Читать книгу DIE KILLER-APP - Adrian Urban - Страница 6

Perspektiven

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Ram lag auf seinem Ledersofa. Er hatte es sich in seiner Wohnhöhle gemütlich gemacht und beschlossen, dem Gefühl von Entsetzen und Fassungslosigkeit, durch das sein freier Samstag überschattet worden war, mit dem gezielten Einsatz von melancholischen Heimatmelodien entgegenzutreten.

Deshalb hatte er sein Rechnersystem angewiesen, eine ganz spezielle Zusammenstellung von Songs abzuspielen, die für solche Situationen sehr geeignet war und von Ram den Titel »Irish Desires« verpasst bekommen hatte. Ein Sampler, der ausschließlich aus Klassikern bestand. Dubliners, Chieftains, Celtic Riot.

Drei Flaschen Beamish Stout, eine vierte war gerade in Arbeit, hatten ein Übriges getan, und das lähmende Gefühl war tatsächlich einer leisen, halbtrunkenen Melancholie gewichen.

Im Moment lief »Mystery Game« von Clannad.

Die Erdbeeren hatte Ram in der Küche gewaschen, geputzt und ein bisschen gezuckert. Sie waren schon etwas zermatscht, aber er wollte zunächst etwas erledigen, das ihm auf den Nägeln brannte, und sich erst im Anschluss mit den Früchtchen belohnen.

Es führte kein Weg daran vorbei, die verfluchte App von Progressive Cybernetics zu deinstallieren, also würde er diese lästige Arbeit eben als Erstes erledigen.

Ram verringerte die Lautstärke seines Soundsystems und aktivierte die AR. Dann befahl er ihr, sich mit dem Heimcomputer zu verbinden, um den Deinstallationsprozess auf dem Achtzigzollmonitor an der Zimmerwand verfolgen zu können.

Er stellte fest, dass der rote Punkt mit der Brain-Reader-Anzeige immer noch am unteren Rand seines Gesichtsfelds leuchtete, und übertrug das dreidimensionale Bild über den Cyberport an den Hauptrechner.

So war es bequemer. Die wiederholten virtuellen Einblendungen in die optische Wahrnehmung, die die Augmented-Reality-Technologie zwangsläufig mit sich brachte, strengten nach einer gewissen Zeit die Augen ebenso an wie das Gehirn, und Ram hatte, wie er fand, an diesem Tag schon genug Anstrengendes erlebt.

»Operator an Computer. Öffne das Deinstallationsmenü der Brain-Reader-1.0-Applikation.«

Doch auf dem Wandbildschirm tat sich nicht das Geringste, und die dauerfreundliche Frauenstimme, die alle Systemprozesse begleitete, gab Ram eine unfreundliche Antwort.

»Der Zugriff auf das Deinstallationsprogramm wird verweigert.«

Ram fluchte. Dann setzte er sich aufrecht hin. Gemütliches Liegen war der Situation, in der er sich befand, nicht angemessen, und auch die halb volle Bierflasche, die auf dem Wohnzimmertisch stand, musste warten.

Bestimmt würde sich das blöde Softwareproblem im Handumdrehen lösen lassen. Üblicherweise war jedes installierbare Programm, das keine Schädlinge enthielt, auch deinstallierbar.

»Operator an Computer. Rufe alle verfügbaren Konfigurationseinstellungen von Brain Reader 1.0 auf und zeige sie auf dem Monitor an.«

»Es sind keine Konfigurationseinstellungen zu dieser Software verfügbar.«

»Dann beschränke dich darauf, den Brain Reader zu deaktivieren. Dauerhaft.«

»Der Zugriff auf die Deaktivierungsfunktion wird verweigert.«

»Verfickte Schei…, nein, ich wollte sagen: Welche Komponenten von Brain Reader 1.0 lassen sich abrufen und modifizieren?«

»Keine, es sei denn der User verfügt über die nötigen Zugriffsrechte.«

»Und wer, zur Hölle … ich meine: Wer erteilt dieses Zugriffsrecht?«

»Die Herstellerfirma Progressive Cybernetics.«

»Die sich wo befindet?«

»Keine Informationen verfügbar.«

Anscheinend ließen sich Rams Schwierigkeiten nicht nur nicht im Handumdrehen lösen, sondern überhaupt nicht.

Er griff nach der halb vollen Flasche Beamish und leerte sie in einem Zug.

Nachdem er sich einige Male aus der Trickkiste für die Bewältigung hartnäckiger Softwareprobleme bedient hatte, ohne jeden Erfolg, stellte Ram fest, dass er alleine nicht weiterkam.

Er brauchte Support. Schließlich war er kein IT-Spezialist.

Aber er kannte einen. Mirco, ein paar Jahre jünger als Ram. Ein Systemadministrator, der ausweislich seiner Koteletten, der kreischbunt tätowierten Ohren, die rundum durch diverse Goldringe perforiert waren, und einer Vorliebe für Retropostpunkklamotten offenbar gerne ein cooler urbaner Tripster gewesen wäre, aber eher wirkte wie ein uncooler urbaner Nerd. Dieser Eindruck hatte sich Ram jedenfalls beim ersten Treffen aufgedrängt, unter anderem durch Mircos deutlich gerundeten Bauch und den stark behaarten Grundzustand seiner gepiercten Ohren.

Eher ein guter Bekannter als ein Freund, aber das galt für die allermeisten Menschen, mit denen Ram sich in unregelmäßigen Abständen austauschte.

Er steckte ein AR-Audio-Zusatzmodul ins rechte Ohr, aktivierte die Webphoneapp und rief Mircos Nummer auf, nachdem er einen speziellen Zugangscode eingegeben hatte. Sein Bekannter tat alles, was ihm möglich war, um nicht überwacht zu werden, und dazu gehörte auch eine abhörsichere Webphoneleitung, die es etwas aufwendiger machte, ihn zu erreichen.

Dann sah Ram ein müdes Gesicht mit Dreitagebart.

»Hi, Mirco.« Er versuchte, möglichst unbeschwert zu lächeln, obwohl er sich mies fühlte.

»Hi, Ram. Lange nichts von dir gehört.«

Der Umstand, dass Mirco sich im nonverbalen Bereich auf ein schlichtes Kopfnicken beschränkt hatte, ließ Rams Lächeln schnell wieder verschwinden.

»Könntest du mich bei der Lösung eines Computerproblems unterstützen?«

Da Mircos Miene sich nicht wesentlich aufhellte, setzte er hinzu: »Ich weiß, du hast mir schon oft geholfen, aber ich komme heute einfach nicht weiter …«

»Und immer wenn’s brennt, erinnerst du dich an mich«, erwiderte Mirco, der immer noch nicht lächelte. »Du bist dir wahrscheinlich nicht darüber klar, dass ich normalerweise hundert Euro pro Stunde berechne, wenn ich einen Kunden besuche. Von dir hab ich noch nie was genommen.«

»Und dafür bin ich dir sehr dankbar. Wenn du heute zu mir kommst, kannst du dir gerne ein Heft aus meiner Comicsammlung aussuchen. Außerdem ist das Rechnerproblem wirklich spannend. Das müsste dich auch interessieren …«

»Freie Wahl bei deinen Comics?«

»Freie Wahl.«

Ram und Mirco hatten sich vor ein paar Jahren bei einer ComCon kennengelernt, einer Comic Convention.

»Wenn ich mit dem Auftrag fertig bin, an dem ich gerade arbeite, fahre ich zu dir. Ungefähr um vier Uhr. Okay?«

»Okay. Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du …«

In diesem Moment unterbrach Mirco die Webphoneverbindung. Er hatte weder das Ende von Rams Dankesbekundungen abgewartet noch sich von ihm verabschiedet.

Das Gespräch war bei Weitem nicht so freundlich verlaufen, wie Ram es erwartet hatte. Doch da die vier Frühbiere inzwischen zur vollen Wirkung gekommen waren, hielt er sich nicht mit Selbstzweifeln auf. Mirco würde ihn am Nachmittag besuchen, das zumindest hatte er erreicht.

Außerdem konnte er ihm statt des vereinbarten Comics zwei Hefte mitgeben. Durch ein kleines Geschenk, davon war er überzeugt, ließen sich alle atmosphärischen Störungen beseitigen.

Um kurz vor vier schrillte die Haustürklingel. Ram, der ein bisschen auf der Couch gedöst hatte, schrak aus einem wirren Traum hoch, in dem er von zahlreichen fremden Menschen verfolgt worden war.

Kurz darauf stand Mirco in der Wohnungstür und drückte ihm die Hand. Dieses Mal verbunden mit einem leichten Lächeln. Dennoch musste Ram sich Mühe geben, Mircos deutlich hörbaren Begrüßungsgedanken – Hoffentlich geht’s schnell, heute ist ein scheißanstrengender Tag – zu ignorieren.

»Magst du ein Bier?«

Mirco, der ganz in Schwarz gekleidet war, wenn man von seinen knallroten Sneakern absah, schüttelte den Kopf. »Ich trinke normalerweise keinen Alkohol. Schon vergessen? Speed oder Digital Coke wirst du wahrscheinlich nicht haben, oder? Ich bin etwas erschöpft …«

»Ich nehme keine Drogen, deshalb sind auch keine da. Aber eine analoge Flasche Cola kannst du kriegen. Setz dich schon mal auf das Sofa. Notfalls musst du es ein bisschen leerräumen.«

Während Mirco ins Wohnzimmer ging, holte Ram eine Literflasche Coca Cola aus dem Kühlschrank und nahm ein Glas aus dem Spülsieb, das einigermaßen sauber zu sein schien. Dann setzte er sich zu Mirco und stellte das Getränk auf den Tisch.

Er war erleichtert, als er den Gedanken Das ist besser als gar nichts zum Dopen, vielleicht macht mich das Gesöff wenigstens halbwegs wach hörte.

Eine halbe Flasche Cola und drei halb unterdrückte Rülpser später fragte Mirco: »Worum geht’s denn bei deinem Computerproblem?«

»Das ist eine merkwürdige Geschichte. Ich hab eine App installiert, durch die man Gedanken lesen kann, und jetzt lässt sich das Programm nicht mehr deaktivieren. Ums Verrecken nicht.«

»Was?«

Mircos ungläubiger Blick sprach Bände, aber damit hatte Ram ebenso gerechnet wie mit dem Gedanken Ist der Typ verrückt geworden?, den er in den nächsten Sekunden empfing.

Deshalb erzählte er seinem Bekannten die ganze Geschichte, angefangen mit dem Schatzfund im Mülleimer. Mirco hörte ihm aufmerksam zu und unterbrach ihn nur einige Male für die eine oder andere Nachfrage.

Als Ram seinen Bericht beendet hatte, schwiegen beide. Dann sagte Mirco: »Dir ist schon klar, dass sich das irre anhört?«

»Natürlich. So durchgeknallt, dass ich diese Story normal finden würde, bin ich nicht.«

»Du behauptest also, du könntest bei jedem Menschen, der in Hörweite ist, die Gedanken lesen.«

»Richtig.« Ram ahnte, was nun kommen würde.

»Dann sag mir, was ich gerade denke.«

»Du denkst, dass ich jeden Bezug zur Realität verloren habe, und du willst am liebsten aufstehen und abhauen.«

Mirco wirkte überrascht, aber nur kurz.

Dann wurde er, zu Rams Erstaunen, wütend.

»Darauf wäre jeder Mensch mit ein bisschen Lebenserfahrung gekommen, der uns beiden zugehört hat. Dazu braucht man keine Superkräfte! Wenn das alles ist, was du drauf hast, dann bewirb dich doch bei einer von diesen Mentalistenshows im Web-TV, da arbeiten sie auch mit solchen uralten …«

»Beruhige dich.« Ram, der nicht geahnt hatte, welchen Verlauf das Gespräch nehmen würde, wollte sich nicht provozieren lassen.

Er lächelte ein bisschen. »Denk an eine beliebige siebenstellige Zahl.«

Mircos Gesichtszüge entspannten sich. »Okay. Das ist endlich mal eine gute Idee.«

Er verstummte und wandte seinen Blick ab. Offenbar konzentrierte er sich.

Ram ließ ihm Zeit.

Dann sagte er: »Du denkst an die Zahl vier Millionen sechshunderteinundzwanzigtausendzweihundertdreiundachtzig.«

Mirco zuckte zusammen. Dann riss er die Augen auf, und gleichzeitig öffnete sich sein Mund. Er schien sprachlos zu sein, und seine Gedanken beschränkten sich auf gebetsmühlenhafte Wiederholungen von Unglaublich

»Wir können auch was anderes ausprobieren, wenn du willst. Denk an etwas, das außer dir niemand weiß …«

Fast im gleichen Moment, in dem Ram telepathisch das Wort »Darknetpornos« empfing, sagte Mirco hastig: »Nee, lass mal, das muss nicht sein. Ich glaube dir. Obwohl ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie sich das, was du kannst, mit den Naturgesetzen und dem Stand der Technik vereinbaren lässt … Differenzierte Gehirnströme, die etwas darüber verraten, was ein Mensch denkt, kann man nicht wie über eine Funkverbindung von außen absaugen. Dazu sind sie viel zu schwach. Man braucht schon ein Multi-MRT- oder ein PFT-Gerät, wenn man solche Signale analysieren möchte … und einen sehr großen Computer mit einer riesigen Datenbank. Aber die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das gerade Zufall war, liegt bei eins zu acht Millionen neunhundertneunundneunzigtausendneunhundertneunundneunzig, falls ich mich nicht irre … wenn man die subjektive Komponente ausklammert. Und ich bin sicher, dass wir das Ganze x-mal mit anderen Zahlen wiederholen könnten, ohne dass du jemals danebenliegen würdest. Oder?«

»Wenn ich nichts vergesse oder mich verspreche, nein.«

»Hast du nicht was von einem Bier gesagt? Ich glaube, ich könnte jetzt eins brauchen.«

»Kommt sofort«, sagte Ram, grinste und verschwand in die Küche.

Als er mit zwei geöffneten Flaschen Beamish zurückkam und Mirco eine davon reichte, nahm sein Bekannter einen großen Schluck.

Ram setzte sich wieder neben ihn auf die Couch und tat es ihm nach.

Beide schwiegen, soweit es für Ram überhaupt noch Augenblicke des Schweigens gab, wenn er in der Nähe von anderen Menschen war.

Er versuchte sein Bestes, um Mircos Gedanken zu überhören, zum Teil aus Diskretionsgründen und zum Teil, weil ihn seine neue Fähigkeit so unendlich nervte. Aber es gelang ihm kaum.

Zumal sich sein Gegenüber gerade gedanklich mit genau dieser Frage beschäftigte. Wie soll ich das nur aushalten … Ein Telepath … Ich kann überhaupt nichts vor dem Mann verbergen … es ist zum Wahnsinnigwerden …

Ram überlegte, wie es ihm gelingen würde, Mirco davon zu überzeugen, dass er keinerlei böse Absichten hatte. Immerhin war er auf ihn zugekommen, um diesen Albtraum so schnell wie möglich zu beenden.

Doch Mirco sagte: »Coole Musik. Was ist das?«, und Ram freute sich, dass er die Beschäftigung mit dem unangenehmen Thema erst einmal zurückstellen konnte.

»U2 aus den 1980ern, aus meiner Heimat. ›Sunday Bloody Sunday‹, ein Song über ein Massaker, das die britische Armee im Jahr 1972 während einer friedlichen Demonstration angerichtet hat. Damals war …«

Als ihm auffiel, dass Mirco nicht zuhörte, brach Ram seinen kleinen Vortrag ab.

Es gehörte nicht zu seinen Spezialitäten, auf Anhieb zu bemerken, dass ihm jemand nicht die ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, doch wegen der Zwangsgedankenleserei drängten sich solche Beobachtungen geradezu auf.

Vielleicht, dachte er, ist es an dieser Stelle ratsam, den eigentlichen Zweck von Mircos Besuch anzusprechen.

»Hilfst du mir, die verfickte App zu deinstallieren? Du kannst dir nachher gerne zwei Comichefte aussuchen …«

»Schon okay, du musst mich nicht bestechen. Du sagst, dass du die akustischen Inputdaten auch bekommst, wenn du gar kein Audiomodul im Ohr hast?«

»Mhm.«

»Dass das wissenschaftlich unplausibel ist, spielt wahrscheinlich keine Rolle, oder?«

Ram lachte. »Zumindest scheint sich die Brain-Reader-Software nicht für solche Details zu interessieren.«

Mirco dachte nach, während Ram versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was in seinem eigenen Kopf vorging, um die unerwünschten Außensignale auszublenden.

Dann fragte Mirco: »Was passiert, wenn du dir die Ohren zuhältst?«

Ram war verblüfft. Daran hatte er noch nicht gedacht.

»Keine Ahnung … ich kann’s ausprobieren. Denk mal was …«

»Ich bin kein buddhistischer Mönch, Ram. Ich denke immer. Außer im Tiefschlaf.«

»Dann sei still und lass mich lesen.«

Mirco schwieg. Was Ram telepathisch von ihm empfing, kam einer persönlichen Beleidigung nahe.

Nach den Worten Spar dir deinen Befehlston. Ich bin nicht dein Sklave, du egozentrischer, asozialer … bedeckte Ram seine Ohren mit beiden Händen.

Abgesehen von den üblichen Rauschgeräuschen, die in solchen Situationen grundsätzlich zu hören waren, blieb es still.

Eine Probe aufs Exempel. Hände weg.

Mirco setzte seine Schmähgedanken fort, und er grinste dabei.

Hände wieder auf die Ohren …

Nichts.

»Wow«, sagte Ram beeindruckt. »Es funktioniert tatsächlich. Deine Unverschämtheiten waren übrigens bemerkenswert fantasievoll.«

»Man hilft, wo man kann.«

Jetzt lachten beide.

Nachdem er seine Bierflasche zu zwei Dritteln geleert hatte, sagte Mirco: »Anscheinend kontrolliert dein Gehörsinn diese unglaubliche Fähigkeit. Das Außenohr beeinflusst die Telepathiewahrnehmung. So wie du Straßenlärm nicht mehr hörst, wenn du einen Schallschutzkopfhörer aufhast.«

Ram nickte.

»Warum willst du deine Superkraft unbedingt loswerden? Überleg mal, was du damit alles machen könntest …«

»Da muss ich nicht lange nachdenken, um dieses Thema dreht sich jede zweite oder dritte Mystery-Web-TV-Serie. Ich möchte nicht als Joker für irgendeinen Manager arbeiten, um irgendwelche Vertragsverhandlungen zu belauschen, und ich will auch keinem Scheißgeheimdienst bei den Verhören helfen. Die Superkräfte des Universums können mich alle am Arsch lecken, ich verzichte gerne darauf. Die Leute sollen mich in Ruhe lassen. Auch mit ihren Gedanken.«

»Vielleicht finden wir eine technische Lösung, durch die du die telepathischen Signale an- und ausschalten kannst, je nach Bedarf. Klingt das, was du hörst, wenn jemand denkt, genauso wie das, was du hörst, wenn jemand spricht? Oder gibt es einen akustischen Unterschied?«

Über diese Frage hatte Ram sich noch keine Gedanken gemacht.

Er verglich Mircos Sprechstimme mit dem telepathischen Signal, das er gerade von ihm empfing. Absurderweise war das die mehrfach wiederholte Aussage Eins, zwei, drei. Das ist ein Testgedanke …

Und er stellte fest, dass die beiden Signale tatsächlich voneinander abwichen.

»Wenn ich deine Gedanken lese, sind sie im Vergleich zu dem, was du sagst, etwas gedämpft. So als hätte jemand die mittleren Tonlagen heruntergedreht. Aber wenn man davon absieht, hören sie sich an wie das, was du sagst, wenn du sprichst.«

»Und bei anderen Leuten?«

»Ich glaube, da ist es genauso.«

»Cool. Dann brauchst du nur zwei kleine Anti-Tinnitus-Ohrhörer, die an die Form deiner Gehörgänge angepasst sind. Und jemanden, der ein bisschen an ihnen herumschraubt, eine Sprachsteuerung einbaut und sie so programmiert, dass die telepathischen Daten durch akustische Interferenzen ausgelöscht werden. Dann unterdrücken sie keine unangenehmen Pfeiftöne wie beim Tinnitus, sondern Gedanken von außen. Das heißt, du nimmst diese Signale nur wahr, wenn du das willst, und hast ansonsten deine Ruhe. Abgesehen davon, dass du dann kein Audiomodul mehr brauchst, wenn du den Sound von deiner AR hören möchtest, oder wenn du telefonierst – das ist all inclusive

»Dir ist schon klar, dass du der Einzige bist, den ich kenne, der so was programmieren kann?«

Mirco grinste. »Das hab ich mir zumindest gedacht. Aber meine Gedanken kennst du sowieso. Eine Bedingung: Wenn ich dir dabei helfe, kannst du deine Comicsammlung vergessen, das kostet Geld. Und billig wird die Sache nicht, denn schon diese Spezialohrhörer sind ganz schön teuer …«

»Da finden wir bestimmt eine Lösung. Aber erklär mir erst mal, wieso ich diese Fähigkeit behalten sollte … und das müsste schon ein besonders guter Grund sein.«

»Weil sie unglaublich nützlich ist. Denk darüber nach, und sei dabei gefälligst ein bisschen fantasievoller als vorhin. Niemand macht dir was vor, kein Mensch kann dich belügen. Und du würdest eine Unzahl von Geheimnissen erfahren – so grauenhaft ich es auch finde, dass das genauso für meine Geheimnisse gilt …«

Ram hatte bemerkt, dass Mircos letzter Satz keineswegs scherzhaft gemeint war, und er berührte, ein seltenes Zeichen von Intimität, kurz den rechten Arm seines Freundes mit der linken Hand.

»Das verstehe ich. Aber du hast mich von der ganzen Sache noch nicht überzeugt. Was hab ich davon, wenn ich alle möglichen Geheimnisse kenne – das meiste davon ist bestimmt völlig nutzlos. Irgendwelche privaten Schweinereien, ein paar Verbrechen und die Details von tausend grauenhaften Geisteskrankheiten … Das will ich doch gar nicht wissen. Ich finde es unangenehm, wenn mir die Leute zu nahe treten. Das passiert normalerweise eher selten, weil sich die meisten Menschen in der Öffentlichkeit zurückhalten. Aber das tun sie eben in ihren Gedanken nicht. Es macht mich fertig, wenn ich alles mitkriege, was den Leuten durch den Kopf geht, also warum sollte ich diese Fähigkeit behalten?«

»Weil das Programm eine Killerapp ist. Du könntest damit zum Beispiel so viel Sex haben, wie du willst. Ich meine richtigen Sex, nicht diese merkwürdigen Trockenfickübungen bei deinem Pornojob, von dem du mir erzählt hast …«

Hab ich das?, fragte sich Ram. Muss wohl so sein …

Mist.

Die peinliche Berührtheit verschwand. Wenn Ram ein bisschen darüber nachdachte, war das, was Mirco ihm gerade erzählt hatte, ein interessanter Aspekt dieser seltsamen Spezialkraft, über die er verfügte.

»Du hast recht«, sagte er. »Ich wüsste immer auf Anhieb, ob mich ein Mädchen gut findet … ob sie was von mir will … und ob’s eine kleine Affäre sein darf, oder ob es auf eine Dauerbeziehung hinauslaufen muss. Wenn ich weiß, was die Frauen von mir wollen, spreche ich sie an. Natürlich nur die hübschen. Das ist schon ein verlockender Gedanke, da kann ich dir gar nicht widersprechen.«

»Du musst deine Superkraft ja nicht für alle Zeiten behalten. Es wäre nur ein verdammt spannendes Experiment mit einer verdammt interessanten Software.«

»Aber ich kann es doch nicht ignorieren, dass sich der Brain Reader nicht deinstallieren lässt. Seit ich die App aktiviert habe, schaffe ich es nicht mal, auf die verfluchten Dateien zuzugreifen, aus denen sie besteht. Die Herstellerfirma zwingt mich also, ihr Produkt zu behalten, wenn es einmal installiert worden ist. Warum sollte ich denen trauen?«

»Sie machen es dir eben ein bisschen schwer. Na und? Nimm’s sportlich. Immerhin hält dein Brain Reader, was sein Name verspricht, das ist doch auch schon was. Außerdem gibt es kein Programm, das sich nicht entfernen lässt. Zumindest wenn man ein paar Tricks kennt … Du sagst, dass du nicht mehr auf die Software zugreifen konntest, nachdem sie in den AR-Datenbestand aufgenommen worden ist?«

»Ja, alles war blockiert. Das ganze verfluchte Programm weigert sich, Befehle von mir entgegenzunehmen. Es bleibt bei den Werkseinstellungen.«

»Wahrscheinlich liegt das daran, dass du die Betaversion hast. Solche Totalblockaden sollen normalerweise verhindern, dass jemand ein unausgereiftes Produkt an die Konkurrenz verkauft. Es ist nur für die Testabteilung dieser Firma hergestellt worden … wie heißt sie noch …«

»Progressive Cybernetics.«

»Beta-App-Blockaden sind leider ziemlich effektiv. Aber es könnte einen Weg geben, das Ding zu knacken.«

»Mach’s nicht so spannend.«

»Wenn ich mich richtig erinnere, enthält der Cube keine Daten mehr, seit du das Programm auf deinen Cyberport übertragen hast.«

»Richtig.«

»Bei jedem Datenträger, der nicht physikalisch zerstört ist, lassen sich die Bits wiederherstellen. Man kann nicht alle Spuren löschen. In deinem Rechnersystem und in der AR haben sich die Dateien wahrscheinlich automatisch maskiert. Das heißt, dass sie extrem gut verschlüsselt sind und dass es unmöglich ist, den Datenbestand auf konventionelle Weise wiederherzustellen. Zumindest wenn die Programmierer richtig gut sind, und davon gehe ich bei deiner App aus. Da kann ich nichts machen, aber ich hab eine andere Idee.

Wenn wir ins Geschäft kommen, nehme ich den Cube mit und rekonstruiere die Dateien bei mir zu Hause. Dann finde ich heraus, wie sich die Software von deinem Cyberport und deinem Rechnersystem entfernen lässt. Diese Deinstallationsinformationen sind irgendwo im Programm verborgen, damit die Techniker von Progressive Cybernetics auf die Daten zugreifen können, wenn sie die Software weiterentwickeln wollen. Und wenn die da rankommen, schaffe ich es auch irgendwann.

Das bedeutet, du kannst dich mit den Frauen richtig austoben, und sobald ich meine Arbeit beendet habe, machst du mit deiner Superkraft, was du willst. Ob du die Fähigkeit nur in ein paar speziellen Situationen einsetzt oder ob du die Software erst einmal komplett deinstallierst und sie erst wieder in einem Jahr benutzt, ist deine Entscheidung. Auf jeden Fall dürfte das, was ich für dich tun kann, ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen, und das bedeutet, es wird teuer.«

Mirco grinste maliziös.

»Aber du kriegst das hin?«

Mirco nickte. »Definitiv.«

»Ich hab was auf meinem Konto zurückgelegt. Wenn du deine Arbeit gut machst, bezahle ich dich auch gut.«

»Cool. Dann sind wir im Geschäft.«

»Mir kommt übrigens gerade eine zweite Idee, wie ich diese telepathischen Fähigkeiten einsetzen könnte. Ich gehe zu Pokerturnieren, lese die Gedanken der anderen Spieler und werde reich wie ein Scheich.«

»Kannst du pokern?«

»Nö.«

»Dann vergiss die Sache. Gute Pokerspieler sind fast so gut im Gedankenlesen wie du mit deiner App, und sie können die Wahrscheinlichkeiten für alle möglichen Kartenkombinationen im Kopf ausrechnen. Abhängig vom Spielverlauf und in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Denen bist du hoffnungslos unterlegen.«

»Das wollen wir doch mal sehen. Ich kann vorher ein paar Wochen üben. Du glaubst gar nicht, wie selbstdiszipliniert ich bin, wenn mich etwas interessiert …«

Ram hätte nicht die Kunst des Gedankenlesens beherrschen müssen, um zu bemerken, dass Mirco ihm nicht glaubte, denn sein skeptischer Blick sprach für sich.

Schließlich sagte Mirco: »Du kannst es versuchen. Hauptsache, du verzockst nicht so viel, dass du dir die hundertzwanzig Euro nicht mehr leisten kannst, die ich für jede Arbeitsstunde von dir bekomme.«

Ram fand, dass das eine stolze Summe war. »Hundertzwanzig Euro?«

»Zuzüglich Materialkosten.«

»Kein Verhandlungsspielraum?«

»Nö.«

»Du hast was von einem kaltherzigen Hurensohn, aber ich bin einverstanden.«

Mirco grinste und konterte Rams Beleidigung in Gedanken. Dabei griff er ebenfalls auf verwandtschaftlich angelegte Schmähungen zurück, indem er den mütterlichen Aspekt mit sexuellen Vorstellungen verband, die noch ein gutes Stück eindeutiger waren.

Beide grinsten. Ram nahm den Brain-Reader-Cube von seinem Wohnzimmertisch und gab ihn seinem Bekannten.

Mirco hielt den kleinen Würfel in der Hand und drehte ihn mit den Fingern hin und her, ohne ihn einzustecken.

»Eine Bedingung, Ram.«

»Was denn noch? Ein Pfund von meinem Fleisch, so wie bei Shakespeare?«

»Igitt, was denkst du von mir? Nein, ich übernehme den Auftrag nur, wenn du meine Gedanken nicht mehr liest, nachdem ich mit meiner Arbeit fertig bin. Bitte fühl dich nicht beleidigt, aber ich kann es nicht ertragen, wenn nicht einmal das geheim bleibt, was in meinem Kopf vorgeht.«

»Du beleidigst mich nur, wenn du meine irische Herkunft in den Dreck ziehst.«

»Gut zu wissen. Ich werde ein bisschen recherchieren und herausfinden, wie man das am besten macht.«

Ram lachte. »Ein guter Anfang wäre schon mal, wenn du das Bier, das du gerade getrunken hast, scheiße findest.«

»Diesen Gefallen würde ich dir gerne tun, aber eigentlich hat es mir geschmeckt.«

»Glück gehabt. Unterschätze nie die Rachsucht eines beleidigten Iren.«

Mirco grinste. Dann stand er auf, steckte den Cube in seine Hosentasche und sagte: »Ich verabschiede mich für heute, weil ich verdammt müde bin.«

»Du hast was vergessen.«

»Nämlich?«

»Die Comics.«

»Natürlich. Schön, dass du daran denkst.«

Als Mirco eine Viertelstunde später die Wohnung verließ, hatte Ram ihm nicht ein oder zwei Hefte in eine Tüte gepackt, sondern drei seltene Moebius-Comics aus der John-Difool-Reihe.

Er ließ es sich nicht nehmen, seinen Kumpel darauf hinzuweisen, dass diese Hefte im antiquarischen Onlinefachhandel teuer waren.

Richtig teuer.

Der Gedanke, den er postwendend empfing, ließ ebenfalls wenig Spielraum für Spekulationen.

Gib nicht immer so an. Deine Großspurigkeit ist unerträglich.

DIE KILLER-APP

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