Читать книгу DIE KILLER-APP - Adrian Urban - Страница 7
Pokern für Anfänger
ОглавлениеKnapp drei Wochen später lag Ram auf seinem Wohnzimmersofa und blickte zur Decke, weil das nach seiner Erfahrung die beste Körperhaltung war, um sich längere Zeit erfolgreich zu konzentrieren. Die Anbahnung der sexuellen Abenteuer, die ihm im Gespräch mit Mirco noch so attraktiv erschienen waren, hatte er vorerst zurückgestellt. Neben ihm, auf dem Tisch, standen ein Glas und eine Flasche Ginger Ale, denn das war seine bevorzugte Ersatzdroge, wenn er, wie in den letzten zwanzig Tagen, auf Alkohol verzichtete.
Ginger Ale schmeckte hinreichend herb, um ihn an irische Biersorten zu erinnern, aber die Ähnlichkeit war nicht so groß, dass sie ihn veranlasst hätte, unaufhörlich an den Stout-Vorrat zu denken, den er im Kühlschrank aufbewahrte.
»Wie unterscheiden sich die Wahrscheinlichkeiten für einen Straight Flush, wenn man Siebenkartenspiele wie Texas Hold ‘Em mit Fünfkartenspielen wie Five Card Stud vergleicht?«, fragte gerade die freundlich neutrale Frauenstimme, die Ram als Standard für alle Computer-Voice-Anwendungen festgelegt hatte.
Er dachte kurz nach und antwortete: »Bei sieben Karten liegt die Wahrscheinlichkeit für einen Straight Flush bei null Komma null-zwo-acht Prozent, bei fünf Karten liegt sie nur bei null Komma null-null-eins-drei-neun Prozent. Also sind die Chancen auf eine solche Hand bei Siebenkartenspielen ungefähr zwanzig Mal größer.«
»Korrekt. Was ist das wichtigste Kriterium für einen guten Spieler, welches Hauptziel hat er, und was hilft ihm bei der Analyse des Spielgeschehens?«
Drei Fragen in einer, dachte Ram. Aber sie sind leicht zu beantworten. Reines Basiswissen.
»Ein guter Spieler versucht herauszufinden, wie gut seine Hand im Vergleich zu den Karten der Mitspieler ist. Dabei schließt er von seinen Pocket Cards, von den Community Cards und den Karten, die ausgespielt werden, auf die verdeckten Karten seiner Kontrahenten, indem er Wahrscheinlichkeitsberechnungen durchführt. Der zweite Hauptfaktor ist das Beobachten der Rundengegner: Körpersprache, Blufftechniken, bisheriges Verhalten im Spielverlauf. Das Hauptziel ist es, schlechte Hände normalerweise frühzeitig aufzugeben, finanzielle Verluste klein zu halten und den Gewinn zu maximieren.«
»Korrekt. Wie wird es in den meisten Fällen interpretiert, wenn ein Spieler seine Pocket Cards über einen längeren Zeitraum ansieht, und was ist die Gefahr einer solchen Betrachtungsweise?«
Auch durch diese Frage fühlte sich Ram eher unter- als überfordert.
»Es heißt, dass ein Spieler, der eine starke Hand hat, unbewusst länger in seine Karten schaut als jemand mit einer schwachen Hand. Die Gefahr einer solchen Interpretation besteht darin, dass versierte Gegner dieses Mittel bewusst einsetzen können, um zu bluffen.«
Die deutsche Sprache hatte etwas unnachahmlich Bürokratisches, fand Ram. ›Die Gefahr einer solche Interpretation besteht darin, dass …‹
Er liebte diese bis ins Absurde gehende Umständlichkeit, seit er Deutsch gelernt hatte, und spielte gern mit ihr.
»Korrekt«, sagte die freundlich neutrale Frauenstimme. »Woher kommt der Begriff ›Dead Man’s Hand‹?«
Zum ersten Mal an diesem Nachmittag geriet Ram ins Stocken. Klar, eine Dead Man’s Hand bestand aus zwei Assen und zwei Achten, aber danach hatte das Advanced-Gambling-Programm, Schwerpunkt Texas Hold ‘Em, zu seinem Bedauern nicht gefragt. Die Wahrscheinlichkeiten für eine solche Kombination hätte er ebenso im Schlaf aufsagen können wie die Chancen dafür, dass aus einer Dead Man’s Hand, abhängig vom Spielverlauf, noch ein Full House wird. Aber woher kam der gottverdammte Name?
Zu seinem Glück waren Computer geduldig, und er hatte eine großzügige maximale Antwortzeit eingestellt.
Ram versuchte sich zu konzentrieren, aber es nutzte nichts.
Erst als seine Gedanken nach ein paar Minuten abschweiften und sich in erotischen Fantasien verloren, fiel ihm alles wieder ein.
Deadwood.
Natürlich, Deadwood. Deadwood, South Dakota. Da liegt der Typ begraben.
Ram räusperte sich. »Der Begriff ›Dead Man’s Hand‹ bezieht sich auf das Leben und Sterben eines amerikanischen Revolvermannes aus dem 19. Jahrhundert. White Bill Hickok. Acht Schießereien, acht Tote, wenn ich mich richtig erinnere. Hickok war ein passionierter Gambler, und irgendwann hat ihn ein Mann hinterrücks beim Spielen erschossen. Es heißt, dass Hickok mit einer Dame, zwei Assen und zwei Achten in der Hand gestorben ist, in Deadwood, South Dakota. Seitdem wird die Asse-Achten-Kombination ›Dead Man’s Hand‹ genannt.«
»Korrekt. Damit haben Sie die letzte von zweihundertfünfzig Trainingstesteinheiten erfolgreich beendet, die nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt worden sind. Sie konnten alle Fragen korrekt beantworten. Herzlichen Glückwunsch, Ram.«
Ram hielt es für überflüssig, sich bei einer Rechnersoftware für einprogrammierte Glückwünsche zu bedanken.
Stattdessen sagte er: »Computer, beende Advanced Gambling und spiele die Tracklist Nummer siebenundachtzig ab, Best of Johnny Cash. Volume auf zwei.« Im Angedenken an White Bill Hickok und alle Spinner seiner Art, fügte er in Gedanken hinzu.
Es war Zeit für das erste Bier seit einer halben Ewigkeit. Ram stand auf, ging in die Küche und kam mit einer kühlen Flasche Beamish Stout zurück.
Sein Leben bestand aus vielen mehr oder weniger festen Gewohnheiten. Diese, das Bier aus seiner Heimat, gehörte zu den festesten, aber er hatte beschlossen, bis zum Ende seines Pokertrainings abstinent zu bleiben, um mit voller Konzentration an seinem Plan arbeiten zu können. Dem Plan, innerhalb weniger Wochen aus einem absoluten Laien einen versierten Pokerspieler zu machen.
Das, was ihn von einem hervorragenden Gambler unterschied, mussten dann seine telepathischen Fähigkeiten ausgleichen.
Er setzte sich wieder auf die Couch und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Dabei entfuhr ihm ein wohliges »Mmh …«, so wie den Schauspielern in unzähligen Bierwerbefilmchen.
Johnny Cash sang gerade »Solitary Man«, mit einer Stimme vom Rande des Grabes.
Rams aktuelle seelische Verfassung war deutlich besser. Um sich möglichst wohlzufühlen und den Bierverzicht ein bisschen abzufedern, hatte er den Höhlencharakter seiner Wohnung in den letzten zwanzig Tagen durch einige einfache logistische Maßnahmen noch stärker herausgearbeitet.
Das Sofa, ohnehin sein wichtigster Lebensmittelpunkt, war jetzt mit Kissen und Decken aus dem Schlafzimmer gepolstert, und in den Pokerpausen entspannte er sich mit Trancefloortracks von The Chemistry. Elektronische Musik, die von psychedelischen 3-D-Kaskaden auf dem Achtzigzollmonitor an der Zimmerwand begleitet wurde.
Zu seiner Bequemlichkeit hatte er außerdem beschlossen, vorerst auf die tägliche Kocherei zu verzichten und sich seine Mahlzeiten von verschiedenen Onlinelieferdiensten bringen zu lassen. Asiatisch, arabisch, italienisch, je nach Bedarf. Es gab sogar ein irisch-schottisches Gastronomieunternehmen, bei dem Ram einmal Irish Stew bestellte, aber das Traditionsgericht enthielt das zäheste Lammfleisch, das er je gegessen hatte, und er kippte die Hälfte davon, angemessen irisch fluchend, ins Klo.
Doch das war in den letzten drei Wochen die einzige Unannehmlichkeit gewesen. Zumindest wenn Ram den Umstand ignorierte, dass er sich einige Male gezwungen gesehen hatte, das Haus zu verlassen, um seinen Pflichten nachzukommen, vor allem bei FeelReal Erotix und im Fitnessstudio. Mit konventionellen Ohrstöpseln, um den Gedankenmüll von außen wegzufiltern, aber trotzdem ohne allzu großes Vergnügen.
Ram trank die Bierflasche mit vier, fünf großen Schlucken leer, rülpste vernehmlich und stand auf, um das nächste Beamish aus dem Kühlschrank zu holen. Johnny Cash besang gerade das Schicksal eines Mörders, der auf seine Hinrichtung wartet. Mit einer Stimme am Rande des Weinkrampfs.
Ram war sehr zufrieden. Am Montag, nach dem Abend mit Mirco, hatte er einen 3-D-Copyshop im Prenzlauer Berg aufgesucht, um mit dem Laserscanner, der dort stand, seine Gehörgänge und die genaue Form des angrenzenden Ohrmuschelbereichs auszumessen.
Dem Personal war die Überraschung über den ungewöhnlichen Auftrag deutlich anzumerken. Die allermeisten Kunden scannten nicht lebendes Material wie plastische Kunstobjekte, zerbrochene Vasen und andere Erinnerungsstücke, um sie mit dem 3-D-Printer zu duplizieren oder um sie, mit Unterstützung durch eine spezielle Software, in reparierter Form wiederauferstehen zu lassen. Andere stellten elektronische Geräte nach eigenen Softwareplänen im Schichtdruckverfahren her. Ram vermutete, dass er in diesem Laden der erste Kunde war, der jemals einen Scan seines Gehörs in Auftrag gegeben hatte.
Doch anders als das Kopieren von Markenuhren, Kreditkarten oder archäologischen Fundstücken war das lasergesteuerte Abtasten der eigenen Ohren nicht gesetzlich untersagt, also gewährte man ihm den Zugang zur Maschine. Da er den 3-D-Printer nicht in Anspruch nahm und nur die gemessenen Daten auf einem konventionellen Multiportstick speichern wollte, machte ihm die Angestellte des Shops noch einen besonders günstigen Preis. Zumindest kostete der Scan erheblich weniger, als ihm ein Hörgeräteakustiker für die gleiche Leistung in Rechnung gestellt hätte. Solche Preis-Leistungs-Vergleiche waren in den Zeiten der Augmented Reality und der intelligenten Computerassistenten eher eine Sache von Sekunden als von Minuten.
Die Ohrformdaten schickte Ram online an Mirco. Kurz darauf bekam er eine knappe Voicemail zur Bestätigung. »Ist angekommen. Arbeite gerade an deinem Cube-Problem. Dauert noch, ich melde mich, wenn alles fertig ist.«
Danach hatte Ram so gut wie jede freie Minute mit dem Pokertraining in der Hold-‘Em-Variante verbracht. Er besorgte sich mehrere Programme im Netz, die sich gut ergänzten: Theorie, Probabilistik, virtuelle Turniere mit und ohne Mitspielervisualisierung, Deutung nonverbaler Signale, Tricksen und Täuschen. Er beantwortete Tausende von Fragen zum Thema und nahm parallel an mehreren Hundert Spielgeldpartien teil, vom Anfänger- bis zum Profilevel.
In der dritten Woche fing er mit den kostenpflichtigen Echtzeitrunden im Netz an. Anonym, mit dem Einsatz kleinerer Summen und auf solidem Amateurniveau.
Zu seiner Freude stellte er fest, dass er dreimal unter den besten fünfzig Spielern war, und einmal unter den besten zwanzig. Nur bei einer Handvoll Partien hatten ihn die Gegner richtig auflaufen lassen, mit spürbaren finanziellen Verlusten.
Und jetzt, nach knapp drei Wochen, war er gut trainiert und mit sich im Einklang.
Während er einen weiteren großen Schluck aus seiner Bierflasche trank, ging ihm ein unerwarteter Gedanke durch den Kopf: dass es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit untersagt war, ein offizielles Pokerturnier zu besuchen, wenn man einen aktivierten Cyberport benutzen wollte. Die Vorteile, die einem die Daten der Augmented Reality im Vergleich zu den Mitspielern verschaffen würden, die nicht über solche Hilfsmittel verfügten, mussten erheblich sein.
Ohne AR keine telepathischen Kräfte, und so gut war Ram einfach nicht, dass er einen Haufen Pokerprofis ohne den Einsatz von unfairen Mitteln besiegen konnte.
Er wollte seine ambitionierten Pläne schon aufgeben und das Reichwerden vorerst abhaken. Doch er musste nur ein paar Minuten im Netz recherchieren, um herauszufinden, dass er mit seinem Pessimismus völlig falsch lag.
Tatsächlich waren AR-Systeme bei Pokerturnieren in Deutschland verpönt, aber grundsätzlich zugelassen. In den Veranstaltungsräumen verhinderte eine spezielle Abschirmelektronik den Zugriff auf die Datenströme der anderen Mitspieler, die ihre AR eingeschaltet hatten, sodass es unmöglich war, visuelle Informationen abzusaugen oder Herzschlag und Blutdruck der Gegner zu überwachen. Wenn jemand versuchte, ein professionelles Pokerprogramm zu laden, wurden diese Bemühungen durch komplexe technische Maßnahmen vereitelt. Außerdem genügte ein einziger dieser Versuche, um für alle offiziellen Pokerturniere in Europa auf Lebenszeit gesperrt zu werden.
Also beschränkte sich der Erkenntnisgewinn, den ein aktives AR-System mit sich brachte, auf Daten, die das Netz zur Verfügung stellte. Biografisches zu den jeweiligen Mitspielern, Wahrscheinlichkeitsberechnungen für verschiedene Kartenkombinationen, abhängig von der Spielphase, und Informationen über die unterschiedlichen Strategien.
Ausschließlich Fakten, über die ein versierter Profi genauso verfügte wie ein geübter Amateur – ohne alle technischen Hilfsmittel. Erfahrung und ein bisschen gezielte Recherche zur Vorbereitung genügten.
Das war auch der Grund dafür, warum AR-Spieler bei Turnieren eher geduldet als respektiert wurden.
Man erkannte sie auf den ersten Blick. Ihre mit Nummern versehenen Plastikschilder waren rot statt weiß, eine Signalfarbe, die klar darauf hinwies, dass es sich bei dem Betroffenen um einen unglaublichen Idioten handelte. Eine Niete im Pokern, die versuchte, ihre mangelnden spielerischen Fähigkeiten durch moderne Technik auszugleichen. Mit anderen Worten: ein erklärtes Opfer für die anderen am Tisch.
Um die Demütigung noch zu verstärken, das war zumindest Rams Vermutung, kostete der Besuch eines offiziellen Turniers, wenn jemand nicht auf Computerunterstützung verzichten wollte, das Doppelte der üblichen Summe für Anmeldung und Eigenanteil am Preistopf.
Als er den Netzeintrag zum Thema zu Ende gelesen hatte, war Ram hochzufrieden. Es hatte seine Vorteile, wenn ihn die anderen Spieler eine Zeit lang unterschätzten. Das rote Idiotenschild würde ebenso dafür sorgen wie der Umstand, dass er niemals bei einem früheren Turnier gesehen worden war.
Diesen Eindruck, überlegte Ram, kann ich weiter verstärken. Etwa indem ich in den ersten Runden ungeschickt agiere und meine Bankroll, den persönlichen Chipstapel, immer wieder übermäßig abbaue.
Eine Sonnenbrille musste er ohnehin tragen. Die Veränderungen seiner Pupillen, verräterische Signale, die sich kaum durch das Bewusstsein kontrollieren ließen, sollten seinen Gegnern verborgen bleiben.
Da nur Profis und gute Amateure solche Brillen trugen, ein Personenkreis, zu dem Ram, wie sein rotes Schildchen suggerieren würde, definitiv nicht gehörte, war der Sichtschutz wahrscheinlich für seine Kontrahenten nur ein weiteres Zeichen dafür, dass sie es mit einem unerfahrenen Wannabe zu tun hatten.
Vielleicht bin ich der erste Turnierspieler überhaupt, der eine Profisonnenbrille mit einem AR-Idiotenschild kombiniert, dachte er und lächelte dabei.
Das müsste mich zum Superidioten machen.
Auf Ohrhörer mit Musikberieselung, wie sie viele Profis trugen, um störende Außenweltsignale zu minimieren, wollte er verzichten – andernfalls würde er keine Chance haben, die Gedanken seiner Mitmenschen zu belauschen. Am Geld sollte die Sache nicht scheitern, doppelte Teilnahmegebühr hin oder her. Ram besaß Rücklagen von über fünftausend Euro, und er wollte die gesamte Summe in Pokerturniere investieren.
Es war für einen guten Zweck. Den Zweck, mit einem dreisten Trick stinkreich zu werden.
Johnny Cash sang gerade eine Version von »Bridge Over Troubled Water«, und er wirkte dabei, als könne er seine Tränen nun beim besten Willen nicht mehr zurückhalten, so sehr er sich auch darum bemühte.
Ram hatte jetzt nur noch wenige Aufgaben zu erledigen. Den Zeitpunkt des nächsten Pokerturniers in Berlin herauszufinden, die Anmeldegebühr und den Eigenanteil an der Gewinnausschüttung zu überweisen und sich in Geduld zu üben.
Er erteilte seinem Rechner einen Sprachbefehl, was das System automatisch veranlasste, Johnny Cash verstummen zu lassen.
»Operator an Computer. Suche nach dem nächsten offiziell zertifizierten Texas-Hold-‘Em-Turnier, das in Berlin veranstaltet wird, und zeige mir die Onlineinformationen auf dem Monitor an.«
Die freundlich neutrale Rechnerstimme bestätigte den Befehl mit »Verstanden«.
Wenige Sekunden später sah Ram auf seinem Achtzigzollwandbildschirm die Videoanimation eines wuchtigen neoklassizistischen Gebäudes mit einem roten Teppich vor dem Eingang.
»Das nächste Turnier gehört zur Special Europe Series und findet am neunten Juni um fünfzehn Uhr im Paradise Casino in Neukölln statt. Pot Limit, mit maximal einhundert Spielern«, erläuterte die Computerstimme. »Das Kasino liegt in der Karl-Marx-Stra…«
Ram unterbrach sein Rechnersystem. »Stopp. Das ist doch schon in einer Woche, da kann man sich bestimmt nicht mehr anmelden.«
»Soll ich diese Aussage als Frage verstehen, ob Sie sich jetzt noch anmel…«
»Ja-ha.«
»Die Frist endet heute Nacht um null Uhr. Aber das verfügbare Kartenkontingent ist begrenzt.«
Die Animation zeigte eine Kamerafahrt, die durch die Drehtür des Kasinos, beidseitig flankiert von Portiers in altmodischen Uniformen, in das Gebäude führte. Dabei sah man, wie der verspiegelte, von Kristalllüstern erleuchtete Eingangsbereich in den strahlenden Innenraum überging. Prächtig, aber auch ein bisschen billig.
»Begrenzt? Wie begrenzt?«
»Es ist nur noch ein Ticket erhältlich.«
»Wow …« Ram hatte plötzlich Gänsehaut an den Armen und am Hals. »Wie viel ist im Price Pool, und wie wird er aufgeteilt?«
Auch bei Pokerrunden im deutschen Sprachraum war es seit Jahrzehnten üblich, im Fachvokabular großenteils die amerikanischen Originalbegriffe zu verwenden. Für Ram als Iren gab es da naturgemäß keine Probleme – nur musste er immer wieder unwillkürlich grinsen, wenn die einschlägigen Onlinelernprogramme englische Wörter gnadenlos den Beugungsregeln der deutschen Grammatik unterwarfen: »Am besten raist du in dieser Situation. Raisen könnte als Bluff funktionieren. Auf keinen Fall solltest du dich aufs Callen beschränken, wenn du bei deiner aggressiv tighten Spielstrategie bleiben willst …«
Die Computerstimme holte Ram in die Gegenwart zurück.
»Der Price Pool beträgt garantierte vierzigtausend Euro und verteilt sich auf die zehn besten Spieler. Der Erste bekommt vierzig Prozent der Gesamtsumme, das entspricht sechzehntausend Euro. Der Zweite bekommt siebzehn Prozent, das entspricht sechstausendachthundert Euro. Der Dritte bekommt zwölf Prozent der Gesamtsu…«
»Stopp, das genügt. Wie hoch sind Buy-in und Tournament Fee, wenn ich mein AR-System aktiviert lassen möchte?«
»Der Buy-in für den Price Pool liegt üblicherweise bei vierhundert Euro. Außerdem verlangt der Veranstalter im Regelfall eine Tournament Fee von vierzig Euro. Mit AR-Erlaubnis verdoppelt sich die Gesamtgebühr auf achthundertachtzig Euro. Falls ich mir einen Tipp erlauben darf: An Ihrer Stelle würde ich mich auf die günstigere Standardvariante beschränken.«
»Wenn ich deine Ratschläge brauche, frage ich dich«, sagte Ram, ohne sich mit Höflichkeiten aufzuhalten. »Verstanden?«
»Verstanden.«
Das war das Schöne an der künstlichen Intelligenz. Sie hielt das Maul, sobald man es ihr befahl. Das galt vielleicht nicht für die Brain-Reader-App, aber zumindest für alle erprobten Technologien in Rams näherer Umgebung.
»Reserviere mir das Ticket in der AR-Variante und blende die Kontaktdaten für das Onlinebanking ein.«
»Verstanden, wird erledigt.«
Als das Computersystem die Transaktion abgeschlossen hatte, war Rams Gänsehaut verschwunden. Stattdessen liefen ein paar Hitzeschauer über seinen Körper, von Bauch und Rücken bis zum Gesicht.
Bis vor wenigen Minuten hatte er gedacht, er würde viele Wochen auf seine große Gelegenheit warten müssen, und nun dauerte es gerade einmal sieben Tage bis zum nächsten großen Turnier in Berlin. Eine Woche, in der er weitertrainieren konnte. Die Anmeldefrist war in dreieinhalb Stunden zu Ende, und Ram hatte mit viel Glück das letzte verfügbare Ticket ergattert.
Außerdem ging es um ein Pot-Limit-Spiel, bei dem der Höchsteinsatz immer dem aktuellen Gesamtbetrag entsprach, der gerade im Pot lag. Solche Wettbewerbe konnten so spannend sein wie die deutlich stärker verbreiteten No-Limit-Turniere, aber sie waren bei Weitem nicht so ruinös. Amateure wie Ram hatten also die Chance, lange am Tisch zu sitzen und mitzuspielen. Auch ohne telepathische Kräfte.
Fast so, als stünde ein seltsamer Plan dahinter – ein Plan, den ich mir nicht ausgedacht habe.
Zu den Hitzeempfindungen gesellte sich ein leichtes Frösteln, doch das eine glich das andere keineswegs aus, sodass Ram jetzt gleichzeitig schwitzte und fror.
Immerhin hatte Mirco vor drei Wochen gesagt, dass Telepathie ohne Großrechner und komplizierte medizinische Apparate gegen ein paar grundlegende physikalische Gesetze verstoßen würde.
Was, wenn etwas mit der Welt, in der er lebte, nicht stimmte?
Besser, ich denke nicht länger darüber nach. Solche Gedanken können nicht gesund sein.
In diesem Moment veränderte sich der Bildinhalt des Achtzigzollmonitors. Er zeigte eine Fläche, die abwechselnd rot und blau aufblinkte und von einem halbwegs dezenten Klingelton begleitet wurde.
»Mirco Weißknecht versucht Sie über eine Hochsicherheitsleitung zu erreichen«, sagte die Computerstimme. »Nehmen Sie das Gespräch an?«
»Ja, leg es auf den Bildschirm.«
Mit einem Freund zu reden, dachte Ram, ist bestimmt eine gute Abwechslung. Außerdem hab ich gerade sowieso nichts Besseres zu tun …
Mircos Gesicht erschien auf dem Monitor.
Er sah abgekämpft aus und hatte dicke schwarze Ringe unter den Augen.
»Hi, Mirco. Du wirkst so, als wärst du seit ein paar Tagen nicht ins Bett gekommen.«
»Da du zu den wenigen Menschen gehörst, die so was normalerweise nicht auf Anhieb bemerken, drängt sich mir die Frage auf, ob du jetzt schon online Gedanken lesen kannst. Das fände ich ganz schön gruselig …«
»Schön, dass du deinen fast schon undeutschen Humor nicht verloren hast, Mirco. Was gibt’s denn?«
Mirco rieb sich die Augen mit den Händen, bevor er wieder in seine Webcam blickte.
»Die gute Nachricht ist, dass ich die Anti-Tinnitus-Stöpsel inzwischen fertig umgebaut habe. Maßgeschneidert für deine Ohrform, und die Dinger warten nur darauf, dass ich sie so kalibriere, dass du deine telepathischen Fähigkeiten selektiv ein- und ausblenden kannst. Entweder ganz oder bezogen auf bestimmte Personen. Dazu sollten wir uns treffen.«
»Klar, komm vorbei, wenn du Zeit hast.«
»Vielleicht heute Abend? Ich müsste sowieso dein Rechnersystem nach Brain-Reader-Informationen durchsuchen, auch wenn ich bezweifle, dass das viel bringt …«
»Wieso? Was meinst du damit?«
Mirco wirkte plötzlich etwas unangenehm berührt. »Ich hab gerade zum unzähligsten Mal alles durchprobiert, was mir an technischen Möglichkeiten zur Verfügung steht … aber der Cube, den du mir gegeben hast, ist leer. Keinerlei Anzeichen dafür, dass darauf jemals ein einziges Bit Information abgelegt war. Ein absolut jungfräuliches Speichermodul, so wie man es für ein paar Cent im Fachhandel bekommt. Nach einer Woche Rumärgern habe ich zwei sehr begabte Hacker aus meinem Bekanntenkreis kontaktiert, aber die konnten auch nichts finden. Dann gab’s noch mal vierzehn Tage Intensivanalyse mit den abgefahrensten Programmen, die auf dem Markt sind. Dutzende Chatrooms, Spezialblogs, Recherchen in abgeschirmten Netzbereichen … alles vollkommen für’n Arsch.«
»Jetzt hol dir mal nicht gleich den Strick.« Ram grinste, und zu seiner Überraschung bemühte Mirco sich, es ihm gleichzutun.
»Keine Sorge, so weit ist es noch nicht. Natürlich werde ich dir nichts für die Cube-Arbeiten berechnen. Ich bin an dem Ding gescheitert, das Lehrgeld muss ich selber zahlen.«
Ram hatte nicht mit so viel Entgegenkommen gerechnet.
»Das ist anständig von dir, aber ich hätte einen Gegenvorschlag.«
»Nämlich?«
»Du kriegst zehn Prozent von allem, was ich in diesem Jahr beim Pokern gewinne, für alles, was du für mich tust. Steuerfrei. Ich hab in den letzten drei Wochen viel geübt. Wenn ich das mit der Gedankenleserei kombiniere, kann ich bei den Turnieren richtig abräumen.«
Mirco schwieg, doch Ram brauchte keine telepathischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass sein Bekannter immer noch Zweifel hatte.
»Gut, es gibt ein gewisses Restrisiko«, sagte Ram nach einer kleinen Denkpause. »Das könnten wir sozusagen einpreisen, indem ich dir statt zehn Prozent zwanzig Prozent vom Jahresgewinn anbiete. Okay?«
»Zwanzig Prozent von null wäre null«, antwortete Mirco, »aber meinetwegen. Auf jeden Fall sollte ich möglichst bald überprüfen, ob sich die maskierten Brain-Reader-Informationen auf deinem Netzwerksystem decodieren lassen. Ich bin nicht besonders optimistisch, aber vielleicht kann ich die Verschlüsselung knacken. Den Versuch bin ich dir schuldig.«
»Komm vorbei, wenn du Zeit hast. Ich bin den ganzen Abend zu Hause.«
»Irgendwie überrascht mich das jetzt nicht …«
»Okay, dann bis später.«
»Bis später.«
Ram deaktivierte das Webphone. Er trank die Bierflasche leer, während Johnny Cash eingeblendet wurde und die Gelegenheit ergriff, den Nachmittag erneut mit süßer Melancholie zu vergolden.
Innerlich nahm Ram bereits an dem Wettkampf teil, der ihm bevorstand, und ging die Spielstrategien, die er benutzen wollte, immer wieder in Gedanken durch.