Читать книгу DIE KILLER-APP - Adrian Urban - Страница 8

Das Turnier

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Die Woche zwischen der Onlinebuchung und dem großen Turnierkampftag war wie im Flug vergangen.

Ram hatte sich nicht mehr, als es nötig war, mit der Tatsache beschäftigt, dass Mirco es nicht geschafft hatte, die maskierten Brain-Reader-Daten in seiner AR oder im Heimcomputersystem zu decodieren. Es würde also auf absehbare Zeit unmöglich sein, das Programm zu deinstallieren, denn mehr Zaubertricks als die, die er bereits ausprobiert hatte, schien Mirco nicht zu beherrschen. Dass er mit der Konfiguration der Anti-Tinnitus-Ohrhörer auf Anhieb erfolgreich gewesen war, glich das Entschlüsselungsproblem nicht aus, fand Ram.

Doch mit dieser leidigen Angelegenheit konnte er sich immer noch befassen, wenn es Sinn ergab. Also nachdem er mit ein bisschen Unterstützung durch seine telepathischen Fähigkeiten sehr viel Geld gewonnen und, das war zumindest der Plan, jede Menge hübsche Frauen in sein Bett gelockt hatte.

Um Teilziel eins ein wenig näher zu kommen, stand er in der Warteschlange vor dem hell leuchtenden Einlass des Paradise Casinos in der Karl-Marx-Straße, das gerade seine Pforten öffnete. Es war kurz vor acht Uhr morgens, und Ram nahm die umgebauten Anti-Tinnitus-Hörer aus den Ohren, um sie in der Hosentasche zu verstauen. In den nächsten Stunden würde er sie nicht brauchen.

Die Schlange setzte sich langsam in Bewegung, Richtung Anmeldebereich. Unter den Kristalllüstern, deren Licht von einer Unzahl an Wand- und Deckenspiegeln reflektiert und dabei wie in einem Kaleidoskop vervielfacht wurde, fühlte Ram sich in seinem schwarzen Anzug mit dem edlen weißen Hemd und dem blaugrünen Schlips nicht mehr ganz so deplatziert wie noch auf dem Fußweg von der U-Bahn-Station durch den authentisch heruntergekommenen Nordneuköllner Kiez.

Krawattenzwang bestand nicht. Die Onlinepräsentation des Kasinos hatte nur um »angemessene Kleidung« gebeten, aber Ram wollte das Bild eines reichen, reichlich unbedarften Pokeramateurs so überzeugend wie möglich verkörpern. Also war er zu Hause ungefähr eine halbe Stunde damit beschäftigt gewesen, sich das verfluchte blaugrüne Scheißding, das er vor einigen Jahren von seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, so um den Hals zu knoten, dass es einigermaßen angemessen aussah.

Ram bemerkte, dass er hier keineswegs der einzige Spieler zu sein schien, der optisch ein bisschen auf Bankangestellter machte. Oder auf Businesslady, denn Texas Hold ‘Em faszinierte nicht nur Männer. Ungefähr fünfzehn oder zwanzig Prozent der Gäste waren weiblich.

Während er wartete, bis er an die Reihe kam, hörte er aus anderen Teilen des Gebäudes das gedämpfte Surren und Klingeln von profanen Geldspielautomaten. Da ihn die tausend Gedanken der Menschen in seiner Umgebung, die er unwillkürlich empfing, irritierten, versuchte er sich auf seine eigenen zu konzentrieren.

Also ging er noch einmal die Liste mit den Vor- und Nachteilen durch, mit denen er zu rechnen hatte, wenn er zum ersten Mal an einem professionellen Pokerturnier teilnahm.

Die Vorteile: Niemand kannte ihn, und die meisten Gegner würden ihn unterschätzen. Wahrscheinlich deutlich unterschätzen, denn er hatte bald das rote Idiotenschildchen am Revers, und er plante, anfangs erheblich unter seinem eigentlichen Niveau zu spielen.

Außerdem gingen die richtigen Pokerprofis ohnehin meist eher zu Cash Games, bei denen man jederzeit ein- und wieder aussteigen konnte, als zu den klassischen Turnieren. Ram würde also vor allem auf begabte Amateure und semiprofessionelle Spieler treffen.

Zu den Vorteilen zählte auch seine böse und unfaire Telepathiebetrugsstrategie.

Die Nachteile: Ram durfte sich nichts vormachen: Selbst nach knapp vier Wochen Dauertraining war er alles andere als ein guter Spieler, auch im Vergleich zu den begabten Amateuren, die mit am Tisch sitzen würden. Von den semiprofessionellen Gegnern ganz zu schweigen.

Sein anfänglicher Enthusiasmus hatte sich inzwischen erheblich verringert und einer realistischeren Betrachtungsweise Platz gemacht. Ohne die Gedankenleserei war er schlecht und chancenlos.

Trotz der Onlinepartien, bei denen er ordentlich abgeschnitten hatte, denn diese Webkasinos – zumindest die, die den Gewinn auf eher symbolische Geldbeträge beschränkten –, galten als Tummelplatz für gelangweilte Hausfrauen und Rentner auf Sinnsuche.

Ram musste also mit telepathischer Unterstützung besser spielen als die ungleich erfahrenere Konkurrenz.

In Ermangelung seiner Schutzohrhörer war er gezwungen, sämtliche Affektgedanken, die seinen Gegnern durch den Kopf gingen, ebenso ungefiltert zu vernehmen wie alles andere, womit sich die Leute in seiner näheren Umgebung gerade auseinandersetzten. Ob dabei nun das aktuelle Spielgeschehen im Mittelpunkt stand oder der Ehekrach vom letzten Abend.

Ohne Konzentration und eine nicht ganz unerhebliche psychische Robustheit würde Ram auf jeden Fall verlieren.

Als er mit seinen Überlegungen an diesem Punkt angekommen war, stand er vor einer hübschen jungen Dame, bei der er sich für das Turnier registrieren lassen musste. Ein Mensch, kein Serviceroboter.

»Guten Tag.« Die Frau lächelte professionell. »Ihren Ausweis, bitte.«

Ram zog seinen Personalausweis aus dem Portemonnaie in der Sakkotasche und bekam ihn nach kurzer Prüfung zurück.

»Willkommen, Herr Collins.« Die Empfangsdame überreichte ihm ein Plastikschildchen mit Befestigungsclip und eine altmodische Kladde, an der eine Liste und ein Kugelschreiber befestigt waren. »Bitte unterzeichnen Sie hier.«

Ram setzte seine Unterschrift in die Spalte neben seinem Namen. Das Schild, das er sich ans Jackett steckte, nachdem er der Frau das Klemmbrett zurückgegeben hatte, informierte über seine Teilnehmernummer, sechsunddreißig, und es war tiefrot.

Ein leises Panikgefühl überkam ihn. Das Idiotenschild würde jedem, der es sah, sofort ins Auge stechen, den Spielern und den Angestellten des Kasinos. Was, wenn sie alle verächtlich über ihn dachten und er jeden dieser Gedanken ungefiltert mithörte? Wie sollte er sich auf telepathische Signale konzentrieren, die sich auf die Karten seiner Gegner bezogen, wenn ihn die Leute ständig beleidigten?

Das ist reine Paranoia. Reiß dich zusammen!

Kurz, nachdem die Rezeptionsdame zu ihm gesagt hatte: »Das Turnier findet an zehn Tischen in drei Sälen statt. Sie spielen im Kurfürstensaal. Die Tische und die Sitzplätze werden um fünfzehn Uhr dreißig ausgelost. Viel Vergnügen, Herr Collins«, empfing Ram ihre Gedanken.

Das, was er vernahm, bestätigte seine Befürchtungen. Ein Fish … mal sehen, wie lange es dauert, bis sie dich herausangeln und ausnehmen …

»Fish« war das Insiderschimpfwort für einen blutigen Anfänger, der von den Gegnern schon in einer der ersten Runden geschlachtet wird.

Offenbar sah selbst die Anmeldetante Rams baldigen Ruin voraus.

»Hier sind Ihre Jetons im Wert von fünfzehntausend«, sagte die Dame, während sie ihm ein versiegeltes blaues Stoffsäckchen aushändigte. Spielgeld, dessen Nennwert nichts mit der Preisausschüttung für die Gewinner zu tun hatte.

»Ich bin verpflichtet, Sie darauf hinzuweisen, dass alle verbliebenen Chips immer sichtbar auf dem Tisch liegen müssen, solange Sie im Spiel sind«, fügte die Rezeptionsfrau hinzu. »Verstöße gegen diese Regel werden mit Disqualifizierung und dem unbefristeten Ausschluss von allen Pokerturnieren in der EU geahndet. Das Gleiche gilt für Spieler, die versuchen, ihr Augmented-Reality-System anders einzusetzen, als es die Kasinorichtlinien vorsehen.«

Ram stopfte den Stoffbeutel in eine Jacketttasche. Er drehte sich gruß- und danklos um und verließ den Anmeldebereich so schnell, dass er die Gedanken der Rezeptionsfrau, die sich zweifellos auf ihn bezogen, nicht mehr hören konnte. Dann ging er zur nächsten nicht verspiegelten Wand, wo er stehen blieb, um ein bisschen zur Ruhe zu kommen.

Hier fühlte er sich deutlich sicherer, doch er bemerkte, dass alle anderen Teilnehmer in seiner näheren Umgebung weiße Nummernschilder trugen.

Okay, dann bin ich eben der einzige Rotidiot. Selbst wenn ich mich gleich unsterblich blamiere und in dreißig Minuten alles verliere, was ich habe, geht’s trotzdem nur um achthundertachtzig Euro … Und um ein Gespräch mit Mirco, das dann unangenehm werden dürfte. Zwanzig Prozent von null ist null.

Doch da seine Selbstberuhigungsmaßnahmen nicht greifen wollten, pochte Rams Herz immer noch in einem gesundheitsgefährdenden Tempo, und die Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten, begannen ihm in die Augen zu rinnen.

Spätestens jetzt würde jeder erfahrene Spieler, der ihn beobachtete, nicht mehr vermuten, dass Ram an der Herausforderung, die ein Livepokerturnier darstellte, scheitern musste.

Er würde es wissen.

Die Brille. Natürlich, die verdammte Brille …

Er wischte sich unauffällig mit einem Papiertaschentuch übers Gesicht. Dann zog er ein Etui aus der Sakkotasche, holte eine Sonnenbrille heraus und setzte sie auf.

Seine Sicht blieb so gut wie unbeeinträchtigt, weil die sündhaft teuren Porsche-Special-Sunglasses, die er in einem Webshop gefunden hatte, dank eines speziellen Polarisationsverfahrens nur von außen dunkel erschienen. Aus der Innenperspektive war es, als blicke man durch gewöhnliches Fensterplexiglas, und selbst die schwachen Laserprojektionen eines AR-Systems in die dritte Dimension ließen sich ohne Probleme erkennen.

Rams Puls hatte sich spürbar verlangsamt, aber er war immer noch deutlich schneller als in jeder gewöhnlichen Alltagssituation.

Zeit für einen weiteren Selbstberuhigungsversuch.

Ich sollte an den Traum in der letzten Nacht denken. Den Traum mit der Riesenschildkröte. Ich konnte auf ihr reiten, und sie ist ganz langsam ins Unbekannte gekrochen, mit mir auf dem Rücken. Das war doch hundertprozentig ein gutes Omen … wenn es so was gibt.

Dass ihn irgendwann im Verlauf dieses Traumes der unangenehme Gedanke beschlichen hatte, die Schildkröte bringe ihn keineswegs an sein Wunschziel, sondern an ihres, was auch immer das sein mochte, sodass er nach kurzer Zeit nicht einmal mehr sagen konnte, ob es ihm überhaupt gelingen würde, von dem Riesenreptil abzusteigen, wenn ihm dessen Laufrichtung nicht passte, versuchte Ram sich zu verschweigen.

Mit gewissem Erfolg, denn allmählich ging das geradezu absurde Ausmaß seiner Angst- und Panikempfindungen zurück, und nach ein paar Minuten fühlte er sich wieder einigermaßen normal.

Zeit für einen Elektronikcheck.

Ram sagte halblaut: »Operator an Cyberport, lade die AR«, und die Einblendungen des Kontaktlinsenlasersystems erschienen im oberen und unteren Randbereich seines Sichtfelds. Wie er es erwartet hatte, störte ihn die Sonnenbrille bei den Lichtverhältnissen im Kasino kein bisschen.

Neben der obligatorischen Gedankenleserei wollte er sich darauf beschränken, seine AR dafür zu nutzen, um im Spiel gelegentlich Wahrscheinlichkeitstabellen einzublenden, die er zu Hause am Computer in mühevoller Kleinarbeit berechnet hatte. Als Telepath verfügte er über deutlich mehr Informationen als seine Mitspieler, denn er wusste, welche Karten sie in der Hand hielten. Diese zusätzlichen Daten mussten in die Statistiken einfließen, aus denen sich ableiten ließ, wie wahrscheinlich es war, dass unter den Community Cards, die der Dealer auslegte und mit denen jeder Spieler sein Blatt ergänzte, sich eine Kreuzkarte, eine Zehn oder ein Ass befand, das die eigene Hand im günstigsten Fall optimal ergänzte.

Die speziellen Berechnungen hatte Ram zwar weitgehend auswendig gelernt, um sie immer wieder den probabilistischen Tabellen gegenüberzustellen, die seinen Gegnern zur Verfügung standen, aber er ging davon aus, dass es hilfreich wäre, im Hintergrund eine Art Sicherheitsnetz zu haben. Für den Fall, dass er zu nervös sein würde, um sich an alles zu erinnern.

Außerdem wollte er in der ersten Turnierphase den unerfahrenen Idioten geben. Gelegentliches halblautes Gemurmel, das sich offenkundig an einen Cyberport richtete, konnte da nicht schaden.

Jeder Spieler, der auch nur einigermaßen gut war, rechnete mit, und beim Pokern wurden solche Kalkulationen, anders als beim Blackjack, von den Kasinos akzeptiert. Nur dass die allermeisten Turnierteilnehmer dabei keine elektronische Hilfe benötigten. Eine Minderheit behalf sich mit Notizblock und Kugelschreiber, doch die meisten Spieler hatten die Wahrscheinlichkeitsalgorithmen im Kopf.

Ram wandte sich an sein Computersystem. »Cyberport, lade den benutzerdefinierten Datensatz der Poker-Statistiktabellen und stelle sie den Standard-Wahrscheinlichkeitstabellen für dieses Spiel gegenüber. Schalte beides auf Stand-by.«

Die AR blendete einen Bestätigungstext ein, anschließend verschwanden die visuellen Signale. Alles schien problemlos zu funktionieren.

Rams Nervosität hatte sich inzwischen verflüchtigt, was er auf die Kombination von Aufbaugedanken, Technikcheck und Sonnenbrillenschutz zurückführte.

Er fand, es war Zeit, die nähere Umgebung wieder in den Blick zu nehmen.

Die Lobby des Kasinos hatte sich inzwischen gefüllt. Da Ram wusste, dass Zuschauer bei diesem Event nicht zugelassen waren, mussten fast alle Menschen im Raum Spieler sein. Das fortwährende Gedankengemurmel, das ihn umgab, konnte er gerade ziemlich gut ausblenden.

Die meisten Männer hatten sich, ähnlich wie er, in Schale geworfen, auch wenn nicht jeder Anzug und Krawatte trug. Manche beschränkten sich auf die 1980er Standardkombination Jeans, T-Shirt, Sneakers und Jackett, andere kleideten sich eher futuristisch.

Ram war hier einer der Jüngeren. Die meisten Turnierteilnehmer schienen Männer und Frauen in den Vierzigern und Fünfzigern zu sein, und viele von ihnen wirkten so, als täten sie alles, um sich und der Welt zu beweisen, dass sie mit jedem Dreißigjährigen mithalten konnten. Sie waren sichtlich gut in Form, trainiert, gebräunt und gesund ernährt, und vielleicht half der eine oder andere auch mit Anti-Aging-Medikamenten nach.

Manche Kasinogäste, die im Schnitt noch einmal zehn Jahre älter sein mochten, spielten offenbar in einer höheren Liga. Die Angehörigen dieser Gruppe, die fast ausschließlich aus Männern bestand, verzichteten auf Körperkult und Gesichtsbräune.

Stattdessen stellten sie ihre Macht und ihren Geschmack zur Schau. Edle Budapester, wahrscheinlich aus handgenähtem Kalbsleder, Maßanzüge mit dezenten Krawatten, hochpreisige Armbanduhren aus der Schweiz.

In diesen Kreisen vermutete Ram seine härtesten Gegner. Leute, die spielten, obwohl sie es nicht nötig hatten.

Seltsamerweise trug kein Mensch außer ihm eine Sonnenbrille, weder die Körperfetischisten noch die distinguierten Herren im Maßanzug.

Er weckte seine AR mit einem Sprachbefehl aus dem Stand-by-Schlummer und erkundigte sich nach den Gepflogenheiten im Umgang mit Sichtschutzbrillen bei einem offiziellen Hold-‘Em-Turnier.

Und erfuhr, dass es als mittelschwerer Fauxpas galt, seine Sonnenbrille aufzusetzen, bevor man am Tisch saß. Nur Amateure ohne Spielerfahrung taten das.

Wunderbar, dachte Ram und grinste. Umso größer wird die Überraschung sein …

Ein dezenter Gong ertönte, offenbar das Zeichen für den Einlass. Ram folgte der Menschentraube und behielt die Leuchtanzeigen an der Wand im Blick.

Kaisersaal. Königssaal. Kurfürstensaal.

Irgendwie typisch.

Andere können sich wie Kaiser und Könige fühlen, und ich bin hier nur ein armseliger Kurfürst …

Er reihte sich in die Schlange vor der Zugangsschleuse ein, die den Weg in den Kurfürstensaal versperrte.

Als er den Sicherheitsprüfungssektor betrat, der wie ein Ganzkörperscanner aufgebaut war, stellte er sich aufrecht hin und hob die Arme, so wie es eine Monitoreinblendung angeordnet hatte.

Plötzlich heulte eine penetrante Warnsirene los, und mehrere Lichter in der Schleuse begannen, hektisch zu blinken.

Fuck, was ist denn jetzt schon wieder los …

Zwei Wachleute betraten die Schleuse und bedachten Ram mit Blicken, die ihn an den Gesichtsausdruck von Fußgängern erinnerten, die gerade in Hundescheiße getreten waren.

Ram konnte nicht umhin, ihre Gedanken zu hören.

Wieder so ein Arsch, der hier einen Aktiv-Cyberport reinschmuggeln will … Na warte, Junge, du wirst nie wieder in ein Spielcasino reinkommen.

Doch bevor die Wachleute den Mund aufmachen und den vermeintlichen Delinquenten an die Luft setzen konnten, deutete der bulligere der beiden Männer auf Rams rotes Nummernschild. Dabei hellte sich seine Rausschmeißermimik auf und machte einem breiten Grinsen Platz.

»Ein Arry …«, sagte der bullige Typ zu seinem Kollegen, und auch der Kollege schien sich merklich zu entspannen. Er fummelte an einem tragbaren Minicomputer herum, worauf die Sirene verstummte und die Lichter aufhörten zu blinken.

Arry? Wahrscheinlich ihr Spitzname für einen Spieler mit AR-Schild.

Dann wandte der bullige Mann sich an Ram, der höflichkeitshalber seine Sonnenbrille abgenommen hatte.

»Falscher Alarm, Herr Collins. Ihr AR-System ist bei uns registriert. Eigentlich hätte der Alarm gar nicht losgehen dürfen. Aber Sie wissen ja, wie das manchmal so ist mit der modernen Technik …«

Offenbar wollte ihn der Typ tatsächlich um Entschuldigung bitten.

Ram zwang sich ein »Schon okay« ab. Der schlankere Mann sagte: »Kommen Sie«, und Ram folgte den Wachschutzleuten, die ihn durch die Schleuse führten. Anschließend brachte ihn seine persönliche Eskorte durch eine hohe klassizistische Flügeltür in den Kurfürstensaal. Er bemühte sich dabei, die durchwegs despektierlichen Gedanken seiner Begleiter zu überhören.

Aber auch ohne telepathisch übertragene Beleidigungen wäre diese Situation an Würdelosigkeit kaum zu überbieten gewesen, und obwohl sie Rams Pläne, sich als Idiot zu präsentieren, hilfreich unterstützte, durchliefen ihn mehrere Hitzewellen, die mit einem Gefühl tiefer Scham einhergingen.

Sein Herz hämmerte wieder so heftig wie vor einer halben Stunde, als er in Panik geraten und fast ein bisschen paranoid geworden war.

Verfluchte Scheiße, beruhige dich gefälligst, sonst bist du hier nach vierzig, fünfzig Spielminuten wieder weg. Ohne einen einzigen verdammten Chip …

Er zwang sich, seine Wahrnehmung auf die Außenwelt zu richten. Nach seinen Erfahrungen konnte das eine gute Methode sein, um nicht allzu sehr im Selbstmitleid zu baden und sich selbst verrückt zu machen.

Ähnlich wie die Lobby des Paradise strahlte auch der Kurfürstensaal in verschwenderischem Licht, das von Kronleuchtern an der Decke kam. Wie in anderen Kasinos gab es hier weder Fenster noch Uhren, denn beides beeinträchtigte den erwünschten Spielrausch erheblich. Wenn es um ernsthaftes Pokern ging, konnte die Realität gerne draußen bleiben.

Im Kurfürstensaal befanden sich mehrere große ovale Tische mit Nummernanzeigen von eins bis vier, die mit bordeauxrotem Samt überzogen waren. An jedem Spieltisch saß ein Dealer in Croupieruniform. Schwarze Weste, Anzughose, weißes Hemd, schwarze Fliege.

Der Gong ertönte noch einmal. Sich an die Tische zu setzen war erst beim dritten Gongschlag gestattet. Jetzt, nach dem zweiten Gong, begann die Verlosung der Plätze, die von einem Computersystem durchgeführt wurde.

Die Blicke der Turnierteilnehmer richteten sich auf einen Monitor, der an der Saalwand gegenüber der Eingangstür hing.

Zunächst erschienen die Nummern der vier Spieltische, dann bekam jeder Tisch zehn Platznummern. Ein Zufallsgenerator ließ die Zahlen wild durcheinander tanzen, bis man die einzelnen Ziffern nicht mehr erkennen konnte.

Dreißig Sekunden später stoppte das Gewirbel abrupt. Nun waren den Tischen neben den Platzbezeichnungen die Nummern der Spieler zugeordnet.

Ram, Teilnehmer sechsunddreißig, sah, dass er Position drei am zweiten Tisch bekommen hatte. Also der dritte Platz auf der linken Seite des Dealers.

Vor ihm waren nur die beiden Spieler an der Reihe, die die Grundeinsätze, die Blinds, bezahlen mussten. Rams Position galt als unkomfortabel, und sie wurde nicht umsonst under the gun genannt.

Es gab genügend Gegner, die nach ihm drankommen würden und stets darauf setzen konnten, ihn deutlich zu überbieten, wenn sie ein starkes Blatt hatten. Außerdem dauerte es under the gun im Normalfall etwas länger, bis man wusste, wie gut die anderen Spieler waren, denn sie hatten ja noch keine Einsätze gemacht.

Doch zumindest diesen Faktor konnte Ram getrost ignorieren, denn die Gedankenleserei war ein hervorragendes Mittel, um solche Fragen zu klären. Nicht nur im Rahmen einer ungefähren Abschätzung, sondern exakt.

Nach jedem beendeten Spiel würden sich die Tischpositionen ohnehin um jeweils einen Platz im Uhrzeigersinn verschieben. Also nahm jeder Spieler, der lange genug dabei war, eine ganze Reihe von mehr oder weniger guten Positionen ein, und die Vor- und Nachteile der einzelnen Plätze glichen sich durch diese Vorgehensweise mittelfristig aus.

Auf jeden Fall hatte Ram alle Chancen, die Folgen einer schlechten Startposition durch fortgeschrittenes Betrügen abzufedern.

Eine Aussicht, die ihn beruhigte.

Nach menschlichem Ermessen konnte ihm hier nichts Schlimmeres widerfahren als verächtliche Gedankenkommentare zu einem gewissen roten Plastikschild. Kommentare, die irgendwann in wütende Beleidigungen übergehen würden, sobald seine Gegner bemerkten, dass er sie rupfte und ausnahm wie Weihnachtsgänse.

Kein Problem. Das halte ich schon aus.

Ram schlenderte betont lässig zum zweiten Tisch, nickte dem Dealer zu und setzte sich auf Platz drei.

Am besten tu ich so, als ob mir die Gegner völlig egal wären.

Obwohl er bereits seine Sonnenbrille trug, guckte er auch noch Richtung Decke, um sein Desinteresse an der Konkurrenz zu demonstrieren. Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich andere Spieler zu ihm an den Tisch setzten, aber er beachtete sie nicht.

Irgendwann fiel ihm ein, dass er sich vorgenommen hatte, in den ersten Runden einen blutigen Anfänger zu mimen. Zu diesem Vorhaben passte es nicht recht, den coolen Hund zu markieren – doch wahrscheinlich würde ein kurzer Blick des Gegners auf sein rotes Idiotenschild genügen, um dieses Verhalten als Wichtigtuerei zu entlarven.

In Ordnung. Ram holte das Säckchen mit den Spielchips aus der Sakkotasche, öffnete es und legte die Jetons vor sich auf den Tisch. Gestapelt nach dem Nennwert, von den blauen Zehnern bis zu den übergroßen orangefarbenen Tausendern.

Dann richtete er die Aufmerksamkeit auf die telepathischen Signale seiner Gegner am Tisch. Doch alles, was er hörte, beschränkte sich auf unverständliches Gemurmel.

Wahrscheinlich versuchen sie gerade, sich zu konzentrieren …

Ihm blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten.

Plötzlich hörte er die Stimme des Dealers.

»Gentlemen, ich heiße Sie herzlich willkommen bei den diesjährigen Special Europe Series in Berlin.«

Ram senkte seinen Blick und richtete ihn erstmalig auf die Mitspieler.

Seine neun Gegner waren Männer, und alle trugen die weißen Standardnummernschilder. Sieben von ihnen hatten eine Sonnenbrille auf der Nase, nur zwei Youngster mit T-Shirt-Jackett-Kombination ließen ihre Augen unbedeckt.

Die beiden wirkten ein bisschen nervös, begleitet von ängstlichem Gedankengemurmel. Sie werden mit großer Sicherheit nicht zu den letzten Spielern gehören, die an diesem Tisch sitzen, dachte Ram.

Drei Männer von der Sonnenbrillenträgerfraktion erschienen ihm hingegen gefährlich. Oberschichttypen, vermutlich kurz nach dem Eintritt ins Rentenalter, die jede Menge Freizeit hatten und intelligent genug wirkten, um hervorragend zu pokern. Männer, die darin geübt waren, geduldig zu bleiben und auf gute Blätter zu warten. Die ihre Chancen und die Chancen ihrer Gegner so akribisch prüften, wie sie einst die Quartalsbilanzen ihrer Firmen überprüft haben mochten. Männer, die stets berücksichtigten, ob sich eine Investition lohnte oder nicht.

Und genau auf diesen Spielertyp war Rams Anfangsstrategie zugeschnitten. Die Strategie, so lange mies zu pokern, bei guten Händen übermäßig zaghaft zu agieren und schlechte übermäßig lange zu halten, bis die Profis darauf setzten, ihn, den blutigen Amateur mit dem roten Doofenschildchen, so schnell wie möglich vom Tisch zu entfernen.

Rams Bankroll, der Jeton-Stapel, würde zu diesem Zeitpunkt ungefähr um die Hälfte geschrumpft sein. Dann, so der Plan, konnte er seine Geheimwaffe einsetzen, indem er das Blatt telepathisch wendete.

Irgendwann würden die Profigegner bemerken, dass Ram nicht nur eine Glückssträhne hatte, sondern ein verdammt guter Pokerspieler war. Und wenn sie schließlich feststellten, dass sie sich durch das rote Idiotenschild in die Irre hatten führen lassen, war er im besten Fall bereits im Besitz eines Großteils ihrer Chips.

Der Dealer informierte die Turnierteilnehmer gerade über den Spielablauf.

»Wir beginnen mit zwanzig/vierzig. Alle fünfzehn Minuten erhöhen sich die Blinds in bestimmten Stufen, die Sie dann von unserem Hauptmonitor ablesen können.«

Er deutete auf den Bildschirm an der Wand, der immer noch die ausgelosten Tischplätze anzeigte.

»Nach jedem Spiel verschieben sich die Positionen im Uhrzeigersinn, indem ich den Dealer Button um einen Platz verrücke. Außerdem werden Ihre aktuellen Positionen auch auf dem Monitor angezeigt. Nach vier Spielen ist eine Pause von zehn Minuten angesetzt.«

Der Croupier lächelte verhalten und sagte: »Viel Vergnügen, Gentlemen. Die Blinds bitte.«

Während die beiden Männer, die rechts von Ram saßen, Chips im Wert von zwanzig beziehungsweise vierzig Euro in die Mitte des Tisches schoben, zerbrach der Dealer ein versiegeltes Kartenpäckchen und mischte es professionell. Bestimmt eine Minute lang.

Offenbar sollte jeder noch so minimale Anschein einer abgekarteten Sache vermieden werden. Außerdem, das wusste Ram von seinem Pokertraining, hatte jeder Turnierteilnehmer, der noch dabei war, das Recht, nach einem abgeschlossenen Spiel ein frisches Kartenpäckchen zu verlangen.

Der Dealer begann, die Pocket Cards zu verteilen. Erste Runde, der Pre-Flop.

Ram nahm die beiden verdeckten Karten auf. Kreuz Ass und Kreuz König.

Eigentlich eine gute Hand. Er konnte sie aggressiv und tight spielen, was ihm, wenn er es geschickt anstellte, den Pot sichern würde.

Aber er hatte sich vorgenommen, vorerst den unsicheren Amateur zu geben. Das ließ es sinnvoller erscheinen, dieses Blatt zögerlich und eher defensiv einzusetzen.

Also würde er sich auf den Mindesteinsatz beschränken, den Big Blind, statt sofort deutlich zu erhöhen und die Gegner damit zu verunsichern.

Jetzt war es an der Zeit, sich mit den Gedanken der Mitspieler zu befassen, die gerade reihum ihre Pocket Cards hochnahmen. Je schneller Ram sich einprägte, was seine Gegner auf der Hand hatten, desto mehr Zeit blieb ihm, mit diesen Zusatzinformationen eine schlagkräftige Pokerstrategie für den späteren Turnierverlauf zu entwickeln. Dafür würde er die Zeit nutzen, in der er den Männern am Tisch vorspielte, ein unerfahrener Fish zu sein, der sich maßlos überschätzte.

Und der erste Blick in die Karten war zweifellos der beste Moment, um wahrzunehmen, wie die Mitspieler reagierten und welche Gedanken ihnen zu diesem Thema durch den Kopf gingen.

Ram konzentrierte sich auf die telepathischen Signale seiner Gegner.

Der Dealer dachte gerade an einen Streit, den er am Vortag mit seinem Lebensgefährten ausgetragen hatte, und daran, wie leid ihm das alles tat, doch diese Information half Ram nicht.

Ansonsten: Nichts.

Gar nichts.

Nur das unverständliche Gemurmel von vorher. Wie eine Art lästiges Hintergrundrauschen ohne jeden Wert.

Verfluchte Scheiße –

Seit er den Brain Reader installiert hatte, war ihm so etwas noch nicht passiert. Er versuchte, seine Aufmerksamkeit nacheinander auf die einzelnen Personen am Tisch zu richten. Zunächst im Uhrzeigersinn, danach im Gegenuhrzeigersinn. Letzteres aus purer Verzweiflung, denn Ram war sich darüber im Klaren, dass es nicht die geringste Rolle spielte, ob er sich zunächst auf die Signale von rechts konzentrierte oder mit den Signalen von links anfing.

Nichts und wieder nichts.

Die erste Bietrunde begann, und Rams Stirn glänzte vor Schweiß.

Es würde ein absolutes Fiasko werden.

Jetzt bloß keine Panik. Vielleicht ist nur der Cyberport abgestürzt, oder die AR. So was passiert zwar fast nie, aber wenn es mal vorkommt, dann im allerungünstigsten Moment …

Ram konnte die AR-Standardanzeigen am oberen und unteren Rand seines Gesichtsfelds erkennen, aber das hieß nicht, dass das System auch funktionierte.

Obwohl er die Worte »Operator an AR. Selbsttest und Test des Cyberports durchführen, anschließend Funktionsfähigkeit der Brain-Reader-Software überprüfen und die Ergebnisse visuell anzeigen« aus Diskretionsgründen nur flüstern konnte, schien ihn der Minicomputer zu verstehen.

Wenige Sekunden später projizierten die Laserkontaktlinsen das Resultat der Analyse über die Netzhaut in Rams Sichtfeld. Dabei überlagerten die schriftlichen Informationen die optischen Signale der Tischrunde, ohne sie völlig zu verdecken.

»Der Cyberport arbeitet einwandfrei, und das Gleiche gilt für die AR. Alle Module und Programme, die Sie freigeschaltet haben, funktionieren ohne Störungen, auch die Software Brain Reader 1.0.«

Rams Puls hatte inzwischen das Tempo merklich erhöht, und er nahm den Ablauf des ersten Pokerspiels eher schemenhaft wahr. Er beschränkte sich darauf, eine Zeit lang mitzugehen, um dann auszusteigen und allzu große Verluste zu vermeiden, genau so, wie es die meisten Anfänger machten. Dabei vergaß er, seine Gegner zu beobachten und Wahrscheinlichkeitsberechnungen anzustellen.

Phase eins seines Plans, der Wunsch, zunächst so zu wirken wie ein unbegabter Amateur, ließ sich also verwirklichen.

Allerdings um einen hohen Preis.

Unwichtig, dachte er. Ich muss das Telepathieproblem lösen.

Wenn ihm das nicht gelang, konnte er Phase zwei seines grandiosen Plans vergessen, den Wechsel vom Amateur zum ausgebufften Turnierprofi dank illegaler Zusatzinformationen. Ob er nun die Standardstatistiktabellen nutzte oder nicht. Schließlich standen diese Daten auch den Gegnern, die sie irgendwann einmal auswendig gelernt hatten, zur Verfügung. Und das galt vermutlich für jeden am Tisch – vielleicht mit Ausnahme der beiden Retrojungs, die keine Sonnenbrillen trugen und zu Spielbeginn ein bisschen unsicher gewirkt hatten.

Aus dem Murmeln war inzwischen eine Art Rauschen geworden, und selbst der schwule Croupier schien sich nicht weiter mit seinen Beziehungskonflikten auseinanderzusetzen.

Vielleicht unterdrückte die Abschirmelektronik im Saal, die einen Missbrauch von AR-Systemen verhindern sollte, zufällig einen Teil der telepathischen Signale, die Ram normalerweise empfing. Die leiseren und subtileren, also genau das, was er gerade dringend brauchte.

Egal … Wenn ich nicht bald anfange zu rechnen, machen sie mich noch viel schneller fertig. Und ich sollte zumindest abschätzen, was meine Gegner auf der Hand haben, indem ich ihr Spielverhalten und ihre Einsätze beobachte.

Obwohl alles in ihm danach schrie, den Tisch, an dem er saß, fluchtartig zu verlassen, aktivierte Ram die Hold-‘Em-Standardwahrscheinlichkeitstabellen mit einem geflüsterten Sprachbefehl. Im Moment war er zu nervös, um sich erfolgreich an alle Daten zu erinnern, und er hatte immerhin die doppelten Gebühren bezahlen müssen, um eine AR-Erlaubnis zu bekommen. Also konnte er dieses System zumindest als Gedächtnisstütze nutzen.

Er würde es seinen Feinden möglichst schwer machen.

Zu Beginn der vierten Runde, die Blinds waren inzwischen auf unangenehme dreihundert/sechshundert angestiegen, hatte Rams Bankroll sich auf ein klägliches Drittel der ursprünglichen Summe verringert.

Er stand auf der Abschussliste.

Die einzige offene Frage war, ob er als Erster Bankrott gehen und den Tisch verlassen würde, oder ob ihm einer der beiden Retroyoungster zuvorkam.

Erwartungsgemäß hatten die drei distinguierten Herren in den teuren Anzügen langsam, aber stetig Jeton-Stapel in beträchtlicher Höhe auf ihren Plätzen angehäuft.

Eindeutig nicht mein Tag …

Ach, Bullshit – Poker ist einfach nicht mein Spiel.

Ram warf einen kurzen Blick auf die Pocket Cards, die er gerade in der Hand hatte.

Zwei Neunen, Herz und Karo, ein mittelgutes Blatt.

Unwichtig.

Bisher war es ihm gelungen, die Schweißtropfen auf seiner Stirn halbwegs zu ignorieren, doch einer dieser Tropfen setzte gerade alles daran, den Spieltisch zu bewässern, nach einem kleinen Umweg über die Augenbrauen und den Rand der Sonnenbrille.

Zweifellos das aktuelle Highlight seiner zunehmend desolaten Situation.

Ram holte ein Taschentuch aus der Hose und nahm die Brille von der Nase, um seine Stirn abzutupfen.

Wie das jetzt auf die anderen wirkt, kann mir scheißegal sein …

Aber es war ihm nicht egal.

Und als er die Tropfen abgewischt hatte, gelang es ihm nicht, dem Impuls zu widerstehen, das regungslose Gesicht des Mannes anzustarren, der ihm gegenübersaß. Ein vornehmer älterer Profi mit der Schildnummer einundzwanzig.

Ram trug jetzt keine Sonnenbrille mehr, er war also völlig schutzlos. Bevor er seine Augen wieder von dem Mann abwandte, dachte er an einen Jäger, der seine Beute fest im Blick hat und weiß, dass alles nur eine Frage von Zeit und Geduld ist.

Die nächsten Sekunden als Überraschung zu bezeichnen, wäre eine maßlose Untertreibung gewesen.

In Rams Blickfeld, in einer Entfernung, die dem Abstand der virtuellen AR-Einblendungen entsprach, tauchte eine Art Geisterbild auf. Ein Bild, das so subtil aussah, dass er vermutete, dass es zuvor durch die polarisierten Gläser seiner Sonnenbrille überdeckt worden war, spezielles Glasherstellungsverfahren hin oder her.

Er hatte das klare Abbild von zwei Pokerkarten vor Augen. Pik Bube und Karo Bube. Ein gutes Startblatt.

Karten, gehalten von zwei Händen. Die rechte zierte ein schwerer goldener Siegelring.

Ram blinzelte. Das Bild wurde etwas blasser, aber es verschwand nicht.

Sein Gegenüber, der Mann, den er eben noch so penetrant angestarrt hatte, trug einen solchen Goldring am Finger. Von Ram aus gesehen auf der linken Seite.

In der Eigenperspektive würde sein Gegenüber also genau so auf die Hände blicken, in denen er die Pocket Cards hielt, wie Ram es eben im Geisterbild gesehen hatte.

Ist das wirklich passiert, oder war es nur ein verdammter Wunschtraum? Irgendeine Art von Halluzination? Ich stehe unter massivem Stress, da kann man sich schon mal was einbilden …

Um diese Frage zu klären, konzentrierte Ram sich auf den Gegner mit der Schildnummer elf, der links neben dem Siegelringmann saß. Es war einer der beiden Retrotypen, die das Spiel nicht gut beherrschten.

Es dauerte einen Moment, doch dann sah Ram das deutliche Abbild einer Herz Drei und einer Herz Acht. Eine mittelmäßige Hand.

Sein Verzweiflungsgefühl verschwand, und mit der Hoffnung kam auch der Optimismus zurück.

Probehalber konzentrierte er sich reihum auf einen Gegner nach dem anderen. Die Geisterbildmethode funktionierte jedes Mal.

Wenn er sich Mühe gab, gelang es ihm sogar, die Pocket Cards von mehreren Mitspielern gleichzeitig wahrzunehmen, wobei die Übergänge zwischen den verschiedenen Einblendungen etwas unscharf waren.

Ihm würde alle Zeit der Welt zur Verfügung stehen, um die telepathischen Zusatzinformationen mithilfe seiner modifizierten AR-Statistiktabellen in realistische Gewinnwahrscheinlichkeiten zu verwandeln.

Seltsamerweise konnte er die inneren Monologe seiner Gegner immer noch nicht telepathisch empfangen. Die kurzfristige Übertragung der Gedanken, die dem Dealer durch den Kopf gegangen waren, schien eine Ausnahme gewesen zu sein.

Vielleicht lag das tatsächlich an den Folgen der elektromagnetischen Abschirmeinrichtung im Saal. Doch was auch immer die Ursache für die Störung war, Ram wusste jetzt, was seine Mitspieler auf der Hand hatten. Damit besaß er einen erheblichen strategischen Vorteil.

Allerdings um einen gewissen Preis: Die Sonnenbrille musste er bei diesem Turnier weglassen, weil sie die visuelle Wahrnehmung der gegnerischen Pocket Cards behinderte.

Er bemerkte, dass er seine Brille immer noch in der Hand hielt, steckte sie in das Etui und verstaute es in der Jacketttasche. Sollten die anderen am Tisch doch denken, dass er die Gläser nicht gut vertrug oder dass er beschlossen hatte, angesichts seiner begrenzten Fähigkeiten auf den albernen Sichtschutz zu verzichten – es war ihm egal.

Blöd nur, dass sie seine Mimik beobachten und daraus wertvolle Schlussfolgerungen ziehen konnten. Zumindest die Profis waren geübt darin, beim Gegner subtile Bewegungen des Gesichts oder der Pupillen wahrzunehmen und diese Veränderungen richtig einzuordnen, um jegliche Bluffabsichten schon im Frühstadium zu erkennen.

Ram blieb nichts anderes übrig, als alle körperlichen Reaktionen bewusst zu minimieren und ansonsten auf sein Pokerface zu setzen. Da er jede Menge Übung darin hatte, im Alltagsleben neutral bis gleichgültig zu erscheinen, machte er sich keine allzu großen Sorgen, jemand am Tisch könne in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Zumindest nicht im weiteren Spielverlauf, also in Phase zwei seines Plans.

Er stellte erfreut fest, dass er inzwischen kaum noch schwitzte und dass auch sein Herz nicht mehr wummerte wie ein Presslufthammer. Ram aktivierte die Statistiktabellen, die er in seinem AR-System gespeichert hatte, mit einem Flüsterbefehl. Die virtuellen Anzeigen überlagerten zwar die Geisterbilder der Pocket Cards, aber er fand bald heraus, wie er zwischen den beiden Ebenen hin- und herwechseln konnte, indem er ein bisschen schielte.

Inzwischen, es war die Pre-Flop-Runde, hatten fünf Mitspieler ihre Einsätze gemacht. Vier Gegner waren ausgestiegen, und Ram wusste, welche Pocket Cards ihnen den Mut genommen hatten, weiterzuspielen.

Seine eigene Hand, ein eher mittelgutes Blatt, war durch diese illegalen Zusatzinformationen viel wertvoller geworden.

Er wusste, dass der Siegelringmann, sein direktes Gegenüber am Tisch, mit zwei Buben von allen Gegnern die besten Karten hatte. Eine Hand, die der Mann auf jeden Fall bis zum Ende der Runde weiterspielen würde, da er sich, statistisch abgesichert, Hoffnungen auf zwei Pärchen, auf einen Bubendrilling oder ein Full House machen konnte, wenn der Dealer die ersten Community Cards ausgab.

Wovon der distinguierte Herr keine Ahnung hatte, wohl jedoch Ram, war der Umstand, dass der Croupier die beiden noch ausstehenden Jungs bereits als Pocket Cards an zwei andere Spieler verteilt hatte. Das verringerte die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Siegelringmann einen Bubendrilling oder ein Full House bilden konnte, auf Null.

Ram wiederum, der zwei Neunen hielt und in der gleichen Ausgangssituation war wie der Typ mit dem Ring, konnte mit Sicherheit sagen, dass keiner seiner Gegner eine Neun auf die Hand bekommen hatte, einschließlich der Spieler, die schon ausgestiegen waren. Das erhöhte Rams Chancen auf eine weitere Neun erheblich, sowohl beim Flop als auch, falls es so weit kommen würde, bei den späteren Community-Card-Runden, dem Turn und dem River.

Der Dealer legte den Flop aus.

Und tatsächlich, eine der drei Karten war eine Neun. Die Kreuz Neun.

Ram besaß also zumindest einen Drilling.

Bisher hatte er zurückhaltend, fast ängstlich agiert. Jetzt sofort auf Angriff umzuschalten wäre ein blöder Fehler. Das würde seinen Gegnern nur signalisieren, dass er ein hervorragendes Blatt hatte, und die Mitspieler wären nicht mehr lange dabei.

Um seine Kontrahenten möglichst lange im Spiel zu halten, musste er etwas unschlüssig erscheinen. Also würde er sich auf Calls beschränken, auf das Mitgehen, ohne selbst die Einsätze zu erhöhen.

Ein Gegner stieg aus, als der Siegelringmann verdoppelte.

Ram ging mit.

Nachdem der Dealer die nächste Community Card in die Tischmitte gelegt hatte, die kein Bube war, wirkten die Handbewegungen des Siegelringmanns bei aller Professionalität ein kleines bisschen fahrig.

Aber anscheinend hatte der distinguierte Herr sich vorgenommen, mit seinem Buben-Pärchen dabeizubleiben, koste es, was es wolle. Tatsächlich erhöhte er den Einsatz ein weiteres Mal, was drei weitere Gegner dazu brachte, zu passen.

Ram vermutete, dass der Siegelringtyp davon ausging, er, Ram, der seltsame Freak mit dem roten Schild und dem Sonnenbrillenproblem, sei ein erbärmlicher Spieler mit offenkundigen Bluffabsichten. So erbärmlich, dass er offenbar nicht mehr aus der Nummer herausfand und noch in dieser Runde seine letzten Jetons verlieren würde.

Wobei sich nicht bezweifeln ließ, dass Rams Chipstapel schon bessere Zeiten gesehen hatte. Er stand kurz vor der Pleite.

Doch Ram ging mit, bis die letzte Community Card, der River, auf dem Tisch lag. Dass diese Karte zufällig die verbliebene Neun war, die sich noch im Stapel befunden hatte, wäre, wie er fand, nicht mehr nötig gewesen.

Aber beim Showdown machte der Vierling, eine statistische Rarität, seinen Triumph perfekt.

Mehrere Stunden später, er hatte längst jedes Zeitgefühl verloren, saß Ram am Final Table im Kaisersaal. Vor ihm lag ein Stack von fast siebenhundertzwanzigtausend Eurojetons. Er fühlte sich durchströmt von einem wilden Hormoncocktail, der ihn gleichzeitig ruhig, hellwach und hoch konzentriert machte, und beobachtete seinen letzten Gegner. Alle anderen, acht der zehn besten Spieler des Turniers, waren bereits ausgeschieden.

Rams Gegenüber, mit ungefähr siebenhundertachtzigtausend etwas besser ausgestattet als er selbst, trug einen schwarzen Anzug mit sichtbaren Knitterfalten und eine ausgesprochen hässliche gelbe Krawatte. Obwohl eine verspiegelte Sonnenbrille die Augen verdeckte, sah Ram, dass dieser Typ seine Gesichtsmimik bis zur absoluten Regungslosigkeit reduziert hatte.

Der Mann mit der Schildnummer vierundsiebzig war noch jung, Mitte oder Ende dreißig, und im Sitzen überragte er Ram, der selbst nicht sehr klein war, um mehrere Zentimeter. Mit seinem Outfit, seiner stämmigen, kräftigen Figur und den amateurhaften Einfarbtattoos, die von seinen Hemdsärmeln nur zum Teil verdeckt wurden, wirkte er wie ein Kleinkrimineller mit Knasterfahrung.

Aber vielleicht war das meiste davon nur ein Trick. Pokern hatte eine Menge mit psychologischer Kriegsführung zu tun, erst recht, wenn es jemand bis zum Final Table schaffte.

Leider stießen Rams telepathische Fähigkeiten bei diesem Gegner an ihre Grenzen. Er hatte schon vorher bemerkt, dass es ihm schwerfiel, die Pocket Cards, die der Mann besaß, als geisterhaftes Abbild vor sich zu sehen. Er musste sich sehr auf die Übertragung konzentrieren, und die visuellen Signale verschwanden schnell, oder sie wurden von Störwahrnehmungen überlagert.

Was soll’s, dachte Ram. Wenn ich den Hauptpreis bei einem Pokerturnier gewinnen will, kann ich mich durchaus ein bisschen dafür anstrengen.

Da außer Ram und dem Gangstertyp niemand mehr dabei war, gab es keinen anderen Spieler, der die Grundeinsätze bezahlen konnte.

Also beglich der Gangster den Small Blind, der inzwischen auf zwanzigtausend Euro angestiegen war, anschließend legte Ram Chips im Wert von vierzigtausend dazu.

Dann verteilte der Dealer die Pocket Cards.

Ram sah, dass er Pik Zwei und Kreuz Zwei bekommen hatte. Ein niedriges Pärchen. Das waren keine besonders guten Karten, doch bei einer Heads-up-Situation, Mann gegen Mann, konnten sie wertvoll sein.

Und was, zum Teufel, hat der Gangstertyp?

Nichts zu sehen. Nicht einmal ein verschwommener Eindruck der Pocket Cards.

Nur dieser abweisende, fast eingefrorene Gesichtsausdruck.

Fuck.

Irgendwie scheint es der Typ geschafft zu haben, sich auf mich einzustellen. Seine visuelle Wahrnehmung in eine Art Tresor zu sperren. Auch wenn ich bezweifle, dass ihm überhaupt bewusst ist, dass ich seine Blicke absaugen will.

Und seine Gedanken kann ich auch nicht lesen.

Ram wusste nicht, ob es am elektromagnetischen Schutzschirm lag, dass er seit mehreren Stunden kein einziges verbales telepathisches Signal aufgefangen hatte. Jetzt waren auch noch die Kartenabbilder verschwunden.

Um nicht so ratlos und verstört zu wirken, wie er sich gerade fühlte, holte er seine Sonnenbrille aus dem Sakko und setzte sie auf die Nase. Ein Sichtschutz würde nicht schaden, zumal die polarisierten Gläser die Geisterbilder ohnehin nur dann überdecken konnten, wenn es solche Geisterbilder gab.

Ram glaubte, dass er gerade eine minimale körperliche Reaktion bei seinem Gegenüber beobachtet hatte.

Wahrscheinlich ein Ausdruck von Zufriedenheit …

Der Gangster setzte vierzigtausend Eurochips.

Was mach ich denn jetzt?

Gefälligst den gesunden Menschenverstand bemühen, was sonst?

Okay … der Typ scheint zu denken, dass seine Karten besser als meine sind. Vermutlich, weil ich gerade so verzweifelt ausgesehen und dann die Brille aufgesetzt habe. Das hält er bestimmt für eine Schutzreaktion.

Wenn ich im Spiel bleibe, rechnet er damit, dass ich einen Bluff durchziehen will, weil mein Blatt absolut scheiße ist. Wahrscheinlich sind seine Pocket Cards nicht total schlecht, aber ich bezweifle, dass er mehr hat als eine belanglose Karte und allenfalls ein Ass …

… weil man mit einem Ass beim Heads-up in zweiundfünfzig Prozent aller Fälle das Spiel gewinnt, und diese Chancenverteilung reicht ihm. Straights oder Flushs sind extrem selten.

Wenn ich recht habe, wenn ich jetzt keinen Fehler mache und ihn zu früh zum Aussteigen bringe, müsste ich seine Hand mit meinem niedrigen Pärchen problemlos schlagen.

Ram verhielt sich etwas unsicher, als er mitging, und bescheinigte sich dabei semiprofessionelles Schauspielerniveau.

Der Dealer legte den Flop aus.

Nichts Besonderes, und zu Rams Erleichterung auch kein Ass, das seinem Gegner erheblich weitergeholfen hätte. Falls seine Vermutung stimmte.

Cool.

Der Gangstertyp raiste bis zum Pot Limit.

Ram ging mit.

Auch als der Dealer die Riverkarte auf den Tisch legt, blieb der Gangster im Spiel. Sein Jetonstapel war inzwischen dramatisch geschrumpft.

Zu beobachten, wie dem letzten Gegner die vormals so stoisch anmutenden Gesichtszüge entgleisten, nachdem sein Ass von einem Zweierpaar geschlagen worden war, gehörte für Ram zu den schönsten Ereignissen seines Lebens.

Schöner als das Gefühl, die erste Runde eines Head-ups am Final Table gewonnen zu haben.

Obwohl die Gedankenübertragung immer noch unterbrochen war, dominierte Ram das Match seit diesem ersten Triumph nach Belieben. Da er wusste, dass dem Gangster angesichts des Umstands, dass er soeben auf einen Schlag fast zwei Drittel seines Stacks verloren hatte, wenig anderes übrig bleiben würde, als extrem tight zu spielen, also nur auf die guten Hände zu setzen, konnte er seine eigene Strategie an diese Vorgehensweise anpassen.

Der Gangster wiederum musste davon ausgehen, dass Ram seine enorme materielle Überlegenheit nutzen würde, mit erheblicher Aggressivität zu spielen und auch mittelmäßig gute Blätter durch ständiges Erhöhen zu einem Bankrottrisiko für den Gegner zu machen. Diese Erwartungen unterlief Ram souverän, indem er sie manchmal, aber keineswegs immer ins glatte Gegenteil verkehrte.

Sein Spiel wurde unlesbar, und dadurch gelang es ihm auch, den einen oder anderen dreisten Bluff durchzubringen.

Nach einer halben Stunde beobachtete Ram bei seinem Opfer unverkennbare Anzeichen von Zermürbung. Der Gangster blickte wiederholt vom Tisch zur Decke und wieder zurück, er befeuchtete einige Male die Lippen mit der Zunge – und wenn sein Gegner sich ab und zu an einem Bluff versuchte, merkte Ram es jedes Mal daran, dass er ein kleines bisschen zögerte, bevor er seine Einsätze machte.

Auch wenn die Brain-Reader-Software funktioniert hätte, wäre Rams Kontrahent nicht besser durchschaubar gewesen bei diesem Spiel am Final Table.

Als der Gangster schließlich seine Karten weglegte, aufstand und wortlos den Saal verließ, tat er Ram fast leid.

Aber nur fast.

Denn das Machtgefühl, das ihn durchströmte, als er begriff, dass er den Hauptpreis gewonnen hatte, überlagerte alles andere.

DIE KILLER-APP

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