Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 5

Früh­lings­ge­füh­le

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Lo­a­na staun­te nicht schlecht, als ihr frisch an­ge­trau­ter Ehe­mann be­hän­de über die Re­ling sprang, um das Se­gel­boot am Flus­s­ufer zu ver­täu­en.

Ob­wohl selbst El­fe, war es ihr im­mer wie­der ein Ver­gnü­gen, sei­nen an­mu­ti­gen und zu­dem blitz­schnel­len Be­we­gun­gen zu fol­gen, da­bei das Mus­kel­spiel un­ter sei­nem en­gen dunk­len Hemd zu be­ob­ach­ten. Das schul­ter­lan­ge schwa­r­ze Haar weh­te wild bei sei­nem Sprung, trotz des Re­gens. Ei­ne Po­se, die ih­res Er­ach­tens aus­ge­spro­chen gut zu Vi­tus pass­te.

Weil er sie da­nach mit ei­nem für ihn so ty­pi­schen in­ten­si­ven Blick be­dach­te, wur­de ihr er­neut warm ums Herz. Sie lieb­te Vi­nie­stra Tus­te­rus, ge­nannt Vi­tus, Kö­nig des west­li­chen El­fen­rei­ches und ihr Ehe­gat­te.

Ein leich­tes Frös­teln hol­te sie aus ih­ren Träu­men. Sie rieb sich die Ar­me.

»Brrr, ist das kalt hier«, flüs­ter­te sie und mach­te sich dar­an, auch von Bord zu ge­hen.

»Lo­a­na!« Vi­tus gab ihr einen flüch­ti­gen Kuss, be­vor er sie auf sei­ne Ar­me hob. Sie muss­te au­to­ma­tisch blin­zeln, denn die­ses Mal war er zu schnell für ih­re Au­gen ge­we­sen. »Du soll­test doch war­ten, bis ich wie­der bei dir bin, mei­ne Ke­ned

Seit dem ers­ten Ken­nen­ler­nen vor ein paar Mo­na­ten im Herbst nann­te er sie so: Ke­ned. Sie moch­te die­sen Ko­se­n­a­men sehr, stamm­te er doch aus ih­rer Hei­mat, der Bre­ta­gne, und be­deu­te­te so viel wie Schön­heit.

Lie­be­voll trug er sie auf der be­reits an­ge­leg­ten Plan­ke von Bord, stell­te sie vor­sich­tig an Land auf die Fü­ße und strich mit ei­ner Hand über die Wöl­bung ih­res Bau­ches, wo­bei er sie in­nig küss­te.

»Will­kom­men zu Hau­se, mei­ne Kö­ni­gin.« Dann hock­te er sich nie­der und leg­te den Kopf an ih­ren Bauch. »Und will­kom­men, ihr bei­den. Könnt ihr wohl den Un­ter­schied zwi­schen den schwan­ken­den Die­len an Deck und dem fes­ten Bo­den un­ter den Fü­ßen eu­rer Mut­ter un­ter­schei­den?«

Er sah zu ihr auf und sein Blick brach­te sie zu­rück zur bre­to­ni­schen See. Dort, an der Gren­ze zum süd­li­chen El­fen­reich, wo sie sich auf ih­rer Rü­ck­kehr von der Hoch­zeits­rei­se noch ein­mal und die­ses Mal ein we­nig län­ger auf­ge­hal­ten hat­ten. Vi­tus‘ Au­gen wie­sen die­sel­be Fa­r­be auf wie die­ses Meer, tru­gen da­mit ein Stück Hei­mat in ih­re See­le:

… Lo­a­na ver­barg den klei­nen trau­ri­gen Seuf­zer, den ihr Herz tat, als sie die Se­gel setz­ten, um die Bre­ta­gne wie­der zu ver­las­sen und an der ibe­ri­schen Küs­te wei­ter zu se­geln.

Die el­fi­schen Por­ta­le ka­ta­pul­tier­ten sie in Win­desei­le zu traum­haf­ten Hä­fen mit schnee­wei­ßen Ge­bäu­den, de­ren kup­pel­ar­ti­ge Dä­cher gol­den in der Son­ne glänz­ten. Frem­de exo­ti­sche Düf­te la­gen in der Luft. Die Fa­r­ben mu­te­ten so mil­de warm und den­noch leuch­tend an, wie sie die Son­ne nur hier zau­bern konn­te.

Lo­a­na ge­noss es in vol­len Zü­gen, mit Vi­tus durch die en­gen Gas­sen und über die ge­schäf­ti­gen Plät­ze des El­fen­or­tes Pal­la­mee zu spa­zie­ren. Ei­nem Ort, wo es an je­der Ecke et­was Neu­es zu ent­de­cken gab. Sie kauf­te Kräu­ter und Ge­wür­ze auf dem Markt und ei­ne wun­der­schö­ne Va­se aus kunst­voll ge­bla­se­n­em Glas, in des­sen iri­sie­ren­dem Wi­der­schein al­le Fa­r­ben des Re­gen­bo­gens schil­ler­ten.

Vi­tus ließ es sich nicht neh­men, sie in einen der zahl­rei­chen Schmuck­lä­den zu zie­hen, um ihr dort ei­ne kost­bar ge­ar­bei­te­te Ket­te zu kau­fen. Ein Schmuck­s­tück, das sie mit sei­nen auf­wen­di­gen Or­na­men­ten so­wie kunst­voll ein­ge­las­se­nen Edel­stei­nen ihr rest­li­ches Le­ben lang an die­se Hoch­zeits­rei­se er­in­nern wür­de.

Weil Vi­tus au­ßer dem kö­nig­li­chen Amu­lett und sei­nem Ehe­ring kei­nen Schmuck zu tra­gen pfleg­te, ließ Lo­a­na mit ei­nem Mal sei­ne Hand los, um ge­schwind in ein win­zig klei­nes Krims­krams­ge­schäft zu hu­schen und kurz dar­auf mit ei­nem Paar Lei­nen­schu­hen in grel­len Fa­r­ben und mit wir­rem Za­cken­mus­ter wie­der zu er­schei­nen. Zu ih­rer Ver­blüf­fung zog er sie so­fort an, und das, ob­wohl er wie so vie­le El­fen­män­ner Schu­hen über­haupt nichts ab­ge­win­nen konn­te. Die­ses Ex­em­plar wirk­te der­art gro­tesk ko­misch an sei­nen Fü­ßen, dass bei­de noch lach­ten, als sie zu­rück an Bord wa­ren.

Dort wich das La­chen au­gen­blick­lich wil­den Küs­sen, in­ni­gen Lie­bes­schwü­ren und auf­wal­len­der Lei­den­schaft. Die­se Lei­den­schaft kann­te kei­ne Gren­zen. Sie schenk­te ih­nen ei­ne Er­fül­lung, von der sie hoff­ten, dass sie stets ein we­nig un­er­füllt blie­be, da­mit sie sich stets noch mehr da­von ge­ben konn­ten.

An man­chen Ta­gen ver­lie­ßen sie das Boot über­haupt nicht, ge­nos­sen Son­nen­auf­gang wie auch -un­ter­gang glei­cher­ma­ßen, lieb­ten sich im­mer wie­der und ver­wöhn­ten ein­an­der zwi­schen­durch mit den Köst­lich­kei­ten, die Wo­nu, der Koch und ein­zi­ge Be­diens­te­te, der sie be­glei­te­te, vor­be­rei­tet hat­te.

Es war bis zu die­sem Zeit­punkt wirk­lich ei­ne durch und durch wun­der­vol­le Hoch­zeits­rei­se.

Trotz­dem hob Vi­tus nach vier­zehn Ta­gen Lo­a­nas Kinn an und mus­ter­te sie, be­vor er ihr schlicht er­klär­te: »Auf geht‘s, Ke­ned, zu­rück zur bre­to­ni­schen Küs­te. Ich den­ke, dort gibt es noch so al­ler­hand, was du mir gern zei­gen möch­test.«

Wie gut er sie kann­te, dach­te Lo­a­na.

So ver­brach­ten sie noch ei­ne Wo­che an den Or­ten, an de­nen Lo­a­na vor lan­ger Zeit mit ih­ren El­tern ge­lebt hat­te, be­vor die­se bei ei­nem Boo­ts­un­fall ums Le­ben ge­kom­men wa­ren. Vi­tus‘ Vor­schlag, auch ih­ren Schwa­ger Ewen und des­sen Frau Ar­mel­li­ne zu be­su­chen, lehn­te sie al­ler­dings rund­weg ab. Die Er­in­ne­rung an ih­ren er­mor­de­ten ers­ten Ehe­mann Tan­guy schmerz­te noch im­mer, wes­halb sie die Ge­gend, in der sie mit ihm ge­lebt hat­te, lie­ber mied.

Al­les an­de­re je­doch er­füll­te ihr Herz mit rei­ner Freu­de. Wenn sie dar­an zu­rück­dach­te, konn­te sie die sa­l­zi­ge Luft schme­cken und das Brau­sen des Mee­res, die kla­gen­den Schreie der Mö­wen hö­ren. Es war, als wä­re sie wie­der klein und ihr Va­ter wür­de ihr zei­gen, wie man die Se­gel raff­te oder die Net­ze aus­wa­rf, wäh­rend ih­re Mut­ter sich um den letz­ten Fang küm­mer­te oder sie in die Heil­kunst ein­wies.

Auch an Land hat­te sie ih­ren Spaß, konn­te sie Vi­tus doch noch ein­mal in al­ler Ru­he zei­gen, wo auf dem schrof­fen Fels der Klip­pen die sel­te­nen Kräu­ter wuch­sen, von de­nen sie ihm schon so oft er­zählt hat­te. Sie nutz­te die Ge­le­gen­heit, gleich einen Korb voll zu pflü­cken. Zu­dem grub sie ein paar be­son­de­re Ex­em­pla­re aus, weil sie die­se im hei­mi­schen Gar­ten an­pflan­zen woll­te. Na­tür­lich ha­lf Vi­tus ihr da­bei, denn sei­ner Mei­nung nach durf­te sei­ne schwan­ge­re Frau kei­ne solch schwe­re Ar­beit ver­rich­ten.

Sie er­in­ner­te sich noch ge­nau dar­an, wie sie mit dem Korb in der Hand auf den von Pflan­zen über­sä­ten Klip­pen über das to­sen­de Meer schau­te und der Wind an ih­ren Haa­ren zerr­te. Trotz­dem emp­fand sie es als Strei­cheln. Zum Ab­schied be­glei­te­ten Del­fi­ne und Mö­wen das Boot, wäh­rend sie einen letz­ten Blick auf die sanft ge­schwun­ge­nen Dü­nen und ma­le­ri­schen Buch­ten wa­rf, be­vor das nächs­te Por­tal sie fort­trug. …

Bei der Er­in­ne­rung an die­sen spek­ta­ku­lä­ren Oze­an lä­chel­te Lo­a­na, wuss­te sie doch, dass sie ihn je­der­zeit in den Au­gen ih­res Man­nes wie­der­fand. Noch ein­mal seufz­te sie mit ei­nem se­li­gen Lä­cheln.

»Ja, wir sind wie­der zu Hau­se.«

***

An­nas Sehn­sucht nach ih­rer som­mer­li­chen Lieb­lings­stel­le im na­he­ge­le­ge­nen Wald wuchs von Tag zu Tag. Der Ge­dan­ke an die klei­ne Lich­tung mit der gro­ßen Bir­ke, an die­ses be­son­de­re Licht mit sei­nen Sil­ber- und Gold­re­fle­xen, wel­ches die Son­ne dort in die grü­nen Bäu­me und den be­moos­ten Bo­den hin­ein­wob, so wie sie es aus­schließ­lich im Som­mer ver­moch­te, ließ sie nicht mehr los.

Al­ler­dings war es jetzt im April noch viel zu früh für Som­mer­sehn­sucht. Au­ßer­dem ließ ge­ra­de in die­sem Jahr der Früh­ling lan­ge auf sich war­ten. Erst seit ein paar Ta­gen gab es end­lich wie­der Son­nen­schein, nicht ge­ra­de viel und nur mä­ßig warm. Aber im­mer­hin brach­te er die Na­r­zis­sen und Trau­ben­hya­zin­then, die An­nas Mut­ter vier Wo­chen zu­vor so lie­be­voll auf dem Bal­kon in Kü­bel ge­pflanzt hat­te, doch noch zum Blü­hen. Auch die be­reits ver­lo­ren ge­dach­ten Ver­giss­mein­nicht, Bel­lis und Pri­meln hat­ten sich auf­grund der wär­me­n­den Son­nen­strah­len er­holt und leuch­te­ten wie­der in fröh­li­chen Fa­r­ben. Nie­mand aus der Fa­mi­lie hat­te mehr da­mit ge­rech­net, dass sich über­haupt noch ein Fünk­chen Le­ben in den Blu­men­trie­ben reg­te. Denn der spä­te Frost hat­te selbst das Rhein­land, und so­mit auch den Bal­kon der in der Nä­he von Düs­sel­dorf le­ben­den Fa­mi­lie Nell, über al­le Ma­ßen lang im ei­si­gen Griff ge­hal­ten. Ei­ne ge­fühl­te Ewig­keit lang.

Nun stand An­na auf dem Bal­kon, ließ sich das Ge­sicht ge­ni­e­ße­risch von der Son­ne be­schei­nen und da­bei ih­re Ge­dan­ken trei­ben. Ob­gleich die Er­in­ne­rung an die bit­te­re Käl­te und Näs­se, die be­son­ders am Tag des ka­len­da­ri­schen Früh­lings­be­ginns im ge­sam­ten Land ge­herrscht hat­ten, sie ei­gent­lich frös­teln las­sen müss­te, glitt ein Schmun­zeln über ih­re Lip­pen. Sie hat­te in gar nicht so gro­ßer, den­noch un­end­lich wei­ter Ent­fer­nung, un­ter wär­me­n­der Früh­lings­son­ne die Hoch­zeit des Va­ters ih­res heiß­ge­lieb­ten Freun­des Vik­tor ge­fei­ert. Ei­ne ganz be­son­de­re Hoch­zeit. Ei­ne Hoch­zeit im El­fen­land.

… Am zwan­zigs­ten März, zu Früh­lings­be­ginn, fand die­se Hoch­zeit des Kö­nigs des west­li­chen El­fen­rei­ches statt. Trotz der frü­hen Jah­res­zeit ga­ben sich Vi­tus und sei­ne Braut Lo­a­na im Schloss­park un­ter duf­tig blü­hen­den Kirsch­bäu­men ih­re Ehe­ver­spre­chen, wo­bei ein an­ge­nehm lau­es Früh­lings­lüft­chen weh­te.

Al­lein ei­ne sol­che kö­nig­li­che El­fen­hoch­zeit ge­mein­sam mit ih­rer Fa­mi­lie mit­zu­er­le­ben hat­te An­na schon auf­re­gend ge­fun­den. Dass sie dann so­gar Lo­a­na als ei­ne der sechs Braut­jung­fern be­glei­ten durf­te, mach­te das Gan­ze für sie zu ei­nem ein­ma­li­gen, traum­haf­ten Er­leb­nis. …

Bei die­ser Er­in­ne­rung seufz­te sie, da die Sehn­sucht nach Wär­me, Som­mer, be­son­ders dem spe­zi­el­len Zau­ber­licht in ih­rem Wald sie nicht losließ.

»Oh Gott, bald ist es ein Jahr her, ein gan­zes Jahr! Was für ein wun­der­vol­les Jahr!«

Sie schloss se­lig die Au­gen.

»Wer hät­te ge­dacht, dass ich mich in­ner­halb so kur­z­er Zeit der­art ver­än­dern könn­te? – Vom Mau­e­r­b­lüm­chen zur Son­nen­blu­me!«

»Du warst nie­mals ein Mau­e­r­b­lüm­chen, An­na. Und du bist viel mehr als ei­ne ein­fa­che Son­nen­blu­me, mei­ne Sü­ße«, schlich sich Vik­tor in An­nas Geist ein. »Du bist viel, viel mehr! Mor­gens bist du ei­ne zar­te Ane­mo­ne, die man kaum zu be­rüh­ren wagt. Dann aber er­b­lühst du zur wil­den Ro­se, mit de­zen­tem Duft. Spä­ter erst er­scheinst du mir wie ei­ne Son­nen­blu­me, strah­lend hell, groß und stark. Tja, und in der Nacht, da mu­tierst du zur Ve­nus­fal­le, schlägst mich im­mer wie­der in dei­nen Bann und ver­schlingst mich mit Haut und Haa­ren.«

Vik­tors Wor­te in ih­rem Kopf ent­lock­ten An­na ein Ki­chern.

»Wow, Vik­tor Mül­ler, bist du un­ter die Ly­ri­ker ge­gan­gen? Wenn ja, dann ein­deu­tig nur un­ter die el­fi­schen! Gott, war das schwüls­tig! Und eu­er ›Son Ca­lee‹ ist mit Si­cher­heit der ein­zi­ge El­fen­dich­ter, dem bei die­sem Vor­trag spei­übel ge­wor­den wä­re! Au­ßer­dem meinst du si­cher­lich die Ve­nus–flie­gen-fal­le. Ich hät­te nicht ge­dacht, dass du dich mal mit ei­ner klei­nen Flie­ge ver­gleichst.«

Sie zuck­te er­schro­cken zu­sam­men, als er sie plötz­lich zärt­lich um­fing. Zwar hat­te sie deut­lich sei­ne Ge­dan­ken ge­spürt und ge­le­sen, da­bei al­ler­dings nicht er­kannt, dass er be­reits di­rekt hin­ter ihr stand. Die­ser ver­rück­te hal­bel­fi­sche Kö­nigs­sohn, der sie zu Be­ginn der ver­gan­ge­nen Som­mer­fe­ri­en auf ih­rer Lich­tung im Wald ein­fach an­ge­spro­chen und ihr in­ner­halb we­ni­ger Se­kun­den nach al­len Re­geln der Kunst den Kopf ver­dreht hat­te.

Im­mer noch zog sich An­nas Herz beim Klang sei­ner dunk­len Samt­stim­me und bei sei­nem An­blick zu­sam­men. Im­mer noch hat­te sie Schwie­rig­kei­ten, zu be­grei­fen, dass er al­lein ihr ge­hör­te, nur mit ihr zu­sam­men sein woll­te und sie un­ent­wegt be­gehr­te.

Mehr als einen gan­zen furcht­bar lan­gen Tag hat­te An­na ihn nicht ge­se­hen. Des­halb freu­te sie sich sehr auf sei­ne leuch­tend dun­kel­blau­en Au­gen, die sie stets so in­ter­es­siert und ge­fühl­voll, zu­dem oft sinn­lich an­schau­ten, aus ei­nem Ge­sicht wie ge­malt. Lang­sam dreh­te sie sich zu ihm.

Vik­tor trat ein Stü­ck­chen zu­rück und stell­te sich lä­chelnd vor sie: Groß, läs­sig die Ar­me vor der brei­ten Brust ver­schränkt, an die Bal­kon­tür ge­lehnt, sah er sie an. Ge­nau­so, wie An­na es sich vor­ge­stellt hat­te.

Auf sei­nem at­trak­ti­ven Ge­sicht bil­de­ten sich un­wi­der­steh­li­che Grüb­chen, so­bald er lä­chel­te, so wie jetzt. Die­ses Ge­sicht war nach ih­rem Da­für­hal­ten ein Spie­gel sei­ner See­le. Es er­weck­te Ver­trau­en bei de­nen, die ihm be­geg­ne­ten, ob nun Mensch und El­fe. An­na konn­te es gar nicht ab­war­ten, ih­re Hän­de in sei­ne wir­ren dun­kel­brau­nen Lo­cken, die von fei­nen ma­ha­go­ni­fa­r­be­nen Sträh­nen durch­zo­gen wur­den, zu ver­gra­ben.

Sie war ihm ver­fal­len, oh­ne Wenn und Aber. De­ment­ge­gen schlen­der­te sie be­tont ge­mäch­lich auf ihn zu und spiel­te un­ter­des­sen ge­dan­ken­ver­lo­ren mit ih­rer Ket­te samt weiß­gol­de­nem Me­dail­lon. Vik­tor hat­te ihr den Schmuck im ver­gan­ge­nen Au­gust zum sieb­zehn­ten Ge­burts­tag ge­schenkt.

Au­gen­blick­lich dach­te sie an die­sen Tag zu­rück, an dem sie zum ers­ten Mal mit ihm ge­schla­fen hat­te. Sie dach­te au­ßer­dem an sei­nen ers­ten zärt­li­chen Kuss im Som­mer, im Wald.

Ver­fal­len war sie ihm al­ler­dings be­reits seit der ers­ten Se­kun­de. Seit dem Mo­ment, an dem sie träu­mend auf ih­rer Lich­tung un­ter der Bir­ke ge­ses­sen, er mit ei­nem Mal da­ge­stan­den hat­te, in sei­nem Son­nen­strahl, und sie nach ih­rer Bril­le frag­te, die sie an die­sem Tag nicht trug.

An­nas Herz mach­te nach wie vor Hüp­fer, wenn sie dar­an oder über­haupt an ihn dach­te.

»Gott, war das auf­re­gend. Er ist so schön. Da­mals hät­te ich nie ge­dacht, dass er mich lie­ben könn­te. Aber er tut es. Er liebt mich.«

Ein war­mes Lä­cheln hell­te Vik­tors Zü­ge auf. Es war sein spe­zi­el­les Lä­cheln, das nur ihr galt und das sie so fas­zi­nier­te, weil sich dann die­se Grüb­chen auf sei­nen Wan­gen ver­tief­ten, was sein Ant­litz noch reiz­vol­ler mach­te.

Er trat wie­der auf sie zu, um­fass­te ihr Kinn, um sie sanft zu küs­sen.

»Sag mal, bist du so in dei­ne Grü­belei­en ver­tieft, dass du nicht ein­mal mein Klin­geln ge­hört hast? Du hast dich kein biss­chen ver­schlos­sen, Klei­nes. Hhm, ei­gent­lich müss­te ich rot wer­den bei dem, was du so über mich denkst. Aber du kennst mich ja. Ich kann, bis auf dei­ne lei­sen Zwei­fel, gut da­mit le­ben, denn ich lie­be dich auch und du ge­hörst mir.«

Er gab ihr einen wei­te­ren Kuss, schob sie da­nach er­neut et­was von sich, um sie ein­ge­hend zu be­trach­ten. »Wie geht es dir?«, er­kun­dig­te er sich. »Wie war dei­ne Fahr­stun­de?«

Sein mus­tern­der Blick ver­deut­lich­te An­na, dass Vik­tor mit die­ser Fra­ge nicht nur auf den Fahr­un­ter­richt ab­ziel­te. Ei­gent­lich sorg­te er sich eher we­gen der am kom­men­den Mon­tag an­ste­hen­den Ge­richts­ver­hand­lung. Im Au­gen­blick je­doch konn­te und woll­te sie nicht dar­über nach­den­ken, schon gar nicht dar­über spre­chen.

Des­halb nahm sie sein Ab­len­kungs­an­ge­bot dan­kend an und wet­ter­te wild ges­ti­ku­lie­rend drauf los: »Als wenn du das nicht wüss­test! Du hast doch si­cher­lich mit­be­kom­men, dass es wie­der mal ei­ne Ka­ta­s­tro­phe war. Frau Si­mon hat ein­deu­tig mehr Ge­duld als ir­gend­ein an­de­rer Mensch auf die­ser Welt, wenn sie das mit mir aus­hält. Ich an ih­rer Stel­le wä­re schrei­end aus dem Au­to ge­stürzt. Die muss Ner­ven wie Draht­sei­le ha­ben.«

Mit ei­nem Schmoll­mund trat sie auf ihn zu, um­schlang sei­ne Tail­le und schmieg­te sich an sei­ne Brust. »Ich kom­me mit die­sem gan­zen Au­to-Zeugs ein­fach nicht zu­recht.«

Er leg­te trös­tend den Arm um sie und schwieg. Sie wuss­te, dass er, falls über­haupt, ein­zig auf den Fahr­un­ter­richt, nicht aber auf die Ver­hand­lung ein­ge­hen wür­de.

»Heu­te ha­be ich drei­mal den Schei­ben­wi­scher ein­ge­schal­tet, als ich blin­ken woll­te«, be­klag­te sie sich, wor­auf­hin er sich ein lei­ses La­chen nicht ver­knei­fen konn­te. »Ja­ja, mein hal­bel­fi­scher Prinz, mach dich nur lus­tig über mich. Du wirst schon se­hen, was du da­von hast. Von we­gen: nächt­li­che Ve­nus­flie­gen­fal­le, he! Wenn du so wei­ter­machst, kannst du das kni­cken, dann gibt es nichts wei­ter als ein mick­ri­ges Gän­se­b­lüm­chen.«

»Aua! Hey, das war ein Schlag un­ter die Gür­tel­li­nie, Sü­ße.« Sein ge­spiel­ter Schock wich ei­nem fre­chen Grin­sen. »Ach was, du er­schreckst mich da­mit nicht, denn du schaffst es ja gar nicht, dich mir zu ent­zie­hen.« Er­neut hob er mit ei­ner Hand ihr Kinn. »Du kannst näm­lich dei­ne Fin­ger nicht von mir las­sen.«

»Du bist ein rich­ti­ger Blöd­mann.«

»Viel­leicht soll­te ich dich bei dei­ner nächs­ten Fahr­stun­de doch noch mal un­ter­stüt­zen«, lenk­te Vik­tor sie wei­ter­hin ab.

»Bloß nicht!«, pro­tes­tier­te sie. »Das war schon beim letz­ten Mal ge­ra­de­zu ein De­sas­ter. Du weißt ge­nau, dass du mich to­tal aus dem Kon­zept bringst, wenn du ver­suchst, mich ge­dank­lich zu be­ein­flus­sen. Nein, nein, ich muss das selbst schaf­fen. Ich muss mei­ne Ner­vo­si­tät un­be­dingt in den Griff krie­gen. Vor den Klau­su­ren schaf­fe ich das ja schließ­lich auch.«

»Du hast so viel zu tun, Klei­nes. Die Schu­le, die Lern­grup­pe, die nächs­ten Klau­su­ren, da­zu noch die Fahr­prü­fung.« Den Pro­zess er­wähn­te er wohl­weiß­lich nicht. »Da soll­test du dir die­ses Wo­chen­en­de mal ein biss­chen Ru­he gön­nen.« Zärt­lich strich er mit dem Mund über ih­re Lip­pen. »Wie wär‘s mit ei­nem kö­nig­li­chen Spa-Wo­chen­en­de im Schloss. Vi­tus und Lo­a­na wür­den sich freu­en. Sen­tran will Le­na mor­gen auch ab­ho­len.«

»Vi­tus und Lo­a­na sind zu­rück?« Ih­re Stim­mung hell­te sich merk­lich auf.

»Na, dan­ke«, er­wi­der­te Vik­tor ge­spielt mür­risch. »So fröh­lich soll­test du nur gu­cken, wenn du an mich denkst und nicht bei dem Ge­dan­ken an mei­nen Pa­pa und sei­ne frisch­ge­ba­cke­ne Ehe­frau.«

»Quatsch­kopf.« Sie knuff­te ihm leicht in die Rip­pen. »Wie geht es ih­nen? Wie geht es Lo­a­na? Sieht man schon was?«

»Das wirst du doch bald selbst fest­stel­len kön­nen. – Al­so gut«, füg­te er ei­lig hin­zu, als An­na ih­re Hän­de in die Hüf­ten stemm­te und ihn aus ih­ren hel­len Sa­phi­rau­gen auf­for­dernd an­blitz­te. »In ihr Braut­kleid wird sie der­zeit de­fi­ni­tiv nicht mehr rein­pas­sen. Es ist er­staun­lich, wie die Schwan­ger­schaft sie in den letz­ten drei Wo­chen ver­än­dert hat. Sie trägt ei­ne rich­ti­ge klei­ne Ku­gel vor sich her. Klein und rund.« Vik­tor wur­de nach­denk­lich. »Vi­tus ist wie­der ein­mal im Zwie­spalt. Ei­ner­seits kann er es kaum ab­war­ten, aber dann …«

Er be­en­de­te den Satz nicht, schau­te ver­le­gen an An­na vor­bei und sie wuss­te wes­we­gen.

… Auch Vik­tors Mut­ter, ei­ne Men­schen­frau na­mens Ve­ro­ni­ka Mül­ler, hat­te Zwil­lin­ge von Vi­tus er­war­tet, war al­ler­dings vor neun­zehn Jah­ren di­rekt nach der Ge­burt von Vik­tor und sei­ner Schwes­ter Vik­to­ria ge­stor­ben. Ob das ge­sch­ah, weil sie ein Mensch war, oder es einen an­de­ren Grund da­für gab, wuss­te nie­mand. Selbst Vi­tus, der Ve­ro­ni­ka un­end­lich lieb­te, war nicht in der La­ge ge­we­sen, ihr zu hel­fen, ob­wohl er schon da­mals mäch­ti­ge über­sinn­li­che Kräf­te be­saß.

Ve­ro­ni­ka war ein­fach von ihm ge­gan­gen und hat­te ihn mit sei­nen bei­den Kin­dern al­lein­ge­las­sen. …

Kein Wun­der, dass Vik­tor, wenn er nun Lo­a­na sah, hin und wie­der schmerz­lich an sei­ne ver­stor­be­ne Mut­ter er­in­nert wur­de. Und kein Wun­der, dass Vi­tus ab und zu in Pa­nik ge­ri­et, wes­halb er es häu­fig mit sei­ner Für­sor­ge ge­gen­über Lo­a­na über­trieb. Die wuss­te um sei­ne Ängs­te, wes­we­gen sie die­se Für­sor­ge ge­dul­dig zuließ.

An­na leg­te ih­re Wan­ge an Vik­tors, was nur mög­lich war, in­dem sie sich auf die Ze­hen­spit­zen stell­te und sei­nen Kopf zu sich her­ab­zog.

»Wir könn­ten dein Ta­blet mit ins Schloss neh­men und uns dort ein paar Vi­de­os von dei­ner Ma­ma an­se­hen. Du hast sie al­le di­gi­ta­li­sie­ren las­sen, aber im­mer noch nicht kom­plett an­ge­schaut. Viel­leicht wä­re es gut, sie la­chen zu se­hen«, mein­te sie lei­se.

»Ja, das könn­ten wir tun.« Nach­dem er noch ein­mal kräf­tig durch­ge­at­met hat­te, sah er An­na freu­de­strah­lend an. »Komm, Sü­ße, sa­gen wir dei­nen El­tern kurz Tschö und hau­en dann ab.« Er grins­te schon wie­der. »Ich krie­ge das Bild von dir als Ve­nus­fal­le ein­fach nicht mehr aus dem Kopf.«

»Ve­nus-flie­gen-fal­le!«

»Mei­net­we­gen.«

***

We­ni­ger als zwei Stun­den spä­ter saß Vik­tor ge­mein­sam mit An­na, Vi­tus und Lo­a­na im klei­nen Ka­min­zim­mer des Schlos­ses. Nicht dass die­ses Zim­mer wirk­lich klein war. Nur in An­be­tracht manch an­de­rer Räu­me des rie­si­gen Ge­mäu­ers konn­te man es als re­la­tiv klein be­zeich­nen. Vik­tor moch­te den Raum. Er fand ihn mit sei­nen ge­dämpf­ten Fa­r­ben, den be­que­men Ses­seln und hüb­schen Holz­tisch­chen, auf de­nen man beim Ge­spräch sein Ge­tränk ab­stel­len konn­te, rund­her­um ge­müt­lich.

Ein­zi­ger Blick­fang ne­ben dem Ka­min war ein gro­ßes be­ein­dru­cken­des Ge­mäl­de, das di­rekt über dem wei­ßen Mar­mor des Ka­min­sim­ses prang­te:

Es zeig­te lo­dern­des Feu­er mit zün­geln­den Flam­men in­mit­ten ei­nes wild to­sen­den Stur­mes, das durch die Wahl al­ler mög­li­chen Rottö­ne und -schat­tie­run­gen die im­men­se Macht die­ser Na­tur­ge­wal­ten aus­drück­te. Trotz­dem do­mi­nier­te ein dar­in ver­bor­ge­nes, den­noch deut­lich zu er­ken­nen­des Ge­sicht – Lo­a­nas Ge­sicht, das, un­ge­ach­tet der grün-bläu­lich an­ge­leg­ten Fa­rb­wahl, ei­ne un­ge­heu­er wär­me­n­de Kraft und Gü­te ausstrahl­te. Wenn man ganz ge­nau hin­sah, konn­te man in Lo­a­nas Pu­pil­len so­gar Vi­tus er­ken­nen.

Die­ses Bild hat­te Vik­to­ria für ih­ren Va­ter ge­malt, da­mit der es sei­ner Braut zur Hoch­zeit schenk­te. Vik­tor fand, dass sich sei­ne Schwes­ter mit dem aus­drucks­star­ken, be­rüh­ren­den Bild selbst über­trof­fen hat­te und recht dar­an tat, ihr Kunst­stu­di­um in Düs­sel­dorf fort­zu­set­zen.

Wäh­rend er noch über das Ge­mäl­de sin­nier­te, rub­bel­te er mit ei­nem Tuch An­nas lan­ges gold­blon­des Haar tro­cken. Denn an die­sem Tag herrsch­te aus­nahms­wei­se sehr schlech­tes Wet­ter im El­fen­land. Es war kalt und goss wie aus Kü­beln. Weil man bei den El­fen üb­li­cher­wei­se zu Pfer­de un­ter­wegs war an­statt in ei­nem schüt­zen­den Au­to oder Ähn­li­chem, wa­ren sie bei­de pit­sch­nass im Schloss ein­ge­trof­fen.

… Sei­ne El­fen­welt exis­tier­te par­al­lel zu je­ner der Men­schen und konn­te aus­schließ­lich über ge­hei­me Ein­gän­ge er­reicht wer­den. Au­ßer­dem wa­ren vie­le zu­sätz­li­che Por­ta­le zu durch­que­ren, um zum Bei­spiel zum kö­nig­li­chen Schloss zu ge­lan­gen. Da­zu be­nö­tig­te man nicht nur die pas­sen­den Schlüs­sel­wor­te. Auf Rei­sen über Land war es zu­dem rat­sam, ein el­fi­sches Pferd zu be­sit­zen, das einen si­cher zu den oft weit von­ein­an­der ent­fern­ten El­fen­or­ten trug.

Selbst wenn er mit An­na auf sei­nem schnee­wei­ßem Pferd Ari­el­la ritt, brauch­ten sie fast im­mer ei­ne vol­le Stun­de, um zum Schloss zu ge­lan­gen. Und das, ob­wohl sein Haus di­rekt am Ein­gang zum El­fen­reich lag.

Auch An­nas Wald be­fand sich nah am Ein­gang, was sie da­mals, als Vik­tor sie an­sprach, na­tür­lich noch nicht wis­sen konn­te. Aber al­lein die­ser Um­stand hat­te ihn zu An­na ge­bracht, als er sei­ner­zeit die dor­ti­ge Ge­gend zu er­kun­den be­gann, da­bei das hüb­sche träu­men­de Mäd­chen auf der Lich­tung ent­deck­te und sich so­fort in ih­re Schön­heit, ih­re Träu­me und in sie ver­lieb­te.

Sie war sehr klein und zier­lich. El­fen­gleich, wür­den die Men­schen sa­gen. Hin­ter ei­ner schlich­ten Bril­le blick­ten ver­träum­te, be­tö­rend hell­blaue Au­gen, die Vik­tor an die hel­len Sa­phi­re der Edel­stein­mi­ne sei­nes On­kels Estra er­in­ner­ten. Ih­re zar­te Por­zel­lan­haut schim­mer­te hauch­fein ro­sa, wenn sie sich auf­reg­te. Das pas­sier­te so­gar manch­mal wäh­rend ih­rer Träu­me. Sie schien un­ter­des­sen wohl all­zu sehr ab­zu­schwei­fen, sprach da­bei ih­re Vi­si­o­nen und Wün­sche laut aus. Das ver­wirr­te ihn. So­wohl ih­re Wor­te als auch ihr reiz­vol­ler ro­ter Mund, des­sen Lip­pen sich so sinn­lich be­weg­ten.

Seit er sie dann ei­nes Ta­ges an­ge­spro­chen hat­te, wa­ren sie ein Paar. Seit­dem und für ewig! …

»Du soll­test mein An­ge­bot an­neh­men, An­na«, mein­te Vi­tus ernst, als er ihr feuch­tes Haar be­trach­te­te.

Beim An­blick des vor Näs­se trie­fen­den Paa­res hat­te er den Ka­min al­lein mit dem Schnip­pen sei­ner Fin­ger ent­zün­det. Nun pras­sel­te es fröh­lich und wohl­tu­end wär­me­nd vor sich hin.

»Ger­tus ist ein ru­hi­ges, bra­ves Pferd. Et­was klein ge­ra­ten, den­noch wen­dig, schnell und treu. Mein Ritt­meis­ter hat es mir für dich emp­foh­len. Es wä­re op­ti­mal. Du und Vik­tor, ihr wärt be­stimmt mehr als ei­ne Vier­tel­stun­de frü­her hier im Schloss, wenn du mit dei­nem ei­ge­nen Pferd rei­sen wür­dest.«

»Dan­ke, Vi­tus«, gab An­na matt zur Ant­wort, »aber ich hab halt im­mer noch rie­si­gen Re­spekt vor den Tie­ren. Ich bin‘s nicht ge­wohnt und hab nie rei­ten ge­lernt.«

Vi­tus lä­chel­te. »An­na, du musst nicht ler­nen, auf ei­nem El­fen­pferd zu rei­ten. Es muss dich nur ken­nen. Den Rest macht es ein­fach selbst.«

»Ihr habt gut re­den, ihr El­fen. Ihr seid al­le to­tal groß und stark. Des­halb habt ihr kein Pro­blem da­mit, auf den brei­ten Rü­cken ei­nes sol­chen Rie­sen zu sprin­gen. – Oh, ent­schul­di­ge, Lo­a­na. Es gibt na­tür­lich Aus­nah­men.«

Schmun­zelnd re­gis­trier­te Vik­tor, dass die für An­na so ty­pi­sche Rö­te bei ihr auf­stieg, und das, wo er ge­ra­de noch ge­nau dar­über nach­ge­dacht hat­te. Sie war sicht­lich ver­le­gen, hat­te sie doch au­ßer Acht ge­las­sen, dass Lo­a­na nur ein paar Zen­ti­me­ter grö­ßer war als sie selbst. Ei­ne wirk­li­che Sel­ten­heit in der El­fen­welt. In der Re­gel wa­ren El­fen eher groß.

Lo­a­na lach­te hell auf. »Du brauchst nicht rot zu wer­den, An­na. Ich bin halt was klei­ner, ge­nau wie De­n­a­ra. Das macht mir nichts aus.«

Lo­a­na nipp­te ge­ni­e­ße­risch an ih­rer Tas­se. Es war al­len be­kannt, wie sehr sie ih­ren Kaf­fee lieb­te. Das um­so mehr, seit­dem Vi­tus der Auf­fas­sung war, er könn­te viel­leicht schäd­lich für sie und die Ba­bys sein, wes­halb er ih­ren Kaf­fee­kon­sum seit ei­ni­ger Zeit ra­tio­nier­te.

»Es ist nicht schwer, auch für uns Klei­ne, auf einen Pfer­de­rü­cken zu kom­men. Das kannst du ler­nen. Vi­tus hat recht, An­na. Al­les Üb­ri­ge über­nimmt das Tier. Ver­such es doch mal.« Nach ei­nem wei­te­ren Schlü­ck­chen stell­te sie die Tas­se ab. »Du be­sitzt al­le Schlüs­sel, um hier­her­zu­ge­lan­gen. So könn­test du al­lei­ne an­rei­sen, wenn Vik­tor ein­mal kei­ne Zeit hat, dich ab­zu­ho­len. Was meinst du?«

An­na seufz­te.

»Oh je! – Au­to­fah­ren. Rei­ten. – Al­les nicht mei­ne Welt!«

Lau­tes Ge­läch­ter brach aus, denn sie hat­te wie­der ein­mal ver­ges­sen, ih­ren Geist zu ver­schlie­ßen. Das pas­sier­te ihr häu­fig. Zu ih­rem Leid­we­sen konn­ten die El­fen dann in ihr le­sen wie in ei­nem of­fe­nen Buch.

»Wir pro­bie­ren es nach­her mal aus, Sü­ße«, schlug Vik­tor im­mer noch la­chend vor. »Au­ßer­dem, was heißt hier: Ihr El­fen? Ich bin nur ein hal­ber El­fe und ha­be kei­ne Pro­ble­me. Und du bist schließ­lich auch kein rein­blü­ti­ger Mensch, son­dern hast selbst je­de Men­ge El­fen­blut in dir. Al­so, mach dich nicht im­mer so ver­rückt.«

»Dar­an muss ich mich halt noch ge­wöh­nen. Ich weiß ja erst seit Kur­z­em, dass ich einen El­fe­no­pa hat­te. Wer weiß, ob ich so was kann? – Ach, Mist! Wie­der den Geist nicht ver­schlos­sen!«

Je­der wuss­te, dass Vi­tus falsche Be­schei­den­heit ent­schie­den ge­gen den Strich ging und des­we­gen un­ge­hal­ten re­a­gie­ren konn­te. Zu Vik­tors Er­leich­te­rung lä­chel­te sein Va­ter freund­lich. »Du liest Ge­dan­ken und ent­wi­ckelst stän­dig mehr em­pha­ti­sche Fä­hig­kei­ten, An­na. Wie­so hast du im­mer noch Zwei­fel an dir? Schau dir Vik­tor an. Er ist in­zwi­schen kaum von ei­nem Voll­blu­tel­fen zu un­ter­schei­den. Ge­ra­de ges­tern erst hat er nicht nur Blit­ze vom Him­mel ge­holt. Nein, er hat ein gan­zes Ge­wit­ter samt hef­ti­gem Sturm ge­ru­fen.«

Grin­send sah er Vik­tor kurz an. »Ich war na­tür­lich nicht da­bei. Wir wa­ren ja noch auf der Rü­ck­rei­se. Aber ich ha­be es deut­lich ge­spürt. Vik­tor war ziem­lich mies ge­launt, weil er dich ges­tern nicht se­hen konn­te, An­na. Hier im Schloss gab es ein­fach zu viel zu tun. Da ist es mit ihm durch­ge­gan­gen und …«

»Al­so wirk­lich, Va­ter«, fuhr Vik­tor da­zwi­schen.

Doch Vi­tus hob ge­bie­te­risch die Hand. »Du musst noch ler­nen, dich zu zü­geln, Vik­tor. Es macht mich trotz­dem stolz, dass du es kannst. Was du al­les ge­lernt hast, seit du An­na kennst, ist nun mal er­staun­lich. Und auch An­na lernt sehr viel, ge­nau wie ih­re Ge­schwis­ter und Vik­to­ria. Das er­füllt mich mit gro­ßer Freu­de.«

»Ich dach­te im­mer, es liegt an Vi­tus, dass Vik­tor so viel ge­lernt hat. Es kann doch nicht an mir lie­gen!«

»An­na, du un­ter­schätzt dich und dei­nen ani­mie­ren­den Ein­fluss auf Vik­tor maß­los. Ihr liebt euch. Die­se Lie­be, üb­ri­gens auch die kör­per­li­che, be­flü­gelt euch so­zu­sa­gen. Das ist sti­mu­lie­rend für eu­re Fä­hig­kei­ten.«

Vik­tor sah sei­nen Va­ter lä­cheln, weil der An­nas er­neut auf­kom­men­de Rö­te ge­nau­so wahr­nahm wie er. Aber im Ge­gen­satz zu ihm be­rei­te­te es Vi­tus stets größ­tes Ver­gnü­gen, sie in Ver­le­gen­heit zu brin­gen. Ob­wohl An­na das be­kannt war, sah sie sich nie in der La­ge, in sol­chen Si­tua­ti­o­nen die Fas­sung zu wah­ren. So war es ei­ne lo­gi­sche Fol­ge, dass Vi­tus nicht wi­der­ste­hen konn­te, noch eins drauf­zu­set­zen: »Du wirst ei­nes Ta­ges ei­ne wun­der­vol­le Kö­ni­gin sein, An­na.«

»Ogot­to­gott, nicht im­mer die­ses blö­de Kö­ni­ginn­en­the­ma! Da­von wird mir schlecht, ogot­to­gott!«

»Lass sie in Ru­he«, schimpf­te Lo­a­na. »Du weißt, dass ihr dein Ge­re­de da­von Angst macht. An­na ist erst sieb­zehn. Be­stimmt hat sie zur­zeit an­de­re Plä­ne, als Kö­ni­gin des west­li­chen El­fen­rei­ches zu wer­den. Du be­nimmst dich manch­mal wie ein Plus­ter­geist!«

»Wie ein was?«, frag­te Vi­tus ent­geis­tert.

Jetzt lach­te Vik­tor mit An­na um die Wet­te, da Lo­a­na auf­grund ih­rer bre­to­ni­schen Her­kunft ab und an die Wor­te ver­dreh­te. Be­son­ders bei Flü­chen, Schimpf­wör­tern und Re­dens­ar­ten be­kam sie man­ches Mal Schwie­rig­kei­ten. Ei­gent­lich hat­te sein Va­ter trotz­dem kei­ne Ver­stän­di­gungs­pro­ble­me mit ihr, konn­te je­doch mit die­sem »Plus­ter­geist« ganz of­fen­kun­dig nichts an­fan­gen. So stand ihm mehr als nur ein Fra­ge­zei­chen auf der Stirn ge­schrie­ben, was Vik­tor die Lachträ­nen in die Au­gen trieb.

»Sie meint Pol­ter­geist, Pa­pa«, brach­te er prus­tend her­vor. »Ich hab ihr mal da­von er­zählt, dass man­che Men­schen an Geis­ter, auch an Pol­ter­geis­ter glau­ben und dar­über so­gar Fil­me dre­hen.«

Er wand­te sich Lo­a­na zu. »Plus­ter­geist passt nicht so gut zu ihm, Lo­a­na. Da hat mir dein ro­hes Klotz­holz, wie du ihn schon mal be­zeich­net hast, be­deu­tend bes­ser ge­fal­len.«

»Ge­nau, du bist und bleibst ein gro­ber Klotz, Kö­nig Vi­tus!«, brach­te Lo­a­na ih­re Schimpf­ti­ra­de zu En­de, oh­ne das Ge­läch­ter der an­de­ren groß zu be­ach­ten.

Sie trank da­nach ein­fach mit Ge­nuss ih­re Tas­se leer und woll­te sich ge­ra­de nach­schen­ken, als Vi­tus ei­ne Hand auf die Kan­ne leg­te.

»Trink jetzt lie­ber Kräu­ter­tee, Ke­ned. Sonst wird dir viel­leicht übel.«

Lo­a­na seufz­te schwer, nick­te aber zu­stim­mend und muss­te re­si­gniert mit an­se­hen, wie die tüch­ti­ge Die­ne­rin Eti­ta Se­kun­den spä­ter ein­trat, um den Tee zu ser­vie­ren.

»Al­so gut«, gab Vi­tus sich zu­frie­den, als er sah, wie Lo­a­na einen Schluck vom Tee nahm, »ge­nug von dem Kö­nigs­the­ma. Statt­des­sen könn­ten wir euch ein biss­chen von un­se­rer Rei­se er­zäh­len. Lo­a­na ist ei­ne be­gna­de­te Seg­le­rin, müsst ihr wis­sen. Man merkt so­fort, dass sie an der Küs­te auf­ge­wach­sen ist.«

Er nahm die Hand sei­ner Frau und strich zart mit den Lip­pen dar­über.

»Na ja«, mein­te Lo­a­na zu­rück­hal­tend, »viel konn­ten mir mei­ne El­tern nicht bei­brin­gen. Sie sta­r­ben ja früh. Und wäh­rend mei­ner Jah­re im Heim ha­be ich das Meer kaum zu Ge­sicht be­kom­men. Aber da­nach ha­be ich ein paar Jah­re als Fi­sche­rin ge­ar­bei­tet. Das war herr­lich. Da­bei lern­te ich Tan­guy ken­nen, be­vor wir zu sei­ner Fa­mi­lie zo­gen.«

… Vik­tor sah Lo­a­na an, dass sie ei­gent­lich nicht über Tan­guy hat­te spre­chen wol­len. Sein Na­me war ihr ein­fach so her­aus­ge­rutscht. Meist er­wähn­te sie ihn nicht. Die Er­in­ne­rung tat ihr un­ver­kenn­bar weh. Lo­a­na hat­te Ver­gan­gen­heit samt Hei­mat hin­ter sich ge­las­sen. Sie hat­te einen Schluss­strich un­ter all das ge­zo­gen und war mit Vi­tus ge­gan­gen. Ih­re ge­sam­ten Län­de­rei­en hat­te sie Ewen, dem Bru­der ih­res ver­stor­be­nen Gat­ten, und des­sen Frau Ar­mel­li­ne über­las­sen. Seit­her war sie nie mehr dort­hin zu­rück­ge­kehrt.

Sie hat­te jetzt Vi­tus und sei­ne Lie­be. Das reich­te ihr voll und ganz. Was brauch­te sie mehr? Die bre­to­ni­sche See, die sie je­den Tag in Vi­tus‘ Au­gen sah, die hat­te sie den­noch hin und wie­der schmerz­lich ver­misst. …

Da auch Vi­tus ih­re Me­lan­cho­lie er­kann­te, strei­chel­te er Lo­a­nas Wan­ge. »Du bist ei­ne sehr gu­te Seg­le­rin und Fi­sche­rin. Das hast du mir ge­zeigt. Und du bist ganz be­son­ders schön, wenn du das Meer um dich hast, Ke­ned. Wir wer­den sol­che Rei­sen noch oft un­ter­neh­men, das ver­spre­che ich dir.«

Wäh­rend er in ih­re edel­stein­grü­nen Au­gen schau­te, wi­ckel­te er ver­son­nen ei­ne Sträh­ne ih­res ho­nig­blon­den Haars um sei­nen Fin­ger. »Jetzt lass uns den Kin­dern von un­se­rer Hoch­zeits­rei­se er­zäh­len.«

Sonnenwarm und Regensanft - Band 4

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