Читать книгу DIE KILLER-APP - Adrian Urban - Страница 4
Goldkorn im Müll
ОглавлениеObwohl ihm der Gedanke Was für ein gottverdammter Scheißjob durch den Kopf ging, gelang es Ram, sich ein Lächeln abzuringen.
»Das war wieder sehr professionell, Ram«, sagte Janine, eine Angestellte von FeelReal Erotix, die, wie Ram vermutete, im wirklichen Leben anders hieß, und erwiderte sein Lächeln. »Aber vor dem Cumshot könntest du ruhig noch ein bisschen mehr stöhnen. Beim nächsten Mal …«
»Beim nächsten Mal denke ich daran.« Ramses, der von allen Ram genannt wurde, hielt Blickkontakt und versuchte den Umstand zu ignorieren, dass er in einem weißen Bademantel, Eigentum der Firma, für die er in unregelmäßigen Abständen arbeitete, vor einer jungen Frau stand, die gerade so viel anhatte, dass sie, wie er vermutete, auf den Straßen Berlins nicht nach den Preisen für ihre Dienste gefragt werden würde.
»Wir überweisen das Honorar dann wieder auf dein Konto. Hättest du Interesse daran, in richtigen 3-D-Pornos aufzutreten? Männer, die aussehen wie du, können wir immer brauchen, und du bekämst den dreifachen Stundensatz. Plus Prämien …«
»Nein, danke, mir reichen die Avatarrollen. Der Job ist auch so schon peinlich genug.«
Bevor Ram sich von Janine abwandte und Richtung Duschkabine ging, sah er, wie ihr professionelles Lächeln zunehmend verrutschte, bis es sich nicht mehr von einem gewöhnlichen Alltagsfrustrationsgesichtsausdruck unterscheiden ließ.
Nachdem Ramses Collins den Bademantel an den Haken gehängt hatte, um sich unter die heiße Dusche der Pornofirma zu stellen, warf er einen Blick auf die Spiegelwand gegenüber.
Ram legte keinen großen Wert auf Äußerlichkeiten. Er duschte normalerweise nur bei FeelReal Erotix und im Fitnessstudio, das er einmal pro Woche aufsuchte, um für seinen Job hinreichend in Form zu bleiben, denn sein eigenes Badezimmer war in einem unterirdischen Zustand. Dass er gut aussah, nahm er eher als Selbstverständlichkeit hin, als sich daran zu berauschen.
Er betrachtete kurz seinen athletischen Körper, gut ein Meter neunzig, die markanten, männlichen Gesichtszüge, die ihn älter als dreißig wirken ließen, und die langen Naturlocken, hellbraun mit einem leichten Rotstich. Ein Farbton, der ebenso wie die grünen Augen dezent auf Rams irische Abstammung verwies.
Er streckte sich selbst, dem Cyberpornoladen und dem verdammten Jahr 2033, das ihn zwang, seinen Lebensunterhalt mit Trockensexübungen für arme Schweine in Ganzkörper-Masturbationsanzügen zu verdienen, die Zunge heraus und stellte die Duschtemperatur auf einen Wert knapp unter der Verbrühgrenze ein. Dann ließ er das Wasser laufen, seifte sich mit einer halben Flasche Duschgel von Kopf bis Fuß ein und beschäftigte sich zum wiederholten Male mit der Frage, warum er sich diesen Job antat. Wenn er ehrlich zu sich war, gab es im Jahr 2033 auch zwei oder drei alternative Verdienstmöglichkeiten mit deutlich geringerem Peinlichkeitsfaktor – nur dass diese Tätigkeiten mit Arbeit im engeren Sinne einhergingen.
Nicht dass Ram keine Erfahrungen mit regulären Lohntätigkeiten vorweisen konnte. Er hatte sich schon in vielen beruflichen Bereichen versucht, und das nicht einmal erfolglos. Rikschafahren, Wohnungen entrümpeln, männliche Besucher von Metal-Konzerten kontrollieren und abtasten, Statist für einige Produktionen aus der schier endlosen Reihe von Film- und Web-TV-Projekten mit Hauptstadtflair spielen, die seit Jahrzehnten rund um die Kreuzberger Oberbaumbrücke gedreht wurden – und das waren nur die Jobs im letzten Jahr.
Doch Ram neigte dazu, so bequem und verantwortungsarm zu leben, wie es nur ging. Diesem Vorhaben schienen die Avatarrollen für FeelReal Erotix zuträglich zu sein.
Seine Aufgaben beschränkten sich darauf, dreimal pro Woche zwei Stunden Zeit zu investieren. Wenn auch für eine Tätigkeit, über die Ram nur selten mit seinen Bekannten sprach – und nie mit seiner Mutter, wenn sie ihn, was ungefähr drei oder vier Mal pro Jahr vorkam, aus Dublin anrief.
Rams Arbeit begann jedes Mal damit, dass er sich, nach einer ersten Dusche nackt auf einem Sechs-Quadratmeter-Bett liegend, mit verschiedenen Sensoren bekleben und an ein haubenartiges Brain-Computer-Interface anschließen ließ. Danach wurden die Messinstrumente kalibriert und an den aktuellen Istzustand seines Körpers angepasst. Zuletzt gab man ihm eine Spezialsonnenbrille als Schutz vor den Laserstrahlen, die ihn bald scannen und abtasten würden.
Schon dieser Anfang war jedes Mal beschämend genug, doch erst die nachfolgenden fünfzig, sechzig Minuten machten es erforderlich, im Anschluss an die Prozedur so lange heiß zu duschen, bis Rams Haut an die Farbe eines Hummers im finalen Kochtopfstadium erinnerte.
Denn er sollte, streng an den Regieanweisungen orientiert, die ein FeelReal-Erotix-Mitarbeiter über den Lautsprecher erteilte, nach Pornostandards Sex mit einer Partnerin haben. Nur ohne Partnerin. Die geforderten Stellungen wiederholten sich auf ermüdende Weise. Ram musste sich ständig auf erotische Bilder im Kopf konzentrieren, um seine Erektion zu halten – pornografische Unterstützung hatte er, verzweifelt um einen Rest von Würde bemüht, von Anfang an abgelehnt – und am Schluss ein bisschen mit der Hand nachhelfen. Auf Kommando, so ähnlich wie bei einem normalen 3-D-Hardcorestreifen. Ansonsten hielten sich die Anstrengungen in Grenzen.
Vorausgesetzt, man konnte mit den Erinnerungen an die unsäglich peinlichen Situationen leben. Ram war nicht sicher, ob ihm das auf Dauer gelingen würde, aber noch ging es einigermaßen.
Die Daten dieser albernen Trockenfickübungen verarbeitete eine Gruppe von Programmierern zu einer vollständigen Ramses-Collins-Körpersimulation. Mit allen sinnlichen Qualitäten, die sich derzeit technisch umsetzen ließen, für Cybersexsoftware mit realistischem Anspruch.
Die Kunden dieser neuen Spielerei gaben nicht nur viel Geld für die Grundausstattung aus, wozu ein Datenübertragungshelm und ein Ganzkörperanzug gehörten, sie zahlten auch eine Menge für die Illusion, mit einem Pornostar ihrer Wahl Cybersex zu haben. Hunderte Avatare standen zur Auswahl, und Ram wurde besonders intensiv nachgefragt. Obwohl ihm Bernd Fischer, Geschäftsführer von FeelReal Erotix, beim Einstellungsgespräch versichert hatte, es seien viele Frauen unter den Kunden, wollte Ram sich nicht allzu sehr belügen: Er und seine Kollegen waren enorm beliebt bei schwulen Männern.
Und wenn schon. Dafür bekam er immerhin hundertfünfzig Euro für zwei Stunden Vorbereiten, Posen und Wichsen.
Die virtuelle Pornowelt war ihm ein Gräuel, aber Ram hatte nicht das Geringste gegen moderne Technologien. Vor sieben Jahren war er einer der Ersten gewesen, die sich einen Cyberport in den Hals transplantierten ließen. Ein flaches, quadratzentimetergroßes Minionlinecomputermodul mit einem Akku, der sich durch Bewegungsenergie auflud, und einer Funkverbindung. Eine Sprachsteuerung leitete die Befehle des Users aus dessen Kehlkopfvibrationen ab, und wenn jemand über dieses System telefonieren oder Musik hören wollte, benutzte er kleine Hochleistungshörer, die in die Ohren gesteckt wurden.
Einen Cyberport musste man normalerweise nur alle fünf Jahre durch einen harmlosen chirurgischen Eingriff austauschen lassen, denn die Geräte waren mit einem speziellen Nanoverbundstoff beschichtet, der die erfreuliche Eigenschaft hatte, die körperliche Abstoßungsreaktion erheblich zu verzögern. Kombiniert mit Augmented Reality, speziellen Netzhautprojektorkontaktlinsen, die die Wirklichkeit mit visuellen Zusatzinformationen anreicherten oder gleich die ganze schnöde Welt ausblendeten, war so ein Cyberport ein äußerst nützliches Tool, fand Ram.
Viele andere Cyborgs nutzten AR, die erweiterte Realität, hauptsächlich, um mit Freunden zu kommunizieren, mehr oder weniger kritische Kommentare zu allem und jedem zu posten und eine Vielzahl von Informationen über andere Leute ins Sichtfeld zu projizieren, um Gleichgesinnte kennenzulernen. Ram diente diese Technologie jedoch als Mittel, um sich von der Realität und den Menschen, die sie bevölkerten, zu distanzieren. Nicht allzu viel an sich heranzulassen, um von der Welt soweit wie möglich in Ruhe gelassen zu werden.
Und sein aktueller Job ging ihm definitiv zu nahe.
Ich werde der Scheißpornofirma kündigen, im nächsten oder übernächsten Monat, sobald ich etwas Besseres gefunden habe, sagte er sich, und stellte die Dusche aus. Das ganze Badezimmer glich einer Dampfsauna. Ich möchte mich nicht mehr in Grund und Boden schämen müssen, wenn ich an meine Arbeit denke. Dieser Gedanke beschäftigte ihn keineswegs zum ersten Mal. Er gehörte irgendwie zum Duschritual, was dafür sprach, dass in Rams Leben alles so bleiben würde, wie es war.
Eine Viertelstunde später verließ er den Zweckbau, in dem FeelReal Erotix ihr Studio eingerichtet hatte, und versuchte den Kopf freizubekommen. Das schöne sonnige Maiwetter half ihm dabei.
Als der Eingang zum U-Bahnhof Kurfürstenstraße gerade am Horizont erschien, fiel Rams Blick auf einen Müllkübel, der an einer Straßenlaterne befestigt war. Einer von Tausenden orangefarbenen BSR-Eimern, wie es sie an jeder Straßenecke gab, doch aus diesem Kübel ragte etwas heraus, das interessant zu sein schien. Ein technisches Produkt, das anscheinend in seiner Originalplastikverpackung weggeworfen worden war.
Wenn ich mein Geld mit Cyberpornos verdiene, kann ich auch im Abfall herumwühlen. Das ist kein bisschen peinlicher als mein aktueller Job …
Ram zog den Gegenstand aus dem Eimer heraus.
Ein Cube! Einige von diesen Speichermedien enthielten Spezialprogramme, die ganz schön teuer waren.
Auf der Verpackung stand Progressive Cybernetics. Darunter war ein Logo, das die Buchstaben P und C miteinander verband. Ein Firmenname, der Ram nichts sagte.
Das Gleiche galt für das Produkt, das sich in der Verpackung befand.
Brain Reader 1.0.
Was auch immer das bedeutete. Ram hatte vor, es herauszufinden. Er steckte den Cube in die Tasche seines Hoodies und ging die Treppe zur U-Bahn-Station herunter.
Ram schloss die Tür zu seiner Wohnung in der Huttenstraße in Moabit auf, einem Kiez, der seit einigen Jahren für seine gelungene Mischung von Alteingesessenen, Künstlern und Studenten bekannt war, bei halbwegs bezahlbaren Mieten.
Die letzten paar Kilometer vom U-Bahnhof Turmstraße bis zu der Ecke, in der er lebte, hatte er zu Fuß zurückgelegt. Sein AR-System war so freundlich gewesen, ihn darauf hinzuweisen, dass der Bus zwanzig Minuten Verspätung haben würde. Außerdem fand er es schön, die Nachmittagssonne und den leichten warmen Wind zu spüren. Bei aller Liebe zu Technik und Weltflucht: Ram wusste, dass es ganz ohne die gute alte Wirklichkeit nicht ging.
Als er seine Wohnung betrat, aktivierten sich die Beleuchtung und das Rechnersystem automatisch.
Die beiden Zimmer waren so dunkel, dass das Raumlicht fast immer brannte, falls Ram nicht schlief oder einen Termin außer Haus wahrnahm. Hinzu kam eine kleine Küche, die er hauptsächlich zur Bieraufbewahrung und zum gelegentlichen Braten eines Steaks nutzte, und ein Bad, das seit Monaten vernehmlich, aber ignorierbar nach einer gründlichen Reinigung schrie.
Ram öffnete die Tür zu seinem Wohnzimmer und bahnte sich einen Weg durch mehrere Stapel von antiken Bildbänden, Musikzeitschriften aus den letzten vier Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts und fünfzig, sechzig Jahre alten französischen Kunstcomics, die den Boden bedeckten. Wahrscheinlich hätte ein Privatdetektiv mit viel Geduld und Ausdauer irgendwo noch die Ausdrucke aus Rams kurzer, erfolgloser Studentenzeit entdeckt, kurz nach der Sprachprüfung im Jahr 2024.
Inzwischen war sein Deutsch, abgesehen von einem leichten englischen Akzent, so gut wie das eines Muttersprachlers, und meist träumte und dachte er sogar auf Deutsch. Das beunruhigte ihn ein bisschen.
Schon in der Schule, beim Irisch- und Spanischunterricht, musste Ram praktisch nie zu Hause üben, um gute Noten zu bekommen. Wenn er ein Wort oder eine Redewendung in einer fremden Sprache hörte und wusste, wie sich die Begriffe übersetzen ließen, prägte er sich den Klang fast so effektiv ein, wie ein Computer Audiosignale speichert, und er konnte diese Informationen noch nach Jahrzehnten genauso problemlos abrufen wie am ersten Tag. Obwohl er in diesem Lebensbereich höchst erfolgreich war, hielt er seine sprachlichen Fähigkeiten für selbstverständlich, und er nahm sie hin, wie er die meisten Dinge hinnahm.
Ram ging zum Ledersofa in der Mitte des Zimmers, einem Möbelstück, das, ebenso wie die ganze Wohnung, seine besten Zeiten schon hinter sich hatte, räumte den Sitzplatz frei und ließ sich hineinplumpsen. Vor ihm stand ein vollgepackter Tisch mit einem Rechnerzugangsmodul.
Ram war kein Messie, der nichts wegwerfen konnte. Ordnung und Sauberkeit hatten für ihn nur keine sonderlich hohe Priorität, deshalb schob er Reinigen, Aufräumen und Ausmisten normalerweise so lange vor sich her, bis diese Aktivitäten sich beim besten Willen nicht mehr vermeiden ließen.
Angélique, seine letzte Freundin, hatte ihn wegen seiner chaotischen Lebensumstände und dem Mangel an jeglicher Form von Ehrgeiz verlassen. Zumindest waren diese Begriffe im finalen Ich-hab’s-mir-überlegt-wir-passen-nicht-zusammen-Gespräch gefallen. Doch Ram mochte sein Leben – allenfalls mit Ausnahme seiner derzeitigen Erwerbstätigkeit –, und er plante nicht, daran etwas Grundlegendes zu ändern.
Und so genoss er das Alleinsein mehr, als er seine letzte Beziehung genossen hatte.
Zu Vergnügungszwecken hing ein ultradünner Achtzigzollmonitor an der Wand gegenüber der Couch, eine Zwanzig-Punkt-zwei-Surroundanlage sorgte für hervorragenden Raumklang, und das Rechnersystem half Ram dabei, auch dann qualitativ hochwertige Games zu spielen oder Mysteryserien zu gucken, wenn er gerade auf erweiterte Realitäten und den ganzen Cyberkram keine Lust hatte.
Ram sagte: »Operator an Computer. Lade Audioplaylist Nummer einundzwanzig und spiele sie in der Originalreihenfolge ab. Volume auf acht Komma drei«, und einige Sekunden später wummerte Electro-HardBizz von Wombat Combat und 9th Wonders durch die zweiundzwanzig Lautsprecher.
Seinen ungewöhnlichen Vornamen hatte Ramses’ Vater zu verantworten, angeblich aus Liebe zum alten Ägypten. Das zumindest war der Kerninhalt der Anekdote, die ihm seine Mutter immer wieder erzählt hatte, als er noch ein Kind war.
Damals, vor Rams Geburt, hatte dieser Mann offenbar seine Freizeit noch nicht mit dem Hobby Alkoholismus vergeudet, sondern sich intensiv mit vergangenen Hochkulturen beschäftigt, vor allem mit den Ägyptern der Antike. Und Ramses war der häufigste Pharaonenname im Neuen Reich.
Ram hegte seit Längerem den stillen Verdacht, sein Vater habe ihm mit der Namenswahl den Auftrag mitgegeben, berühmt, mächtig und gefürchtet zu werden, stellvertretend für ihn selbst.
Nichts konnte weiter von der Wirklichkeit entfernt sein – sowohl bei Ram als auch bei seinem Vater. Francis Douglas Collins versoff wahrscheinlich gerade seine kümmerliche Frührente in dem miesen kleinen Apartment, in das er nach der Scheidung gezogen war. Rams Mitgefühl hielt sich in Grenzen. Ohnehin hatte er den Kontakt zum Vater bereits vor vielen Jahren abgebrochen.
Und Ram selbst arbeitete als Nacktmodell für einen schmierigen Cyberpornladen.
Er bemerkte gerade, dass seine AR-Linsen in den Augen brannten. Wahrscheinlich würde er die Dinger bald herausnehmen und in die Spezialreinigungsflüssigkeit legen.
Er überlegte, was er tun konnte, um sich etwas ausgelasteter zu fühlen. Ergänzend zur Clubmusik, die sein Rechnersystem abspielte.
Ein cooles Game? Ein bisschen in den alten Comicheften rumstöbern? Oder das eine oder andere Bier trinken? Vielleicht eine Kombination aus Bier und Comiclektüre?
Plötzlich fiel ihm ein, dass der Cube aus dem Abfallkübel immer noch in seiner Hoodietasche steckte. Er musste überprüfen, was darauf war.
Auf diesen würfelförmigen Speichermedien, die über einen Multiport an jedes Computerzugangsmodul angeschlossen werden konnten, befanden sich normalerweise teure Programme und Applikationen, für herkömmliche Rechnersysteme oder für Cyberports. Vielleicht hab ich ein kleines Goldkorn aus dem Müll gezogen, dachte Ram.
Er beschloss, die AR-Kontaktlinsen vorerst da zu lassen, wo sie waren, und das Brennen zu ignorieren. Nachdem er die Musiklautstärke von akut gesundheitsgefährdend auf Supermarkthintergrundberieselung heruntergeregelt hatte, nahm er die Plastikverpackung mit dem Cube aus der Tasche seines Kapuzenpullovers.
Die Hülle war offenbar ungeöffnet. Ram betrachtete sie von allen Seiten. Nichts außer der Pappe mit dem PC-Logo, dem Firmennamen Progressive Cybernetics und der Produktbezeichnung Brain Reader 1.0. Alles in Rot auf schwarzem Grund.
Er öffnete die Packung mit einer Schere, die auf dem Tisch herumlag, und nahm den Cube heraus.
Klein, schwarz, mit dem üblichen Multiportinterface. Ohne besondere Eigenschaften, wenn man das Speichermodul von außen betrachtete.
Zunächst galt es, ein paar Daten über die Herstellerfirma zu bekommen und herauszufinden, was die Kunden von den Produkten hielten.
Ram legte den Cube auf den Wohnzimmertisch und aktivierte sein AR-System mit einigen Sprachbefehlen. InfoNet, die beste Suchmaschine im Netz, benötigte erwartungsgemäß nur Sekundenbruchteile, um den Namen Progressive Cybernetics zu überprüfen und die Ergebnisse über Linsen und Netzhaut in Rams Blickfeld zu projizieren.
Doch was InfoNet gerade herausgefunden hatte, war bemerkenswert.
Denn es gab nur zwölf Einträge zum Stichwort, und alle bezogen sich auf einen Science-Fiction-Roman gleichen Namens, den ein gewisser Jack Rowfield vor drei Jahren als E-Book auf einer Selfpublishing-Plattform veröffentlicht hatte.
Ram überflog den Textauszug. »Progressive Cybernetics« stand hier offenbar für einen geheimnisvollen Monopolisten, der absurde Dinge herstellte, bei denen zunächst unklar blieb, ob sie der Menschheit zum Vorteil gereichten oder ob sie den Planeten ins Verderben stürzen würden.
Eine echte Firma, die sich Progressive Cybernetics nannte, schien es nicht zu geben, und die Produktbezeichnung der Software, Brain Reader 1.0, war InfoNet sogar völlig unbekannt.
Seltsam, dachte Ram. Außer …
Außer er hatte zufällig das Appmodul eines Guerillamarketing-Start-ups im Müll gefunden.
Es gab ein paar Firmen – wie viele, wusste niemand –, die auf traditionelle Werbung ebenso verzichteten wie auf einen Eintrag ins Handelsregister. Ihre experimentellen Produkte waren nicht legal, aber wenn jemand nach ihnen suchte, wandte er sich normalerweise über Dritte an einen zwielichtigen IT-Ramsch-Laden, der sie in einem geschützten Bereich seines Onlineshops anbot.
Alle bekannten Quellen zum Herunterladen von Guerillasoftware galten als hochgradig verseucht, weshalb die Hersteller, wie es hieß, sich seit Längerem auf Cubes und andere materielle Datenträger beschränkten, wenn sie ihre Ware an den Mann bringen wollten.
Für die Guerillathese, überlegte Ram, spräche auch der merkwürdige Bezug zu einem unbekannten Science-Fiction-Roman, in dem es um eine geheimnisvolle Firma geht, die so heißt wie der Hersteller dieses Cubes. Nur eine besonders effektive Form von Werbung.
Jemand musste das Speichermedium versehentlich weggeworfen haben, wahrscheinlich zusammen mit Müll.
Ram schob den Cube in das Rechnerzugangsmodul, das auf seinem Tisch lag, um den Würfel in einem geschützten Check-up-Sektor auf Hardwaremanipulationen und Malware zu untersuchen.
Nach zehn bis fünfzehn Minuten würden die Ergebnisse angezeigt werden. Sicherheitshalber nicht über die AR, sondern auf dem Achtzigzollmonitor an der Wand. Selbst wenn ein hochaggressiver Schädling das Prüfmodul vollständig lahmlegte, blieb der Rest des Rechnersystems ebenso unbeeinträchtigt wie Rams implantierter Cyberport.
Er konnte es kaum abwarten.
Eine Viertelstunde später, Ram hatte das beste Suchprogramm verwendet, das er besaß, erschien eine Anzeige auf dem Bildschirm. Sie quantifizierte alle akuten und potenziellen Probleme, die die Cube-Daten betrafen: Null. Gefolgt von einem blinkenden »OK«.
Cool.
Ram deaktivierte den Prüfmodus und übertrug die Brain-Reader-Software auf das Hauptrechnersystem.
Wie er durch einen Blick auf den großen Wandmonitor erkennen konnte, verzichtete das Installationsmenü auf die übliche Präsentationsanimation. Es gab auch keine Assistenzfunktion oder seitenlange Listen mit AGB, die ohnehin niemand las.
Die Herstellerangaben beschränkten sich auf eine Texttafel, rot auf schwarzem Grund. »Brain Reader 1.0 by Progressive Cybernetics Corporation. Testversion.«
Dann folgte ein kurzer Abschnitt, der darauf hinwies, dass sich die Software nur einmal aktivieren und auf einen Computer übertragen ließ. Eine Aussage, die, wie Ram wusste, bei Betaprogrammversionen, an denen noch gearbeitet wurde, nicht unüblich war, weil es die kommerzielle Nutzung von Testsoftware erschwerte.
Ein Spezifikationscode verriet ihm, dass es sich bei dem Programm um eine App für AR-Systeme handelte, die von einem Cyberport gesteuert wurden. Offenbar genau das Richtige für Cyborgs wie Ram.
Darunter stand der Satz »Nutzung auf eigene Gefahr«.
Diese ausdrückliche Warnung irritierte ihn etwas, doch dann sagte er sich, dass die Firma Progressive Cybernetics wahrscheinlich auf diese Weise dafür sorgte, dass Schadensersatzklagen ausgeschlossen waren – für den Fall, dass das Testprogramm nicht so funktionierte wie gewünscht.
Doch wie sollte es überhaupt funktionieren?
Vielleicht, überlegte Ram, kann man damit die Körpersprache und die Mimik von anderen Menschen analysieren und durch kleine Einblendungen erfahren, wer gerade lügt und wer die Wahrheit sagt. Oder die App verweist auf flirtwillige Angehörige des bevorzugten Geschlechts.
Da das Installationsmenü nichts über den Sinn und Zweck der Software verriet, ebenso wenig wie die Internetrecherche, die er eben durchgeführt hatte, würde ihm wenig anderes übrig bleiben, als die Sache auszuprobieren.
Und falls sich diese App als unausgereifter oder überflüssiger Mist erwies, hielt ihn niemand davon ab, das Programm zu deaktivieren und den Cube in den Müll zu werfen. Er hatte ihn sowieso aus dem Abfall herausgefischt, es war also kein großer Verlust.
Ram aktivierte den Installationsbutton mit einem Sprachbefehl.
Ob er wirklich sicher sei, den Installationsprozess durchführen zu wollen?
Aber ja. »Fortsetzen.«
Das Menü verschwand vom Monitor, der kurz feuerrot aufleuchtete, bevor er sich, zu Rams Überraschung, selbst deaktivierte.
Doch als er seinem Rechner den Befehl erteilte, den Bildschirm wieder anzuschalten, funktionierte das problemlos, und es gab auch keine Fehlermeldungen. Nur das Installationsmenü fehlte.
Dafür zeigte die Datenleiste, die das AR-System so auf die Netzhaut projizierte, dass Ram den Rahmen und das Menü eines virtuellen Monitors vor sich sah, eine Meldung.
»App-Transfer erfolgreich abgeschlossen.«
Na also.
Jetzt musste er herausfinden, wozu der ganze Scheiß überhaupt gut war.
»Operator an Cyberport. Handbuch zum Brain Reader aufrufen.«
Ein Schriftzug erschien am oberen Rand seines Gesichtsfelds.
»Kein Handbuch verfügbar.«
Ram wunderte sich.
»Eine Gebrauchsanleitung, ein Videostream, eine Audiodatei … irgendwas in der Art?«
»Keine schriftlichen, visuellen oder auditiven Informationen zum Programm Brain Reader 1.0 verfügbar.«
Ram sah ein, dass ihm wenig anderes übrig bleiben würde, als diesen ärgerlichen Umstand zu akzeptieren, wenn er die neue App benutzen wollte.
»Operator an Cyberport. Aktiviere Brain Reader 1.0 im AR-Modus.«
Am oberen Rand seines Gesichtsfelds erschien die Meldung »Zugriff nicht möglich«.
Das kann doch nicht wahr sein, dachte Ram. Er fluchte vor sich hin, wobei er auf seine Muttersprache zurückgriff.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, sagte er noch einmal »Operator an Cyberport« und fügte hinzu: »Brain Reader mit Verweis auf meine Administratorenrechte freischalten.«
»Zugriff nicht möglich.«
»Was für eine unglaubliche Scheiße ist das de… Cyberport, ignoriere den letzten Satz. Wie kann ich auf das Brain-Reader-Programm zugreifen?«
»Keine Zugriffsinformationen vorhanden.«
Offenbar bin ich auf einen blöden Marketinggag hereingefallen, dachte Ram. Diese App ist nutzlos.
Da sich seine trockenen und juckenden Augen inzwischen wieder deutlich bemerkbar machten, beschloss er, die Linsen endlich herauszunehmen, noch ein bisschen Musik zu hören und die Deinstallation der verdammten Fakesoftware auf später zu verschieben.
Alles in allem war dieser Tag ein Griff ins Klo.