Читать книгу DIE KILLER-APP - Adrian Urban - Страница 10
Secret Gambling
ОглавлениеAls er zu Hause war, nahm Ram sich vor, seinen ersten Turniersieg mit fünf, sechs Flaschen Beamish Stout und unglaublich lauter Crash-Lab-Musik zu feiern.
Nachdem er diesen Plan ohne Abstriche in die Tat umgesetzt hatte, fiel ihm ein, wie er das Triumphgefühl, das ihn gerade durchströmte, noch ein bisschen verfeinern konnte: indem er es mit jemandem teilte.
Einem, der sich garantiert mit ihm freuen würde. Schon wegen des Zwanzig-Prozent-Anteils an den Einnahmen, den er ihm kürzlich versprochen hatte.
Ram aktivierte sein Kamerawebphone über die Sprachsteuerung und stellte es auf Mircos Hochsicherheitsverbindung ein, was ein bisschen Zeit in Anspruch nahm. Dann befahl er dem Rechnersystem, die codierte Telefonnummer zu wählen.
Schließlich hörte er Mircos Stimme, ein »Ja?«, das verschlafen klang.
Doch der Monitor blieb dunkel. Offenbar hatte sein Freund die Videofunktion ausgeschaltet.
»Hi, Mirco, hier ist Ram.«
Nach einigen Sekunden Schweigen kam ein »Hi« zurück, das sich nicht besonders freundlich oder verbindlich anhörte.
Ram beschloss, diesen Umstand zu ignorieren.
»Du erinnerst dich doch bestimmt daran, dass ich meine neue Spezialfähigkeit beim Pokern testen wollte.«
»Mhm.«
»Auf meinem Konto ist jetzt der Hauptgewinn von einem großen Turnier. Sechzehntausend Euro.«
Ram hatte versucht, seiner Stimme eine eher beiläufige Färbung zu geben, als er Mirco über seinen Sieg informierte, doch dieser Versuch war ihm misslungen.
»Aha.«
»Wie, mehr als Aha fällt dir nicht dazu ein?«
»Doch. Du kannst froh sein, dass du mit deinen Tricksereien durchgekommen bist.«
Rams Triumphgefühl begann, sich in Luft aufzulösen.
»Auf deine pädagogischen Bemerkungen kann ich verzichten. Ich dachte, du freust dich über deinen Anteil. Dreitausendzweihundert Euro … ich glaube nicht, dass du für ein paar Stunden Arbeit irgendwann mal so gut bezahlt worden bist.«
»Schon gut, ich wollte dich nicht verletzen. Ich bin ein bisschen genervt, weil ich gerade ziemlichen Stress habe …«
Zumindest schien Mirco Rams Reaktion nicht ganz gleichgültig zu sein, aber Rams Begeisterungshöhenflüge waren vorerst Geschichte.
Er sagte »Schon okay«, obwohl es für ihn nicht okay war, und fügte hinzu: »Schickst du mir deine Kontoverbindung? Dann kann ich dir das Geld überweisen.«
»Ist in einer Minute in deiner Datenbank. Willst du weiterpokern, oder war das eine Einzelnummer?«
»Wahrscheinlich eine Einzelnummer«, antwortete Ram, obwohl er den Gedanken, ins Secret Gambling einzusteigen und unfassbar reich zu werden, verlockend fand.
Aber er stand unter Schweigepflicht. Außerdem würden die dreitausendzweihundert Euro von heute das Letzte sein, was Mirco von ihm erwarten konnte. Schon weil er das Super-drauf-Gefühl von eben so systematisch zerstört hatte.
Freundschaft, fand Ram, war wirklich etwas anderes.
»Sehen wir uns irgendwann wieder?«, fragte Mirco. Wahrscheinlich eine Art Versöhnungsangebot, aber Ram hatte vorerst genug.
Deshalb sagte er nur »Irgendwann mal« und fügte hinzu: »Ich melde mich bei dir.«
Ram vermutete, sein Bekannter würde diese Antwort als leicht verklausulierte Absage interpretieren, und Mircos einsilbiger Abschiedsgruß deutete darauf hin, dass diese Vermutung zutraf.
Eine Woche später, es war früher Samstagabend, stand Ram vor einem etwas heruntergekommenen Altbau in einer abgelegenen Seitenstraße im Osten Friedrichshains. Angesichts seiner dramatisch verbesserten Erwerbsaussichten hatte er ein Taxi genommen, um an diesen Ort zu gelangen. Rams AR-System war aktiv, doch die Anti-Tinnitus-Ohrhörer, die ihm im Alltagsleben inzwischen gute Dienste leisteten, hatte er zu Hause gelassen. Schließlich konnte jeder einzelne Gedanke der Leute, die er bald kennenlernen würde, ein wertvoller Hinweis sein.
Er überflog die Namen auf den Klingelschildern.
Hier war nichts von der Umwidmung zur Party- und Abzockmeile zu sehen, die in den letzten Jahrzehnten weite Teile des Stadtbezirks heimgesucht hatte.
Schon am Tag nach seinem Spaziergang mit Mack war Ram klar geworden, dass alles dafür sprach, die Secret-Gambling-Geschichte auszuprobieren. Falls ihm Intuition, Menschenkenntnis und Gedankenleserei nicht davon abraten würden, wenn er die Typen von der Spielhöllenbande persönlich traf. Dann konnte er immer noch einen Rückzieher machen.
Am Abend dieses Tages hatte er Mack angerufen und ihm gesagt, dass er sein Angebot annehmen wolle.
Mack war erkennbar erfreut. Er lud ihn ein, seine Freunde, wie er das nannte, kennenzulernen, und gab ihm die Adresse, vor der Ram jetzt stand.
Bei Schwarz klingeln und dann durch den Hof zum linken Seitenflügel gehen, hatte Mack gesagt. Ins Hochparterre.
Ram sah den Namen erst auf den zweiten Blick, weil ein Teil des Klingelschilds abgeblättert war. Er läutete und versuchte, die Alarmgedanken zu ignorieren, die ihm seit dem frühen Morgen durch den Kopf gingen, wo sie sich schleifenartig wiederholten.
Bin ich vollkommen wahnsinnig geworden, war einer dieser Gedanken. An den sich normalerweise die Überlegung anschloss: Will ich wirklich Teil einer Bande von Kleinkriminellen sein, die systematisch mehr oder weniger schlechte Pokerspieler abziehen? Von Typen, die mich böse verarschen werden, sobald sie sich das leisten können, scheißegal, was Mack dazu sagt oder denkt. Und ich brauche mir nicht einzubilden, dass sie mich gehen lassen, wenn ich ihnen sage, dass ich’s mir anders überlegt habe …
An dieser Stelle gipfelte Rams innerer Monolog zumeist in einer Wiederholung des ersten Gedankens – bin ich denn vollkommen wahnsinnig geworden –, worauf alles von vorne begann.
Irgendwann hatte er beschlossen, seinen eigenen Einflüsterungen keinerlei Beachtung mehr zu schenken, doch die Umsetzung dieses Plans war ihm gründlich misslungen.
Vielleicht wird es helfen, dachte er, nachdem er geklingelt hatte, Macks Gang ein bisschen kennenzulernen. Wahrscheinlich sind es richtig nette Jungs, und die ganze Panik ist überflüssig. Ich lasse mich doch nicht von meiner Angst beherrschen.
Der Summer ertönte, ohne dass Ram sich über die eingebaute Gegensprechanlage hätte identifizieren müssen. Möglicherweise war das Ding auch nur kaputt.
Er drückte die Eingangstür auf und durchquerte das Vorderhaus. Dann öffnete er eine weitere Tür, die in den schmucklosen Innenhof führte, und erreichte den linken Seitenflügel.
Im Gebäude ging rechts eine Treppe ab, durch die man die höheren Stockwerke erreichen konnte, und auf der linken Seite befand sich eine massive Stahltür.
Das muss es sein.
Über der Tür war eine Videokamera installiert, die sich sofort auf sein Gesicht fokussierte.
Als er die Wohnungsklingel gedrückt hatte, die ebenfalls, aber deutlich leserlicher, mit dem Namen Schwarz beschriftet war, kam die Panik zurück. Ram setzte den Alarmgefühlen ein energisches Wird schon alles gut gehen. Cool bleiben! entgegen.
Die Stahltür öffnete sich nach innen, und Mack streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. Ram drückte sie und bemerkte, dass Macks Lächeln an diesem Abend deutlich überzeugender wirkte als zuletzt.
Sein Gastgeber trug einen roten Bubble Hoodie, der mit einem Seifenblasenhologramm verziert war, und eine modische weiße Leinenhose mit mehreren Reihen von Außentaschen. Eine seltsame Kombination, wie Ram fand, aber weit entfernt von Macks mafiöser Außenwirkung im Paradise.
»Hi, Ram. Freut mich, dass du hier bist. Komm rein.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, sagte Ram höflich, aber eher wahrheitswidrig, und folgte Mack in die Wohnung. Er hatte sich vorgenommen, an diesem Abend als Gentleman aufzutreten, weil ihn das vergleichsweise unangreifbar machte.
»Normalerweise bin ich hier auch für die Einlasskontrolle zuständig«, sagte Mack, während er Ram durch den Korridor führte, »aber die musst du nicht übernehmen, wenn du für Yaroslav arbeitest. Das macht dann einer von den anderen Jungs, wenn ich nicht da bin.«
Er wies auf eine Tür. »Die Gästetoilette.«
Es folgten zwei Räume auf der linken Seite, deren Altbau-Flügeltüren offen standen, und mehrere Zimmer mit geschlossenen Türen auf der rechten.
Mack deutete auf einen Raum, der nach rechts abging. »Da drüben haben wir ein Zimmer zum Relaxen. Mit einer gut sortierten Bar … das ist übrigens einer der Gründe, warum ich hier so gerne arbeite.«
Ram lachte kurz und pflichtschuldig. Dann wies Mack auf das zweite Zimmer mit Flügeltüren auf der linken Seite. »Hier spielen wir, und hier wirst du meine Freunde kennenlernen.«
Er betrat den Raum als Erster. Ram folgte ihm.
Das Zimmer hatte schmucklose Wände und wurde durch indirektes Licht erhellt, während die Fenster mit Rollläden verrammelt waren.
An einem langen ovalen Pokertisch saßen vier Männer.
Zwei von ihnen rauchten Zigaretten, und niemand sprach.
Ram konnte das Geräusch der Klimaanlage hören. Zu seinem großen Bedauern waren die Gedanken der Männer im Moment zu undeutlich, als dass er sie aus dem Maschinenrauschen hätte herausfiltern können.
Mack stellte ihn mit den Worten »Das ist Ram« vor, und Ram wusste auch ohne den Einsatz seiner telepathischen Kräfte, dass er als Erstes dem Chef der Bande die Hand schütteln würde.
Mack verwies auf den Mann, der rauchend an der Längsseite in der Mitte des Tisches saß und fünfundvierzig Jahre alt sein mochte. Volles schwarzes Haar, harte Gesichtszüge und eine Nappalederjacke, die, wie Ram vermutete, eher retromäßig cool als prollig wirken sollte.
»Yaroslav, unser Geschäftsführer«, sagte Mack.
Ram ging zum Tisch, streckte dem Mann die Rechte entgegen und stellte sich ihm noch einmal persönlich vor, ganz gentleman-like.
»Ram Collins.«
»Nachnamen spielen bei uns keine Rolle.«
Yaroslav sprach mit slawischem Akzent. Er verzichtete auf ein Lächeln und stand auch nicht auf, als er Rams Hand drückte. Doch obwohl er seinen Gast gerade mit den ersten Worten, die er an ihn richtete, zurechtgewiesen hatte, war der Tonfall seiner Stimme nicht tadelnd, sondern völlig neutral.
»Setz dich.«
Er will mir zeigen, wer hier der Boss ist, dachte Ram und nahm auf dem Ledersessel Platz, den ihm Yaroslav mit einer Geste angeboten hatte. Mack setzte sich ebenfalls hin.
Der Bandenchef drückte seine Zigarette in einem überdimensionierten Tischaschenbecher aus Messing aus.
Inzwischen hatte Ram sich an das Klimaanlagengeräusch gewöhnt, und er war auch nicht mehr ganz so nervös. Beides half ihm, ein paar Gedanken zu empfangen, die zwei Männern am Tisch gerade durch den Kopf gingen.
Na, mal sehen, ob du was drauf hast, dachte der eine. Der andere sandte die telepathische Botschaft: Mack sagt, dass der Typ beim Pokern richtig gut ist, und Mack hat für so was ein Händchen …
Ram konnte zwar nicht erkennen, was von welchem Tischgast gekommen war, aber er fand, dass es bedrohlichere Gedanken gab als die, die er eben gehört hatte.
Yaroslav blickte ihm in die Augen, ohne zu blinzeln, und fragte: »Bist du Engländer?«
Ram beschloss, dass er die Gelegenheit wahrnehmen musste, selbstbewusst auf diese infame Unterstellung zu reagieren.
»Wir kennen uns noch nicht, und du beleidigst mich schon. Ich bin Ire.«
Seine Stimme war dabei ruhig geblieben, und die vielen Was?-, Der-Typ-ist-wohl-lebensmüde- und Was-fällt-dem-Wichser-eigentlich-ein-Gedanken der anderen konnte er problemlos ignorieren.
»Und wo kommst du her?«, fragte er zurück. »Aus Russland?«
Yaroslav, der seine Augenlidbewegungen immer noch zurückhielt und offenbar bemüht war, alle Gesichtszüge im Zustand der Erstarrung zu konservieren, antwortete: »Wir kennen uns noch nicht, und du beleidigst mich schon. Ich bin Ukrainer.«
Jetzt lachten alle, auch Ram. Nur Yaroslav blieb ernst.
Ram musste an die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ländern in den Zehner- und frühen Zwanzigerjahren denken. Gut möglich, dass Yaroslav ein Veteran aus diesen blutigen Zeiten war.
Der Ukrainer blinzelte.
Aha, dachte Ram. Er scheint tatsächlich ein Mensch zu sein.
»Ich habe gehört, dass du ein ziemlich versierter Pokerspieler bist«, sagte Yaroslav nach einer kleinen Kunstpause. »Mein Team könnte Verstärkung gebrauchen.«
Er deutete auf den Mann, der rechts von ihm saß. Jeans, schwarzer Sweater, dunkle Haare, etwa dreißig Jahre alt. Er unterschied sich von den anderen durch sein auffallend gutes Aussehen und war neben Yaroslav der Einzige im Raum, der rauchte.
»Das ist Cem, unser Dealer. Und Cem ist bei uns auch für den Chipverkauf und die Kredite zuständig.«
»Angenehm«, sagte Ram, während Cem sich auf ein Kopfnicken beschränkte.
»Das ist Alex.« Yaroslav verwies mit einer Geste auf den Mann, der an der rechten spitzen Seite des Tischovals auf einem Sessel saß. Kurze blonde Haare, unauffällige Gesichtszüge, schwarze Funktionskleidung. Mit seinen zwanzig, fünfundzwanzig Jahren war er hier zweifellos der Jüngste.
»Alex kümmert sich um Buchhaltung und IT, und er sorgt für die Öffentlichkeitsarbeit. Wobei das in unserem Fall«, Yaroslav erlaubte sich zum ersten Mal den Anflug eines Lächelns, »eher bedeutet, dass die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Alex löscht sämtliche Netzdateien, in denen unser kleines Unternehmen vorkommt, mit einem Eraserprogramm, das er selbst entwickelt hat.«
Auch Ram ging jetzt zur reduzierten Grußform des Kopfnickens über.
»Mack kennst du ja bereits. Und das«, Yaroslav deutete auf den Mann zu seiner Linken, »das ist Fleischer. Er bedient die Bar im Nebenraum. Fleischer hat bestimmt ein paar Dutzend Cocktailspezialitäten auf Lager … wenn man dieses süße Zeug mag.«
Fleischer, ein Glatzkopf mit freundlichem Blick, schien mit Mitte oder Ende fünfzig der Bandenälteste zu sein. Er trug als Einziger ein formelles Outfit, eine Barkeeperuniform mit Fliege, und er war der Einzige, der Ram zur Begrüßung anlächelte.
Ram lächelte zurück. »Wieso Fleischer? Du siehst nicht gerade wie ein Hardcoreauftragskiller aus …«
Fleischer weitete sein Lächeln zu einem breiten Grinsen aus.
»Das soll auch keiner auf den ersten Blick sehen … Nein, ehrlich gesagt besitze ich einen Metzgerladen und bin gelernter Fleischermeister. Yaroslav war mein Stammkunde. Irgendwann hat er mir ein schönes Angebot gemacht. Eigentlich nur, weil ihm meine selbst gemachten Bratwürste so gut schmecken …«
»Und mit der Auflage, dass du jedes Mal, wenn wir uns zum Pokern treffen, zwei Kilo gebratene Würste mitbringst, die du in der Mikrowelle heiß machst«, ergänzte Yaroslav launig. »Für unsere kleinen After-Show-Partys, wenn die Gäste wieder weg sind.«
Du bist hier nicht nur der Chef, dachte Ram, du bist für deine Leute ein väterlicher Gönner.
Aber davon muss ich mich nicht einwickeln lassen. Zumindest empfange ich keine Gedanken, die auf eine böse Falle hindeuten …
»Kommen wir zum Geschäftlichen«, sagte Yaroslav. »Mack hat dich ja schon über die wichtigen Punkte informiert. Was willst du sonst noch wissen?«
»Gibt es bei den fünfundzwanzig Prozent Gewinnbeteiligung irgendeinen Verhandlungsspielraum?«, fragte Ram, obwohl er nicht fand, dass Yaroslav aussah wie ein Mensch, der gerne mit sich verhandeln lässt.
»Nein. Fünfundzwanzig Prozent vom Gewinn und fünfundzwanzig Prozent Eigenanteil an deinen Verlusten, wenn du höchstens an jedem zehnten Abend verlierst, das ist ein großzügiges Angebot. Mack«, Yaroslav deutete auf den Mann, der bereits für ihn als Profispieler arbeitete, »Mack bekommt genauso viel, aber erst seit diesem Jahr. Vorher waren seine Konditionen deutlich ungünstiger, das kannst du mir glauben.«
Mack nickte, und Ram empfing einen klaren Bestätigungsgedanken.
Er konzentrierte sich wieder auf Yaroslav. »Ist das Secret Gambling euer einziger … Geschäftsbereich?«
Der Ukrainer zögerte etwas, bevor er nickte. »Mhm.«
Doch Ram hatte bereits auf telepathischem Wege erfahren, wie Yaroslav wirklich darüber dachte.
Das ist der einzige Geschäftsbereich, der dich etwas angeht.
»Nehmen wir an, ich gewinne«, sagte Ram nach einer kleinen Pause. »Wann komme ich dann an mein Geld?«
»Normalerweise nachts um halb zwölf, sobald das Match vorbei ist. Du rechnest alles mit Alex ab, und er überweist dir deinen Anteil. Die Summe wird in kleinere Beträge aufgeteilt, und wir benutzen verschiedene Tarnkonten, damit diese Geschäfte unter uns bleiben.«
»Einen Vertrag werde ich wahrscheinlich nicht von dir bekommen. Woher soll ich wissen, ob ich mich auf dich verlassen kann?«
»Glaub mir, Ram, niemand hier würde für mich arbeiten, wenn meine Leute befürchten müssten, dass ich sie bescheiße. Keine Tricks, kein doppelter Boden. Wir sind Freunde.«
Obwohl Ram diese Freundschaftsbekundungen für unglaubwürdig hielt, sprach nichts gegen Yaroslavs Beteuerungen, er gehe ehrlich mit seinen Leuten um. Keiner der Gedanken, die er gerade empfing, beinhaltete etwas anderes als Zustimmung zu dem, was der Boss eben gesagt hatte. Mehr noch: Niemand in diesem Raum schien Yaroslav etwas anderes entgegenzubringen als Respekt und Sympathie.
Ram fand, dass das eine gute Entscheidungsgrundlage war.
»Okay, ich bin dabei.«
Yaroslav streckte ihm über den Tisch hinweg ein weiteres Mal die Hand entgegen. Als Ram einschlug, sagte er: »Willkommen im Team. Und du weißt, dass du mit niemandem über die ganze Sache reden darfst. Nicht über uns, oder wie man Zugang zu uns bekommt, und nicht über das, was wir machen.«
Ram nickte. »Versprochen.«
Yaroslav blickte ihn an, wobei er sich wieder der Blinzelstoppmethode zu bedienen schien.
»Du verstehst bestimmt, dass ich nicht die Katze im Sack kaufen will. Du müsstest uns schon beweisen, was du beim Pokern drauf hast, denn Vertrauen ist gut …«
»Kontrolle ist besser«, ergänzte Ram. »Natürlich. Wladimir Iljitsch Lenin.«
Er blieb gelassen, denn er hatte schon damit gerechnet, dass man ihn auffordern würde, seine Künste zu demonstrieren. Wahrscheinlich beim nächsten Cash Game, das Yaroslavs Gang in einer ihrer Spielhöllen veranstaltete.
»Ich hoffe, du hast dir nichts für diesen Abend vorgenommen«, sagte der Ukrainer. »In zehn Minuten kommen die Spieler. Du bist dabei, und Mack kann sich ein bisschen ausruhen. Er leiht dir bestimmt seine Sonnenbrille.«
Ram fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.
»Was, jetzt gleich? Ich hab nicht viel Geld dabei, und ich bin überhaupt nicht vorbereitet …«
Yaroslavs Blick war eisig. »Betrachte es als Sprung ins kalte Wasser. Cem leiht dir dreitausend Euro. Vom Gewinn kannst du dieses Mal nichts behalten, aber du musst uns die Kohle auch nicht zurückzahlen, wenn du sie verlierst. Das wäre dann allerdings dein erster und letzter Abend bei uns gewesen.«
Ram hob in einer pathetisch resignativen Geste die Hände.
»Ich kapituliere.«
Yaroslavs Blick hellte sich auf. »Mack hat mir erzählt, dass du gerne mit AR-Support arbeitest. Das geht hier nicht, du musst das System deaktivieren. Computerhilfsmittel sind bei uns verboten. Sobald Alex den EM-Blocker eingeschaltet hat, funktioniert kein elektronisches Gerät mehr. Außer du hast einen Herzschrittmacher oder eines von den Dingern, die sich automatisch einschalten, wenn’s gefährlich wird. Einen De…, Di…«
»Defibrillator«, half Cem.
»Genau«, sagte Yaroslav. »Einen Defibrillator.«
Ram spürte, wie Panik in ihm aufstieg.
Die AR deaktivieren? Ohne AR funktionierte der Brain Reader nicht, und ohne diese App war Ram beim Pokern kein Kandidat fürs Siegertreppchen, sondern ein unterdurchschnittlicher Spieler, dem es nicht vergönnt sein würde, auch nur einen einzigen Zockerabend ohne finanziellen Totalschaden durchzustehen.
Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, und dabei mühevoll die Gedanken der anderen Männer ignorierte, fragte Mack: »Alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete Ram und lächelte matt. »Alles in Ordnung. Ich bin nur ein bisschen müde.«
Ungefähr so in Ordnung wie in den Hollywoodfilmen, in denen der Hauptdarsteller gerade erfahren hat, dass er unter einer tödlichen Krankheit leidet, und die entsprechende Frage seines besorgten Freundes reflexhaft mit »Ja, alles in Ordnung« beantwortet. Weil ›in Ordnung‹ in diesen Filmen offenbar nicht mehr bedeutet, als dass man noch am Leben ist.
»Müde?« Mack lächelte ebenfalls. »Das wird sich in den nächsten Minuten ändern. Oder möchtest du einen Espresso? Fleischer macht dir sicher gerne …«
»Nettes Angebot, aber ich verzichte darauf.« Ram bemühte sich um eine ruhige, selbstsichere Stimme, obwohl das, wenn er seine aktuelle Lage bedachte, egal war. »Du hast bestimmt recht. Ich werde schon wach. Spätestens, wenn das erste Spiel anfängt.«
Wach, aber ohne jede Hoffnung.
Ram deaktivierte seinen Cyberport und das AR-System mit einer Reihe von Sprachbefehlen. Dabei bemühte er sich nicht um eine gedämpfte Stimme, denn er befolgte gerade eine offizielle Anordnung.
Die virtuellen Einblendungen an den Rändern seines Gesichtsfelds verschwanden.
Schade, dachte er, dass meine Chancen, ein zweites Mal von der Gamblingbande eingeladen zu werden, unter diesen Umständen bei null liegen. Außer …
»Wie viele Spieler, die heute kommen, sind Fische?«
»Sieben«, antwortete Mack. »Drei Leute pokern auf Halbprofiniveau.«
Nichts ›außer‹. Meine Chancen liegen bei null. Gegen drei gute bis sehr gute Spieler kann ich nicht gewinnen.
Dann werde ich eben einigermaßen würdevoll scheitern.
Im nächsten Moment läutete es an der Haustür. Mack stand auf, um den ersten Abendgast hereinzulassen.
Ram unterdrückte einen massiven Fluchtimpuls. Wenn er versagte – und er würde versagen –, konnte er die dreitausend Euro, die man ihm leihen wollte, zurückzahlen, indem er der Bande einen Teil seiner Ersparnisse überwies.
Allemal besser, dachte er, als Yaroslavs Zusicherung zu vertrauen, ihm für diesen Abend nichts schuldig zu sein, und dann von einem seiner Leute an einer dunklen Straßenecke verdroschen zu werden.
Um Rams Geistesgegenwart stand es nicht besonders gut. Als der erste Gast den Raum betrat und sich zu den anderen Männern an den Spieltisch setzte, fiel es ihm schwer, sich auf den Neuankömmling zu konzentrieren.
Er musste sich zur Aufmerksamkeit zwingen.
Der Gast, der nicht älter als fünfundzwanzig sein konnte, trug coole Klamotten nach der aktuellen Tripstermode, und auch die Ohrringe und die einschlägigen Tattoos dieser Szene fehlten nicht. Kein typischer Gambler, dachte Ram.
Es klingelte erneut. Dieses Mal kamen vier Gäste gleichzeitig, und Rams Konzentrationsfähigkeiten gingen umso stärker zurück, je mehr Personen den Raum betraten.
Fünfzehn Minuten später teilten er und Yaroslavs Bande das Pokerzimmer mit neun Besuchern. Dass eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren dabei war, fand Rams Beachtung, doch die Gesichter der anderen Spieler verschwommen miteinander, und die organisatorischen Vorbereitungen des Pokerabends gingen an ihm vorbei.
Glücklicherweise hatte er in diesem desolaten Zustand zunächst nur die Aufgabe, Leihjetons im Wert von dreitausend Euro entgegenzunehmen und danach einen von zehn verschlossenen Umschlägen aus einem Lostopf zu ziehen.
In dem Kuvert befand sich das Kärtchen, auf dem seine Spielposition stand. Die Nummer eins entsprach dem Small Blind, zehn war der letzte Platz vor dem Dealer. Wie im Paradise Kasino würden sich die Positionen nach jedem Spiel zusammen mit dem Dealer Button um einen Platz nach vorne verschieben.
Ram öffnete den Umschlag und sah, dass er die Acht bekommen hatte.
Ein gutes Los, denn auf dieser Position konnte man das Verhalten ebenso wie die Strategien der meisten Kontrahenten bequem beobachten und daraus wertvolle Schlüsse ziehen, bevor man seinen Einsatz machte oder aus der Runde ausstieg.
Doch Begeisterung wäre unter den aktuellen Umständen absurd gewesen, fand Ram.
Er sah, dass die anderen Teilnehmer ihre Nummernkarten auf den Brustbereich pressten, wo sie an der Kleidung haften blieben.
Ram tat es ihnen nach. Dann erhob er sich aus seinem Sessel und setzte sich auf den Platz, der der Achterposition entsprach. Bis auf Cem, den Dealer, hatten alle Männer der Secret-Gambling-Gang den Raum inzwischen verlassen.
Ram türmte seine Chips zu mehreren Stapeln auf, schloss die Augen und gab sich Gedanken hin, die zutiefst trübsinnig waren.
Dann hörte er, wie Cem ein Kartenpäckchen öffnete, wie er es professionell durchmischte und die Gästerunde mit ein paar Worten willkommen hieß.
Die Spieler auf den ersten beiden Positionen beglichen die Blinds. Schließlich verteilte Cem die Pocket Cards.
Ram öffnete die Augen wieder, weil ihm klar war, dass Ignoranz seine unkomfortable Lage nicht verbessern würde.
Er nahm die beiden verdeckten Karten auf.
Pik Fünf und Karo Acht.
Ein Scheißblatt.
Das dürfte ein sinnloser Abend werden.
Die Mitspieler blickten schweigend in die Karten, die sie auf der Hand hatten. Sonnenbrillen verdeckten alle Gesichter in der Runde.
Vor Rams innerem Auge erschien ein verführerischer Riesenkrug Beamish Stout, was seine Konzentration auf die Außenwelt weiter verringerte.
Sei’s drum, sagte er sich. Zu Hause stehen noch zwei Kästen von dem Zeug. Ich muss nur irgendwie diesen Scheißabend durchstehen und mir nicht allzu viel daraus machen, dass ich total versage.
In diesem Moment hörte er leise, aber vernehmlich die Worte »Wenn das so weitergeht, wird das ein richtig geiler Abend …«
Sie kamen aus der Richtung des Tripsters, der als erster Gast die Wohnung betreten hatte und jetzt zwei Plätze links von Ram saß, auf der Zehnerposition direkt neben dem Dealer. Er war der letzte der Runde, der seine Pocket Cards bekommen hatte.
Merkwürdig, dachte Ram. Will der Typ hier den offenkundigsten Bluff in der gesamten Pokergeschichte durchziehen? Glaubt doch kein Mensch, dass er tatsächlich ein gutes Startblatt besitzt, nur weil er das vor sich hinmurmelt. Und wieso reagiert niemand darauf? Zumindest so was wie ein verächtliches Grinsen müsste doch bei dem einen oder anderen drin sein –
Ram sah den Tripster von der Seite an, wobei er sich um Unauffälligkeit bemühte.
Der junge Mann hatte unter dem Sonnenbrillenbereich das branchenübliche Pokerface aufgesetzt. Es passte nicht besonders gut zu seiner freimütigen Äußerung.
Dann vernahm Ram etwas, das ihn völlig aus der Fassung brachte.
»Der Langhaarige ist extrem nervös … Ich verwette meinen Arsch darauf, dass er kein einziges Spiel gewinnen wird.«
Was, zum Teufel, war das? Wollen die mich systematisch mit Psychoterror fertigmachen? Der einzige Langhaarige an diesem Tisch bin ich …
Die Stimme des Mannes, der soeben seinen Anus auf Rams Totalversagen gesetzt hatte, war von der rechten Seite des Tisches gekommen.
Dort saß ein unauffälliger Typ in den Fünfzigern mit Halbglatze und Businessstreifenhemd.
Als Ram dem Gegner direkt ins Gesicht blickte, hörte er die Stimme zum zweiten Mal.
»Ach was, ich verwette meinen Arsch und meine Frau darauf, dass der Langhaarige alle Spiele verliert.«
Doch der Mund des Mannes war völlig regungslos geblieben, als er gesprochen hatte.
Es gab nur zwei Erklärungen.
Entweder Ram war in dieser massiven Stresssituation verrückt geworden.
Das ist eher unwahrscheinlich, dachte er. Es wäre das erste Mal in meinem Leben, dass ich wahnsinnig werde. Mein daueralkoholisierter Scheißvater hat es nicht geschafft, mich verrückt zu machen, also warum sollte es bei einer Pokerrunde in einer Spielhölle passieren –
Oder seine telepathischen Fähigkeiten meldeten sich gerade zurück.
Wie auch immer das möglich war. Schließlich hatte Rams Brain-Reader-Software sich automatisch zusammen mit der AR und dem Cyberport abgeschaltet.
Sein Computersystem war jetzt genauso inaktiv wie ein mobiler Rechner, aus dem man den Akku herausgenommen hatte.
Wie um alles in der Welt kann es sein, dass ich die Gedanken von fremden Menschen ohne jede technische Unterstützung empfange?
Keine gottverdammte Ahnung – aber wenn das wirklich so ist, sollte ich mich nicht allzu lange mit dieser Frage beschäftigen. Sonst drehe ich am Ende durch …
Am besten, ich überprüfe meine Theorie erst mal.
Inzwischen hatten alle Spieler, die vor ihm an der Reihe waren, ihre Einsätze gemacht, oder sie hatten gepasst.
Ram stieg aus. Ob er nun telepathische Kräfte besaß oder nicht: Mit diesen Pocket Cards konnte er keinen Blumentopf gewinnen.
Er versuchte, die Gedanken seiner Mitspieler noch einmal zu belauschen, aber das funktionierte nicht.
Irgendwann hörte er den einen oder anderen schwer verständlichen Wortfetzen, aber das mochte Einbildung sein.
Wenn ich tatsächlich telepathische Fähigkeiten habe, müsste ich doch die Startblätter der anderen Spieler aus deren Perspektive sehen. So wie neulich in Neukölln …
Konzentrieren. KONZENTRIEREN.
Das ist leichter gedacht als getan – am besten, ich denke erst mal an gar nichts.
Je mehr Ram sich bemühte, auf jede bewusste Überlegung zu verzichten, desto stärker vermehrten sich die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen.
FUCK.
Irgendwann ignorierte er das, was in seinem Gehirn passierte, und richtete seine Aufmerksamkeit nach innen, auf den Atem.
Ich schnaufe gerade ganz schön heftig … ach, egal.
Einatmen.
Ausatmen.
Einatmen.
Ausatmen.
Und dann geschah ein Wunder.
Über die neun Menschen, die mit Cem und ihm am Tisch saßen, schob sich ein zweites Bild.
Ram konnte es zunächst kaum erkennen, dann wurde es etwas deutlicher. Wie eine Art Schleier, der sich über die Realität legte.
Er schielte ein bisschen, um die Doppelwahrnehmungen miteinander zu verbinden.
Und erkannte plötzlich die Bildseiten der Pocket Cards, die seine Kontrahenten, die noch im Spiel waren, in den Händen hielten.
Der Richtig-geiler-Abend-Tripster hatte Herz Ass und Herz König bekommen. Ein Spitzenstartblatt.
Startnummer eins hielt zwei Dreier und hoffte auf einen Drilling, trotz einer schlechten Sitzposition. Zwei blieb im Spiel, obwohl er nicht mehr auf der Hand hatte als Kreuz Bube und Pik Dame. Keine besonders tollen Karten. Wahrscheinlich ein Anfänger.
Nummer vier und fünf waren draußen. Sechs, die Frau am Tisch, hatte Karo Drei und Karo Fünf. Sie hoffte auf einen Flush, vielleicht auf einen Straight Flush.
Cem, der Dealer, legte jetzt die ersten drei Community Cards in die Mitte des Tisches.
Ram bemerkte, dass er die visuell-telepathischen Signale seiner Kontrahenten besser empfangen konnte, als es zuletzt im Paradise Casino der Fall gewesen war, sogar mit Sonnenbrille auf der Nase, und lächelte still in sich hinein.
Ein warmes, wohliges Triumphgefühl breitete sich in ihm aus.
Diese Runde hatte er verloren, doch den Abend würde er mit ein bisschen Glück gewinnen.
Ich bin der König von Berlin.