Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 9

An­de­re?

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An­na war schon ein­mal in die Ber­ge ge­reist, ge­nau­er ge­sagt, zwei­mal:

… Beim ers­ten Mal ver­brach­ten die Nells ih­ren jähr­li­chen Som­mer­ur­laub vor ei­ni­ger Zeit, ent­ge­gen sons­ti­ger Fa­mi­li­en­tra­di­ti­on, nicht auf ih­rer west­frie­si­schen Nord­see­in­sel, son­dern im All­gäu. Dort un­ter­nah­men sie vie­le Aus­flü­ge und Wan­de­run­gen.

Na­tür­lich wur­den so­wohl Schloss Neu­schwan­stein als auch die Klös­ter Et­tal und An­dechs be­sich­tigt, nicht zu­letzt Mün­chen, ja, so­gar Sa­lz­burg und Inns­bruck be­sucht.

Es ge­fiel ih­nen durch­aus, auf Ber­ge zu kra­xeln und die­se be­ein­dru­cken­de Welt zu er­kun­den. Den­noch wa­ren sie sich ei­nig, das Meer zu be­vor­zu­gen und die nächs­ten Som­mer­fe­ri­en wie­der dort zu ver­brin­gen.

Das zwei­te Mal nahm sie mit ih­rer da­ma­li­gen Schul­klas­se an ei­nem ein­wö­chi­gen Ski­aus­flug nach Ös­ter­reich teil. Auch die win­ter­li­che Berg­welt fas­zi­nier­te An­na.

Be­son­ders das Ski­fah­ren be­rei­te­te ihr rie­si­gen Spaß, trotz der häu­fi­gen Hän­se­lei­en ih­rer Mit­schü­ler. Die konn­ten ihr die Freu­de an die­ser Klas­sen­fahrt nicht ver­lei­den.

Sie ge­noss den Schul­aus­flug in vol­len Zü­gen, ob­gleich sie sich in den Ber­gen schon beim ers­ten Mal nicht hun­dert­pro­zen­tig wohl ge­fühlt hat­te.

Ihr fehl­ten so­wohl der Sa­lz­ge­schmack der Luft, das Rau­schen des Mee­res, die trau­rig schau­ri­gen Mö­wen­schreie, das manch­mal hef­tig raue Kli­ma als auch der un­end­li­che Ho­ri­zont so­wie das nie en­den­de Wech­sel­spiel von Eb­be und Flut. …

Sie war wohl eher ein Kind der See, dach­te sie, als sie im Win­ter­gar­ten des gro­ßen Her­ren­hau­ses stand und hin­aus auf die wei­ßen Schnee­kup­pen der bi­zar­ren ge­wal­ti­gen Ber­g­rie­sen schau­te. Ein herr­li­cher An­blick, zwei­fel­los. Trotz­dem wä­re es schön, als­bald ih­re In­sel und das Meer wie­der­zu­se­hen. Dies­mal ge­mein­sam mit Vik­tor.

»Ja, das wä­re echt klas­se!«

»Es ist nicht son­der­lich schmei­chel­haft, einen Gast in mei­nem Hau­se zu be­her­ber­gen, der die­ses ein­zig­ar­ti­ge Pan­ora­ma nicht wirk­lich zu schät­zen weiß, sich statt­des­sen nach Sand, Sa­lz und Wel­len sehnt.« Estra war laut­los zu ihr ge­tre­ten und mus­ter­te sie nun freund­lich von der Sei­te.

Wie sein äl­te­rer Bru­der war auch er ein be­ein­dru­cken­der Mann. Et­was grö­ßer als Vi­tus, sah er ihm in vie­ler­lei Hin­sicht ähn­lich. Nur sein Mund war ei­ne Spur vol­ler als der des Bru­ders und sei­ne Au­gen hat­ten die Fa­r­be sah­ni­ger Milch­scho­ko­la­de. An­sons­ten konn­te je­der­mann auf­grund Haa­r­fa­r­be, Kör­per­bau und nicht zu­letzt we­gen der Grüb­chen auf den Wan­gen so­fort er­ken­nen, dass es sich bei den bei­den El­fen­män­nern um Brü­der han­del­te. Estra al­ler­dings strahl­te ei­ne un­ge­heu­re Ru­he und Kraft aus, wäh­rend Vi­tus eher ei­ne Au­ra von Macht, Au­to­ri­tät und Tem­pe­ra­ment um­gab.

An­na wuss­te, wie sehr sich die bei­den lieb­ten, hat­ten sie doch ih­re El­tern früh ver­lo­ren und da­nach nur noch sich ge­habt. Da­mals muss­te der ein Jahr äl­te­re Vi­tus schon als Neun­zehn­jäh­ri­ger den Thron über­neh­men, um sei­ne Pflicht als Kö­nig zu er­fül­len.

Wie kam es ei­gent­lich, dass sie so vie­le El­fen kann­te, de­ren El­tern schon früh ge­stor­ben oder aber nicht gut zu ih­ren Kin­dern ge­we­sen wa­ren?, frag­te sich An­na. In solch ei­nem Au­gen­blick war sie stets dank­bar, ei­ne der­art wun­der­ba­re Fa­mi­lie zu ha­ben.

Im letz­ten Jahr war ih­re Mut­ter schwer krank ge­we­sen, was An­na in Angst und Schre­cken ver­setzt hat­te. Gott sei Dank ging es The­resa nun wie­der gut.

Estras Wor­te ris­sen sie aus ih­ren Ge­dan­ken. – Den Ge­dan­ken an die See, ih­re El­tern, an schlech­te Men­schen und El­fen und dar­an, dass die Zwil­lin­ge von Estra und Isi­nis groß­ge­zo­gen wor­den wa­ren, weil Vi­tus da­mals ge­gen ei­ne bö­se Be­dro­hung hat­te kämp­fen müs­sen. Sie er­rö­te­te, da Estra all die­se Ge­dan­ken pro­blem­los hat­te in ihr le­sen kön­nen.

»Nein«, er­wi­der­te sie has­tig, »nein, die Ber­ge sind wun­der­schön, Estra. Wun­der­schön. Aber …«

»Aber du hast den Groß­teil dei­ner Som­mer zu­sam­men mit dei­nen El­tern und Ge­schwis­tern ver­bracht, und das am Meer«, voll­en­de­te Estra ih­ren Satz. »Das hat ei­ne en­ge Bin­dung zu die­ser Ge­gend ge­schaf­fen. Du liebst dei­ne Fa­mi­lie und hast die Zeit, die du mit ihr dort ver­brin­gen durf­test, si­cher­lich ge­nos­sen. Dei­ne El­tern sind wun­der­vol­le Men­schen, An­na. Dich wird es im­mer dort­hin zie­hen, wo du solch un­be­schwer­te Som­mer­ta­ge mit ih­nen er­lebt hast. Das ver­ste­he ich.«

Er grins­te ver­schmitzt. »Wä­ren The­resa und Jo­han­nes je­doch von An­fang an nicht ans schnö­de Meer mit euch ge­reist, son­dern in die wirk­lich und ein­zig schö­ne Berg­welt, dann, ja dann wür­dest du jetzt kei­nen Deut auf die läp­pi­sche Nord­see ge­ben.«

An­na lach­te. Estra war ein be­mer­kens­wert warm­her­zi­ger Mann. Sie konn­te sich gut vor­stel­len, wie sich Isi­nis und er dar­um be­müht hat­ten, Vik­tor und Vik­to­ria ei­ne eben­so un­be­schwer­te Kind­heit zu be­rei­ten wie den drei leib­li­chen Kin­dern.

»Wie das wohl ge­we­sen sein mag, plötz­lich zwei Kin­der zu ha­ben? Von jetzt auf gleich. Sie wa­ren noch so jung und hat­ten zu der Zeit ih­re ei­ge­nen Kin­der noch nicht.«

»Es war schwer, An­na. Furcht­bar schwer«, seufz­te Estra. Un­ter­des­sen bot er ihr einen der be­que­men Ses­sel an.

Kaum hat­te sie Platz ge­nom­men, brach­te ei­ner der Be­diens­te­ten Ap­fel­saft zur Er­fri­schung. An­na hob den Kopf, um dem jun­gen El­fen zu dan­ken. Doch der wirk­te schüch­tern und senk­te de­mü­tig den Blick. Mit dem kur­z­en üb­li­chen Kopf­ni­cken Estra ge­gen­über und den Wor­ten »Mein Herr« ver­ließ er lei­se den Raum.

An­na wür­de sich wohl nie­mals dar­an ge­wöh­nen, je­den Hand­griff von Frem­den er­le­digt zu be­kom­men. Das war ihr un­an­ge­nehm. Sie schob den Ge­dan­ken bei­sei­te und wand­te sich wie­der Estra zu, der sei­nen Die­ner mit ei­nem knap­pen »Dan­ke, Ha­mo« be­dacht, ihm an­sons­ten kei­ne wei­te­re Be­ach­tung ge­schenkt hat­te.

»Ver­steh mich bit­te nicht falsch«, setz­te er un­be­irrt fort. »Wir hat­ten na­tür­lich kein Pro­blem da­mit, die bei­den zu uns zu neh­men. Nein, wir ha­ben Vik­tor und Vik­to­ria von der ers­ten Se­kun­de an ge­liebt.« Mit trau­ri­gem Ge­sichts­aus­druck rieb er sich das Kinn. »Es wa­ren nur so furcht­ba­re Um­stän­de. Du hast Ka­na ja im letz­ten Jahr er­lebt, sie und ih­ren Hass, ih­re Hab­gier und Rach­lust. Da­durch hat sie Vi­tus‘ Le­ben zer­stört und das un­se­rer El­tern be­en­det. Da­nach sta­rb zu­dem Ve­ro­ni­ka di­rekt nach der Ge­burt der Zwil­lin­ge.«

Nun wirk­te er nach­denk­lich. »Heu­te glau­be ich, dass Ka­na auch mit Ve­ro­ni­kas Tod et­was zu tun hat­te. Sie hät­te die Macht da­zu be­ses­sen. Schließ­lich hat sie ja auch dir und dei­ner Mut­ter mit ih­ren üb­len Ge­dan­ken und Träu­men zu scha­den ver­sucht. Na ja, das wer­den wir wohl nie mehr er­fah­ren, nicht wahr?«

Er­neut strich Estra mit der Hand über sein Kinn. »Es war je­den­falls ei­ne schreck­li­che Zeit. Zu al­le­dem woll­te Ka­na so­gar Vik­to­ria und Vik­tor tö­ten. Aus sei­ner Sicht hat­te Vi­tus da­mals kei­ne an­de­re Wahl. Er muss­te die Ba­bys uns über­las­sen. Bei uns wa­ren sie ge­schützt. Da­für hat­te er ge­sorgt.« Den Kopf schüt­telnd fuhr er fort: »Es läuft mir im­mer noch eis­kalt den Rü­cken run­ter, wenn ich dar­über nach­den­ke, dass mein Bru­der über acht­zehn Jah­re lang mit die­ser Be­dro­hung ge­lebt und sei­ne Sor­gen nicht mit mir ge­teilt hat. Er war der­art tief mit der Trau­er um Ve­ro­ni­ka er­füllt, noch da­zu um die Si­cher­heit sei­ner Kin­der und un­se­re be­sorgt, dass er sich die­se Last ganz al­lein auf­ge­bür­det hat. Die Zwil­lin­ge hat er nur sel­ten be­sucht, aus Furcht, er könn­te Ka­na da­mit einen Weg zu ih­nen of­fen­ba­ren.« Estra seufz­te noch ein­mal schwer. »Mei­ne Gü­te, was war das für ei­ne trau­ri­ge Zeit.«

An­na hat­te ihm still zu­ge­hört. Si­cher, sie kann­te die Ge­schich­te über die Kö­ni­gin des süd­li­chen El­fen­lan­des. Vi­tus hat­te sie ihr er­zählt.

… Die Ge­schich­te von der da­mals drei­zehn Jah­re al­ten Prin­zes­sin Ka­na, wel­cher der sei­ner­zeit erst vier­zehn­jäh­ri­ge El­fen­prinz Vi­tus, ge­blen­det von ih­rer Schön­heit, die Ehe ver­spro­chen hat­te. Die­ses Ver­spre­chen lös­te er spä­ter al­ler­dings, weil er sich mit ei­nem Mal Ka­nas un­glaub­li­cher In­tri­gen be­wusst wur­de. Trotz­dem be­stand sie be­harr­lich auf das Ehe­ver­spre­chen. Des­we­gen war sie au­ßer sich, als Vi­tus sich in Ve­ro­ni­ka ver­lieb­te und die­se so­gar von ihm schwan­ger wur­de.

An­na wuss­te, dass Ka­na, von Ra­che ge­trie­ben, die grau­sa­men Mäch­te, die Nu­urt­ma, auf Vi­tus hetz­te und dass da­bei Vi­tus‘ und Estras El­tern im töd­li­chen Kampf ih­re Le­ben ver­lo­ren. Dann sta­rb oben­drein Ve­ro­ni­ka. Den­noch gab Ka­na sich mit die­sem ver­meint­li­chen Sieg noch lan­ge nicht zu­frie­den. Ih­re Rach­gier war mit­nich­ten ge­stillt.

Erst im ver­gan­ge­nen Jahr wur­de sie ge­mein­sam mit ih­rem Ge­lieb­ten, dem El­fen­zau­be­rer Kaoul, zur Stre­cke ge­bracht. Erst nach so lan­ger Zeit fand der Schre­cken end­lich ein En­de. …

An­na war er­staunt. Ei­gent­lich hat­te sie Vik­tor ein­zig aus dem Grund hier­her­be­glei­tet, weil ein wich­ti­ger Auf­trag an­stand. Dar­über hin­aus konn­te Vik­tor zu­sam­men mit ihr, Vik­to­ria und Ke­tu sei­nen ge­lieb­ten Zieh­el­tern einen Be­such ab­stat­ten. Dass sein On­kel ein per­sön­li­ches Ge­spräch mit ihr füh­ren wür­de, da­mit hat­te sie über­haupt nicht ge­rech­net. Bis­her war es nie vor­ge­kom­men, dass Estra sich An­na ge­gen­über ge­ra­de in die­ser Sa­che, noch da­zu der­art in­tim ge­äu­ßert hat­te. Nun wur­de sie sich des gro­ßen Ver­trau­ens be­wusst, das er ihr ent­ge­gen­brach­te.

Et­was ver­le­gen wand­te sie sich Estra zu. Sie sprach ih­re Wor­te lei­se: »Vik­tor und Vik­to­ria ha­ben stets er­zählt, dass sie glü­ck­lich bei euch wa­ren. Sie lie­ben Isi­nis und dich.«

»Wir wa­ren auch glü­ck­lich mit ih­nen, An­na. Wir dach­ten, sie ge­hör­ten ganz al­lein uns. Ja, wir dach­ten da­mals tat­säch­lich, Vi­tus wür­de sie gar nicht wol­len, da sie ihn zu sehr an Ve­ro­ni­ka er­in­ner­ten und er dies in sei­ner Ver­bit­te­rung nicht er­trug. Wir ahn­ten ja nichts von sei­ner Ver­zweif­lung und Not.«

Estra stand auf, blick­te zum Fens­ter hin­aus und dreh­te sich ihr da­nach wie­der zu. »Der Tod un­se­rer El­tern hat­te uns bei­de schwer ge­trof­fen. Die Zwil­lin­ge ha­ben mir da­bei ge­hol­fen, mein Gleich­ge­wicht zu­rück­zu­fin­den. Es tat so gut, sich um sie zu küm­mern. Sie wa­ren ein­fach be­zau­bernd. Mein Bru­der hin­ge­gen quäl­te sich über acht­zehn Jah­re lang. Al­lein. Oh­ne Zu­spruch und Wär­me. Das macht mir im­mer noch schwer zu schaf­fen. Das und die Tat­sa­che, dass Vi­tus zu al­lem Über­fluss glaubt, in­dem er die Kin­der bei uns ließ, müs­se er uns ge­gen­über ein schlech­tes Ge­wis­sen ha­ben.« Estra schnaub­te laut auf. »Da­bei ha­ben sei­ne Kin­der mich ge­ret­tet.«

»Ich den­ke, dass Vi­tus euch eher dank­bar ist, weil ihr die bei­den so be­hü­tet und glü­ck­lich habt auf­wach­sen las­sen. Er ist ihr Va­ter und hat fest­ge­stellt, zu welch groß­ar­ti­gen Hal­bel­fen ihr sie er­zo­gen habt. Ich weiß ge­nau, dass er un­end­lich froh dar­über ist. Der Rest ist Ge­schich­te, Estra. Es kann nicht un­ge­sche­hen ge­macht wer­den. Aber du hast eben­so we­nig Grund für ein schlech­tes Ge­wis­sen ge­gen­über Vi­tus.«

Estra trat vor An­na, zog sie vom Ses­sel und nahm sie in den Arm.

»Als Vik­tors Zieh­va­ter möch­te ich dir sa­gen, wie glü­ck­lich ich bin, dass er dich ge­fun­den hat, An­na.« Nach­dem er ihr die Stirn ge­küsst hat­te, sah er sie mit sei­nen war­men Au­gen an. »Du bist die Rich­ti­ge für ihn. Nur du.«

An­na wur­de ver­le­gen. Estra hat­te sich ihr ge­gen­über schon im­mer äu­ßerst freund­lich ver­hal­ten, doch die­se Wor­te, so vol­ler Lie­be und Wär­me, be­rühr­ten sie tief und lie­ßen sie er­rö­ten. Estra spür­te na­tür­lich ih­re Ver­le­gen­heit und lä­chel­te.

»Un­se­re be­schei­de­ne An­na wird mal wie­der rot. Das brauchst du nicht. Ich woll­te dir nur ein­mal sa­gen, wie froh Isi­nis und ich sind, dass Vik­tor mit dir end­lich die Rich­ti­ge ge­fun­den hat.«

»End­lich die Rich­ti­ge?«

Estra be­dach­te sie mit ei­nem prü­fen­den Blick. »Du bist noch sehr jung, An­na, und den­noch schon so er­wach­sen für dein zar­tes Men­sche­n­al­ter. Das ist ei­ne ty­pisch el­fi­sche Ei­gen­art. El­fen sind so­zu­sa­gen früh­r­eif. Vik­tor war acht­zehn, als er dich ken­nen­lern­te. Al­so ein er­wach­se­ner jun­ger Mann, der be­reits man­che Er­fah­run­gen ge­macht hat­te. Es muss dir doch be­wusst sein, dass er schon vor dir Kon­takt zu Mäd­chen und Frau­en hat­te, so, wie du be­stimmt auch vor ihm einen Freund hat­test.«

An­na starr­te ihn mit gro­ßen Au­gen an. Of­fen­bar er­kann­te Estra sei­nen Feh­ler.

»Ich hät­te dir das nicht er­zäh­len sol­len. Das wä­re Vik­tors Sa­che ge­we­sen, An­na. Es tut mir leid. Mir war nicht klar, dass er dein ers­ter Freund ist.«

»Es braucht dir nicht leid zu tun. Ich bin näm­lich voll und ganz dei­ner Mei­nung, Estra. Mir hät­te das ei­gent­lich klar sein müs­sen. Nur ha­be ich mir dar­über wirk­lich nie Ge­dan­ken ge­macht. Wirk­lich nie­mals.«

Ein merk­wür­dig un­an­ge­neh­mes Zie­hen und Krib­beln mach­te sich in ih­rem Bauch breit. Das war ein Ge­fühl, das An­na ganz und gar nicht be­hag­te. Mit al­ler Macht ver­such­te sie, es vor Estra zu ver­ber­gen, und hoff­te in­stän­dig, dass es ge­län­ge. Sie wuss­te na­tür­lich, dass ihm ein ab­rup­ter The­men­wech­sel auf­fal­len müss­te. Doch woll­te sie ein­fach nicht mehr dar­über re­den.

»Hast du ei­gent­lich mit­be­kom­men, dass sie die Ur­teils­ver­kün­dung für Herrn Zitt ver­scho­ben ha­ben, weil der letz­tens im Ge­richts­saal aus­ge­tickt ist? Der Rich­ter über­legt, ein wei­te­res psych­ia­tri­sches Gut­ach­ten an­zu­for­dern. Könn­te tat­säch­lich sein, dass mein ehe­ma­li­ger Bio­lo­gie­leh­rer für lan­ge Zeit weg­ge­sperrt wird.«

Ein klei­nes Lä­cheln um­spiel­te Estras Lip­pen. Höchst­wahr­schein­lich hat­te er An­nas kläg­li­ches Ab­len­kungs­ma­nö­ver so­fort durch­schaut, sag­te aber nichts da­zu. Statt­des­sen zog er sie in sei­ne Ar­me und drück­te sie fest an sich. »Da­für, was die­ser Mann dir und an­de­ren jun­gen Frau­en an­ge­tan hat, gibt es kei­ne Wie­der­gut­ma­chung. Kei­ne Stra­fe wä­re hart ge­nug, An­na. Ich hof­fe trotz­dem, es ist dir Trost und Be­ru­hi­gung, wenn du weißt, dass der Kerl hin­ter ver­schlos­se­nen Tü­ren blei­ben wird. Wie hat Vi­tus das ge­nannt: Klap­se

An­na schau­te zu ihm auf und lä­chel­te matt über das flap­si­ge Wort aus der Men­schen­welt, das den El­fen so fremd war. Doch dann wur­de sie wie­der ernst, da sie mit ei­nem Mal be­griff, wie sehr ihr die gan­ze Sa­che da­mals zu­ge­setzt hat­te.

»Ja, das ist es. Seit dem Tag im Ge­richt, seit ich den Mist­kerl noch ein­mal ge­se­hen und ihn ge­ohr­feigt ha­be, geht es mir viel bes­ser. Bis da­hin war mir ei­gent­lich gar nicht klar, dass es mir schlecht ging. Ich hat­te es wohl ver­drängt.«

Nach­dem Estra ihr er­neut Platz an­ge­bo­ten hat­te, setz­te auch er sich. »Wir al­le ha­ben ge­spürt, dass du dich hin­ter ei­ner schüt­zen­den Mau­er ver­schanzt hat­test, die du sel­ber ein­rei­ßen muss­test. Nun ist die­se Mau­er ge­fal­len. End­lich. Das ist schön. Du gehst so­gar ge­stärkt aus der Sa­che her­vor. Nicht, dass ich die­se Un­tat und dei­ne furcht­ba­re Er­fah­rung gut­hei­ße. Es ist den­noch ei­ne gu­te Sa­che, wenn man ei­ne schreck­li­che Er­fah­rung in einen star­ken We­sens­zug um­wan­deln kann. Du wirkst viel­leicht zer­brech­lich, An­na, doch du bist ei­ne star­ke Frau. Das hast du be­reits mehr­mals un­ter Be­weis ge­stellt.«

»Nun ist es aber ge­nug mit der Lob­hu­de­lei. Mir wird schon ganz mul­mig da­von.«

Nach­dem er einen Schluck von sei­nem Saft ge­trun­ken hat­te, sah er sie ver­gnügt an. »Ja, so hat Vi­tus dich von Be­ginn an be­schrie­ben: zu zu­rück­hal­tend, zu be­schei­den. Aber las­sen wir das. Er­zähl mir lie­ber von dei­nem ers­ten län­ge­ren Aus­ritt mit Ger­tus.«

Sie lach­te hell auf, froh dar­über, voll­ends von ih­ren selt­sa­men Emp­fin­dun­gen ab­lenkt zu wer­den.

»Vi­tus und Lo­a­na – ach ihr al­le – hat­tet na­tür­lich recht. Das Pferd macht das meis­te von ganz al­lein. Man muss nur mit ihm spre­chen. Ger­tus ist so ein Lie­ber«, schwärm­te sie. »Noch da­zu ich fin­de ihn aus­ge­spro­chen hübsch mit sei­nem ge­scheck­ten Fell. Au­ßer­dem ist er sehr klug. Er hat mei­ne Angst, auf sei­nen Rü­cken zu sprin­gen, so­fort wahr­ge­nom­men. Des­halb macht er sich jetzt im­mer klein, in­dem er sei­ne Vor­der­bei­ne ein­knickt.«

… An­na be­hielt für sich, dass sie es trotz­dem ein we­nig ver­miss­te, sich an Vik­tor zu schmie­gen, wenn sie mit ihm ge­mein­sam auf Ari­el­la ritt. Al­ler­dings ver­kürz­te sich die Rei­se­zeit auf­grund ih­res ei­ge­nen Pfer­des deut­lich, was na­tür­lich von gro­ßem Vor­teil war.

Über­dies hat­te sie sich so­gar schon ein­mal al­lein ins El­fen­land ge­wagt, um Vik­tor zu über­ra­schen. Sie be­saß ja mitt­ler­wei­le al­le not­wen­di­gen Schlüs­sel, mit de­ren Hil­fe sie ei­gen­stän­dig zum Schloss ge­lan­gen konn­te. Wie es sich für ein gu­tes el­fi­sches Pferd ge­hör­te, war Ger­tus auf ih­ren ge­dank­li­chen Zu­ruf so­fort zum Por­tal am Bach­sprung ge­kom­men und hat­te sie si­cher zum Schloss ge­bracht. Scha­de war nur, dass Vik­tor, ob­wohl An­na ih­ren Geist sorg­sam ver­bor­gen ge­hal­ten hat­te, am Schloss­tor mit ei­nem wis­sen­den Lä­cheln auf sie ge­war­tet hat­te. Sie wür­de Ger­tus ir­gend­wie bei­brin­gen müs­sen, sei­ne Ge­füh­le für sich zu be­hal­ten, denn der hat­te mit sei­ner Freu­de ih­ren Plan of­fen­bar ver­ra­ten. …

»Du brauchst Ger­tus bloß zu sa­gen, dass du Vik­tor über­ra­schen willst. Dann hält er sich zu­rück. Das ist kein Pro­blem. El­fen­pfer­de sind wirk­lich äu­ßerst klug. Und falls ihr Lust da­zu habt, könnt ihr zwei auch wei­ter­hin ab und an auf Ari­el­la eu­re Aus­rit­te un­ter­neh­men. Sei nur et­was vor­sich­tig. So ein treu­es Pferd wie Ger­tus neigt schnell zur Ei­fer­sucht, wenn es sich ver­nach­läs­sigt fühlt.«

An­na run­zel­te die Stirn. Wie­der ein­mal war es ihr nicht ge­lun­gen, sich men­tal ab­zu­schir­men. Aber das war es ei­gent­lich nicht, was sie stör­te, son­dern die Er­wäh­nung des Be­grif­fes Ei­fer­sucht.

War es Ei­fer­sucht, die sie bei dem Ge­dan­ken plag­te, dass Vik­tor be­reits vor ihr ei­ne Freun­din oder viel­leicht so­gar meh­re­re ge­habt hat­te? Dies­mal ach­te­te sie pe­ni­bel dar­auf, nichts von ih­ren Ge­füh­len preis­zu­ge­ben. Sie schäm­te sich da­für.

»Ja, das mach ich«, er­wi­der­te sie knapp und blieb da­nach still.

***

Estra nahm An­nas Stim­mungs­wech­sel durch­aus wahr, hielt sich aber zu­rück, hat­te er doch von sei­nen Töch­tern Vik­to­ria und Il­tra­na ge­lernt, in sol­chen Si­tua­ti­o­nen auf der Hut zu sein. Il­tra­na war zwar ein paar Jah­re jün­ger als An­na, al­ler­dings wies selbst sie be­reits der­ar­ti­ge, aus sei­ner männ­li­chen Sicht ge­ra­de­zu ge­fähr­li­che Lau­nen auf, de­nen er als Va­ter lie­ber aus dem We­ge ging. Des­halb war er aus­ge­spro­chen er­leich­tert, als die Tür sich öff­ne­te und Isi­nis ein­trat.

Wie je­des Mal, wenn er sei­ne Frau er­blick­te, hell­te sich sei­ne Stim­mung auf – auch nach zwan­zig Ehe­jah­ren. Noch im­mer war sie wun­der­schön, schoss es ihm durch den Kopf.

Ty­pisch El­fe – groß und schlank – trug sie ihr hell­blon­des Haar so lang, dass es ihr in glän­zen­den Wel­len weit hin­ab über die Schul­ter fiel. Aus hell­grü­nen Au­gen wan­der­te ihr Blick ru­hig von ih­rem Ehe­mann zu An­na und wie­der zu­rück.

Of­fen­sicht­lich er­kann­te Isi­nis die ver­schie­de­nen Emo­ti­o­nen im Raum und be­schloss, we­der auf das be­gehr­li­che Mie­nen­spiel ih­res Man­nes noch auf An­nas et­was dun­kel wir­ken­den Ge­dan­ken ein­zu­ge­hen.

»Vi­tus, Vik­tor und Ke­tu sind auf dem Rü­ck­weg. Sie müss­ten in zehn Mi­nu­ten ein­tref­fen. Ihr könn­tet ge­mein­sam mit Vik­to­ria den Tisch de­cken. Su­sa, Med­lin und ich sind mit Ko­chen be­schäf­tigt. Ha­mo geht den Stall­bur­schen zur Hand und die Kin­der sind noch un­ter­wegs. Al­so, ihr Tu­nicht­gu­te, auf, auf!«

»Ich geb dir gleich eins, von we­gen Tu­nicht­gu­te«, gab Estra mit ei­nem brei­ten Grin­sen zu­rück, er­hob sich wäh­rend­des­sen aus sei­nem Ses­sel. »Wir ha­ben die Zeit nicht ver­geu­det, son­dern ein ernst­haf­tes Ge­spräch ge­führt, mei­ne Lie­be. Doch trotz die­ser un­ge­mein her­ab­las­sen­den Be­mer­kung wer­de ich dir ger­ne hel­fen.«

»Ich na­tür­lich auch. Zeig mir nur, wo al­les steht, Isi­nis, dann kann ich das gern al­lein ma­chen. Ich bin ei­ne be­gna­de­te Tisch­de­cke­rin.« An­na lach­te. Viel­leicht ein we­nig zu fröh­lich, viel­leicht ei­ne Spur zu auf­ge­setzt, mein­te Estra. Er ge­wahr­te ih­re Freu­de, et­was zu tun zu be­kom­men, au­ßer­dem ih­re Er­leich­te­rung, weil er und Isi­nis die­se Emp­fin­dun­gen – An­nas Mei­nung nach – nicht zu er­ken­nen schie­nen.

Tat­säch­lich aber war es An­na selbst, die Estras und Isi­nis‘ ver­stoh­le­ne, be­sorg­te Bli­cke hin­ter ih­rem Rü­cken nicht be­merk­te.

Sonnenwarm und Regensanft - Band 4

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