Читать книгу DIE KILLER-APP - Adrian Urban - Страница 5
Unerwünschte Informationen
ОглавлениеAm Morgen, nach einem Frühstück, das im Wesentlichen aus Kaffee bestanden hatte, beschloss Ram, den freien Samstag für einen ausgiebigen Spaziergang zu nutzen und dabei einige kleinere Besorgungen zu machen, denn er freute sich über das anhaltend schöne Frühlingswetter.
Er bestellte zwar das allermeiste, was er brauchte, in qualifizierten Onlineshops, auch Whiskey und irisches Stout, doch die Lebensmittel für den täglichen Bedarf kaufte er in den Geschäften von Moabit. Nicht zuletzt, weil es ihm gut tat, gelegentlich die dunkle Wohnung zu verlassen und ein paar Menschen zu begegnen. Solange ihm die Leute nicht auf die Pelle rückten, war das in Ordnung.
Das AR-System informierte ihn darüber, dass MiniNorma, zwei Querstraßen entfernt, derzeit Erdbeeren im Angebot hatte. Drei Fünfhundertgrammkörbchen für geradezu absurd günstige fünf Euro achtundneunzig.
Das klang gar nicht schlecht, fand Ram. Und der türkische Fleisch- und Gemüsehändler in der gleichen Ecke seines Kiezes, das wusste er noch von früher, bekam die Rumpsteaks so billig vom Großhandel, dass er sie für einen Preis feilbot, der noch unter dem Supermarktstandard für Hackfleisch lag. Zumindest hatte es der Inhaber auf Nachfrage in dieser Weise erklärt – und selbst wenn das eine Lüge war und der Händler in Wirklichkeit die notgeschlachteten Pferde seines Onkels umetikettiert hatte: Das Fleisch war tadellos.
Ram entschied sich, einen Erdbeer-Steak-Tag einzulegen. Das erschien ihm lecker und nicht einmal ungesund. Erst recht, wenn er seine Besorgungen mit Bewegung und frischer Luft verband.
Eine halbe Stunde später betrat Ram die MiniNorma-Filiale und stellte befriedigt fest, dass die Erdbeeren noch nicht ausverkauft waren. Doch als er mit den drei Schachteln im Korb einen Quergang passierte, aus dem ihn ein junges Mädchen einen Moment lang ansah, bevor sie sich wieder den Hygieneartikeln zuwandte, geschah etwas Seltsames.
Ram war gerade an ihr vorbeigegangen, Richtung Kasse, da hörte er hinter sich die Worte »Eigentlich bist du ein gut aussehender Typ, aber du müsstest wirklich nicht in so einem schlabberigen Trainingsanzug durch die Gegend laufen.«
Er drehte sich um und wollte schon empört zurückrufen: »Was ich anziehe, geht dich einen verdammten Scheißdreck an!«, aber als er bemerkte, dass das Mädchen seinem Blick auswich und verkrampft in irgendein Regal sah, grinste er nur und beschloss, sich die unfreundliche Anmerkung zu schenken.
Das war die Sache nicht wert. Erst recht nicht an einem so schönen Tag wie heute.
Wahrscheinlich hatte die Kleine einen an der Schüssel. Konnte ihre Äußerungen in der Öffentlichkeit nicht kontrollieren.
Er, Ram, schon.
Eine Kasse war frei und besetzt von einer etwa fünfzig Jahre alten Verkäuferin mit blondierten Locken. In diesem Billigsupermarkt hatten sie an den Kassen noch nicht auf IT-gesteuerte Selbstbedienungstechnologie umgestellt.
Der Aufwand für den Kunden – Waren aufs Band legen, Geldbetrag abbuchen lassen, Waren in Tüten packen – war bei beiden Modellen ähnlich, nur dass es in den SB-Discountern keinen Kassierer gab und das System die Lebensmittelmengen automatisch erfasste, ebenso wie die Preise der Produkte. Eine Schranke sollte verhindern, dass jemand verschwand, ohne zu zahlen.
Der MiniNorma verzichtete auf solchen technologischen Schnickschnack, was Ram sympathisch fand.
Er stellte seine Erdbeerkörbchen, die er zuvor in einer dünnen Gemüse-Plastiktüte verstaut hatte, um sie besser tragen zu können, auf das Förderband und ging dann an der Verkäuferin vorbei. Ram war bereit, seinen Zifferncode in das Bezahlmodul einzugeben und die Rechnung über das AR-System zu begleichen.
Während die Dame an der Kasse die Tüte mit den Früchten vom Band nahm und mit Gewohnheitsbewegungen den Sonderangebotspreis einscannte, redete sie leise, aber vernehmbar vor sich hin.
»Wie soll ich mir nur die Kniegelenkoperation leisten … die Kasse übernimmt höchstens die Hälfte, hat die Sachbearbeiterin gesagt … die behaupten, es wär nicht dringend … aber ständig diese fürchterlichen Schmerzen, das halt ich nicht mehr lange aus … wenn ich mich noch mal krankschreiben lassen muss, verlier ich bestimmt meinen Job … fünf achtundneunzig bitte.«
Offenbar war heute der Tag der Verrückten.
Ram hatte keine Lust mehr, sich alle kritischen Kommentare zu verkneifen. Er sah die Verkäuferin an und sagte: »Ich wüsste nicht, was mich Ihre Krankheiten oder Ihre Probleme mit der Krankenkasse angehen sollten.«
Die Dame wurde erstens knallrot und zweitens ziemlich laut.
»Was erzählen Sie da für einen Schwachsinn? Fünf achtundneunzig, hab ich gesagt. Bezahlen Sie jetzt, oder soll ich die Polizei rufen?«
Ihre unerwartet barsche Reaktion verunsicherte Ram. Er brachte noch einen Halbsatz heraus. »Aber Sie haben doch gerade …«. Dann bemerkte er, dass der Gesichtsausdruck der Kassiererin immer mehr ins Hasserfüllte ging, verstummte sicherheitshalber und aktivierte die AR, um die Kaufsumme für die Erdbeeren von seinem Konto abbuchen zu lassen.
Währenddessen wurde er, so unglaublich er das auch fand, von einem Kunden beschimpft, der hinter ihm in der Schlange stand.
»Wenn du Ärger brauchst, kannste Ärger haben«, hörte er aus einem Meter Entfernung. »Schon wieder so ein durchgeknalltes Arschloch. Bin gespannt, was du sagst, wenn dich die Bullen in die Klapse bringen. Typen wie du gehören weggesperrt.«
Das wäre der Moment gewesen, in dem Ram sich hätte umdrehen und dem Mistkerl eine reinhauen müssen, schon aus Gründen der Selbstachtung, aber die aufsteigende Panik, die er in seinem Inneren spürte, verringerte die Erfolgsaussichten dieser Maßnahme erheblich.
Das Tempo, mit dem Ram die MiniNorma-Filiale verließ, in der er schon so oft eingekauft hatte, ohne dass jemals etwas Nennenswertes passiert war, hatte etwas Fluchtartiges.
Er überquerte gerade den Kundenparkplatz, als er feststellte, dass ihm ein bisschen schwindelig und schlecht war. Bestimmt der Schock wegen der unerwarteten Angriffe im Supermarkt. Ram fand eine leere Parkbank, stellte die Erdbeerkörbchentüte darauf und setzte sich daneben.
Er zitterte.
Was, zum Teufel, war da eben passiert?
Litt er unter Halluzinationen? Rams letzte Begegnung mit halluzinogenen Rauschmitteln, unbefriedigend wie all seine Drogenerlebnisse, lag jedoch über zehn Jahre zurück.
Oder absolut jeder Mensch, dem er an diesem Frühlingstag begegnet war, verhielt sich ihm gegenüber aus reichlich unersichtlichen Gründen unangemessen.
Die eine Theorie ist genauso absurd wie die andere …
Als er gerade das AR-System befragen wollte, ob im Raum Berlin möglicherweise etwas Merkwürdiges geschehen war – ein Laborunfall, ein Biowaffenanschlag, eine außerirdische Invasion, was auch immer –, stellte Ram verblüfft fest, dass sich die Infografik am unteren Rand seines Gesichtsfelds verändert hatte.
Rechts neben den üblichen Icons, Links und Textanzeigen leuchtete ein roter Punkt.
Versehen mit dem Schriftzug »Brain Reader 1.0«.
Hatte er – die Gedanken seiner Mitmenschen gelesen?
Den Produktnamen dieser App wörtlich zu nehmen, war ihm nicht in den Sinn gekommen. Schließlich wurde man, wenn man bei McDonald’s ein Royal-Menü bestellte, auch nicht königlich bewirtet.
Es ging um Werbung, und Werbung hatte nun einmal die lästige Angewohnheit, heftig zu übertreiben, um die Blöden zu ködern.
War er tatsächlich ein Telepath?
Ausgeschlossen, dachte Ram. Ich hab doch nicht mal das Audiomodul im Ohr. Die AR versteht, was ich sage, aber ohne Stöpsel kann ich alles, was sie überträgt, nur sehen. Nicht hören.
Trotzdem. Die Lippenbewegungen. Die Lippenbewegungen waren ein Indiz.
Genauer: deren Abwesenheit. Als die Kassiererin sich in ihrem Klagemonolog verloren hatte, fehlten die Mundbewegungen. Eine Beobachtung, die so absurd war, dass Ram sie bis zu diesem Augenblick ausgeblendet hatte.
Wie war es bei den anderen? Ram hatte nichts Entsprechendes bemerkt. Aber das lag womöglich daran, dass er erst durch ihre seltsamen Sprüche auf sie aufmerksam gemacht worden war und dass diese Leute schon zu Ende gedacht hatten, als sie in sein Blickfeld geraten waren.
Die Übelkeit, das Zittern und die Schwindelgefühle wurden stärker. Ram umklammerte die Parkbank, auf der er saß, mit den Händen, obwohl er wusste, dass ihm das nicht helfen würde.
Er musste sich irgendwo festhalten.
Als er wieder halbwegs klar denken konnte, war der erste dieser halbwegs klaren Gedanken eine Frage.
Verdammte Scheiße, was mach ich denn jetzt?
Es mochte in ein paar speziellen Situationen interessant sein, die Gedanken der Mitmenschen zu kennen, aber unaufhörlich davon bombardiert zu werden, würde ihn zuverlässig in den Wahnsinn treiben. Früher oder später.
Außerdem kollidierte das mentale Geschwätz der Leute frontal mit seiner Lebensmaxime, die Welt nicht allzu dicht an sich heranzulassen. Menschen, deren Redefluss sich kaum stoppen ließ, waren Ram zutiefst zuwider, und in Zukunft sollten ihn alle Leute, denen er mehr oder weniger zufällig begegnete, endlos zutexten? Unkontrolliert zulabern mit ihren Sorgen und Nöten, mit den Zutaten für Omas Kirschkuchen und dem, was sie von Rams Straßenkleidung hielten …
Unerträglich. Falls sich seine irrwitzige Telepathietheorie tatsächlich bewahrheitete.
Als seine Überlegungen bis zu diesem Punkt gediehen waren, bemerkte Ram, dass gerade ein älterer, etwas zauseliger Mann auf einen Laternenpfahl zusteuerte, der wenige Meter links von der Parkbank stand, auf der er saß.
Während der Mann mit offensichtlicher Routine anfing, den orangefarbenen Mülleimer, der an dem Laternenmast hing, nach Flaschen und anderen Wertstoffen zu durchwühlen, hörte Ram ein leises Murmeln. Mit der Zeit wurde das Geräusch irgendwie dichter und kräftiger, bis er jedes Wort verstand – so weit es der Inhalt erlaubte.
»Muss unbedingt Kalle Kohle für den Tabak geben, das hat er sich verdient … Kalle ist der Beste, wirklich, der Beste von allen. Und ein Schnaps, ich trink heute noch’n Schnaps auf Kalle, das hat er sich auch verdient. Auf jeden Fall … Der Typ auf der Bank da in dem Trainingsanzug sieht aus wie’n Zivilbulle … wird doch wohl noch erlaubt sein, ‘n paar alte Flaschen aus’m Müll zu holen … oder hamse das jetzt auch verboten, die verdammten Schweine … Werd mal Kalle fragen, der kennt sich mit solchen Sachen aus … Hey, Bulle, ich hab den bösen Blick, kuck zu mir her, dann biste für immer verflucht … das haste dir auf jeden Fall verdient …«
Jetzt machte der Zausel eine kleine Pause.
Es war eindeutig: Er hatte seine Lippen nicht bewegt. Als Ram über die Selbstlosigkeit eines gewissen Kalle und über seine eigene Tätigkeit als Polizeibeamter in Zivil in Kenntnis gesetzt worden war, hatte er kein Selbstgespräch verfolgt, sondern ein telepathisch übertragenes Signal.
Ram musste diesen Ort verlassen. Er stand auf und nahm die mittlerweile leicht zermatschten Erdbeeren von der Bank. Dann verschwand er, ohne den alten Mann noch einmal anzusehen, und bemühte sich dabei, seine Schrittgeschwindigkeit zu mäßigen. Der Flaschenpenner sollte nicht denken, er habe ihn mit seinem bösen Blick in die Flucht geschlagen.
Obwohl das auch schon egal war.
Ram beschloss, auf den geplanten Erwerb eines Rumpsteaks beim Türken um die Ecke zu verzichten. Lachhafte Preise hin oder her.
Er brauchte jetzt eine menschenfreie Umgebung. Zum Beispiel seine Wohnung.
Außerdem benötigte er vier bis fünf Flaschen Beamish Stout aus der Traditionsbrauerei Beamish and Crawford, die sich erfreulicherweise ebenfalls in seinem Apartment befanden.
Und nach dem Konsum der geistigen Getränke zur Nervenberuhigung musste er die Brain-Reader-App deinstallieren und den Cube zur Sicherheit vernichten. Nur für den Fall, dass er irgendwann auf dumme Gedanken kommen würde.
Also nach Hause.
Dieser Samstagmorgen war ohne jeden Zweifel noch grauenhafter verlaufen als der gestrige Freitag.
Doch Bier und anderthalb Kilo Erdbeeren hatten das Potenzial, ihm den Rest des Tages etwas zu versüßen.