Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 9
Andere?
ОглавлениеAnna war schon einmal in die Berge gereist, genauer gesagt, zweimal:
… Beim ersten Mal verbrachten die Nells ihren jährlichen Sommerurlaub vor einiger Zeit, entgegen sonstiger Familientradition, nicht auf ihrer westfriesischen Nordseeinsel, sondern im Allgäu. Dort unternahmen sie viele Ausflüge und Wanderungen.
Natürlich wurden sowohl Schloss Neuschwanstein als auch die Klöster Ettal und Andechs besichtigt, nicht zuletzt München, ja, sogar Salzburg und Innsbruck besucht.
Es gefiel ihnen durchaus, auf Berge zu kraxeln und diese beeindruckende Welt zu erkunden. Dennoch waren sie sich einig, das Meer zu bevorzugen und die nächsten Sommerferien wieder dort zu verbringen.
Das zweite Mal nahm sie mit ihrer damaligen Schulklasse an einem einwöchigen Skiausflug nach Österreich teil. Auch die winterliche Bergwelt faszinierte Anna.
Besonders das Skifahren bereitete ihr riesigen Spaß, trotz der häufigen Hänseleien ihrer Mitschüler. Die konnten ihr die Freude an dieser Klassenfahrt nicht verleiden.
Sie genoss den Schulausflug in vollen Zügen, obgleich sie sich in den Bergen schon beim ersten Mal nicht hundertprozentig wohl gefühlt hatte.
Ihr fehlten sowohl der Salzgeschmack der Luft, das Rauschen des Meeres, die traurig schaurigen Möwenschreie, das manchmal heftig raue Klima als auch der unendliche Horizont sowie das nie endende Wechselspiel von Ebbe und Flut. …
Sie war wohl eher ein Kind der See, dachte sie, als sie im Wintergarten des großen Herrenhauses stand und hinaus auf die weißen Schneekuppen der bizarren gewaltigen Bergriesen schaute. Ein herrlicher Anblick, zweifellos. Trotzdem wäre es schön, alsbald ihre Insel und das Meer wiederzusehen. Diesmal gemeinsam mit Viktor.
»Ja, das wäre echt klasse!«
»Es ist nicht sonderlich schmeichelhaft, einen Gast in meinem Hause zu beherbergen, der dieses einzigartige Panorama nicht wirklich zu schätzen weiß, sich stattdessen nach Sand, Salz und Wellen sehnt.« Estra war lautlos zu ihr getreten und musterte sie nun freundlich von der Seite.
Wie sein älterer Bruder war auch er ein beeindruckender Mann. Etwas größer als Vitus, sah er ihm in vielerlei Hinsicht ähnlich. Nur sein Mund war eine Spur voller als der des Bruders und seine Augen hatten die Farbe sahniger Milchschokolade. Ansonsten konnte jedermann aufgrund Haarfarbe, Körperbau und nicht zuletzt wegen der Grübchen auf den Wangen sofort erkennen, dass es sich bei den beiden Elfenmännern um Brüder handelte. Estra allerdings strahlte eine ungeheure Ruhe und Kraft aus, während Vitus eher eine Aura von Macht, Autorität und Temperament umgab.
Anna wusste, wie sehr sich die beiden liebten, hatten sie doch ihre Eltern früh verloren und danach nur noch sich gehabt. Damals musste der ein Jahr ältere Vitus schon als Neunzehnjähriger den Thron übernehmen, um seine Pflicht als König zu erfüllen.
Wie kam es eigentlich, dass sie so viele Elfen kannte, deren Eltern schon früh gestorben oder aber nicht gut zu ihren Kindern gewesen waren?, fragte sich Anna. In solch einem Augenblick war sie stets dankbar, eine derart wunderbare Familie zu haben.
Im letzten Jahr war ihre Mutter schwer krank gewesen, was Anna in Angst und Schrecken versetzt hatte. Gott sei Dank ging es Theresa nun wieder gut.
Estras Worte rissen sie aus ihren Gedanken. – Den Gedanken an die See, ihre Eltern, an schlechte Menschen und Elfen und daran, dass die Zwillinge von Estra und Isinis großgezogen worden waren, weil Vitus damals gegen eine böse Bedrohung hatte kämpfen müssen. Sie errötete, da Estra all diese Gedanken problemlos hatte in ihr lesen können.
»Nein«, erwiderte sie hastig, »nein, die Berge sind wunderschön, Estra. Wunderschön. Aber …«
»Aber du hast den Großteil deiner Sommer zusammen mit deinen Eltern und Geschwistern verbracht, und das am Meer«, vollendete Estra ihren Satz. »Das hat eine enge Bindung zu dieser Gegend geschaffen. Du liebst deine Familie und hast die Zeit, die du mit ihr dort verbringen durftest, sicherlich genossen. Deine Eltern sind wundervolle Menschen, Anna. Dich wird es immer dorthin ziehen, wo du solch unbeschwerte Sommertage mit ihnen erlebt hast. Das verstehe ich.«
Er grinste verschmitzt. »Wären Theresa und Johannes jedoch von Anfang an nicht ans schnöde Meer mit euch gereist, sondern in die wirklich und einzig schöne Bergwelt, dann, ja dann würdest du jetzt keinen Deut auf die läppische Nordsee geben.«
Anna lachte. Estra war ein bemerkenswert warmherziger Mann. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich Isinis und er darum bemüht hatten, Viktor und Viktoria eine ebenso unbeschwerte Kindheit zu bereiten wie den drei leiblichen Kindern.
»Wie das wohl gewesen sein mag, plötzlich zwei Kinder zu haben? Von jetzt auf gleich. Sie waren noch so jung und hatten zu der Zeit ihre eigenen Kinder noch nicht.«
»Es war schwer, Anna. Furchtbar schwer«, seufzte Estra. Unterdessen bot er ihr einen der bequemen Sessel an.
Kaum hatte sie Platz genommen, brachte einer der Bediensteten Apfelsaft zur Erfrischung. Anna hob den Kopf, um dem jungen Elfen zu danken. Doch der wirkte schüchtern und senkte demütig den Blick. Mit dem kurzen üblichen Kopfnicken Estra gegenüber und den Worten »Mein Herr« verließ er leise den Raum.
Anna würde sich wohl niemals daran gewöhnen, jeden Handgriff von Fremden erledigt zu bekommen. Das war ihr unangenehm. Sie schob den Gedanken beiseite und wandte sich wieder Estra zu, der seinen Diener mit einem knappen »Danke, Hamo« bedacht, ihm ansonsten keine weitere Beachtung geschenkt hatte.
»Versteh mich bitte nicht falsch«, setzte er unbeirrt fort. »Wir hatten natürlich kein Problem damit, die beiden zu uns zu nehmen. Nein, wir haben Viktor und Viktoria von der ersten Sekunde an geliebt.« Mit traurigem Gesichtsausdruck rieb er sich das Kinn. »Es waren nur so furchtbare Umstände. Du hast Kana ja im letzten Jahr erlebt, sie und ihren Hass, ihre Habgier und Rachlust. Dadurch hat sie Vitus‘ Leben zerstört und das unserer Eltern beendet. Danach starb zudem Veronika direkt nach der Geburt der Zwillinge.«
Nun wirkte er nachdenklich. »Heute glaube ich, dass Kana auch mit Veronikas Tod etwas zu tun hatte. Sie hätte die Macht dazu besessen. Schließlich hat sie ja auch dir und deiner Mutter mit ihren üblen Gedanken und Träumen zu schaden versucht. Na ja, das werden wir wohl nie mehr erfahren, nicht wahr?«
Erneut strich Estra mit der Hand über sein Kinn. »Es war jedenfalls eine schreckliche Zeit. Zu alledem wollte Kana sogar Viktoria und Viktor töten. Aus seiner Sicht hatte Vitus damals keine andere Wahl. Er musste die Babys uns überlassen. Bei uns waren sie geschützt. Dafür hatte er gesorgt.« Den Kopf schüttelnd fuhr er fort: »Es läuft mir immer noch eiskalt den Rücken runter, wenn ich darüber nachdenke, dass mein Bruder über achtzehn Jahre lang mit dieser Bedrohung gelebt und seine Sorgen nicht mit mir geteilt hat. Er war derart tief mit der Trauer um Veronika erfüllt, noch dazu um die Sicherheit seiner Kinder und unsere besorgt, dass er sich diese Last ganz allein aufgebürdet hat. Die Zwillinge hat er nur selten besucht, aus Furcht, er könnte Kana damit einen Weg zu ihnen offenbaren.« Estra seufzte noch einmal schwer. »Meine Güte, was war das für eine traurige Zeit.«
Anna hatte ihm still zugehört. Sicher, sie kannte die Geschichte über die Königin des südlichen Elfenlandes. Vitus hatte sie ihr erzählt.
… Die Geschichte von der damals dreizehn Jahre alten Prinzessin Kana, welcher der seinerzeit erst vierzehnjährige Elfenprinz Vitus, geblendet von ihrer Schönheit, die Ehe versprochen hatte. Dieses Versprechen löste er später allerdings, weil er sich mit einem Mal Kanas unglaublicher Intrigen bewusst wurde. Trotzdem bestand sie beharrlich auf das Eheversprechen. Deswegen war sie außer sich, als Vitus sich in Veronika verliebte und diese sogar von ihm schwanger wurde.
Anna wusste, dass Kana, von Rache getrieben, die grausamen Mächte, die Nuurtma, auf Vitus hetzte und dass dabei Vitus‘ und Estras Eltern im tödlichen Kampf ihre Leben verloren. Dann starb obendrein Veronika. Dennoch gab Kana sich mit diesem vermeintlichen Sieg noch lange nicht zufrieden. Ihre Rachgier war mitnichten gestillt.
Erst im vergangenen Jahr wurde sie gemeinsam mit ihrem Geliebten, dem Elfenzauberer Kaoul, zur Strecke gebracht. Erst nach so langer Zeit fand der Schrecken endlich ein Ende. …
Anna war erstaunt. Eigentlich hatte sie Viktor einzig aus dem Grund hierherbegleitet, weil ein wichtiger Auftrag anstand. Darüber hinaus konnte Viktor zusammen mit ihr, Viktoria und Ketu seinen geliebten Zieheltern einen Besuch abstatten. Dass sein Onkel ein persönliches Gespräch mit ihr führen würde, damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Bisher war es nie vorgekommen, dass Estra sich Anna gegenüber gerade in dieser Sache, noch dazu derart intim geäußert hatte. Nun wurde sie sich des großen Vertrauens bewusst, das er ihr entgegenbrachte.
Etwas verlegen wandte sie sich Estra zu. Sie sprach ihre Worte leise: »Viktor und Viktoria haben stets erzählt, dass sie glücklich bei euch waren. Sie lieben Isinis und dich.«
»Wir waren auch glücklich mit ihnen, Anna. Wir dachten, sie gehörten ganz allein uns. Ja, wir dachten damals tatsächlich, Vitus würde sie gar nicht wollen, da sie ihn zu sehr an Veronika erinnerten und er dies in seiner Verbitterung nicht ertrug. Wir ahnten ja nichts von seiner Verzweiflung und Not.«
Estra stand auf, blickte zum Fenster hinaus und drehte sich ihr danach wieder zu. »Der Tod unserer Eltern hatte uns beide schwer getroffen. Die Zwillinge haben mir dabei geholfen, mein Gleichgewicht zurückzufinden. Es tat so gut, sich um sie zu kümmern. Sie waren einfach bezaubernd. Mein Bruder hingegen quälte sich über achtzehn Jahre lang. Allein. Ohne Zuspruch und Wärme. Das macht mir immer noch schwer zu schaffen. Das und die Tatsache, dass Vitus zu allem Überfluss glaubt, indem er die Kinder bei uns ließ, müsse er uns gegenüber ein schlechtes Gewissen haben.« Estra schnaubte laut auf. »Dabei haben seine Kinder mich gerettet.«
»Ich denke, dass Vitus euch eher dankbar ist, weil ihr die beiden so behütet und glücklich habt aufwachsen lassen. Er ist ihr Vater und hat festgestellt, zu welch großartigen Halbelfen ihr sie erzogen habt. Ich weiß genau, dass er unendlich froh darüber ist. Der Rest ist Geschichte, Estra. Es kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber du hast ebenso wenig Grund für ein schlechtes Gewissen gegenüber Vitus.«
Estra trat vor Anna, zog sie vom Sessel und nahm sie in den Arm.
»Als Viktors Ziehvater möchte ich dir sagen, wie glücklich ich bin, dass er dich gefunden hat, Anna.« Nachdem er ihr die Stirn geküsst hatte, sah er sie mit seinen warmen Augen an. »Du bist die Richtige für ihn. Nur du.«
Anna wurde verlegen. Estra hatte sich ihr gegenüber schon immer äußerst freundlich verhalten, doch diese Worte, so voller Liebe und Wärme, berührten sie tief und ließen sie erröten. Estra spürte natürlich ihre Verlegenheit und lächelte.
»Unsere bescheidene Anna wird mal wieder rot. Das brauchst du nicht. Ich wollte dir nur einmal sagen, wie froh Isinis und ich sind, dass Viktor mit dir endlich die Richtige gefunden hat.«
»Endlich die Richtige?«
Estra bedachte sie mit einem prüfenden Blick. »Du bist noch sehr jung, Anna, und dennoch schon so erwachsen für dein zartes Menschenalter. Das ist eine typisch elfische Eigenart. Elfen sind sozusagen frühreif. Viktor war achtzehn, als er dich kennenlernte. Also ein erwachsener junger Mann, der bereits manche Erfahrungen gemacht hatte. Es muss dir doch bewusst sein, dass er schon vor dir Kontakt zu Mädchen und Frauen hatte, so, wie du bestimmt auch vor ihm einen Freund hattest.«
Anna starrte ihn mit großen Augen an. Offenbar erkannte Estra seinen Fehler.
»Ich hätte dir das nicht erzählen sollen. Das wäre Viktors Sache gewesen, Anna. Es tut mir leid. Mir war nicht klar, dass er dein erster Freund ist.«
»Es braucht dir nicht leid zu tun. Ich bin nämlich voll und ganz deiner Meinung, Estra. Mir hätte das eigentlich klar sein müssen. Nur habe ich mir darüber wirklich nie Gedanken gemacht. Wirklich niemals.«
Ein merkwürdig unangenehmes Ziehen und Kribbeln machte sich in ihrem Bauch breit. Das war ein Gefühl, das Anna ganz und gar nicht behagte. Mit aller Macht versuchte sie, es vor Estra zu verbergen, und hoffte inständig, dass es gelänge. Sie wusste natürlich, dass ihm ein abrupter Themenwechsel auffallen müsste. Doch wollte sie einfach nicht mehr darüber reden.
»Hast du eigentlich mitbekommen, dass sie die Urteilsverkündung für Herrn Zitt verschoben haben, weil der letztens im Gerichtssaal ausgetickt ist? Der Richter überlegt, ein weiteres psychiatrisches Gutachten anzufordern. Könnte tatsächlich sein, dass mein ehemaliger Biologielehrer für lange Zeit weggesperrt wird.«
Ein kleines Lächeln umspielte Estras Lippen. Höchstwahrscheinlich hatte er Annas klägliches Ablenkungsmanöver sofort durchschaut, sagte aber nichts dazu. Stattdessen zog er sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. »Dafür, was dieser Mann dir und anderen jungen Frauen angetan hat, gibt es keine Wiedergutmachung. Keine Strafe wäre hart genug, Anna. Ich hoffe trotzdem, es ist dir Trost und Beruhigung, wenn du weißt, dass der Kerl hinter verschlossenen Türen bleiben wird. Wie hat Vitus das genannt: Klapse?«
Anna schaute zu ihm auf und lächelte matt über das flapsige Wort aus der Menschenwelt, das den Elfen so fremd war. Doch dann wurde sie wieder ernst, da sie mit einem Mal begriff, wie sehr ihr die ganze Sache damals zugesetzt hatte.
»Ja, das ist es. Seit dem Tag im Gericht, seit ich den Mistkerl noch einmal gesehen und ihn geohrfeigt habe, geht es mir viel besser. Bis dahin war mir eigentlich gar nicht klar, dass es mir schlecht ging. Ich hatte es wohl verdrängt.«
Nachdem Estra ihr erneut Platz angeboten hatte, setzte auch er sich. »Wir alle haben gespürt, dass du dich hinter einer schützenden Mauer verschanzt hattest, die du selber einreißen musstest. Nun ist diese Mauer gefallen. Endlich. Das ist schön. Du gehst sogar gestärkt aus der Sache hervor. Nicht, dass ich diese Untat und deine furchtbare Erfahrung gutheiße. Es ist dennoch eine gute Sache, wenn man eine schreckliche Erfahrung in einen starken Wesenszug umwandeln kann. Du wirkst vielleicht zerbrechlich, Anna, doch du bist eine starke Frau. Das hast du bereits mehrmals unter Beweis gestellt.«
»Nun ist es aber genug mit der Lobhudelei. Mir wird schon ganz mulmig davon.«
Nachdem er einen Schluck von seinem Saft getrunken hatte, sah er sie vergnügt an. »Ja, so hat Vitus dich von Beginn an beschrieben: zu zurückhaltend, zu bescheiden. Aber lassen wir das. Erzähl mir lieber von deinem ersten längeren Ausritt mit Gertus.«
Sie lachte hell auf, froh darüber, vollends von ihren seltsamen Empfindungen ablenkt zu werden.
»Vitus und Loana – ach ihr alle – hattet natürlich recht. Das Pferd macht das meiste von ganz allein. Man muss nur mit ihm sprechen. Gertus ist so ein Lieber«, schwärmte sie. »Noch dazu ich finde ihn ausgesprochen hübsch mit seinem gescheckten Fell. Außerdem ist er sehr klug. Er hat meine Angst, auf seinen Rücken zu springen, sofort wahrgenommen. Deshalb macht er sich jetzt immer klein, indem er seine Vorderbeine einknickt.«
… Anna behielt für sich, dass sie es trotzdem ein wenig vermisste, sich an Viktor zu schmiegen, wenn sie mit ihm gemeinsam auf Ariella ritt. Allerdings verkürzte sich die Reisezeit aufgrund ihres eigenen Pferdes deutlich, was natürlich von großem Vorteil war.
Überdies hatte sie sich sogar schon einmal allein ins Elfenland gewagt, um Viktor zu überraschen. Sie besaß ja mittlerweile alle notwendigen Schlüssel, mit deren Hilfe sie eigenständig zum Schloss gelangen konnte. Wie es sich für ein gutes elfisches Pferd gehörte, war Gertus auf ihren gedanklichen Zuruf sofort zum Portal am Bachsprung gekommen und hatte sie sicher zum Schloss gebracht. Schade war nur, dass Viktor, obwohl Anna ihren Geist sorgsam verborgen gehalten hatte, am Schlosstor mit einem wissenden Lächeln auf sie gewartet hatte. Sie würde Gertus irgendwie beibringen müssen, seine Gefühle für sich zu behalten, denn der hatte mit seiner Freude ihren Plan offenbar verraten. …
»Du brauchst Gertus bloß zu sagen, dass du Viktor überraschen willst. Dann hält er sich zurück. Das ist kein Problem. Elfenpferde sind wirklich äußerst klug. Und falls ihr Lust dazu habt, könnt ihr zwei auch weiterhin ab und an auf Ariella eure Ausritte unternehmen. Sei nur etwas vorsichtig. So ein treues Pferd wie Gertus neigt schnell zur Eifersucht, wenn es sich vernachlässigt fühlt.«
Anna runzelte die Stirn. Wieder einmal war es ihr nicht gelungen, sich mental abzuschirmen. Aber das war es eigentlich nicht, was sie störte, sondern die Erwähnung des Begriffes Eifersucht.
War es Eifersucht, die sie bei dem Gedanken plagte, dass Viktor bereits vor ihr eine Freundin oder vielleicht sogar mehrere gehabt hatte? Diesmal achtete sie penibel darauf, nichts von ihren Gefühlen preiszugeben. Sie schämte sich dafür.
»Ja, das mach ich«, erwiderte sie knapp und blieb danach still.
***
Estra nahm Annas Stimmungswechsel durchaus wahr, hielt sich aber zurück, hatte er doch von seinen Töchtern Viktoria und Iltrana gelernt, in solchen Situationen auf der Hut zu sein. Iltrana war zwar ein paar Jahre jünger als Anna, allerdings wies selbst sie bereits derartige, aus seiner männlichen Sicht geradezu gefährliche Launen auf, denen er als Vater lieber aus dem Wege ging. Deshalb war er ausgesprochen erleichtert, als die Tür sich öffnete und Isinis eintrat.
Wie jedes Mal, wenn er seine Frau erblickte, hellte sich seine Stimmung auf – auch nach zwanzig Ehejahren. Noch immer war sie wunderschön, schoss es ihm durch den Kopf.
Typisch Elfe – groß und schlank – trug sie ihr hellblondes Haar so lang, dass es ihr in glänzenden Wellen weit hinab über die Schulter fiel. Aus hellgrünen Augen wanderte ihr Blick ruhig von ihrem Ehemann zu Anna und wieder zurück.
Offensichtlich erkannte Isinis die verschiedenen Emotionen im Raum und beschloss, weder auf das begehrliche Mienenspiel ihres Mannes noch auf Annas etwas dunkel wirkenden Gedanken einzugehen.
»Vitus, Viktor und Ketu sind auf dem Rückweg. Sie müssten in zehn Minuten eintreffen. Ihr könntet gemeinsam mit Viktoria den Tisch decken. Susa, Medlin und ich sind mit Kochen beschäftigt. Hamo geht den Stallburschen zur Hand und die Kinder sind noch unterwegs. Also, ihr Tunichtgute, auf, auf!«
»Ich geb dir gleich eins, von wegen Tunichtgute«, gab Estra mit einem breiten Grinsen zurück, erhob sich währenddessen aus seinem Sessel. »Wir haben die Zeit nicht vergeudet, sondern ein ernsthaftes Gespräch geführt, meine Liebe. Doch trotz dieser ungemein herablassenden Bemerkung werde ich dir gerne helfen.«
»Ich natürlich auch. Zeig mir nur, wo alles steht, Isinis, dann kann ich das gern allein machen. Ich bin eine begnadete Tischdeckerin.« Anna lachte. Vielleicht ein wenig zu fröhlich, vielleicht eine Spur zu aufgesetzt, meinte Estra. Er gewahrte ihre Freude, etwas zu tun zu bekommen, außerdem ihre Erleichterung, weil er und Isinis diese Empfindungen – Annas Meinung nach – nicht zu erkennen schienen.
Tatsächlich aber war es Anna selbst, die Estras und Isinis‘ verstohlene, besorgte Blicke hinter ihrem Rücken nicht bemerkte.