Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 5
Frühlingsgefühle
ОглавлениеLoana staunte nicht schlecht, als ihr frisch angetrauter Ehemann behände über die Reling sprang, um das Segelboot am Flussufer zu vertäuen.
Obwohl selbst Elfe, war es ihr immer wieder ein Vergnügen, seinen anmutigen und zudem blitzschnellen Bewegungen zu folgen, dabei das Muskelspiel unter seinem engen dunklen Hemd zu beobachten. Das schulterlange schwarze Haar wehte wild bei seinem Sprung, trotz des Regens. Eine Pose, die ihres Erachtens ausgesprochen gut zu Vitus passte.
Weil er sie danach mit einem für ihn so typischen intensiven Blick bedachte, wurde ihr erneut warm ums Herz. Sie liebte Viniestra Tusterus, genannt Vitus, König des westlichen Elfenreiches und ihr Ehegatte.
Ein leichtes Frösteln holte sie aus ihren Träumen. Sie rieb sich die Arme.
»Brrr, ist das kalt hier«, flüsterte sie und machte sich daran, auch von Bord zu gehen.
»Loana!« Vitus gab ihr einen flüchtigen Kuss, bevor er sie auf seine Arme hob. Sie musste automatisch blinzeln, denn dieses Mal war er zu schnell für ihre Augen gewesen. »Du solltest doch warten, bis ich wieder bei dir bin, meine Kened.«
Seit dem ersten Kennenlernen vor ein paar Monaten im Herbst nannte er sie so: Kened. Sie mochte diesen Kosenamen sehr, stammte er doch aus ihrer Heimat, der Bretagne, und bedeutete so viel wie Schönheit.
Liebevoll trug er sie auf der bereits angelegten Planke von Bord, stellte sie vorsichtig an Land auf die Füße und strich mit einer Hand über die Wölbung ihres Bauches, wobei er sie innig küsste.
»Willkommen zu Hause, meine Königin.« Dann hockte er sich nieder und legte den Kopf an ihren Bauch. »Und willkommen, ihr beiden. Könnt ihr wohl den Unterschied zwischen den schwankenden Dielen an Deck und dem festen Boden unter den Füßen eurer Mutter unterscheiden?«
Er sah zu ihr auf und sein Blick brachte sie zurück zur bretonischen See. Dort, an der Grenze zum südlichen Elfenreich, wo sie sich auf ihrer Rückkehr von der Hochzeitsreise noch einmal und dieses Mal ein wenig länger aufgehalten hatten. Vitus‘ Augen wiesen dieselbe Farbe auf wie dieses Meer, trugen damit ein Stück Heimat in ihre Seele:
… Loana verbarg den kleinen traurigen Seufzer, den ihr Herz tat, als sie die Segel setzten, um die Bretagne wieder zu verlassen und an der iberischen Küste weiter zu segeln.
Die elfischen Portale katapultierten sie in Windeseile zu traumhaften Häfen mit schneeweißen Gebäuden, deren kuppelartige Dächer golden in der Sonne glänzten. Fremde exotische Düfte lagen in der Luft. Die Farben muteten so milde warm und dennoch leuchtend an, wie sie die Sonne nur hier zaubern konnte.
Loana genoss es in vollen Zügen, mit Vitus durch die engen Gassen und über die geschäftigen Plätze des Elfenortes Pallamee zu spazieren. Einem Ort, wo es an jeder Ecke etwas Neues zu entdecken gab. Sie kaufte Kräuter und Gewürze auf dem Markt und eine wunderschöne Vase aus kunstvoll geblasenem Glas, in dessen irisierendem Widerschein alle Farben des Regenbogens schillerten.
Vitus ließ es sich nicht nehmen, sie in einen der zahlreichen Schmuckläden zu ziehen, um ihr dort eine kostbar gearbeitete Kette zu kaufen. Ein Schmuckstück, das sie mit seinen aufwendigen Ornamenten sowie kunstvoll eingelassenen Edelsteinen ihr restliches Leben lang an diese Hochzeitsreise erinnern würde.
Weil Vitus außer dem königlichen Amulett und seinem Ehering keinen Schmuck zu tragen pflegte, ließ Loana mit einem Mal seine Hand los, um geschwind in ein winzig kleines Krimskramsgeschäft zu huschen und kurz darauf mit einem Paar Leinenschuhen in grellen Farben und mit wirrem Zackenmuster wieder zu erscheinen. Zu ihrer Verblüffung zog er sie sofort an, und das, obwohl er wie so viele Elfenmänner Schuhen überhaupt nichts abgewinnen konnte. Dieses Exemplar wirkte derart grotesk komisch an seinen Füßen, dass beide noch lachten, als sie zurück an Bord waren.
Dort wich das Lachen augenblicklich wilden Küssen, innigen Liebesschwüren und aufwallender Leidenschaft. Diese Leidenschaft kannte keine Grenzen. Sie schenkte ihnen eine Erfüllung, von der sie hofften, dass sie stets ein wenig unerfüllt bliebe, damit sie sich stets noch mehr davon geben konnten.
An manchen Tagen verließen sie das Boot überhaupt nicht, genossen Sonnenaufgang wie auch -untergang gleichermaßen, liebten sich immer wieder und verwöhnten einander zwischendurch mit den Köstlichkeiten, die Wonu, der Koch und einzige Bedienstete, der sie begleitete, vorbereitet hatte.
Es war bis zu diesem Zeitpunkt wirklich eine durch und durch wundervolle Hochzeitsreise.
Trotzdem hob Vitus nach vierzehn Tagen Loanas Kinn an und musterte sie, bevor er ihr schlicht erklärte: »Auf geht‘s, Kened, zurück zur bretonischen Küste. Ich denke, dort gibt es noch so allerhand, was du mir gern zeigen möchtest.«
Wie gut er sie kannte, dachte Loana.
So verbrachten sie noch eine Woche an den Orten, an denen Loana vor langer Zeit mit ihren Eltern gelebt hatte, bevor diese bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen waren. Vitus‘ Vorschlag, auch ihren Schwager Ewen und dessen Frau Armelline zu besuchen, lehnte sie allerdings rundweg ab. Die Erinnerung an ihren ermordeten ersten Ehemann Tanguy schmerzte noch immer, weshalb sie die Gegend, in der sie mit ihm gelebt hatte, lieber mied.
Alles andere jedoch erfüllte ihr Herz mit reiner Freude. Wenn sie daran zurückdachte, konnte sie die salzige Luft schmecken und das Brausen des Meeres, die klagenden Schreie der Möwen hören. Es war, als wäre sie wieder klein und ihr Vater würde ihr zeigen, wie man die Segel raffte oder die Netze auswarf, während ihre Mutter sich um den letzten Fang kümmerte oder sie in die Heilkunst einwies.
Auch an Land hatte sie ihren Spaß, konnte sie Vitus doch noch einmal in aller Ruhe zeigen, wo auf dem schroffen Fels der Klippen die seltenen Kräuter wuchsen, von denen sie ihm schon so oft erzählt hatte. Sie nutzte die Gelegenheit, gleich einen Korb voll zu pflücken. Zudem grub sie ein paar besondere Exemplare aus, weil sie diese im heimischen Garten anpflanzen wollte. Natürlich half Vitus ihr dabei, denn seiner Meinung nach durfte seine schwangere Frau keine solch schwere Arbeit verrichten.
Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie mit dem Korb in der Hand auf den von Pflanzen übersäten Klippen über das tosende Meer schaute und der Wind an ihren Haaren zerrte. Trotzdem empfand sie es als Streicheln. Zum Abschied begleiteten Delfine und Möwen das Boot, während sie einen letzten Blick auf die sanft geschwungenen Dünen und malerischen Buchten warf, bevor das nächste Portal sie forttrug. …
Bei der Erinnerung an diesen spektakulären Ozean lächelte Loana, wusste sie doch, dass sie ihn jederzeit in den Augen ihres Mannes wiederfand. Noch einmal seufzte sie mit einem seligen Lächeln.
»Ja, wir sind wieder zu Hause.«
***
Annas Sehnsucht nach ihrer sommerlichen Lieblingsstelle im nahegelegenen Wald wuchs von Tag zu Tag. Der Gedanke an die kleine Lichtung mit der großen Birke, an dieses besondere Licht mit seinen Silber- und Goldreflexen, welches die Sonne dort in die grünen Bäume und den bemoosten Boden hineinwob, so wie sie es ausschließlich im Sommer vermochte, ließ sie nicht mehr los.
Allerdings war es jetzt im April noch viel zu früh für Sommersehnsucht. Außerdem ließ gerade in diesem Jahr der Frühling lange auf sich warten. Erst seit ein paar Tagen gab es endlich wieder Sonnenschein, nicht gerade viel und nur mäßig warm. Aber immerhin brachte er die Narzissen und Traubenhyazinthen, die Annas Mutter vier Wochen zuvor so liebevoll auf dem Balkon in Kübel gepflanzt hatte, doch noch zum Blühen. Auch die bereits verloren gedachten Vergissmeinnicht, Bellis und Primeln hatten sich aufgrund der wärmenden Sonnenstrahlen erholt und leuchteten wieder in fröhlichen Farben. Niemand aus der Familie hatte mehr damit gerechnet, dass sich überhaupt noch ein Fünkchen Leben in den Blumentrieben regte. Denn der späte Frost hatte selbst das Rheinland, und somit auch den Balkon der in der Nähe von Düsseldorf lebenden Familie Nell, über alle Maßen lang im eisigen Griff gehalten. Eine gefühlte Ewigkeit lang.
Nun stand Anna auf dem Balkon, ließ sich das Gesicht genießerisch von der Sonne bescheinen und dabei ihre Gedanken treiben. Obgleich die Erinnerung an die bittere Kälte und Nässe, die besonders am Tag des kalendarischen Frühlingsbeginns im gesamten Land geherrscht hatten, sie eigentlich frösteln lassen müsste, glitt ein Schmunzeln über ihre Lippen. Sie hatte in gar nicht so großer, dennoch unendlich weiter Entfernung, unter wärmender Frühlingssonne die Hochzeit des Vaters ihres heißgeliebten Freundes Viktor gefeiert. Eine ganz besondere Hochzeit. Eine Hochzeit im Elfenland.
… Am zwanzigsten März, zu Frühlingsbeginn, fand diese Hochzeit des Königs des westlichen Elfenreiches statt. Trotz der frühen Jahreszeit gaben sich Vitus und seine Braut Loana im Schlosspark unter duftig blühenden Kirschbäumen ihre Eheversprechen, wobei ein angenehm laues Frühlingslüftchen wehte.
Allein eine solche königliche Elfenhochzeit gemeinsam mit ihrer Familie mitzuerleben hatte Anna schon aufregend gefunden. Dass sie dann sogar Loana als eine der sechs Brautjungfern begleiten durfte, machte das Ganze für sie zu einem einmaligen, traumhaften Erlebnis. …
Bei dieser Erinnerung seufzte sie, da die Sehnsucht nach Wärme, Sommer, besonders dem speziellen Zauberlicht in ihrem Wald sie nicht losließ.
»Oh Gott, bald ist es ein Jahr her, ein ganzes Jahr! Was für ein wundervolles Jahr!«
Sie schloss selig die Augen.
»Wer hätte gedacht, dass ich mich innerhalb so kurzer Zeit derart verändern könnte? – Vom Mauerblümchen zur Sonnenblume!«
»Du warst niemals ein Mauerblümchen, Anna. Und du bist viel mehr als eine einfache Sonnenblume, meine Süße«, schlich sich Viktor in Annas Geist ein. »Du bist viel, viel mehr! Morgens bist du eine zarte Anemone, die man kaum zu berühren wagt. Dann aber erblühst du zur wilden Rose, mit dezentem Duft. Später erst erscheinst du mir wie eine Sonnenblume, strahlend hell, groß und stark. Tja, und in der Nacht, da mutierst du zur Venusfalle, schlägst mich immer wieder in deinen Bann und verschlingst mich mit Haut und Haaren.«
Viktors Worte in ihrem Kopf entlockten Anna ein Kichern.
»Wow, Viktor Müller, bist du unter die Lyriker gegangen? Wenn ja, dann eindeutig nur unter die elfischen! Gott, war das schwülstig! Und euer ›Son Calee‹ ist mit Sicherheit der einzige Elfendichter, dem bei diesem Vortrag speiübel geworden wäre! Außerdem meinst du sicherlich die Venus–fliegen-falle. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich mal mit einer kleinen Fliege vergleichst.«
Sie zuckte erschrocken zusammen, als er sie plötzlich zärtlich umfing. Zwar hatte sie deutlich seine Gedanken gespürt und gelesen, dabei allerdings nicht erkannt, dass er bereits direkt hinter ihr stand. Dieser verrückte halbelfische Königssohn, der sie zu Beginn der vergangenen Sommerferien auf ihrer Lichtung im Wald einfach angesprochen und ihr innerhalb weniger Sekunden nach allen Regeln der Kunst den Kopf verdreht hatte.
Immer noch zog sich Annas Herz beim Klang seiner dunklen Samtstimme und bei seinem Anblick zusammen. Immer noch hatte sie Schwierigkeiten, zu begreifen, dass er allein ihr gehörte, nur mit ihr zusammen sein wollte und sie unentwegt begehrte.
Mehr als einen ganzen furchtbar langen Tag hatte Anna ihn nicht gesehen. Deshalb freute sie sich sehr auf seine leuchtend dunkelblauen Augen, die sie stets so interessiert und gefühlvoll, zudem oft sinnlich anschauten, aus einem Gesicht wie gemalt. Langsam drehte sie sich zu ihm.
Viktor trat ein Stückchen zurück und stellte sich lächelnd vor sie: Groß, lässig die Arme vor der breiten Brust verschränkt, an die Balkontür gelehnt, sah er sie an. Genauso, wie Anna es sich vorgestellt hatte.
Auf seinem attraktiven Gesicht bildeten sich unwiderstehliche Grübchen, sobald er lächelte, so wie jetzt. Dieses Gesicht war nach ihrem Dafürhalten ein Spiegel seiner Seele. Es erweckte Vertrauen bei denen, die ihm begegneten, ob nun Mensch und Elfe. Anna konnte es gar nicht abwarten, ihre Hände in seine wirren dunkelbraunen Locken, die von feinen mahagonifarbenen Strähnen durchzogen wurden, zu vergraben.
Sie war ihm verfallen, ohne Wenn und Aber. Dementgegen schlenderte sie betont gemächlich auf ihn zu und spielte unterdessen gedankenverloren mit ihrer Kette samt weißgoldenem Medaillon. Viktor hatte ihr den Schmuck im vergangenen August zum siebzehnten Geburtstag geschenkt.
Augenblicklich dachte sie an diesen Tag zurück, an dem sie zum ersten Mal mit ihm geschlafen hatte. Sie dachte außerdem an seinen ersten zärtlichen Kuss im Sommer, im Wald.
Verfallen war sie ihm allerdings bereits seit der ersten Sekunde. Seit dem Moment, an dem sie träumend auf ihrer Lichtung unter der Birke gesessen, er mit einem Mal dagestanden hatte, in seinem Sonnenstrahl, und sie nach ihrer Brille fragte, die sie an diesem Tag nicht trug.
Annas Herz machte nach wie vor Hüpfer, wenn sie daran oder überhaupt an ihn dachte.
»Gott, war das aufregend. Er ist so schön. Damals hätte ich nie gedacht, dass er mich lieben könnte. Aber er tut es. Er liebt mich.«
Ein warmes Lächeln hellte Viktors Züge auf. Es war sein spezielles Lächeln, das nur ihr galt und das sie so faszinierte, weil sich dann diese Grübchen auf seinen Wangen vertieften, was sein Antlitz noch reizvoller machte.
Er trat wieder auf sie zu, umfasste ihr Kinn, um sie sanft zu küssen.
»Sag mal, bist du so in deine Grübeleien vertieft, dass du nicht einmal mein Klingeln gehört hast? Du hast dich kein bisschen verschlossen, Kleines. Hhm, eigentlich müsste ich rot werden bei dem, was du so über mich denkst. Aber du kennst mich ja. Ich kann, bis auf deine leisen Zweifel, gut damit leben, denn ich liebe dich auch und du gehörst mir.«
Er gab ihr einen weiteren Kuss, schob sie danach erneut etwas von sich, um sie eingehend zu betrachten. »Wie geht es dir?«, erkundigte er sich. »Wie war deine Fahrstunde?«
Sein musternder Blick verdeutlichte Anna, dass Viktor mit dieser Frage nicht nur auf den Fahrunterricht abzielte. Eigentlich sorgte er sich eher wegen der am kommenden Montag anstehenden Gerichtsverhandlung. Im Augenblick jedoch konnte und wollte sie nicht darüber nachdenken, schon gar nicht darüber sprechen.
Deshalb nahm sie sein Ablenkungsangebot dankend an und wetterte wild gestikulierend drauf los: »Als wenn du das nicht wüsstest! Du hast doch sicherlich mitbekommen, dass es wieder mal eine Katastrophe war. Frau Simon hat eindeutig mehr Geduld als irgendein anderer Mensch auf dieser Welt, wenn sie das mit mir aushält. Ich an ihrer Stelle wäre schreiend aus dem Auto gestürzt. Die muss Nerven wie Drahtseile haben.«
Mit einem Schmollmund trat sie auf ihn zu, umschlang seine Taille und schmiegte sich an seine Brust. »Ich komme mit diesem ganzen Auto-Zeugs einfach nicht zurecht.«
Er legte tröstend den Arm um sie und schwieg. Sie wusste, dass er, falls überhaupt, einzig auf den Fahrunterricht, nicht aber auf die Verhandlung eingehen würde.
»Heute habe ich dreimal den Scheibenwischer eingeschaltet, als ich blinken wollte«, beklagte sie sich, woraufhin er sich ein leises Lachen nicht verkneifen konnte. »Jaja, mein halbelfischer Prinz, mach dich nur lustig über mich. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Von wegen: nächtliche Venusfliegenfalle, he! Wenn du so weitermachst, kannst du das knicken, dann gibt es nichts weiter als ein mickriges Gänseblümchen.«
»Aua! Hey, das war ein Schlag unter die Gürtellinie, Süße.« Sein gespielter Schock wich einem frechen Grinsen. »Ach was, du erschreckst mich damit nicht, denn du schaffst es ja gar nicht, dich mir zu entziehen.« Erneut hob er mit einer Hand ihr Kinn. »Du kannst nämlich deine Finger nicht von mir lassen.«
»Du bist ein richtiger Blödmann.«
»Vielleicht sollte ich dich bei deiner nächsten Fahrstunde doch noch mal unterstützen«, lenkte Viktor sie weiterhin ab.
»Bloß nicht!«, protestierte sie. »Das war schon beim letzten Mal geradezu ein Desaster. Du weißt genau, dass du mich total aus dem Konzept bringst, wenn du versuchst, mich gedanklich zu beeinflussen. Nein, nein, ich muss das selbst schaffen. Ich muss meine Nervosität unbedingt in den Griff kriegen. Vor den Klausuren schaffe ich das ja schließlich auch.«
»Du hast so viel zu tun, Kleines. Die Schule, die Lerngruppe, die nächsten Klausuren, dazu noch die Fahrprüfung.« Den Prozess erwähnte er wohlweißlich nicht. »Da solltest du dir dieses Wochenende mal ein bisschen Ruhe gönnen.« Zärtlich strich er mit dem Mund über ihre Lippen. »Wie wär‘s mit einem königlichen Spa-Wochenende im Schloss. Vitus und Loana würden sich freuen. Sentran will Lena morgen auch abholen.«
»Vitus und Loana sind zurück?« Ihre Stimmung hellte sich merklich auf.
»Na, danke«, erwiderte Viktor gespielt mürrisch. »So fröhlich solltest du nur gucken, wenn du an mich denkst und nicht bei dem Gedanken an meinen Papa und seine frischgebackene Ehefrau.«
»Quatschkopf.« Sie knuffte ihm leicht in die Rippen. »Wie geht es ihnen? Wie geht es Loana? Sieht man schon was?«
»Das wirst du doch bald selbst feststellen können. – Also gut«, fügte er eilig hinzu, als Anna ihre Hände in die Hüften stemmte und ihn aus ihren hellen Saphiraugen auffordernd anblitzte. »In ihr Brautkleid wird sie derzeit definitiv nicht mehr reinpassen. Es ist erstaunlich, wie die Schwangerschaft sie in den letzten drei Wochen verändert hat. Sie trägt eine richtige kleine Kugel vor sich her. Klein und rund.« Viktor wurde nachdenklich. »Vitus ist wieder einmal im Zwiespalt. Einerseits kann er es kaum abwarten, aber dann …«
Er beendete den Satz nicht, schaute verlegen an Anna vorbei und sie wusste weswegen.
… Auch Viktors Mutter, eine Menschenfrau namens Veronika Müller, hatte Zwillinge von Vitus erwartet, war allerdings vor neunzehn Jahren direkt nach der Geburt von Viktor und seiner Schwester Viktoria gestorben. Ob das geschah, weil sie ein Mensch war, oder es einen anderen Grund dafür gab, wusste niemand. Selbst Vitus, der Veronika unendlich liebte, war nicht in der Lage gewesen, ihr zu helfen, obwohl er schon damals mächtige übersinnliche Kräfte besaß.
Veronika war einfach von ihm gegangen und hatte ihn mit seinen beiden Kindern alleingelassen. …
Kein Wunder, dass Viktor, wenn er nun Loana sah, hin und wieder schmerzlich an seine verstorbene Mutter erinnert wurde. Und kein Wunder, dass Vitus ab und zu in Panik geriet, weshalb er es häufig mit seiner Fürsorge gegenüber Loana übertrieb. Die wusste um seine Ängste, weswegen sie diese Fürsorge geduldig zuließ.
Anna legte ihre Wange an Viktors, was nur möglich war, indem sie sich auf die Zehenspitzen stellte und seinen Kopf zu sich herabzog.
»Wir könnten dein Tablet mit ins Schloss nehmen und uns dort ein paar Videos von deiner Mama ansehen. Du hast sie alle digitalisieren lassen, aber immer noch nicht komplett angeschaut. Vielleicht wäre es gut, sie lachen zu sehen«, meinte sie leise.
»Ja, das könnten wir tun.« Nachdem er noch einmal kräftig durchgeatmet hatte, sah er Anna freudestrahlend an. »Komm, Süße, sagen wir deinen Eltern kurz Tschö und hauen dann ab.« Er grinste schon wieder. »Ich kriege das Bild von dir als Venusfalle einfach nicht mehr aus dem Kopf.«
»Venus-fliegen-falle!«
»Meinetwegen.«
***
Weniger als zwei Stunden später saß Viktor gemeinsam mit Anna, Vitus und Loana im kleinen Kaminzimmer des Schlosses. Nicht dass dieses Zimmer wirklich klein war. Nur in Anbetracht manch anderer Räume des riesigen Gemäuers konnte man es als relativ klein bezeichnen. Viktor mochte den Raum. Er fand ihn mit seinen gedämpften Farben, den bequemen Sesseln und hübschen Holztischchen, auf denen man beim Gespräch sein Getränk abstellen konnte, rundherum gemütlich.
Einziger Blickfang neben dem Kamin war ein großes beeindruckendes Gemälde, das direkt über dem weißen Marmor des Kaminsimses prangte:
Es zeigte loderndes Feuer mit züngelnden Flammen inmitten eines wild tosenden Sturmes, das durch die Wahl aller möglichen Rottöne und -schattierungen die immense Macht dieser Naturgewalten ausdrückte. Trotzdem dominierte ein darin verborgenes, dennoch deutlich zu erkennendes Gesicht – Loanas Gesicht, das, ungeachtet der grün-bläulich angelegten Farbwahl, eine ungeheuer wärmende Kraft und Güte ausstrahlte. Wenn man ganz genau hinsah, konnte man in Loanas Pupillen sogar Vitus erkennen.
Dieses Bild hatte Viktoria für ihren Vater gemalt, damit der es seiner Braut zur Hochzeit schenkte. Viktor fand, dass sich seine Schwester mit dem ausdrucksstarken, berührenden Bild selbst übertroffen hatte und recht daran tat, ihr Kunststudium in Düsseldorf fortzusetzen.
Während er noch über das Gemälde sinnierte, rubbelte er mit einem Tuch Annas langes goldblondes Haar trocken. Denn an diesem Tag herrschte ausnahmsweise sehr schlechtes Wetter im Elfenland. Es war kalt und goss wie aus Kübeln. Weil man bei den Elfen üblicherweise zu Pferde unterwegs war anstatt in einem schützenden Auto oder Ähnlichem, waren sie beide pitschnass im Schloss eingetroffen.
… Seine Elfenwelt existierte parallel zu jener der Menschen und konnte ausschließlich über geheime Eingänge erreicht werden. Außerdem waren viele zusätzliche Portale zu durchqueren, um zum Beispiel zum königlichen Schloss zu gelangen. Dazu benötigte man nicht nur die passenden Schlüsselworte. Auf Reisen über Land war es zudem ratsam, ein elfisches Pferd zu besitzen, das einen sicher zu den oft weit voneinander entfernten Elfenorten trug.
Selbst wenn er mit Anna auf seinem schneeweißem Pferd Ariella ritt, brauchten sie fast immer eine volle Stunde, um zum Schloss zu gelangen. Und das, obwohl sein Haus direkt am Eingang zum Elfenreich lag.
Auch Annas Wald befand sich nah am Eingang, was sie damals, als Viktor sie ansprach, natürlich noch nicht wissen konnte. Aber allein dieser Umstand hatte ihn zu Anna gebracht, als er seinerzeit die dortige Gegend zu erkunden begann, dabei das hübsche träumende Mädchen auf der Lichtung entdeckte und sich sofort in ihre Schönheit, ihre Träume und in sie verliebte.
Sie war sehr klein und zierlich. Elfengleich, würden die Menschen sagen. Hinter einer schlichten Brille blickten verträumte, betörend hellblaue Augen, die Viktor an die hellen Saphire der Edelsteinmine seines Onkels Estra erinnerten. Ihre zarte Porzellanhaut schimmerte hauchfein rosa, wenn sie sich aufregte. Das passierte sogar manchmal während ihrer Träume. Sie schien unterdessen wohl allzu sehr abzuschweifen, sprach dabei ihre Visionen und Wünsche laut aus. Das verwirrte ihn. Sowohl ihre Worte als auch ihr reizvoller roter Mund, dessen Lippen sich so sinnlich bewegten.
Seit er sie dann eines Tages angesprochen hatte, waren sie ein Paar. Seitdem und für ewig! …
»Du solltest mein Angebot annehmen, Anna«, meinte Vitus ernst, als er ihr feuchtes Haar betrachtete.
Beim Anblick des vor Nässe triefenden Paares hatte er den Kamin allein mit dem Schnippen seiner Finger entzündet. Nun prasselte es fröhlich und wohltuend wärmend vor sich hin.
»Gertus ist ein ruhiges, braves Pferd. Etwas klein geraten, dennoch wendig, schnell und treu. Mein Rittmeister hat es mir für dich empfohlen. Es wäre optimal. Du und Viktor, ihr wärt bestimmt mehr als eine Viertelstunde früher hier im Schloss, wenn du mit deinem eigenen Pferd reisen würdest.«
»Danke, Vitus«, gab Anna matt zur Antwort, »aber ich hab halt immer noch riesigen Respekt vor den Tieren. Ich bin‘s nicht gewohnt und hab nie reiten gelernt.«
Vitus lächelte. »Anna, du musst nicht lernen, auf einem Elfenpferd zu reiten. Es muss dich nur kennen. Den Rest macht es einfach selbst.«
»Ihr habt gut reden, ihr Elfen. Ihr seid alle total groß und stark. Deshalb habt ihr kein Problem damit, auf den breiten Rücken eines solchen Riesen zu springen. – Oh, entschuldige, Loana. Es gibt natürlich Ausnahmen.«
Schmunzelnd registrierte Viktor, dass die für Anna so typische Röte bei ihr aufstieg, und das, wo er gerade noch genau darüber nachgedacht hatte. Sie war sichtlich verlegen, hatte sie doch außer Acht gelassen, dass Loana nur ein paar Zentimeter größer war als sie selbst. Eine wirkliche Seltenheit in der Elfenwelt. In der Regel waren Elfen eher groß.
Loana lachte hell auf. »Du brauchst nicht rot zu werden, Anna. Ich bin halt was kleiner, genau wie Denara. Das macht mir nichts aus.«
Loana nippte genießerisch an ihrer Tasse. Es war allen bekannt, wie sehr sie ihren Kaffee liebte. Das umso mehr, seitdem Vitus der Auffassung war, er könnte vielleicht schädlich für sie und die Babys sein, weshalb er ihren Kaffeekonsum seit einiger Zeit rationierte.
»Es ist nicht schwer, auch für uns Kleine, auf einen Pferderücken zu kommen. Das kannst du lernen. Vitus hat recht, Anna. Alles Übrige übernimmt das Tier. Versuch es doch mal.« Nach einem weiteren Schlückchen stellte sie die Tasse ab. »Du besitzt alle Schlüssel, um hierherzugelangen. So könntest du alleine anreisen, wenn Viktor einmal keine Zeit hat, dich abzuholen. Was meinst du?«
Anna seufzte.
»Oh je! – Autofahren. Reiten. – Alles nicht meine Welt!«
Lautes Gelächter brach aus, denn sie hatte wieder einmal vergessen, ihren Geist zu verschließen. Das passierte ihr häufig. Zu ihrem Leidwesen konnten die Elfen dann in ihr lesen wie in einem offenen Buch.
»Wir probieren es nachher mal aus, Süße«, schlug Viktor immer noch lachend vor. »Außerdem, was heißt hier: Ihr Elfen? Ich bin nur ein halber Elfe und habe keine Probleme. Und du bist schließlich auch kein reinblütiger Mensch, sondern hast selbst jede Menge Elfenblut in dir. Also, mach dich nicht immer so verrückt.«
»Daran muss ich mich halt noch gewöhnen. Ich weiß ja erst seit Kurzem, dass ich einen Elfenopa hatte. Wer weiß, ob ich so was kann? – Ach, Mist! Wieder den Geist nicht verschlossen!«
Jeder wusste, dass Vitus falsche Bescheidenheit entschieden gegen den Strich ging und deswegen ungehalten reagieren konnte. Zu Viktors Erleichterung lächelte sein Vater freundlich. »Du liest Gedanken und entwickelst ständig mehr emphatische Fähigkeiten, Anna. Wieso hast du immer noch Zweifel an dir? Schau dir Viktor an. Er ist inzwischen kaum von einem Vollblutelfen zu unterscheiden. Gerade gestern erst hat er nicht nur Blitze vom Himmel geholt. Nein, er hat ein ganzes Gewitter samt heftigem Sturm gerufen.«
Grinsend sah er Viktor kurz an. »Ich war natürlich nicht dabei. Wir waren ja noch auf der Rückreise. Aber ich habe es deutlich gespürt. Viktor war ziemlich mies gelaunt, weil er dich gestern nicht sehen konnte, Anna. Hier im Schloss gab es einfach zu viel zu tun. Da ist es mit ihm durchgegangen und …«
»Also wirklich, Vater«, fuhr Viktor dazwischen.
Doch Vitus hob gebieterisch die Hand. »Du musst noch lernen, dich zu zügeln, Viktor. Es macht mich trotzdem stolz, dass du es kannst. Was du alles gelernt hast, seit du Anna kennst, ist nun mal erstaunlich. Und auch Anna lernt sehr viel, genau wie ihre Geschwister und Viktoria. Das erfüllt mich mit großer Freude.«
»Ich dachte immer, es liegt an Vitus, dass Viktor so viel gelernt hat. Es kann doch nicht an mir liegen!«
»Anna, du unterschätzt dich und deinen animierenden Einfluss auf Viktor maßlos. Ihr liebt euch. Diese Liebe, übrigens auch die körperliche, beflügelt euch sozusagen. Das ist stimulierend für eure Fähigkeiten.«
Viktor sah seinen Vater lächeln, weil der Annas erneut aufkommende Röte genauso wahrnahm wie er. Aber im Gegensatz zu ihm bereitete es Vitus stets größtes Vergnügen, sie in Verlegenheit zu bringen. Obwohl Anna das bekannt war, sah sie sich nie in der Lage, in solchen Situationen die Fassung zu wahren. So war es eine logische Folge, dass Vitus nicht widerstehen konnte, noch eins draufzusetzen: »Du wirst eines Tages eine wundervolle Königin sein, Anna.«
»Ogottogott, nicht immer dieses blöde Königinnenthema! Davon wird mir schlecht, ogottogott!«
»Lass sie in Ruhe«, schimpfte Loana. »Du weißt, dass ihr dein Gerede davon Angst macht. Anna ist erst siebzehn. Bestimmt hat sie zurzeit andere Pläne, als Königin des westlichen Elfenreiches zu werden. Du benimmst dich manchmal wie ein Plustergeist!«
»Wie ein was?«, fragte Vitus entgeistert.
Jetzt lachte Viktor mit Anna um die Wette, da Loana aufgrund ihrer bretonischen Herkunft ab und an die Worte verdrehte. Besonders bei Flüchen, Schimpfwörtern und Redensarten bekam sie manches Mal Schwierigkeiten. Eigentlich hatte sein Vater trotzdem keine Verständigungsprobleme mit ihr, konnte jedoch mit diesem »Plustergeist« ganz offenkundig nichts anfangen. So stand ihm mehr als nur ein Fragezeichen auf der Stirn geschrieben, was Viktor die Lachtränen in die Augen trieb.
»Sie meint Poltergeist, Papa«, brachte er prustend hervor. »Ich hab ihr mal davon erzählt, dass manche Menschen an Geister, auch an Poltergeister glauben und darüber sogar Filme drehen.«
Er wandte sich Loana zu. »Plustergeist passt nicht so gut zu ihm, Loana. Da hat mir dein rohes Klotzholz, wie du ihn schon mal bezeichnet hast, bedeutend besser gefallen.«
»Genau, du bist und bleibst ein grober Klotz, König Vitus!«, brachte Loana ihre Schimpftirade zu Ende, ohne das Gelächter der anderen groß zu beachten.
Sie trank danach einfach mit Genuss ihre Tasse leer und wollte sich gerade nachschenken, als Vitus eine Hand auf die Kanne legte.
»Trink jetzt lieber Kräutertee, Kened. Sonst wird dir vielleicht übel.«
Loana seufzte schwer, nickte aber zustimmend und musste resigniert mit ansehen, wie die tüchtige Dienerin Etita Sekunden später eintrat, um den Tee zu servieren.
»Also gut«, gab Vitus sich zufrieden, als er sah, wie Loana einen Schluck vom Tee nahm, »genug von dem Königsthema. Stattdessen könnten wir euch ein bisschen von unserer Reise erzählen. Loana ist eine begnadete Seglerin, müsst ihr wissen. Man merkt sofort, dass sie an der Küste aufgewachsen ist.«
Er nahm die Hand seiner Frau und strich zart mit den Lippen darüber.
»Na ja«, meinte Loana zurückhaltend, »viel konnten mir meine Eltern nicht beibringen. Sie starben ja früh. Und während meiner Jahre im Heim habe ich das Meer kaum zu Gesicht bekommen. Aber danach habe ich ein paar Jahre als Fischerin gearbeitet. Das war herrlich. Dabei lernte ich Tanguy kennen, bevor wir zu seiner Familie zogen.«
… Viktor sah Loana an, dass sie eigentlich nicht über Tanguy hatte sprechen wollen. Sein Name war ihr einfach so herausgerutscht. Meist erwähnte sie ihn nicht. Die Erinnerung tat ihr unverkennbar weh. Loana hatte Vergangenheit samt Heimat hinter sich gelassen. Sie hatte einen Schlussstrich unter all das gezogen und war mit Vitus gegangen. Ihre gesamten Ländereien hatte sie Ewen, dem Bruder ihres verstorbenen Gatten, und dessen Frau Armelline überlassen. Seither war sie nie mehr dorthin zurückgekehrt.
Sie hatte jetzt Vitus und seine Liebe. Das reichte ihr voll und ganz. Was brauchte sie mehr? Die bretonische See, die sie jeden Tag in Vitus‘ Augen sah, die hatte sie dennoch hin und wieder schmerzlich vermisst. …
Da auch Vitus ihre Melancholie erkannte, streichelte er Loanas Wange. »Du bist eine sehr gute Seglerin und Fischerin. Das hast du mir gezeigt. Und du bist ganz besonders schön, wenn du das Meer um dich hast, Kened. Wir werden solche Reisen noch oft unternehmen, das verspreche ich dir.«
Während er in ihre edelsteingrünen Augen schaute, wickelte er versonnen eine Strähne ihres honigblonden Haars um seinen Finger. »Jetzt lass uns den Kindern von unserer Hochzeitsreise erzählen.«