Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 6
Der Tag beginnt
Оглавление»Ach nein, Viktor, ich bitte dich«, stöhnte Anna verdrossen. »Nicht schon wieder.«
Ab und zu hielt Viktor sie am frühen Morgen fest in seinen Armen. Er gab sie einfach nicht frei, auch wenn sie eine volle Blase plagte und deshalb dringend auf die Toilette musste.
Eigentlich war er meist vor ihr wach. Er beobachtete gern, wie sie schlief. Sie sähe dabei zum Anbeißen süß aus, so zusammengerollt wie ein kleines Kätzchen, hatte er ihr erklärt. Trotzdem übermannte ihn wohl manchmal die Müdigkeit. Dann schlief er so tief und fest, dass er kaum wachzubekommen war. Währenddessen umarmte er sie derart besitzergreifend, als ob man sie ihm wegnehmen könnte.
Viktors Bett in seinem Schlosszimmer war mit dem goldenen Himmel und den kunstvollen Schnitzereien im dunklen Holz nicht nur wunderschön, es bot zudem auch ausreichend Platz. Dennoch nahmen sie beide meist nur einen Bruchteil davon ein, da Viktor seine Arme und Beine um Anna geschlungen hielt, als wäre er ein Oktopus und nicht nur vier, sondern acht Gliedmaße würden sich um sie winden.
Demnach war seine Reaktion auf ihre Bitte, sie aufstehen zu lassen, eigentlich vorhersehbar, denn er zog sie, wie jedes Mal, noch fester an sich. »Nein, meine Süße, du bleibst fein bei mir. Vielleicht kommst du sonst nicht zurück«, knurrte er im Halbschlaf. »Wer weiß, vielleicht wirst du entführt und dann stehe ich da – allein – ohne … Oh – ooh, scheiße!«
Wie vom Blitz getroffen ließ er Anna los und sprang aus dem Bett. Nun hatte er doch davon angefangen: von Entführung! Und der Gedanke daran führte sie zwangsläufig und geradewegs zu dem heute stattfindenden Strafprozess.
»Entschuldige, Anna, das war echt blöd von mir!«, rief er aus und raufte sich die vom Schlaf zerzausten Haare. Dann schüttelte er vehement den schönen Kopf. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid! Ich bin ein Volltrottel! Ich …«
»Hey, mach mal halblang, Viktor. Alles ist gut. Ich werde diese doofe Verhandlung überstehen, echt. Mach dir also keinen Kopf.« Mittlerweile war auch sie aufgestanden, schlüpfte geschmeidig an ihm vorbei und war einfach nur froh, endlich zur Toilette gehen zu können.
Als sie zurückkam, lag er wieder im Bett und blickte ihr ernst entgegen. »So wollte ich den heutigen Tag nun wirklich nicht beginnen, Kleines.«
Nachdem sich Anna zu ihm unter die Decke gekuschelt hatte, gab sie ihm einen süßen Kuss. »Der Mistkerl macht mir keine Angst mehr, das weißt du doch. Ich habe nur nicht mehr davon gesprochen, weil ich uns die Stimmung nicht verderben wollte. Die Zeit ist viel zu kostbar, um sie auch nur mit einem Gedanken an diesen fiesen Typen zu verschwenden.« Sie streckte sich genüsslich aus, bevor sie nach ihrer Brille griff. »Wie spät ist es denn?«
»Wir haben noch massig Zeit. Es ist halb sieben. Die Verhandlung beginnt ja erst nach dem Mittag. Vor ein Uhr brauchen wir nicht dort zu sein. Ein Glück, dass wir für die gleiche Zeit als Zeugen geladen wurden. So bist du also nicht allzu lange allein.«
»Dabei hast du wohl vergessen, dass wir gedanklich so gut wie immer zusammen sein können, mein halbelfischer Superprinz. Manchmal glaube ich, du bist wegen der ganzen Sache nervöser als ich.«
Erneut blickte Viktor ernst drein und zog seine geraden Brauen zusammen, sodass sich eine steile Stirnfalte bildete. »Das waren die schlimmsten Momente meines Lebens, Anna. Du, in den Händen dieses Triebtäters. Nicht zu wissen, wo du bist, und dich nicht zu spüren. Als wir dich endlich gefunden hatten, da dachte ich, du seist …« Mit einem Mal strahlte er nicht nur seine Sonne, sondern eine immense Hitze aus. Sogar ein paar kleine Blitze zuckten durchs Zimmer. »Himmel noch eins, Anna! Ich weiß nicht, ob ich mich zusammenreißen kann, wenn ich ihn sehe. Am liebsten würde ich ihn …«
… Nun sah Anna sich endgültig dazu gezwungen, an diese fürchterliche Sache zu denken. Wobei sie bis heute nicht wusste, was eigentlich schlimmer für sie war:
Der Streit mit Viktor, nach welchem sie ihn ein paar Tage – für sie eine Ewigkeit – nicht gesehen hatte, ja, nicht einmal fühlen konnte, zudem nicht wusste, ob er sie überhaupt noch liebte und wollte. Oder die sich daran anschließende Entführung durch ihren Biologielehrer. Der hatte sie in seine Wohnung verschleppt, um sie zu vergewaltigen und anschließend zu töten. …
Bei der Erinnerung überfiel sie für einen winzigen Augenblick die gleiche ohnmächtige Leere und überwältigende Panik wie damals, als Viktor scheinbar nicht mehr mit ihr zusammen sein wollte. In dieser Sekunde wurde ihr deutlich, wie sehr ihr die Trennung seinerzeit zu schaffen gemacht hatte. Mehr als die Angst, in der Gewalt eines Wahnsinnigen zu sein.
»Der Mann kommt nicht mehr frei, Viktor. Er ist verrückt. Der ist immerhin schon jetzt in der Klapse. Außerdem habe ich noch Glück gehabt. Andere Mädchen hat er schließlich tatsächlich missbraucht.« Dass der Mann allerdings, im Gegensatz zu seinen anderen Opfern, Anna hatte töten wollen, ließ sie lieber außer Acht. »Ihr habt mich davor bewahrt.« Sie strich ihm zärtlich über die Wange. »Es war für uns beide eine schlimme Zeit. Lass uns einfach die Verhandlung hinter uns bringen und danach nicht mehr drüber nachdenken.«
Sie gab ihm einen kleinen Kuss. »Du wirst dich während deiner Aussage im Griff haben, das weiß ich. Das weiß ich, weil du mich liebst. Mach dir deshalb keine Sorgen.« Sie legte sich zurück in seine Arme.
Er streichelte versonnen ihre Schulter. »Es tut mir leid, dass ich damals so mies reagiert und dir derart wehgetan habe.«
»Nicht, Viktor! Wir haben beide dumme Fehler gemacht. Aber das ist vorbei. Lass es uns endlich abhaken. Bitte!«
Viktor seufzte schwer. »Ich kann das nicht einfach abhaken. Mir ist doch klar, wie sehr dich die Sache nach wie vor mitnimmt, auch wenn du es andauernd abstreitest. Ist dir mal aufgefallen, dass du das meistens rein gedanklich tust und selten laut aussprichst?« Er richtete sich auf, um ihr besser in die Augen schauen zu können. »Du hast sogar die Schule gewechselt, weil dich die Erinnerungen nicht losgelassen haben. Nicht nur, weil du dort obendrein gemobbt worden bist.«
»An der neuen Schule fühle ich mich erheblich wohler. Das weißt du. Mir geht‘s gut.«
***
… Allerdings erkannte Anna nicht, dass Viktor sehr wohl gewahr wurde, wie sich ihr Herz bei dem Gedanken an die Zeit an ihrem alten Gymnasium schmerzlich zusammenzog. Offenbar konnte sie sich nie an die Albträume erinnern, die sie regelmäßig heimsuchten und aus denen er sie äußerst behutsam zu befreien versuchte. Das zeigte ihm, wie sehr sie das Ganze bedrückte. Dass diese schlimmen Erinnerungen und Träume zum Großteil auf sein eigenwilliges Verhalten von damals zurückzuführen waren, belastete ihn schwer.
Elfen vermochten Vieles zu vollbringen. Selbst als »nur« halbmenschlicher Elfe konnte Viktor Gedanken erspüren und beeinflussen. Überhaupt waren ihm, aufgrund des Erbes seines machtvollen Vaters, inzwischen viele Dinge möglich: die eigene innere Sonnenwärme spenden; dem Feuer per Geisteskraft zündende Nahrung geben; dem Himmel Blitze stehlen und dem Wetter eine andere Richtung geben. Das waren nur einige der Talente der Elfen. Seine Schwester Viktoria nahm sogar manchmal Visionen aus der Zukunft wahr. – Aber die Zeit zurückdrehen, das ging nun mal nicht. Das konnte nicht einmal sein überaus mächtiger Vater. …
Trotz dieser kurzen verschlossenen Grübeleien legte Viktor sich wieder hin, ließ währenddessen seine Hand unter Annas Achsel hindurchkrabbeln und suchte zielstrebig ihre Brust. »Ich glaube, du solltest mir beim Abhaken dieser ganzen Angelegenheit unbedingt behilflich sein, Kleines.« Er grinste sie verschmitzt an. »Dazu brauche ich jegliche seelische und körperliche Unterstützung, die du mir geben kannst. Das ist sehr, sehr wichtig.«
Wie üblich brauchte er nicht lang, um Anna zum Schmelzen zu bringen. Schon war das Zimmer, wie bereits in der Nacht zuvor, mit seinem Sonnenschein erfüllt, und sie gaben sich gegenseitig das, was sie nun am allermeisten brauchten.
***
Als Lena die Schlossküche betrat, flötete Anna: »Oh, hallo Schwesterherz, schön dich zu sehen.«
Das heitere Lächeln ihrer fast drei Jahre jüngeren Schwester ließ Lena unangenehm berührt und verlegen zur Seite schauen, während sie Hand in Hand mit ihrem sehr großen Freund Sentran, einem von Vitus‘ sechs Elitewachmännern, Richtung Küchentisch ging. Eigentlich hatte sie gehofft, dass um diese Zeit niemand mehr frühstücken würde. Doch war dem nicht so.
»Ja, hallo«, gab sie kleinlaut zurück.
Anscheinend war ihr Denken dabei wieder einmal so laut, dass Anna vergnügt weiterlächelte. »Du musst nicht mit zum Gericht kommen, Lena«, erklärte sie. »Es reicht mir völlig, dass Papa Nebenkläger ist und Mama im Publikum sitzt. Viktor und ich werden da hingehen, aussagen und hoffentlich schnell wieder abhauen. Du und Jens, ihr müsst nicht auch noch dort aufkreuzen.« Anna legte den Kopf schief und sah Lena mit zusammengekniffenen Augen an. »Du bist schon seit Längerem hier im Schloss, nicht wahr? Sentran hat dich bereits gestern abgeholt, wie ich gehört habe. Hast du dich wirklich nicht getraut, mit mir zu reden?«
Jetzt fühlte Lena eine heiße Röte in sich aufsteigen. »Äh, tut mir leid«, druckste sie herum. »Ich dachte, du wärst vielleicht beleidigt, weil ich nicht dorthin will. Ich, ich … Mir wäre dabei nicht wohl, glaub ich.«
… Sie und Anna teilten das Schicksal, entführt worden zu sein. Auch Lena war erst kurze Zeit zuvor gewaltsam verschleppt worden. Und zwar von ihrem Ex-Freund Marius, einem Journalisten, der Lenas Wissen über die Elfen hatte aus ihr herauspressen wollen und gedroht hatte, ihr etwas anzutun, wenn man ihm die geforderten Informationen nicht gäbe. Bei ihrer Befreiung war Viktor beinahe getötet worden.
Offenbar war es gar nicht gut für die geistige Gesundheit, sich mit den Schwestern und demzufolge mit den Elfen anzulegen, denn beide Kidnapper verbrachten ihre Tage inzwischen in der Psychiatrie.
Trotzdem, die Erinnerung daran bereitete Lena nach wie vor Bauchschmerzen. Die Gerichtsverhandlung, so fürchtete sie, könnte sie noch mehr aus den Tritt bringen. …
»Lena, du musst mich nicht begleiten. Das ich hab dir doch von Anfang an klar und deutlich zu verstehen gegeben.«
Dass Anna sich weiterhin über ihre Verlegenheit zu amüsieren schien, half Lena keineswegs. So trat sie von einem Fuß auf den anderen und versuchte, ihre Gedanken auf »lautlos« zu stellen, so wie es ihr Sentran und Loana beigebracht hatten. In diesen Dingen war sie reichlich unerfahren.
Auch konnte sie immer noch keine Gedanken lesen, kannte ihre Schwester dennoch gut genug, um deren Ängste hinter der allzu fröhlichen Fassade wahrzunehmen. Außerdem hatte Loana ihr allerhand empathische Geschicke übertragen, damit sie als Heilerin ihre Fähigkeiten entfalten konnte. Dank dieser Kraft konnte Lena Krankheiten und Verletzungen erspüren, sowohl körperlichen als auch seelischen Schmerz, und sogar alles, falls nötig und soweit wie möglich, in sich aufnehmen, um es zu kompensieren.
So erkannte sie, dass Anna selbst nach all der verstrichenen Zeit große Furcht bei dem Gedanken an diesen schrecklichen Lehrer empfand. Aber auch bei der Vorstellung, noch einmal von Viktor verlassen zu werden. Und zudem bei der Erinnerung an die grausamen Sekunden, in denen sie hatte annehmen müssen, Viktor wäre von Marius erschossen worden.
Am liebsten hätte Lena ihre kleine Schwester einfach in den Arm genommen, um ihr diese schmerzvollen Empfindungen zu nehmen. Aber das hatte Loana bereits vor einiger Zeit getan. Die Angst vor ihrem Peiniger hatte Anna dadurch beinahe überwunden. Ihre anderen Ängste allerdings saßen sehr viel tiefer und bedurften daher weitaus größeren Zuspruchs.
»Okay, du hast recht«, lenkte sie schließlich ein und zog Sentran hinter sich her.
Sie gab allen einen kleinen Wangenkuss, auch Vitus, der ihr stets gehörigen Respekt einflößte. Danach stellte sie sich an der Küchentheke ein Frühstück zusammen und setzte sich damit an den Tisch.
Ihr entging nicht, wie Sentran ihren Teller wieder einmal kritisch beäugte, während er neben ihr Platz nahm. Noch bevor er den Mund richtig aufmachen konnte, stoppte sie ihn: »Kein Wort über meine Essgewohnheiten, Wachmann.«
Energisch auf ihren Teller deutend, blitzte sie zudem sämtliche Männer am Tisch gekonnt an, sodass selbst Vitus seinen bereits geöffneten Mund mit einem widerwilligen Gesichtsausdruck wieder zuklappte. »Dies ist mein Teller, mit meiner Portion Rührei und meinem Marmeladenbrötchen. Und danach werde ich pappsatt sein, basta! Also spart euch eure Kommentare, ja? Es wäre wirklich schön, endlich mal eine Mahlzeit mit euch zu erleben, bei der ihr mich, Anna oder Loana nicht ständig anmeckert, von wegen, wir würden zu wenig essen und seien viel zu zart und zu dünn.«
»Gut gebrüllt, Löwe«, hörte sie Anna murmeln und anschließend glucksen.
»Ich meckere nicht und werde auch nicht angemeckert«, meldete sich Viktoria zu Wort. Weil nicht nur Lena, sondern auch Anna und Loana sie für diesen Beitrag mit strengen Blicken straften, so, als wären sie von ihr verraten worden, senkte sie reumütig den Kopf und versuchte sich an einem verbalen Rückzieher: »Jaja, okay, ich bin ein bisschen größer als ihr. Deswegen muss ich eben etwas mehr essen, oder?« Sie gab sich zerknirscht, während sie nach rechts und links schielte, musste angesichts des missbilligenden Kopfschüttelns ihres Freundes Ketu schließlich doch schwach grinsen.
Lena quittierte Viktorias Einwand mit einem weiteren Augenfunkeln, ließ die Sache dann aber auf sich beruhen. Stattdessen schob sie sich genießerisch die erste Fuhre Rührei in den Mund und nahm Viktors Schwester währenddessen näher in Augenschein.
Man sah Viktoria die Halbelfe deutlich an, dachte Lena, war die ihrem Bruder doch sehr ähnlich, mit der großen, schlanken Statur und dem dunkelbraunen Haar. Der kurze pfiffige Haarschnitt stand ihr ausgesprochen gut und hätte durchaus von Lenas Schere stammen können. Als angehende Frisörin hatte sie einen geübten Kennerblick für derartige Dinge.
Die ungeheure Ähnlichkeit der Zwillinge faszinierte Lena immer aufs Neue. Jeder der zwei wäre irgendwie die Ausgabe des anderen, fand sie, – der eine halt auf sehr männliche, der andere auf sehr weibliche Art.
Mit einem Mal stieg ihr der aromatische Duft eines Apfels in die Nase. Offenbar hatte Sentran, ohne groß auf das vorherige Geplänkel wegen der Esserei zu achten, den Apfel aus der reich bestückten Obstschale gepflückt und ihn demonstrativ neben Lenas Teller gelegt. »Für später«, murmelte er knapp. Wie es aussah, musste er sich ein Lachen verkneifen, als er Lenas tiefen Seufzer vernahm.
Etwas später stand Anna ohne viel Federlesens auf und zog Viktor gleich mit hoch. Der Teller mit dem fast unberührten Nutellabrötchen zeigte Lena, dass der anstehende Strafprozess ihrer Schwester sehr wohl auf den Magen geschlagen war. Außerdem hatte Viktor, ganz entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten, kein Wort darüber verloren. Jedem war klar, dass Anna an diesem Morgen so gut wie keinen Bissen herunterbrachte, und wenn sie noch so cool tat.
»Wir müssen langsam los. Wünscht uns Glück und macht euch ansonsten keine Sorgen«, gab Anna sich betont munter und richtete sich danach an Viktor: »Wenn Lena heute noch einmal bei Sentran übernachtet, könntest du das ja vielleicht bei mir daheim tun. Was meinst du? Das hast du schließlich noch nie gemacht. Es wäre vielleicht gut, wenn wir heute Abend zu Hause bei Mama und Papa blieben. Sie werden über den Prozess reden wollen, denke ich. So etwas ist wichtig für sie.«
Vitus antwortete anstelle seines Sohnes: »Viktor hat hier über drei Wochen lang die Stellung gehalten und das wirklich ausgesprochen gut. Natürlich wird er heute bei dir bleiben, Tochter.« Daraufhin stand auch er auf, ging zu Anna, die er wie Viktorias Freund Ketu oft als »sein Kind« bezeichnete und nahm sie in den Arm.
… Sie sollte nicht immer so ein mulmiges Gefühl haben, wenn sie in seiner Nähe war, dachte Lena, nun, da sie erneut beobachten durfte, wie herzlich Vitus sein konnte. So viel Macht und Autorität er auch ausstrahlte, er konnte ebenso viel Wärme und Liebe geben.
Sie überlegte: Vitus war größer als Viktor und ziemlich muskulös. Vielleicht fühlte sie sich ja deshalb oft so eingeschüchtert in seiner Nähe. Aber ihr eigener Freund Sentran übertraf den Elfenkönig bei Weitem an Größe und Stärke. Das konnte es also nicht sein.
Oder lag es eventuell an seinem äußerst attraktiven Gesicht, mit den scharf geschnittenen Zügen, schön geschwungenem Mund und der schulterlangen rabenschwarzen Mähne? Nein, hier saßen ausschließlich gutaussehende Elfen. Das schied also auch aus. Selbst Vitus‘ energisches Kinn mit dem männlichen Grübchen in der Mitte fand Lena einfach nur sexy und keinesfalls angsteinflößend. Genau wie sein Lachen, weil er dann aufgrund der Grübchen auf den Wangen seinen Kindern so ähnlich sah.
Nein, es war wohl doch eher seine machtvolle Aura, die ihr diesen Respekt einflößte. …
Als Lena zudem beobachtete, wie Vitus ihre Schwester mit einem liebevollen Blick bedachte, nahm sie sich vor, ihre Vorbehalte endgültig ad acta zu legen.
Es war einfach zu familiär, wie dieser machtvolle Mann einmal sanft über Annas Arme strich, dann sowohl ihren Armreif, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, als auch das Medaillon an ihrer Kette berührte und sprach: »Denk immer daran, was Loana dir einmal gesagt hat, Tochter: Du bist nie allein. Wir alle sind bei dir, überdies deine Eltern und Geschwister, ganz besonders natürlich Viktor. Vergiss das nie.« Er küsste ihre Stirn, machte daraufhin Platz für die anderen, da diese mittlerweile ebenfalls aufgestanden waren, um sich zu verabschieden.
Auch Lena schloss Anna in die Arme und bemerkte, dass ihrer Schwester, wie so oft, vor Rührung eine einzelne Träne die Wange hinablief. Anna sagte nichts, als sie sich abwandte. Das fiel ihr scheinbar zu schwer. Viktor nickte ihnen zu, bevor sie die Küche verließen.
***
Zuerst herrschte betretenes Schweigen, das ausgerechnet Vitus‘ wortkarger Elitewachmann Ketu durchbrach. Er sah Viktoria aus ruhigen hellbraunen Augen zärtlich an.
»Wir wissen, dass Anna viel stärker ist, als sie manchmal wirkt.«
»Hhm«, meinte Viktoria nur.
Vitus dagegen blieb zunächst auffällig schweigsam. Er hatte seinen Geist tief verschlossen, wollte er seine Überlegungen doch gerne für sich behalten. Ihm war durchaus bewusst, dass diese Verhandlung nicht nur Anna, sondern auch Viktor schwer zu schaffen machte. Er würde gedanklich mit seinem Sohn verbunden bleiben, um ihn notfalls zu beruhigen. Dann jedoch macht er seinen Kopf davon frei. Bis zum Prozess war ja noch etwas Zeit. Also wandte er sich in seiner typisch spontanen Art an Sentran: »Was sagt denn Linna eigentlich zu unserem Vorhaben?«
Sentran betupfte sich mit einer Serviette den Mund, bevor er antwortete: »Meine Mutter ist überglücklich, mein König, was sie übrigens bereits vorher schon war. Natürlich hält sie es für maßlos übertrieben, dass du ihr ein Haus auf dem Schlossgelände bauen willst, und dem pflichte ich unumwunden bei. Dennoch freut sie sich über alle Maßen. Noch nie hat sich jemand derart um sie gekümmert.«
Jetzt musste Vitus grinsen. »In einem Punkt hast du mich scheinbar falsch verstanden, Sentran. Das wird nicht nur ein Haus für Linna, sondern ebenso für dich.«
Vitus vergnügte sich an Loanas offensichtliche Verwunderung darüber, dass sein Grinsen sich wegen Sentrans verblüffter Miene noch weiter ausdehnte.
»Na ja, falls du einmal eine Familie gründest, brauchst du Platz. Also sollte das Haus groß genug werden.«
»Mein König, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Dann lass es halt, Sentran. Schließlich habe ich mir den Mund oft genug fusselig geredet, wenn ich euch sechs Wachmännern zu erklären versuchte, dass ihr zu meiner Familie gehört. Allerdings wirst du im Moment noch keine Zeit haben, dich um den Bau zu kümmern. Überlass das also dem Baumeister und deiner Mutter.«
Vitus fuhr aufgrund Sentrans fragendem Gesichtsausdruck fort: »Ich habe Timmun und Essem mit ihren Frauen für zwei Wochen in Urlaub geschickt. Das war schon lange fällig. Zudem wird Annam erst in einer Woche vom Besuch bei seiner Familie im Fernen Osten zurück sein. Tja, und Voltran ist noch mit Kirsa im Norden. Ihr Aufenthalt bei Jeomi und auch Tahiti selbst hat ihnen beiden gutgetan. Jetzt muss Kirsa sich darüber im Klaren werden, ob sie hierher zu Voltran ziehen möchte.«
Vitus seufzte. »Ich denke, ich werde mit dem Baumeister wegen eines weiteren Hauses sprechen müssen. Denn Kirsa wird mitkommen und sie wird Voltran heiraten. Da bin ich mir sicher.«
Die letzten Sätze hatte er mehr zu sich selbst gesagt. Daher wunderte er sich über die staunenden Gesichter der Anwesenden, so sehr war er mit seinen Zukunftsplänen beschäftigt.
Er sprang vom Stuhl. Dabei schaute er Ketu und Sentran gespielt ernst an. »Ja, guckt nicht so verdutzt. Ihr beiden Wachmänner seid nun mal zurzeit die einzigen von den Sechsen, die Viktor und mir zur Seite stehen.«
Er klatschte auffordernd in die Hände. »Also, auf, auf! Es gibt viel zu tun.«
Daraufhin wandte er sich seiner Frau, Viktoria und Lena zu. »Ihr werdet bis heute Mittag wohl oder übel ohne uns auskommen müssen.«