Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 10

Lee­re

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»Al­so wirk­lich, An­na. Sag mal, wie alt bist du ei­gent­lich, he?«

Vik­to­ria schau­te un­gläu­big von der Staf­fe­lei auf. Da­bei wisch­te sie sich mit der Hand, in der sie einen vor Fa­r­be trie­fen­den Pin­sel hielt, über Stirn und Wan­ge und plat­zier­te dort zu­sätz­lich zu dem gelb­brau­nen Tup­fen ein paar leuch­tend grü­ne Strei­fen.

An­na sag­te nichts da­zu, wuss­te sie doch, dass es Vik­to­ria egal war, wenn sie sich beim Ma­len voll­kle­cker­te. Au­ßer­dem hat­te sie mo­men­tan kei­nen Kopf für so et­was. Sie woll­te mit Vik­to­ria über Vik­tor re­den, ob­wohl die sie an­schei­nend gar nicht ernst nahm.

So­fort fun­kel­te Vik­to­ria sie an, wäh­rend sie un­ge­hal­ten ant­wor­te­te: »Ich neh­me dich durch­aus ernst. Nur, du kannst doch nicht wirk­lich ei­fer­süch­tig auf ir­gend­wel­che Ver­flos­se­nen von ihm sein. Das war doch al­les vor dei­ner Zeit.«

»Aber er hat mir nie et­was da­von er­zählt«, pro­tes­tier­te An­na. »War­um?«

»Hast du ihn denn da­nach ge­fragt?«

An­na senk­te die Li­der und schenk­te ih­ren schwa­r­zen Chucks einen lan­gen auf­merk­sa­men Blick. »Nein, hab ich nicht«, gab sie schließ­lich zu, sah wie­der auf und ließ Zorn in ih­ren Au­gen auf­fla­ckern. »Ich bin gar nicht auf so was ge­kom­men.« Haa­re rau­fend stapf­te sie in Vik­to­ri­as Zim­mer auf und ab. »Ich … Ich dach­te … Ich mei­ne … Ach, ver­flucht, er hät­te es mir er­zäh­len müs­sen!«, brach­te sie end­lich her­vor.

»Hät­te er eben nicht, An­na. Und das ist der sprin­gen­de Punkt, mei­ne Lie­be. Er hät­te es dir eben nicht er­zäh­len müs­sen. Und er hat es dir nicht er­zählt, weil er es ganz ein­fach nicht für nö­tig er­ach­tet hat.«

An­na sträub­te sich zu spät da­ge­gen, als Vik­to­ria ihr die fa­rb­ver­schmier­ten Hän­de samt Pin­sel an die Wan­gen leg­te und ihr auf die­se Wei­se auch ein paar bun­te Kleck­se ver­pass­te.

»Oh, ent­schul­di­ge bit­te«, ki­cher­te Vik­to­ria und stell­te den Pin­sel in ein Glas. Mit ei­nem völ­lig fa­rb­ver­schmier­ten Lap­pen rieb sie in An­nas Ge­sicht her­um, was die Sa­che si­cher­lich nicht bes­ser mach­te. »Nun ja, das wi­schen wir halt spä­ter rich­tig weg.«

Sie ließ von ihr ab und kon­zen­trier­te sich er­neut auf das Ge­spräch. »Hör mir zu. Ei­gent­lich ist es die Auf­ga­be mei­nes Bru­ders, mit dir zu spre­chen, die­ser fei­ge Hund. Schließ­lich kann ja je­der mit­füh­len, wie mies du seit ein paar Ta­gen drauf bist.«

Sie seufz­te schwer, ih­re Au­gen blitz­ten be­droh­lich. »Wenn ich den in die Fin­ger krie­ge, kann der was er­le­ben. Aber nun zu­rück zum The­ma. Tat­säch­lich war Vik­tor frü­her ein biss­chen so was wie ein, hhm, Schür­zen­jä­ger.« Sie biss sich auf die Un­ter­lip­pe. »Und ich auch«, gab sie zu und kratz­te sich am Kopf, wo­mit sie dort ei­ne wei­te­re Fa­rb­spur hin­ter­ließ.

Ge­dan­ken­ver­lo­ren lang­te sie nach dem Lap­pen und rieb da­mit recht er­folg­los ih­re Hän­de ab. »Uns ging es wirk­lich gut bei Isi­nis und Estra. Sie hat­ten uns ei­ne glü­ck­li­che Kind­heit be­schert. Den­noch fehl­te uns et­was. Wir hat­ten kei­ne leib­li­che Mut­ter. Un­se­ren leib­li­chen Va­ter sa­hen wir kaum. Er gab uns dau­ernd das Ge­fühl, nicht von ihm ge­liebt zu wer­den.« Sie wa­rf den Lap­pen bei­sei­te. »Das war zwar un­be­ab­sich­tigt, aber wir fühl­ten nun mal so. Wir ver­miss­ten un­se­re rich­ti­gen El­tern so sehr. Das er­zeug­te ir­gend­wie ei­ne ge­wis­se Lee­re in uns, die auch Estra und Isi­nis nicht fül­len konn­ten.«

Vik­to­ria sah An­na of­fen an. »Ich weiß nicht, ob es dar­an lag, ich glau­be al­ler­dings schon. Stän­dig ver­such­ten wir, die­se in­ne­re Lee­re ir­gend­wie aus­zu­stop­fen oder aber ein­fach zu ver­drän­gen. Tja, und seit un­se­rer Pu­ber­tät ha­lf es uns, der ver­meint­li­chen Lie­be so­zu­sa­gen hin­ter­her­zu­lau­fen. Wo­bei, na ja, hin­ter­her­lau­fen muss­ten wir ei­gent­lich nie.«

Sie lä­chel­te schwach. »Sieh uns doch an. Wir sind hübsch. Wir sind auf­grund un­se­rer halb­mensch­li­chen Sei­te für vie­le El­fen ziem­lich in­ter­es­sant. Und wir sind die Kin­der des Kö­nigs. Es war na­tür­lich kein Pro­blem für uns, im­mer wie­der je­man­den zu fin­den, der un­se­re Sehn­sucht stil­len soll­te. Aber es war bei mir ge­nau­so wie bei Vik­tor. Die Sehn­sucht ließ sich ein­fach nicht stil­len. Wir hat­ten bei­de das Ge­fühl, dass die­se Lee­re ein gro­ßes Loch in uns hin­ein­riss, wel­ches un­auf­hör­lich aus­ein­an­der­klaff­te. Des­halb such­ten wir wei­ter.«

Vik­to­ri­as Blick wur­de weich und ver­träumt. »Bei mir en­de­te die Su­che in dem Au­gen­blick, als ich vor fast drei Jah­ren Ke­tu zum ers­ten Mal be­geg­ne­te. Ich war da­mals furcht­bar un­g­lü­ck­lich, weil er mei­ne Ge­füh­le nicht zu er­wi­dern schien. Den­noch woll­te ich nie­mand an­de­ren mehr. Ich woll­te bloß noch ihn und wuss­te gleich, dass er der­je­ni­ge wä­re, der mei­ne Lee­re fül­len könn­te.« Sie seufz­te er­neut. »Es hat dann zwar noch mehr als zwei Jah­re ge­dau­ert, bis er sich end­lich ge­traut hat, der Toch­ter des Kö­nigs sei­ne Lie­be zu ge­ste­hen. Na ja, bes­ser spät als nie, nicht wahr?«

Wie­der leg­te sie ih­re Hän­de an An­nas Ge­sicht und die ließ es re­si­gniert ge­sche­hen. Die Fa­r­be be­kä­me sie schon noch weg. Viel wich­ti­ger wa­ren ihr Vik­to­ri­as fas­zi­nie­ren­de Wor­te:

»Bei Vik­tor hat es län­ger ge­dau­ert. Als er dich das ers­te Mal im Wald er­blick­te, An­na, da wuss­te er, dass sei­ne Su­che be­en­det war. Er hat sich vom ers­ten Au­gen­blick an in dich ver­liebt. Und das weißt du. Das weißt du ganz ge­nau. Nur du bist da­zu in der La­ge, sei­ne in­ne­re Lee­re zu fül­len und sei­ne Sehn­sucht zu stil­len. Nur du zählst für ihn. All die an­de­ren Frau­en hat­te er in dem Mo­ment ver­ges­sen, in dem du in sein Le­ben ge­tre­ten bist. Und ge­nau das ist der Grund, war­um er dir nie et­was da­von er­zählt hat.«

Vik­to­ria lie­fen di­cke Trä­nen über das fa­rb­ver­schmier­te Ge­sicht. »Ich weiß das, An­na. Nicht nur, weil ich sei­ne Schwes­ter bin, son­dern weil ich haar­ge­nau das­sel­be bei Ke­tu emp­fun­den ha­be. Al­le Jun­gen, al­le Män­ner, die ich vor ihm kann­te, wa­ren von ei­ner Se­kun­de zur an­de­ren völ­lig egal, to­tal un­wich­tig. Sie wa­ren ver­ges­sen. Al­lein Ke­tu zähl­te. So wie du für Vik­tor.«

Auch An­na wein­te. Un­ge­ach­tet der Tat­sa­che, dass sie da­mit ih­re neue Blu­se end­gül­tig ru­i­nier­te, fiel sie Vik­to­ria in die Ar­me.

»Ach, Vik­to­ria, was bin ich doch für ei­ne blö­de Kuh?«, schluchz­te sie. »Es tut mir leid. Es tut mir ja so furcht­bar leid. Ich war so dumm.«

***

Vik­to­ria hielt An­na trös­tend in den Ar­men und fühl­te sich da­bei auf son­der­ba­re Wei­se selbst ge­trös­tet. Die Er­in­ne­run­gen an die Zeit, in der sie sich der Lie­be ih­res Va­ters nicht si­cher ge­we­sen war, in der sie sich des­halb um­so mehr nach der Lie­be ih­rer Mut­ter ge­sehnt hat­te, tra­fen sie voll­kom­men un­vor­be­rei­tet. Die Emo­ti­o­nen über­flu­te­ten ihr Herz, er­schüt­ter­ten es in sei­nen Grund­fes­ten. Nie­mals hät­te Vik­to­ria an­ge­nom­men, dass die­se Sehn­sucht in ei­ner der­art gna­den­los bru­ta­len Wei­se wie­der in ihr auf­stei­gen und sie kom­plett aus der Fas­sung brin­gen könn­te. Von hef­ti­gen Wein­krämp­fen ge­schüt­telt woll­te sie sich von An­na lö­sen, doch die hielt sie fest.

»Nicht, Vik­to­ria! Wen­de dich nicht ab. Lass es raus.«

Froh dar­über, dass sie sich ge­gen­sei­tig hiel­ten, stan­den die bei­den ei­ne gan­ze Wei­le in Vik­to­ri­as Zim­mer und ga­ben sich ih­ren Trä­nen hem­mungs­los hin. Da­bei hat­ten sie die Zeit voll­kom­men aus dem Blick ver­lo­ren und zuck­ten bei­de über­rascht zu­sam­men, als Vik­tor, Ke­tu und auch Vi­tus zur Tür her­ein­platz­ten.

»Was, um al­les in der Men­schen- und El­fen­welt, ist denn hier los?«, woll­te Vi­tus wis­sen, ob­wohl er die Ge­füh­le der Frau­en ein­deu­tig wahr­ge­nom­men hat­te.

Für ei­ne Se­kun­de blieb sein Ge­sicht ab­so­lut aus­drucks­los, ehe es sich zu ei­ner schmerz­er­füll­ten Mie­ne ver­zog. Er riss Vik­to­ria in sei­ne Ar­me und hielt sie ein­fach nur fest. Un­ter­des­sen sah er zu An­na und Ke­tu.

»Wür­det ihr Vik­to­ria, Vik­tor und mich bit­te kurz al­lein las­sen?«

Die bei­den nick­ten stumm und gin­gen schwei­gend hin­un­ter in die Kü­che.

***

An­na konn­te sich nicht be­ru­hi­gen. Sie war fas­sungs­los. Was hat­te sie da mit ih­rer blöd­sin­ni­gen, ego­is­ti­schen Ei­fer­sucht an­ge­rich­tet? Was hat­te sie sich nur da­bei ge­dacht? Dumm und an­ma­ßend, wie sie war, hat­te sie doch tat­säch­lich ge­glaubt, das See­len­le­ben der Zwil­lin­ge in­zwi­schen zu ken­nen, ins­be­son­de­re Vik­tors. Doch das war ein ge­wal­ti­ger Irr­tum. Dass er ihr einen der­art wich­ti­gen Teil eben die­ses See­len­le­bens ver­schwie­gen hat­te, schmerz­te sie viel­mehr, als dass es sie ver­wirr­te. Sie konn­te sich ein­fach nicht er­klä­ren, war­um Vik­tor ihr von die­sen an­de­ren Frau­en rein gar nichts er­zählt hat­te. Nun wur­de ihr be­wusst, dass es ihr nie­mals ge­lin­gen wür­de, ihn voll­ends zu ver­ste­hen, und das tat ihr weh.

Sie hat­te schließ­lich im­mer ih­re ei­ge­nen El­tern um sich ge­habt, war sich de­ren Lie­be und Für­sor­ge stets ge­wiss. Solch schlim­mer Ver­lust, in­ne­re Lee­re oder quä­len­de Sehn­sucht, wie Vik­to­ria sie be­schrie­ben hat­te, wa­ren ihr un­be­kannt. Doch an­statt sich Ge­dan­ken dar­über zu ma­chen, war sie über Vik­to­ria her­ge­fal­len und hat­te sie qua­si da­zu ge­nö­tigt, sich die­ser Ge­füh­le er­neut zu er­in­nern.

An­na war sau­er auf sich selbst. Was war sie doch für ei­ne be­scheu­er­te Zie­ge?, dach­te sie grim­mig. Dumm, ego­is­tisch, un­sen­si­bel!

»An­na, hör auf da­mit!«, be­fahl ihr Ke­tu mit ei­nem Mal und hielt ih­re Hän­de fest.

Erst jetzt be­merk­te sie, dass sie ei­gent­lich da­bei ge­we­sen war, Kaf­fee zu ko­chen, was zu die­ser Uhr­zeit blan­ker Un­sinn war. Au­ßer­dem hat­te sie, statt Was­ser in die Kaf­fee­ma­schi­ne zu fül­len, da­mit be­gon­nen, ih­re Hän­de zu schrub­ben. So, als woll­te sie al­les von sich ab­wa­schen. Nicht nur die Fa­r­be, son­dern al­les: all den Trüb­sinn, die Trau­er, ihr schlech­tes Ge­wis­sen, ih­re Zwei­fel. Al­les! Das Gan­ze war in ihr hoch­ge­kocht und soll­te ein­fach nur weg, weg, weg!

Ehe sie sich ver­sah, be­gann Ke­tu, ihr mit ei­nem Kü­chen­tuch die Hän­de ab­zu­trock­nen. Als er sie wäh­rend­des­sen nä­her be­trach­te­te, husch­te ihm ein Lä­cheln über die Lip­pen.

»Du hast Vik­to­ria beim Ma­len ge­stört«, stell­te er lei­se fest, nahm ein Pa­pier­tuch, be­feuch­te­te es un­ter dem Was­ser­hahn und be­gann, vor­sich­tig ihr Ge­sicht ab­zu­wi­schen. Da­bei schüt­tel­te er wei­ter­hin lä­chelnd den Kopf. »Wie oft sie mich schon mit Fa­r­be be­kle­ckert hat. Ich ha­be mir des­halb so­gar in ei­nem Dro­ge­rie­markt der Men­schen­welt sol­che Na­gel­lack­ent­fer­ner-Tü­cher be­sorgt. Da­mit be­kommt man das Zeug am bes­ten run­ter. Lei­der ha­be ich die letz­ten Tü­cher be­reits ver­braucht.«

Er be­sah sich An­na noch ein­mal ge­nau­er. »Na ja, ein biss­chen bes­ser ist es schon. Aber dei­ne Blu­se ist lei­der hin, An­na. Tut mir leid.«

Ke­tu war so lieb zu ihr. Viel zu lieb, das hat­te sie gar nicht ver­dient, fand An­na und konn­te ihr Schluch­zen nicht zu­rück­hal­ten

»Hey, nicht wie­der wei­nen«, flüs­ter­te er. »Du hast doch gar nichts falsch ge­macht.«

Ke­tu schob sie am Arm Rich­tung Wohn­zim­mer, um sie dort auf einen Ses­sel zu drü­cken. Da­nach eil­te er zur Kü­che zu­rück und brach­te ihr ein Glas Mi­ne­ral­was­ser. »Trink einen Schluck. Du wirst wie­der so blass.«

Sie setz­te das Glas me­cha­nisch an die Lip­pen und war er­staunt, wie gut ihr das Was­ser tat.

»So, und jetzt hörst du mir mal zu, klei­ne Frau.« Ke­tu hat­te sich vor sie hin­ge­hockt, ihr sei­ne Hän­de auf die Knie ge­legt und blick­te sie mit erns­ten Au­gen an. »Die­se Sa­che wer­den die drei dort oben un­ter sich aus­han­deln. Vi­tus ist aus al­len Wol­ken ge­fal­len, als er Vik­to­ri­as Ge­füh­le er­kannt hat. Sie wer­den sich be­spre­chen und al­les klä­ren.«

»Schscht, sei still«, raunz­te er An­na an, als sie et­was sa­gen woll­te. »Ich weiß es schon lan­ge, An­na, und ich ha­be Vik­to­ria oft ge­be­ten, sich Vi­tus end­lich an­zu­ver­trau­en. Es ist nur zu ver­ständ­lich, dass die bei­den sich als Tee­n­a­ger in ei­ner sol­chen Si­tua­ti­on mit Zwei­feln, Ängs­ten und Sehn­süch­ten her­um­schla­gen muss­ten.«

Schein­bar dach­te Ke­tu dar­über nach, wie er wei­ter­er­zäh­len soll­te. »Ich ken­ne Vi­tus seit über zehn Jah­ren und weiß da­her, wie sehr er un­ter der Tren­nung von sei­nen Kin­dern ge­lit­ten hat. Da­bei wuss­ten er und wir al­ler­dings über­haupt nicht …«, er schüt­tel­te leicht den Kopf, »… in keins­ter Wei­se, wie schlecht es auch den Zwil­lin­gen da­mit ging.«

Sei­ne Au­gen än­der­ten den Aus­druck, wur­den weich und lie­be­voll. »Ein­zig Si­stra hat­te wohl so ei­ne lei­se Ah­nung. Er war da­mals der­je­ni­ge, der sei­nem Kö­nig am liebs­ten in den Hin­tern ge­tre­ten hät­te. Ja, Si­stra woll­te ihn bit­ten, Estras Hil­fe we­gen Ka­na in An­spruch zu neh­men, da­mit Vi­tus sich end­lich sei­nen Kin­dern zu­wen­den könn­te. Letzt­lich hat aber auch Si­stra kal­te Fü­ße ge­kriegt und sich – ge­nau wie wir al­le – nicht ge­traut. Ir­gend­wie konn­ten wir un­se­ren Kö­nig ja ver­ste­hen. Er sorg­te sich ein­fach zu sehr, um sich mehr um sei­ne Kin­der zu küm­mern. Das hört sich to­tal ver­rückt an, nicht wahr? Aber du weißt, dass es so war.«

An­na hat­te Ke­tu auf­merk­sam zu­ge­hört und nick­te nun eif­rig. Ih­re Trä­nen wa­ren ab­rupt ver­siegt. »Du hast es ge­wusst? Du hast da­mals be­reits ge­wusst, dass Ka­na an al­lem schuld war?«

»Ich bin ei­ner sei­ner sechs Wach­män­ner, An­na. Wir wis­sen – fast! – im­mer über al­le Din­ge Be­scheid, die Vi­tus tut und denkt. Aber da­mals kann­te ich Vik­to­ria noch nicht per­sön­lich. Ich bin ihr erst er­heb­lich spä­ter be­geg­net. Hät­te Vi­tus sei­ner­zeit je­doch ge­wusst, wie sehr die­se gan­zen wid­ri­gen Um­stän­de sei­nen Kin­dern zu schaf­fen mach­ten, dann hät­te er be­stimmt so man­ches Mal an­ders ge­han­delt, des­sen bin ich mir si­cher.«

Er at­me­te kräf­tig durch. »Doch er hat es nicht ge­se­hen, ge­nau wie wir oder Estra und Isi­nis. Glaub mir, An­na, kei­ner von uns wuss­te da­von. Da­bei hat­te Vi­tus uns ge­be­ten, be­son­ders auf die Emo­ti­o­nen sei­ner Kin­der zu ach­ten. Die wa­ren al­ler­dings weit­aus bes­ser in ih­ren em­pa­thi­schen Fä­hig­kei­ten, als wir an­ge­nom­men hat­ten«, gab Ke­tu zer­knirscht zu.

Nach wie vor hock­te er vor An­na und be­dach­te sie mit ei­nem war­men Blick. »Na ja, Vik­tor und Vik­to­ria ha­ben ja nicht ge­lit­ten wie die Hun­de. Ähm, sagt man das so: lei­den wie ein Hund? Ach, egal. Je­den­falls wä­re das reich­lich über­trie­ben, denn sie hat­ten es schließ­lich sehr gut bei Estra und Isi­nis. Aber die Tren­nung von Vi­tus hat ih­nen weh­ge­tan. Sie hat­ten das al­les völ­lig miss­ver­stan­den, was durch­aus nach­voll­zieh­bar ist. Sie fühl­ten sich halb, un­voll­stän­dig, ha­ben aus die­sem Grun­de ver­zwei­felt nach ih­ren feh­len­den Tei­len ge­sucht, was ja nun wirk­lich nichts Schlim­mes ist. Sie ha­ben al­so nur nach Lie­be ge­sucht. Even­tu­ell wa­ren man­che ent­täuscht, hat­ten sich wo­mög­lich mehr er­hofft, das mag sein. Aber bei­de, Vik­tor wie Vik­to­ria, wa­ren da­mals nicht zu fes­ten Bin­dun­gen fä­hig. Da­zu sind sie erst in der La­ge, seit sie uns ken­nen. – Schau mich bit­te an, An­na«, bat Ke­tu sie, da sie den Kopf hat­te sin­ken las­sen. »Sie brau­chen uns. Viel, viel mehr, als sie mei­nen. Ver­stehst du das?«

An­na nick­te. Na­tür­lich ver­stand sie. Wenn es um Vik­tor und ih­re Lie­be zu ihm ging, wür­de sie im­mer ver­ste­hen.

Sie sah in Ke­tus Au­gen. Zum ers­ten Mal ver­spür­te sie tie­fe Zu­nei­gung für ihn. Sie hat­te den Wach­mann von An­fang an ge­mocht, für sei­ne ru­hi­ge, be­son­ne­ne Art be­wun­dert. Jetzt emp­fand sie ur­plötz­lich Lie­be – wie für einen Bru­der und das war er ja auch in ge­wis­ser Hin­sicht für sie.

»Dan­ke, dass du mir das al­les er­klärt hast, Ke­tu. Ich kann dir gar nicht sa­gen, wie viel mir das be­deu­tet.«

»Das musst du nicht. Ich weiß es ja. Du liebst Vik­tor und ich lie­be sei­ne Zwil­lings­schwes­ter. Du und ich, wir sind des­halb mit­ein­an­der ver­bun­den.«

Ke­tu er­hob sich. Trotz der un­zäh­li­gen ver­wor­re­nen Ge­dan­kenk­no­ten in ih­rem Kopf wun­der­te sich An­na dar­über, dass ihm die Knie von der lan­gen un­be­que­men Hocke­rei nicht weh­zu­tun schie­nen. Und trotz ih­res Zwie­spalts, Zwei­fels und Ke­tus vie­ler trös­ten­der Wor­te, die sich bei An­na erst noch den rich­ti­gen Platz in ih­ren Hirn­win­dun­gen su­chen muss­ten, ki­cher­te sie. Ihr war näm­lich et­was Be­stimm­tes ein­ge­fal­len, das Ke­tu zu­vor über Si­stra ge­sagt hat­te. In der ihm so ei­gen­tüm­li­chen Wei­se hob Ke­tu fra­gend sei­ne Brau­en.

»Si­stra woll­te Vi­tus in den Hin­tern tre­ten?«, er­kun­dig­te sie sich un­gläu­big.

Ke­tus Lä­cheln brei­te­te sich in sei­nem Ge­sicht aus wie ein war­mer Som­mer­wind. »Si­stra hat un­se­rem Kö­nig so ei­ni­ge Ma­le in den Hin­tern ge­tre­ten, An­na. Ge­ra­de die bei­den ha­ben sich sehr ge­liebt. Wir al­le sechs hal­ten ei­ne tie­fe, in­ni­ge Bin­dung zu un­se­rem Kö­nig, emp­fin­den gro­ße Zu­nei­gung für ihn und er für uns. Aber die­se bei­den hat­ten ei­ne ganz be­son­de­re Be­zie­hung zu­ein­an­der. Vi­tus leg­te größ­ten Wert auf Si­stras Mei­nung.«

Trau­er um­flor­te sei­ne schö­nen Goldau­gen. »Du kannst dir gar nicht vor­stel­len, wie sehr wir ihn ver­mis­sen, je­den ver­damm­ten Tag.«

»Nein, das kann ich wohl nicht, nicht so rich­tig je­den­falls. Ich kann dir nur sa­gen, dass ich dei­nen Bru­der klas­se fand und sehr ge­mocht ha­be. Si­stra war lus­tig, cle­ver und mu­tig. Er hat mich – ge­mein­sam mit dir, Vik­tor, Vi­tus und den an­de­ren – vor die­sem Mons­ter Zitt ge­ret­tet. Er hat Jens vor den Nu­urt­ma be­schützt. Au­ßer­dem konn­te er dich so herr­lich auf die Pal­me brin­gen. – Und er hat dich un­glaub­lich ge­liebt.« Schon wie­der kämpf­te sie mit den Trä­nen. »Er müss­te noch bei uns sein, Ke­tu. Er fehlt mir so sehr. Und das zeigt mir, um wie viel mehr er dir feh­len muss.«

Nun war es doch ge­sche­hen. Aufs Neue kul­ler­ten ihr Trä­nen über die Wan­gen.

»Komm her, klei­ne Fee.« Ke­tu hob sie be­hut­sam auf und setz­te sich mit ihr auf dem Schoß in den Ses­sel. »Jetzt wird nicht mehr ge­weint. Bis Vik­tor und Vik­to­ria sich mit Vi­tus aus­ge­spro­chen ha­ben, lehnst du dich ein­fach ein biss­chen an mich, machst die Au­gen zu und schläfst. Schließ­lich musst du mor­gen früh wie­der zur Schu­le.«

Er zog sie ganz sanft zu sich her­an. An­na konn­te sich tat­säch­lich ein we­nig ent­span­nen. Wäh­rend sie lang­sam in dämm­ri­gen Schlaf sank, spür­te sie noch, wie er ih­ren Bru­der Jens men­tal kon­tak­tier­te. Sie emp­fand Ke­tus Für­sor­ge als so tröst­lich, dass sie sich en­ger bei ihm an­ku­schel­te, be­vor sie end­gül­tig ins Land der Träu­me glitt.

***

»Wie­so wuss­te ich nichts da­von? Wie­so er­fah­re ich es erst heu­te und auf die­se Wei­se?« Wäh­rend Vi­tus sei­ne Toch­ter wei­ter­hin fest im Arm hielt, sah er Vik­tor an. Sei­ne Mie­ne war aber nicht miss­bil­li­gend, son­dern im­mer noch ge­prägt von Schmerz und Selbst­vor­wür­fen.

»Pa­pa, das ist doch schon so lan­ge her. Bit­te, lass es gut sein.«

»Gut sein? Ich soll es gut sein las­sen?« Vi­tus‘ Stim­me klang mitt­ler­wei­le schnei­dend.

Der Ton­fall sei­nes Va­ters si­gna­li­sier­te Vik­tor, dass sie sich ge­fähr­lich nah am Ran­de ei­nes hef­ti­gen Streits be­fan­den. Da­her such­te er sorg­sam nach den rich­ti­gen Wor­ten, ehe er sich und da­mit auch Vik­to­ria er­klär­te:

»Vik­to­ria und ich, wir ha­ben da­mals un­se­re Ge­füh­le für uns be­hal­ten und nur un­ter uns aus­ge­tauscht, weil wir be­fürch­te­ten, man könn­te uns viel­leicht falsch ver­ste­hen. Wir fühl­ten uns al­lein, woll­ten je­doch Estra und Isi­nis nicht da­mit be­las­ten oder gar krän­ken. Schließ­lich lie­ben wir die bei­den und sie uns. Sie ha­ben al­les für uns ge­tan. Wir woll­ten sie nicht ent­täu­schen und ih­nen auf kei­nen Fall weh­tun. Von dir dach­ten wir, dass du nicht son­der­lich viel für uns üb­rig hät­test, Pa­pa.«

Jetzt sah Vik­tor sei­nen Va­ter mit schmerz­vol­lem Ge­sicht an. »Wir wuss­ten es nicht bes­ser. Wir wa­ren doch noch hal­be Kin­der und stell­ten uns Fra­gen. Fra­gen, die in die­ser Ent­wick­lungs­pha­se nun mal auf­tre­ten. Die­se Fra­gen blie­ben un­be­ant­wor­tet. Das hat uns na­tür­lich nicht ge­fal­len.«

Er ging zu Vi­tus und leg­te ihm ei­ne Hand auf die Schul­ter. »Pa­pa, wir wa­ren doch nur ein we­nig rast­los in un­se­rer Su­che nach Lie­be, zu­dem dumm und un­er­fah­ren. Trotz die­ser Rast­lo­sig­keit ging es uns gut. Wir wa­ren gern bei Isi­nis und Estra, wirk­lich. Al­ler­dings ha­ben wir dich ver­misst und wir ha­ben un­se­re Mut­ter ver­misst, trotz al­lem.«

Als er sei­ne Hand wie­der her­un­ter­nahm, schau­te er Vi­tus mit fle­hen­dem Blick an. »Kannst du denn nicht ver­ste­hen, dass wir das lie­ber für uns be­hal­ten woll­ten – dass wir Estra und Isi­nis auf kei­nen Fall weh­tun woll­ten, spä­ter auch dir nicht? Du siehst das als Ver­trau­ens­bruch an, aber das war es nicht, ganz be­stimmt nicht. Für uns ist das al­les Ver­gan­gen­heit, nicht mehr wich­tig. Du bist jetzt für uns da und wir wis­sen, dass wir uns sei­ner­zeit ge­irrt hat­ten. Wir ha­ben doch schon so oft dar­über ge­spro­chen, Pa­pa, woll­ten einen Schluss­strich zie­hen und uns nur noch auf das Hier und Jetzt kon­zen­trie­ren. Des­halb bleib ich da­bei: Lass es bit­te gut sein.«

***

Vi­tus sah sei­nen Sohn lan­ge an. Da­nach blick­te er zu Vik­to­ria, die er nach wie vor fest­hielt. Als er nun die zahl­rei­chen Fa­rb­kleck­se auf ih­rem Ge­sicht und Haar wahr­nahm, konn­te er ein Schmun­zeln nicht un­ter­drü­cken. Lie­be­voll strich er über die bun­ten Tup­fen und Li­ni­en. Dann wisch­te er mit den Dau­men ih­re Trä­nen fort, at­me­te tief durch und be­trach­te­te sei­ne bei­den Kin­der.

»In Ord­nung. Ich lass es gut sein. Kein Wort mehr dar­über, auch nicht zu Isi­nis und Estra. Al­ler­dings lie­be ich euch zu sehr, um mei­ne un­ter­schwel­li­ge Angst, euch er­neut zu ver­lie­ren, gänz­lich ver­drän­gen zu kön­nen.« Sei­ne Mund­win­kel zuck­ten kaum merk­lich. »Es könn­te al­so sein, dass ich im­mer mal wie­der einen Rü­ck­fall er­lei­de.« Nun muss­te er grin­sen, weil er Ke­tus Ge­spräch mit An­na, al­so auch Ke­tus Be­mer­kung über Si­stra, ge­dank­lich ver­nom­men hat­te. »Ihr habt die Erlaubnis, mir dann kräf­tig in den Hin­tern zu tre­ten.«

Er küss­te Vik­to­ria auf den Mund, be­dach­te sie noch ein­mal mit vä­ter­lich war­mem Blick. »Vik­tor und ich ge­hen run­ter und schi­cken dir Ke­tu rauf. Er bleibt heu­te bei dir.«

Un­ten an­ge­kom­men fand er Ke­tu mit der schla­fen­den An­na im Arm vor. »Vik­tor soll noch schnell Jo­han­nes an­ru­fen, da­mit der weiß, dass An­na heu­te Nacht hier­bleibt. Da­nach kann er sie nach oben tra­gen und du kannst zu Vik­to­ria ge­hen.«

»Ein An­ruf wird nicht nö­tig sein, mein Kö­nig, weil ich Jens be­reits kon­tak­tiert ha­be. Er sagt den El­tern Be­scheid.«

An­er­ken­nend zog Vi­tus ei­ne Braue hoch. »Da wer­de ich hier ja nicht mehr ge­braucht und ich kann mich um Lo­a­na küm­mern. Ich glau­be, sie hat­te heu­te Abend mal wie­der ein klei­nes Schar­müt­zel mit un­se­rem Gärt­ner Bi­tris.«

»Hast du ei­gent­lich kei­ne Angst, dass Bi­tris, Wo­nu oder Eti­ta oder sonst wer von den Be­diens­te­ten ir­gend­wann völ­lig ent­nervt da­von­läuft?«, frag­te Vik­tor in amü­sier­tem Ton.

Vi­tus muss­te sich dar­auf­hin ein lau­tes La­chen ver­knei­fen, weil er An­na nicht auf­we­cken woll­te. »Nein, nein, das pas­siert nie­mals. Ich wer­de näm­lich das Ge­fühl nicht los, dass al­le Be­tei­lig­ten ih­re klei­nen Kab­be­lei­en durch­aus ge­ni­e­ßen. Es ist wie ein Spiel. Wä­re Lo­a­na mit ei­nem Mal lamm­fromm, wür­den sie die­se Spiel­chen al­le furcht­bar ver­mis­sen. Und ich oben­drein.«

Be­vor Vik­tor sei­ne Freun­din zu Bett brin­gen konn­te, zog sein Va­ter ihn in die Ar­me, um ihn ge­nau­so herz­lich zu küs­sen wie Vik­to­ria. »Dan­ke, dass du so ehr­lich zu mir warst. Es tat zwar weh, aber es ist gut, dass ich es nun weiß.« Mit die­sen Wor­ten nick­te er noch ein­mal Ke­tu zu und mach­te sich auf den Weg ins Schloss.

***

Ei­ne Welt aus kal­tem Stein schloss sie ein. Es gab kei­nen Aus­weg. Die grau­en Mas­sen droh­ten sie zu zer­mal­men, wes­halb sie ih­re Hän­de fest da­ge­gen stemm­te. Tat­säch­lich wi­chen die glat­ten Fel­sen zu­rück. Doch nun wur­de ihr Blick von et­was an­de­rem an­ge­zo­gen:

Eis­kal­te dun­kel­blaue Au­gen stier­ten sie an, vie­le dun­kel­blaue Au­gen – kühl, vor­wurfs­voll, has­s­er­füllt. Au­gen in an­sons­ten lee­ren Ge­sich­tern. Die­se schma­len Ge­sich­ter be­sa­ßen we­der Mün­der noch Na­sen und Oh­ren. Sie thron­ten auf hoch­ge­wach­se­nen schlan­ken Frau­en­kör­pern mit lan­gen dün­nen Hälsen und tru­gen al­le­samt hüft­lan­ges dun­kel­blon­des Haar. Ein­gehüllt in hauch­zar­te schwa­r­ze Ge­wän­der schweb­ten sie auf sie zu, wo­bei die­se Au­gen sie im­mer ein­dring­li­cher und ab­schät­zi­ger an­starr­ten. Furcht­ein­flö­ßend!

»Die an­de­ren Frau­en! Ich muss hier weg! Ich muss hier schnells­tens weg!«

Vol­ler Pa­nik er­griff sie die Flucht und rann­te los. Sie lief und lief, wie der Wind. Un­ter­des­sen er­ahn­te sie den Duft von Blu­men und Gras, von ei­ner schö­ne­ren Welt mit Licht und Fa­r­ben. Dort woll­te sie hin.

Mit ei­nem Mal über­kam sie das be­rau­schen­de Ge­fühl, flie­gen zu kön­nen. Die schreck­li­chen Au­gen wa­ren ver­ges­sen, denn nun streb­te sie hin­auf, ge­noss die Macht, die sie den Him­mel stür­men ließ. Ja, wahr­haf­tig, sie flog! Die Luft un­ter ihr trug sie wie ein wei­ches Kis­sen da­von. Sie glitt im­mer hö­her und fühl­te sich groß­ar­tig da­bei. Der sam­te­ne Wind hauch­te über ih­ren nack­ten Leib, strei­chel­te sie mit mil­der Zart­heit. Un­ter sich ver­nahm sie das Rau­schen herr­lich grü­ner Bäu­me. Das Was­ser ei­nes eis­blau­en Sees glit­zer­te wie ein leuch­ten­der Sma­ragd. Vor ihr nä­her­ten sich die Ber­ge. Hoch­auf­ra­gen­de Gi­gan­ten von fas­zi­nie­ren­der Schön­heit im Licht der auf­ge­hen­den Son­ne.

Sie soll­te noch hö­her flie­gen, um nicht ge­gen ei­ne Fels­wand zu pral­len, über­leg­te sie, wäh­rend sie sich den Ber­gen nä­her­te. Sie soll­te hö­her flie­gen oder bald um­keh­ren. Doch noch war Zeit. Bis da­hin woll­te sie die­sen atem­be­rau­ben­den Flug ge­ni­e­ßen. Es war wie ein Rausch, den es in Gän­ze aus­zu­kos­ten galt.

Der Berg zog sie ma­gisch an. Es schien, als streb­te er ihr ent­ge­gen und zö­ge sie un­auf­halt­sam zu sich her­an.

Ihr Glücks­ge­fühl schwand so jäh, dass Herz und Sin­ne blei­schwer wur­den und ih­re Kräf­te spür­bar nachlie­ßen. Wie soll­te sie sich sei­ner be­droh­li­chen An­zie­hungs­kraft wi­der­set­zen? Bald wür­de sie mit ihm zu­sam­men­sto­ßen, könn­te sich am schrof­fen Stein nicht fest­hal­ten. Dann wür­de sie fal­len. Tie­fer und tie­fer.

Neue Pa­nik schlich sich ein. Nun woll­te sie end­lich das Tem­po dros­seln und um­keh­ren. Aber es fühl­te sich an, als hät­te der Berg sei­ne Hän­de nach ihr aus­ge­streckt, als woll­te er nach ihr grei­fen. Sie konn­te sich sei­nem Bann nicht ent­zie­hen. Hek­tisch sah sie sich um. Vol­ler Ent­set­zen er­kann­te sie die mes­ser­scha­r­fen Kan­ten des Fels­mas­sivs. Sie be­gann zu strau­cheln, ver­such­te mit al­ler Kraft, den Flug zu ver­lang­sa­men, um kehrtz­u­ma­chen. Es woll­te ihr ein­fach nicht ge­lin­gen.

Mit un­ge­brems­ter Wucht prall­te sie ge­gen den spit­zen, scha­rf­kan­ti­gen Stein, der ihr tief ins Fleisch schnitt und sie Blut schme­cken ließ. Der Schmerz war grau­sam, woll­te nicht ab­rei­ßen, be­vor sie in die Tie­fe stürz­te – und fiel und fiel. …

An­na schreck­te hoch und blin­zel­te in das Licht, das Vik­tor ein­ge­schal­tet ha­ben muss­te. Sie er­blick­te sei­ne dun­kel­blau­en Au­gen. Die­se Au­gen schau­ten sie Gott sei Dank nicht kalt, son­dern warm und nach­denk­lich an.

***

»Al­les in Ord­nung, An­na?«, fra­ge Vik­tor be­sorgt.

»Hhm?« Sie schüt­tel­te sich, so, als wä­re sie noch nicht rich­tig wach. »Ja … Hhm … Ja, ich hab ge­träumt. Hab ich dich ge­weckt? Hab ich et­wa ge­schri­en?«

»Nein, ich hab noch gar nicht ge­schla­fen. Du warst furcht­bar un­ru­hig. Es wirk­te fast so, als woll­test du vor et­was da­von­lau­fen. Ist denn wirk­lich al­les in Ord­nung?«

… Vik­tor fand sei­ne Sor­ge durch­aus be­rech­tigt. An­na hat­te ihm er­zählt, dass sie frü­her nie­mals Alb­träu­me ge­habt hät­te. Erst seit sie näch­te­lang von Ka­na mit fürch­ter­li­chen Träu­men ge­quält wor­den war, wur­de sie im­mer wie­der da­von heim­ge­sucht, selbst nach Ka­nas Tod. Wei­ter­hin schli­chen sich in vie­len Näch­ten fie­se, häss­li­che Sze­na­ri­en und Fi­gu­ren in An­nas Schlaf, die ihr gro­ße Furcht be­rei­te­ten. Oft hat­te Vik­tor sie nur vor­sich­tig in sei­nen Ar­men zu wie­gen brau­chen, um sie da­von zu be­frei­en.

Jens hat­te ihm vor Kur­z­em be­rich­tet, dass auch er mit­be­kam, wie An­na häu­fig schlecht träum­te, wenn sie zu Hau­se war. Dann hol­te er sie, meist ge­mein­sam mit Le­na, be­hut­sam aus ih­ren Ängs­ten, oh­ne dass An­na et­was da­von be­merk­te. …

»Was hast du ge­träumt?«, woll­te Vik­tor wis­sen. »Er­zähl‘s mir.«

»Nichts.«

»An­na.«

Sie seufz­te schwer und brach­te ihn da­mit zum La­chen, da er wuss­te, dass sie gar nicht da­zu in der La­ge war, ih­ren Traum vor ihm zu ver­ber­gen, selbst wenn sie es ver­su­chen wür­de. Wie er­war­tet ließ sie ihn kur­zer­hand men­tal dar­an teil­ha­ben. Al­ler­dings spür­te Vik­tor im­mer häu­fi­ger, wie sie Tei­le ih­res Geis­tes vor ihm ver­barg, was ihr gu­tes Recht war, so mein­te er.

»Ich weiß nicht, was das zu be­deu­ten hat, Vik­tor. – Lau­ter blöd­sin­ni­ges Zeug. Mein Kopf hat manch­mal ei­ne wirk­lich ko­mi­sche Art, mir den Schlaf zu ver­der­ben.«

»Tja, und weil das dei­nen Schlaf seit so lan­ger Zeit re­gel­mä­ßig stört, wer­den wir mit Lo­a­na und Vi­tus dar­über re­den müs­sen. Viel­leicht kann Lo­a­na was tun, um sol­che Träu­me ab­zu­wen­den. Viel­leicht hat sie ja ein Kraut da­ge­gen. So was wie Jec­tam, oder so.«

»Mit Jec­tam fin­de ich be­stimmt über­haupt kei­nen Schlaf«, ki­cher­te An­na und ku­schel­te sich an Vik­tor.

»Kannst du denn schla­fen?«

»Ich muss jetzt schla­fen, Vik­tor. Ich muss mor­gen früh raus. Selbst wenn du mich fährst, dau­ert es ei­ne gan­ze Wei­le, bis ich in Kai­sers­werth bin, weil wir ja vor­her noch bei mir zu Hau­se vor­bei­müs­sen, um mei­ne Schul­sa­chen zu ho­len. Und nach der Schu­le hab ich Fahr­stun­de und …«

An­na kniff arg­wöh­nisch die Au­gen zu­sam­men. »Du denkst bei dem Ge­dan­ken an Jec­tam gleich wie­der an das Ei­ne, stimmt‘s?«

Vik­tor schüt­tel­te la­chend den Kopf. »Ich den­ke na­tür­lich im­mer an das Ei­ne. Da­zu brau­che ich nun wirk­lich kein Jec­tam. Das heißt aber noch lan­ge nicht, dass ich das Ei­ne auch die gan­ze Zeit tun will, Klei­nes.«

Schlag­ar­tig wur­de er ernst. »Nein, ich woll­te mit dir über heu­te Abend spre­chen. Es brennt mir auf der See­le und raubt mir den Schlaf.«

»Vik­tor, nicht.«

»Es ist mir wich­tig, An­na. Ich möch­te es dir er­klä­ren. Du bist in Ke­tus Ar­men ein­ge­schla­fen. Er konn­te dich trös­ten und be­ru­hi­gen. Da­für bin ich ihm zwar äu­ßerst dank­bar, trotz­dem wä­re das mei­ne Auf­ga­be ge­we­sen. Ge­nau­so, wie ich dir das al­les hät­te er­zäh­len müs­sen, an­statt Vik­to­ria.«

»Okay, dann schieß los. Aber ich will dir zu­erst sa­gen, dass ich über­re­a­giert ha­be, als Estra von an­de­ren Frau­en ge­spro­chen hat. Das war al­les vor un­se­rer ge­mein­sa­men Zeit und geht mich ei­gent­lich gar nichts an. Statt­des­sen ha­be ich Vik­to­ria, Vi­tus und dir weh­ge­tan. Das woll­te ich nicht.«

»Na­tür­lich woll­test du das nicht. Du konn­test das ja gar nicht wis­sen. Kei­ner macht dir einen Vor­wurf. Ich wer­de dir jetzt auch nicht je­den Win­kel mei­ner Ver­gan­gen­heit of­fen­ba­ren, denn ich bin dir tat­säch­lich kei­ne Re­chen­schaft schul­dig. Den­noch will ich dir un­be­dingt er­klä­ren, war­um ich dir so gar nichts dar­über er­zählt ha­be.«

»Das hat Vik­to­ria doch schon ge­tan.«

»Si­cher hat sie das. Nur für mich gibt es noch einen Grund, war­um ich dir nichts ge­sagt ha­be, An­na. Ich hat­te näm­lich Angst, du könn­test mich we­gen der Sa­che ver­ur­tei­len. Ich hat­te Angst, du könn­test schlecht über mich den­ken. Ich bin schließ­lich dein ers­ter Freund. Du warst noch Jung­frau, als wir zu­sam­men­ka­men. Und ich … Al­so ver­steh mich bit­te nicht falsch. Ich ha­be nicht pau­sen­los ir­gend­wel­che Mä­dels ver­führt. Al­ler­dings hat­te ich so ei­ni­ge kurz­wei­li­ge Be­kannt­schaf­ten. Mit man­chen war ich auch im Bett.« Vik­tor schau­te An­na in die Au­gen.

»Aber ich ha­be kei­ner et­was vor­ge­macht, von we­gen Lie­be oder so, glaub mir bit­te. Das ist nicht mei­ne Art, nie­mals. Ich ha­be im­mer von vorn­her­ein zu ver­ste­hen ge­ge­ben, dass ich kein Typ für ei­ne fes­te Be­zie­hung bin. Au­ßer bei dir. Bei dir ist al­les ganz an­ders. Bei dir ist es haar­ge­nau so, wie Vik­to­ria es dir er­zählt hat. Haar­ge­nau.«

An­na sah ihn lie­be­voll an. »Es ist mir so­wie­so nie in den Sinn ge­kom­men, dass du ein fie­ser Auf­rei­ßer ge­we­sen sein könn­test. Mehr will ich dar­über gar nicht wis­sen, Vik­tor. Ich den­ke nie­mals schlecht von dir, kei­ne Ban­ge.«

Et­was Grim­mi­ges schlich sich in ih­ren Blick. »Im Nach­hin­ein bin ich eher auf mich sel­ber sau­er. Du warst acht­zehn, als wir uns ken­nen­ge­lernt ha­ben. Für El­fen und wohl auch für Hal­bel­fen ist das schließ­lich ein rei­fes Al­ter. Ich kom­me mir so blöd vor, weil ich mir kei­ne Ge­dan­ken über Vor­gän­ge­rin­nen ge­macht und tat­säch­lich ge­dacht ha­be, ich sei dei­ne ers­te Freun­din. Das …«

»Stopp!«, un­ter­brach Vik­tor sie schnell. »Du hast im­mer noch nicht rich­tig be­grif­fen, Klei­nes. Es gab zwar Frau­en vor dir, ja. Aber du hat­test mit Si­cher­heit kei­ne Vor­gän­ge­rin­nen, denn du bist mei­ne ers­te Freun­din. Nur du und sonst kei­ne. Das musst du un­be­dingt ver­ste­hen.«

Er zog sie nah zu sich her­an. »So, und jetzt schlaf, mei­ne Sü­ße.« Vik­tor lösch­te das Licht. Nun wür­de er end­lich selbst Schlaf fin­den.

»Ich lie­be dich, ers­ter und ein­zi­ger Freund.«

»Ich lie­be dich, mei­ne ers­te und ein­zi­ge Freun­din, für im­mer.«

Sonnenwarm und Regensanft - Band 4

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