Aussehen kommentierte.

Er war wirklich schön. So schön, dass Frauen und Männer ihm ungehemmte Blicke zuwarfen. Er war fast perfekt - bis auf seine gewaltige Nase.

„Ein Engel“, jauchzte einmal ein kleines Mädchen, „Mami, da sitzt ein Engel.“ Erst als Eric die Sonnenbrille abnahm und das Mädchen mit flatternden Augen anblickte, blieb ihr der Juchzer im Halse stecken.

Mit seiner stattlichen Größe, der weißen Haut, dem Blindenstock und der schwarzen Sonnenbrille auf der monströsen Nase erregte Eric Aufsehen, wann immer er sich unter Menschen begab.

Durch die Sonnenbrille sah er lediglich verschwommene Umrisse, gerade genug, um gefahrlos durch die Straßen von St. Kilda zu wandern. Für den Gang von seiner Wohnung in den Botanischen Garten würde er eine halbe Stunde benötigen, also blieb noch genügend Zeit bis Mitternacht, um einen Umweg zum Strand zu machen, an dem Eric etwas Abkühlung finden wollte.

Dort unten am Strand herrschte Betrieb wie sonst nur an einem Sonntagnachmittag. Die Bewohner der umliegenden Stadtteile waren aus ihren stickigen Wohnungen geflüchtet, hatten Decken oder Luftmatratzen mitgebracht und sich darauf eingerichtet, die Nacht unter freiem Himmel zu verbringen. Erschöpft lagen sie in der kühlenden Brise, die frische salzige Luft vom Meer brachte. Der Strand erinnerte an einen riesigen Schlafsaal lange nach dem Lichterlöschen.

Plötzlich erhob sich über der müden Stille ein Schrei. Wer von den Schlafsuchenden noch genügend Kraft besaß, hob träge den Kopf aus den Kissen.

„Eric! Eric!“

Eric drehte sich um. Nur noch wenige Schritte entfernt rannte Elizabeth Cunningham auf ihn zu. Mit einem weiteren Schrei warf sie sich ihm an den Hals.

Überrascht wich Eric zurück und konnte gerade noch den Fall verhindern. Dabei trat er auf das Badetuch eines jungen Paares, was nicht weiter schlimm gewesen wäre, wenn dort nicht auch ihr Hund gelegen hätte, der nach Erics Fuß schnappte und seine Zähne in Erics Knöchel bohrte. Das Frauchen schlug dem Hund auf den Kopf, das Herrchen schimpfte, der Hund winselte, Eric stöhnte, ein Passant rief die Ambulanz, nur Elizabeth hatte es die Sprache verschlagen. Mit der trägen Ruhe am Strand war es mit einem Male vorbei.

Als der Krankenwagen eintraf, versuchte Eric den Sanitätern verständlich zu machen, dass er nicht verletzt war. Doch das Blut auf seinem weißen Hosenbein und sein kreideweißes Gesicht belehrten die Sanitäter eines besseren. Unbeirrt schnallten sie ihn auf die Trage.

Als der Wagen Richtung Krankenhaus raste, fand Elizabeth endlich wieder zu sich.

„Na?“ Sie legte ihre Hand auf Erics Stirn und lächelte.

Auch er lächelte, unbeholfen, weil er verägert war. Es war Viertel vor zwölf und um zwölf wollte er im Botanischen Garten sein. Das war jetzt nicht mehr zu schaffen. Später hinzugehen war sinnlos, denn dann hätte sich der Mörder längst schon wieder verflüchtigt.

„So sieht man sich wieder“, sagte er.

„Mein Gott, Eric, wo warst du die ganze Zeit? Ich habe dich überall gesucht.“ Dass Elizabeth so was sagte, erstaunte ihn, denn vor zwei Jahren waren sie im Streit auseinander gegangen.

„Ich war in meinem Haus am Mount Buller“, gab er zur Antwort.

„Ich wusste gar nicht, dass du dort ein Haus besitzt?“

„Ich habe es vor zwei Jahren gekauft. Ich habe niemandem davon erzählt, weil ich meine Ruhe haben wollte.“ Er schaute auf die Uhr. Es war zehn vor zwölf. Noch zehn Minuten bis zum Mord und er konnte nicht dabeisein. Stattdessen lag er angeschnallt in einem schaukelnden Ambulanzwagen, der mit Tempo achtzig durch die Straßen fegte.

„Bist du mir noch böse?“, fragte Elizabeth.

„Ich?“

„Komm schon, lüg nicht, ich sehe es dir doch an.“

Nein, er war ihr nicht böse, nicht wegen früher. Er ärgerte sich lediglich, dass sie ihn gerade davon abhielt, im Botanischen Garten dem Mörder aufzulauern. Ausgerechnet heute. An dem Tag, an dem sich Maryannes Tod jährte, schien ihm die Voraussetzung für sein Vorhaben ideal gewesen zu sein. Aus diesem Grund war er nach Melbourne zurückgekommen. „Es war nicht deine Schuld“, sagte er.

„Fängst du wieder damit an?“

„Ich habe bloß gesagt, du warst nicht schuld.“

„Ich habe alles gesagt, was ich wusste.“

„Aber zu spät.“

Elizabeth holte tief Luft. Sie musste sich zusammenreißen. Damals in dem italienischen Restaurant hatte sie die Beherrschung verloren. Er hatte ihr vorgeworfen, Maryannes Tod mitverschuldet zu haben. Sie war empört aufgesprungen, hatte ihm den Rotwein ins Gesicht geschüttet und wortlos das Restaurant verlassen. Seither hatten sie sich nicht mehr gesehen.

„Es wäre nicht anders gekommen“, sagte sie beherrscht, „wenn ich es dir sofort in dieser Nacht erzählt hätte.“

„Doch“, gab Eric zurück, „die Polizei hätte von Anfang an nach diesem dunklen Mann fahnden können.“

„Er war nicht dunkel.“

„Du hattest zu Protokoll gegeben, dass der Mann, der Maryanne bis vor deine Türe begleitete, dunkel war.“

„Nicht sein Aussehen war dunkel. Mehr seine Art.“

„Auf alle Fälle hätten wir sofort gewusst, dass Maryanne sich in Gefahr befand. Du hättest mir beim ersten Telefongespräch erzählen müssen, dass sie verfolgt wurde. Die Polizei hätte nach ihm fahnden können. Vielleicht hätten sie ihn von seiner Tat abhalten können.“

„Hör auf“, drohte Elizabeth. Dann sprach sie langsam und klar weiter: „Maryanne verließ um fünf vor zwölf meine Wohnung. Laut gerichtsmedizinischem Befund war sie um drei Minuten nach zwölf tot. Als du mich um zwei Uhr morgens das erste Mal angerufen hast, war sie bereits seit einer Stunde und 57 Minuten tot. Nichts in aller Welt hätte sie dann wieder lebendig machen können. Schon gar nicht die Information, dass sie Stunden zuvor mit einem Fremden geflirtet hat.“

Eric zuckte zusammen, weil er am Knöchel einen Stich verspürte. „Wenigstens hätte man den Mörder zu fassen gekriegt.“

Jetzt hielt sich Elizabeth nicht mehr zurück und schrie: „Verdammt noch mal. Maryanne hatte diesen Typ nur beiläufig erwähnt und da war absolut nichts Verdächtiges dabei. Du hast ja auch nicht gleich etwas Schlimmes vermutet, als sie dich in der Dogs Bar sitzen ließ.“ Sie schnitt eine Grimasse. „Herrn Winter hat man warten lassen, welche Schande, so was macht man nicht mit Herrn Winter, o nein, Herr Winter geht schmollend nach Hause und spielt die beleidigte Leberwurst.“ Elizabeth sprang vom Sitz hoch. „Verdammt noch mal, statt an dich zu denken, hättest du sie gleich im Botanischen Garten suchen müssen, dann wäre sie jetzt noch am Leben.“ Sie wollte den Infusionsbeutel vom Haken reißen und hätte ihn am liebsten auf den Boden oder gleich Eric ins Gesicht geworfen, doch genau in diesem Moment bremste der Ambulanzwagen abrupt ab und warf sie in den Sitz zurück.

„Du Vollidiot“, fluchte der Fahrer und zeigte einem Verkehrsteilnehmer, der sich vor ihn in die Fahrbahn gedrängt hatte, den Mittelfinger.

Der Sanitäter drehte sich um und fragte: „Alles in Ordnung? Druckverband hält?“

Eric und Elizabeth nickten.

Der harte Engel

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