Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 6

Der Tag be­ginnt

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»Ach nein, Vik­tor, ich bit­te dich«, stöhn­te An­na ver­dros­sen. »Nicht schon wie­der.«

Ab und zu hielt Vik­tor sie am frü­hen Mor­gen fest in sei­nen Ar­men. Er gab sie ein­fach nicht frei, auch wenn sie ei­ne vol­le Bla­se plag­te und des­halb drin­gend auf die Toi­let­te muss­te.

Ei­gent­lich war er meist vor ihr wach. Er be­ob­ach­te­te gern, wie sie schlief. Sie sä­he da­bei zum An­bei­ßen süß aus, so zu­sam­men­ge­rollt wie ein klei­nes Kätz­chen, hat­te er ihr er­klärt. Trotz­dem über­mann­te ihn wohl manch­mal die Mü­dig­keit. Dann schlief er so tief und fest, dass er kaum wach­zu­be­kom­men war. Wäh­rend­des­sen um­arm­te er sie der­art be­sitz­er­grei­fend, als ob man sie ihm weg­neh­men könn­te.

Vik­tors Bett in sei­nem Schloss­zim­mer war mit dem gol­de­nen Him­mel und den kunst­vol­len Schnit­ze­rei­en im dunk­len Holz nicht nur wun­der­schön, es bot zu­dem auch aus­rei­chend Platz. Den­noch nah­men sie bei­de meist nur einen Bruch­teil da­von ein, da Vik­tor sei­ne Ar­me und Bei­ne um An­na ge­schlun­gen hielt, als wä­re er ein Ok­to­pus und nicht nur vier, son­dern acht Glied­ma­ße wür­den sich um sie win­den.

Dem­nach war sei­ne Re­ak­ti­on auf ih­re Bit­te, sie auf­ste­hen zu las­sen, ei­gent­lich vor­her­seh­bar, denn er zog sie, wie je­des Mal, noch fes­ter an sich. »Nein, mei­ne Sü­ße, du bleibst fein bei mir. Viel­leicht kommst du sonst nicht zu­rück«, knurr­te er im Halb­schlaf. »Wer weiß, viel­leicht wirst du ent­führt und dann ste­he ich da – al­lein – oh­ne … Oh – ooh, schei­ße!«

Wie vom Blitz ge­trof­fen ließ er An­na los und sprang aus dem Bett. Nun hat­te er doch da­von an­ge­fan­gen: von Ent­füh­rung! Und der Ge­dan­ke dar­an führ­te sie zwangs­läu­fig und ge­ra­de­wegs zu dem heu­te statt­fin­den­den Straf­pro­zess.

»Ent­schul­di­ge, An­na, das war echt blöd von mir!«, rief er aus und rauf­te sich die vom Schlaf zer­zaus­ten Haa­re. Dann schüt­tel­te er ve­he­ment den schö­nen Kopf. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid! Ich bin ein Voll­trot­tel! Ich …«

»Hey, mach mal halb­lang, Vik­tor. Al­les ist gut. Ich wer­de die­se doofe Ver­hand­lung über­ste­hen, echt. Mach dir al­so kei­nen Kopf.« Mitt­ler­wei­le war auch sie auf­ge­stan­den, schlüpf­te ge­schmei­dig an ihm vor­bei und war ein­fach nur froh, end­lich zur Toi­let­te ge­hen zu kön­nen.

Als sie zu­rück­kam, lag er wie­der im Bett und blick­te ihr ernst ent­ge­gen. »So woll­te ich den heu­ti­gen Tag nun wirk­lich nicht be­gin­nen, Klei­nes.«

Nach­dem sich An­na zu ihm un­ter die De­cke ge­ku­schelt hat­te, gab sie ihm einen sü­ßen Kuss. »Der Mist­kerl macht mir kei­ne Angst mehr, das weißt du doch. Ich ha­be nur nicht mehr da­von ge­spro­chen, weil ich uns die Stim­mung nicht ver­der­ben woll­te. Die Zeit ist viel zu kost­bar, um sie auch nur mit ei­nem Ge­dan­ken an die­sen fie­sen Ty­pen zu ver­schwen­den.« Sie streck­te sich genüss­lich aus, be­vor sie nach ih­rer Bril­le griff. »Wie spät ist es denn?«

»Wir ha­ben noch mas­sig Zeit. Es ist halb sie­ben. Die Ver­hand­lung be­ginnt ja erst nach dem Mit­tag. Vor ein Uhr brau­chen wir nicht dort zu sein. Ein Glück, dass wir für die glei­che Zeit als Zeu­gen ge­la­den wur­den. So bist du al­so nicht all­zu lan­ge al­lein.«

»Da­bei hast du wohl ver­ges­sen, dass wir ge­dank­lich so gut wie im­mer zu­sam­men sein kön­nen, mein hal­bel­fi­scher Su­per­prinz. Manch­mal glau­be ich, du bist we­gen der gan­zen Sa­che ner­vö­ser als ich.«

Er­neut blick­te Vik­tor ernst drein und zog sei­ne ge­ra­den Brau­en zu­sam­men, so­dass sich ei­ne stei­le Stirn­fal­te bil­de­te. »Das wa­ren die schlimms­ten Mo­men­te mei­nes Le­bens, An­na. Du, in den Hän­den die­ses Trieb­tä­ters. Nicht zu wis­sen, wo du bist, und dich nicht zu spü­ren. Als wir dich end­lich ge­fun­den hat­ten, da dach­te ich, du seist …« Mit ei­nem Mal strahl­te er nicht nur sei­ne Son­ne, son­dern ei­ne im­men­se Hit­ze aus. So­gar ein paar klei­ne Blit­ze zuck­ten durchs Zim­mer. »Him­mel noch eins, An­na! Ich weiß nicht, ob ich mich zu­sam­men­rei­ßen kann, wenn ich ihn se­he. Am liebs­ten wür­de ich ihn …«

… Nun sah An­na sich end­gül­tig da­zu ge­zwun­gen, an die­se fürch­ter­li­che Sa­che zu den­ken. Wo­bei sie bis heu­te nicht wuss­te, was ei­gent­lich schlim­mer für sie war:

Der Streit mit Vik­tor, nach wel­chem sie ihn ein paar Ta­ge – für sie ei­ne Ewig­keit – nicht ge­se­hen hat­te, ja, nicht ein­mal füh­len konn­te, zu­dem nicht wuss­te, ob er sie über­haupt noch lieb­te und woll­te. Oder die sich dar­an an­schlie­ßen­de Ent­füh­rung durch ih­ren Bio­lo­gie­leh­rer. Der hat­te sie in sei­ne Woh­nung ver­schleppt, um sie zu ver­ge­wal­ti­gen und an­schlie­ßend zu tö­ten. …

Bei der Er­in­ne­rung über­fiel sie für einen win­zi­gen Au­gen­blick die glei­che ohn­mäch­ti­ge Lee­re und über­wäl­ti­gen­de Pa­nik wie da­mals, als Vik­tor schein­bar nicht mehr mit ihr zu­sam­men sein woll­te. In die­ser Se­kun­de wur­de ihr deut­lich, wie sehr ihr die Tren­nung sei­ner­zeit zu schaf­fen ge­macht hat­te. Mehr als die Angst, in der Ge­walt ei­nes Wahn­sin­ni­gen zu sein.

»Der Mann kommt nicht mehr frei, Vik­tor. Er ist ver­rückt. Der ist im­mer­hin schon jetzt in der Klap­se. Au­ßer­dem ha­be ich noch Glück ge­habt. An­de­re Mäd­chen hat er schließ­lich tat­säch­lich miss­braucht.« Dass der Mann al­ler­dings, im Ge­gen­satz zu sei­nen an­de­ren Op­fern, An­na hat­te tö­ten wol­len, ließ sie lie­ber au­ßer Acht. »Ihr habt mich da­vor be­wahrt.« Sie strich ihm zärt­lich über die Wan­ge. »Es war für uns bei­de ei­ne schlim­me Zeit. Lass uns ein­fach die Ver­hand­lung hin­ter uns brin­gen und da­nach nicht mehr drü­ber nach­den­ken.«

Sie gab ihm einen klei­nen Kuss. »Du wirst dich wäh­rend dei­ner Aus­sa­ge im Griff ha­ben, das weiß ich. Das weiß ich, weil du mich liebst. Mach dir des­halb kei­ne Sor­gen.« Sie leg­te sich zu­rück in sei­ne Ar­me.

Er strei­chel­te ver­son­nen ih­re Schul­ter. »Es tut mir leid, dass ich da­mals so mies re­a­giert und dir der­art weh­ge­tan ha­be.«

»Nicht, Vik­tor! Wir ha­ben bei­de dum­me Feh­ler ge­macht. Aber das ist vor­bei. Lass es uns end­lich ab­ha­ken. Bit­te!«

Vik­tor seufz­te schwer. »Ich kann das nicht ein­fach ab­ha­ken. Mir ist doch klar, wie sehr dich die Sa­che nach wie vor mit­nimmt, auch wenn du es an­dau­ernd ab­strei­test. Ist dir mal auf­ge­fal­len, dass du das meis­tens rein ge­dank­lich tust und sel­ten laut aus­sprichst?« Er rich­te­te sich auf, um ihr bes­ser in die Au­gen schau­en zu kön­nen. »Du hast so­gar die Schu­le ge­wech­selt, weil dich die Er­in­ne­run­gen nicht los­ge­las­sen ha­ben. Nicht nur, weil du dort oben­drein ge­mobbt wor­den bist.«

»An der neu­en Schu­le füh­le ich mich er­heb­lich woh­ler. Das weißt du. Mir geht‘s gut.«

***

… Al­ler­dings er­kann­te An­na nicht, dass Vik­tor sehr wohl ge­wahr wur­de, wie sich ihr Herz bei dem Ge­dan­ken an die Zeit an ih­rem al­ten Gym­na­si­um schmerz­lich zu­sam­men­zog. Of­fen­bar konn­te sie sich nie an die Alb­träu­me er­in­nern, die sie re­gel­mä­ßig heim­such­ten und aus de­nen er sie äu­ßerst be­hut­sam zu be­frei­en ver­such­te. Das zeig­te ihm, wie sehr sie das Gan­ze be­drück­te. Dass die­se schlim­men Er­in­ne­run­gen und Träu­me zum Groß­teil auf sein ei­gen­wil­li­ges Ver­hal­ten von da­mals zu­rück­zu­füh­ren wa­ren, be­las­te­te ihn schwer.

El­fen ver­moch­ten Vie­les zu voll­brin­gen. Selbst als »nur« halb­mensch­li­cher El­fe konn­te Vik­tor Ge­dan­ken er­spü­ren und be­ein­flus­sen. Über­haupt wa­ren ihm, auf­grund des Er­bes sei­nes macht­vol­len Va­ters, in­zwi­schen vie­le Din­ge mög­lich: die ei­ge­ne in­ne­re Son­nen­wär­me spen­den; dem Feu­er per Geis­tes­kraft zün­den­de Nah­rung ge­ben; dem Him­mel Blit­ze steh­len und dem Wet­ter ei­ne an­de­re Rich­tung ge­ben. Das wa­ren nur ei­ni­ge der Ta­len­te der El­fen. Sei­ne Schwes­ter Vik­to­ria nahm so­gar manch­mal Vi­si­o­nen aus der Zu­kunft wahr. – Aber die Zeit zu­rück­dre­hen, das ging nun mal nicht. Das konn­te nicht ein­mal sein über­aus mäch­ti­ger Va­ter. …

Trotz die­ser kur­z­en ver­schlos­se­nen Grü­belei­en leg­te Vik­tor sich wie­der hin, ließ wäh­rend­des­sen sei­ne Hand un­ter An­nas Ach­sel hin­durch­krab­beln und such­te ziel­stre­big ih­re Brust. »Ich glau­be, du soll­test mir beim Ab­ha­ken die­ser gan­zen An­ge­le­gen­heit un­be­dingt be­hilf­lich sein, Klei­nes.« Er grins­te sie ver­schmitzt an. »Da­zu brau­che ich jeg­li­che see­li­sche und kör­per­li­che Un­ter­stüt­zung, die du mir ge­ben kannst. Das ist sehr, sehr wich­tig.«

Wie üb­lich brauch­te er nicht lang, um An­na zum Schmel­zen zu brin­gen. Schon war das Zim­mer, wie be­reits in der Nacht zu­vor, mit sei­nem Son­nen­schein er­füllt, und sie ga­ben sich ge­gen­sei­tig das, was sie nun am al­ler­meis­ten brauch­ten.

***

Als Le­na die Schloss­kü­che be­trat, flö­te­te An­na: »Oh, hal­lo Schwes­ter­herz, schön dich zu se­hen.«

Das hei­te­re Lä­cheln ih­rer fast drei Jah­re jün­ge­ren Schwes­ter ließ Le­na un­an­ge­nehm be­rührt und ver­le­gen zur Sei­te schau­en, wäh­rend sie Hand in Hand mit ih­rem sehr gro­ßen Freund Sen­tran, ei­nem von Vi­tus‘ sechs Eli­te­wach­män­nern, Rich­tung Kü­chen­tisch ging. Ei­gent­lich hat­te sie ge­hofft, dass um die­se Zeit nie­mand mehr früh­stü­cken wür­de. Doch war dem nicht so.

»Ja, hal­lo«, gab sie klein­laut zu­rück.

An­schei­nend war ihr Den­ken da­bei wie­der ein­mal so laut, dass An­na ver­gnügt wei­ter­lä­chel­te. »Du musst nicht mit zum Ge­richt kom­men, Le­na«, er­klär­te sie. »Es reicht mir völ­lig, dass Pa­pa Ne­ben­klä­ger ist und Ma­ma im Pu­bli­kum sitzt. Vik­tor und ich wer­den da hin­ge­hen, aus­sa­gen und hof­fent­lich schnell wie­der ab­hau­en. Du und Jens, ihr müsst nicht auch noch dort auf­kreu­zen.« An­na leg­te den Kopf schief und sah Le­na mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Au­gen an. »Du bist schon seit Län­ge­rem hier im Schloss, nicht wahr? Sen­tran hat dich be­reits ges­tern ab­ge­holt, wie ich ge­hört ha­be. Hast du dich wirk­lich nicht ge­traut, mit mir zu re­den?«

Jetzt fühl­te Le­na ei­ne hei­ße Rö­te in sich auf­stei­gen. »Äh, tut mir leid«, drucks­te sie her­um. »Ich dach­te, du wärst viel­leicht be­lei­digt, weil ich nicht dort­hin will. Ich, ich … Mir wä­re da­bei nicht wohl, glaub ich.«

… Sie und An­na teil­ten das Schick­sal, ent­führt wor­den zu sein. Auch Le­na war erst kur­ze Zeit zu­vor ge­walt­sam ver­schleppt wor­den. Und zwar von ih­rem Ex-Freund Ma­ri­us, ei­nem Jour­na­lis­ten, der Le­n­as Wis­sen über die El­fen hat­te aus ihr her­aus­pres­sen wol­len und ge­droht hat­te, ihr et­was an­zu­tun, wenn man ihm die ge­for­der­ten In­for­ma­ti­o­nen nicht gä­be. Bei ih­rer Be­frei­ung war Vik­tor bei­na­he ge­tö­tet wor­den.

Of­fen­bar war es gar nicht gut für die geis­ti­ge Ge­sund­heit, sich mit den Schwes­tern und dem­zu­fol­ge mit den El­fen an­zu­le­gen, denn bei­de Kid­nap­per ver­brach­ten ih­re Ta­ge in­zwi­schen in der Psych­ia­trie.

Trotz­dem, die Er­in­ne­rung dar­an be­rei­te­te Le­na nach wie vor Bauch­schmer­zen. Die Ge­richts­ver­hand­lung, so fürch­te­te sie, könn­te sie noch mehr aus den Tritt brin­gen. …

»Le­na, du musst mich nicht be­glei­ten. Das ich hab dir doch von An­fang an klar und deut­lich zu ver­ste­hen ge­ge­ben.«

Dass An­na sich wei­ter­hin über ih­re Ver­le­gen­heit zu amü­sie­ren schien, ha­lf Le­na kei­nes­wegs. So trat sie von ei­nem Fuß auf den an­de­ren und ver­such­te, ih­re Ge­dan­ken auf »laut­los« zu stel­len, so wie es ihr Sen­tran und Lo­a­na bei­ge­bracht hat­ten. In die­sen Din­gen war sie reich­lich un­er­fah­ren.

Auch konn­te sie im­mer noch kei­ne Ge­dan­ken le­sen, kann­te ih­re Schwes­ter den­noch gut ge­nug, um de­ren Ängs­te hin­ter der all­zu fröh­li­chen Fas­sa­de wahr­zu­neh­men. Au­ßer­dem hat­te Lo­a­na ihr al­ler­hand em­pa­thi­sche Ge­schi­cke über­tra­gen, da­mit sie als Hei­le­rin ih­re Fä­hig­kei­ten ent­fal­ten konn­te. Dank die­ser Kraft konn­te Le­na Krank­hei­ten und Ver­let­zun­gen er­spü­ren, so­wohl kör­per­li­chen als auch see­li­schen Schmerz, und so­gar al­les, falls nö­tig und so­weit wie mög­lich, in sich auf­neh­men, um es zu kom­pen­sie­ren.

So er­kann­te sie, dass An­na selbst nach all der ver­stri­che­nen Zeit gro­ße Furcht bei dem Ge­dan­ken an die­sen schreck­li­chen Leh­rer emp­fand. Aber auch bei der Vor­stel­lung, noch ein­mal von Vik­tor ver­las­sen zu wer­den. Und zu­dem bei der Er­in­ne­rung an die grau­sa­men Se­kun­den, in de­nen sie hat­te an­neh­men müs­sen, Vik­tor wä­re von Ma­ri­us er­schos­sen wor­den.

Am liebs­ten hät­te Le­na ih­re klei­ne Schwes­ter ein­fach in den Arm ge­nom­men, um ihr die­se schmerz­vol­len Emp­fin­dun­gen zu neh­men. Aber das hat­te Lo­a­na be­reits vor ei­ni­ger Zeit ge­tan. Die Angst vor ih­rem Pei­ni­ger hat­te An­na da­durch bei­na­he über­wun­den. Ih­re an­de­ren Ängs­te al­ler­dings sa­ßen sehr viel tie­fer und be­durf­ten da­her weit­aus grö­ße­ren Zu­spruchs.

»Okay, du hast recht«, lenk­te sie schließ­lich ein und zog Sen­tran hin­ter sich her.

Sie gab al­len einen klei­nen Wan­gen­kuss, auch Vi­tus, der ihr stets ge­hö­ri­gen Re­spekt ein­flößte. Da­nach stell­te sie sich an der Kü­chen­the­ke ein Früh­stück zu­sam­men und setz­te sich da­mit an den Tisch.

Ihr ent­ging nicht, wie Sen­tran ih­ren Tel­ler wie­der ein­mal kri­tisch be­äug­te, wäh­rend er ne­ben ihr Platz nahm. Noch be­vor er den Mund rich­tig auf­ma­chen konn­te, stopp­te sie ihn: »Kein Wort über mei­ne Ess­ge­wohn­hei­ten, Wach­mann.«

Ener­gisch auf ih­ren Tel­ler deu­tend, blitz­te sie zu­dem sämt­li­che Män­ner am Tisch ge­konnt an, so­dass selbst Vi­tus sei­nen be­reits ge­öff­ne­ten Mund mit ei­nem wi­der­wil­li­gen Ge­sichts­aus­druck wie­der zu­klapp­te. »Dies ist mein Tel­ler, mit mei­ner Por­ti­on Rührei und mei­nem Mar­me­la­den­bröt­chen. Und da­nach wer­de ich papp­satt sein, bas­ta! Al­so spart euch eu­re Kom­men­ta­re, ja? Es wä­re wirk­lich schön, end­lich mal ei­ne Mahl­zeit mit euch zu er­le­ben, bei der ihr mich, An­na oder Lo­a­na nicht stän­dig an­me­ckert, von we­gen, wir wür­den zu we­nig es­sen und sei­en viel zu zart und zu dünn.«

»Gut ge­brüllt, Lö­we«, hör­te sie An­na mur­meln und an­schlie­ßend gluck­sen.

»Ich me­cke­re nicht und wer­de auch nicht an­ge­me­ckert«, mel­de­te sich Vik­to­ria zu Wort. Weil nicht nur Le­na, son­dern auch An­na und Lo­a­na sie für die­sen Bei­trag mit stren­gen Bli­cken straf­ten, so, als wä­ren sie von ihr ver­ra­ten wor­den, senk­te sie reu­mü­tig den Kopf und ver­such­te sich an ei­nem ver­ba­len Rü­ck­zie­her: »Ja­ja, okay, ich bin ein biss­chen grö­ßer als ihr. Des­we­gen muss ich eben et­was mehr es­sen, oder?« Sie gab sich zer­knirscht, wäh­rend sie nach rechts und links schiel­te, muss­te an­ge­sichts des miss­bil­li­gen­den Kopf­schüt­telns ih­res Freun­des Ke­tu schließ­lich doch schwach grin­sen.

Le­na quit­tier­te Vik­to­ri­as Ein­wand mit ei­nem wei­te­ren Au­gen­fun­keln, ließ die Sa­che dann aber auf sich be­ru­hen. Statt­des­sen schob sie sich ge­ni­e­ße­risch die ers­te Fuh­re Rührei in den Mund und nahm Vik­tors Schwes­ter wäh­rend­des­sen nä­her in Au­gen­schein.

Man sah Vik­to­ria die Hal­bel­fe deut­lich an, dach­te Le­na, war die ih­rem Bru­der doch sehr ähn­lich, mit der gro­ßen, schlan­ken Sta­tur und dem dun­kel­brau­nen Haar. Der kur­ze pfif­fi­ge Haar­schnitt stand ihr aus­ge­spro­chen gut und hät­te durch­aus von Le­n­as Sche­re stam­men kön­nen. Als an­ge­hen­de Fri­sö­rin hat­te sie einen ge­üb­ten Ken­ner­blick für der­ar­ti­ge Din­ge.

Die un­ge­heu­re Ähn­lich­keit der Zwil­lin­ge fas­zi­nier­te Le­na im­mer aufs Neue. Je­der der zwei wä­re ir­gend­wie die Aus­ga­be des an­de­ren, fand sie, – der ei­ne halt auf sehr männ­li­che, der an­de­re auf sehr weib­li­che Art.

Mit ei­nem Mal stieg ihr der aro­ma­ti­sche Duft ei­nes Ap­fels in die Na­se. Of­fen­bar hat­te Sen­tran, oh­ne groß auf das vor­he­ri­ge Ge­plän­kel we­gen der Es­se­rei zu ach­ten, den Ap­fel aus der reich be­stück­ten Obst­scha­le ge­pflückt und ihn de­mon­s­tra­tiv ne­ben Le­n­as Tel­ler ge­legt. »Für spä­ter«, mur­mel­te er knapp. Wie es aus­sah, muss­te er sich ein La­chen ver­knei­fen, als er Le­n­as tie­fen Seuf­zer ver­nahm.

Et­was spä­ter stand An­na oh­ne viel Fe­der­le­sens auf und zog Vik­tor gleich mit hoch. Der Tel­ler mit dem fast un­be­rühr­ten Nu­tel­labröt­chen zeig­te Le­na, dass der an­ste­hen­de Straf­pro­zess ih­rer Schwes­ter sehr wohl auf den Ma­gen ge­schla­gen war. Au­ßer­dem hat­te Vik­tor, ganz ent­ge­gen sei­nen sons­ti­gen Ge­pflo­gen­hei­ten, kein Wort dar­über ver­lo­ren. Je­dem war klar, dass An­na an die­sem Mor­gen so gut wie kei­nen Bis­sen her­un­ter­brach­te, und wenn sie noch so cool tat.

»Wir müs­sen lang­sam los. Wünscht uns Glück und macht euch an­sons­ten kei­ne Sor­gen«, gab An­na sich be­tont mun­ter und rich­te­te sich da­nach an Vik­tor: »Wenn Le­na heu­te noch ein­mal bei Sen­tran über­nach­tet, könn­test du das ja viel­leicht bei mir da­heim tun. Was meinst du? Das hast du schließ­lich noch nie ge­macht. Es wä­re viel­leicht gut, wenn wir heu­te Abend zu Hau­se bei Ma­ma und Pa­pa blie­ben. Sie wer­den über den Pro­zess re­den wol­len, den­ke ich. So et­was ist wich­tig für sie.«

Vi­tus ant­wor­te­te an­stel­le sei­nes Soh­nes: »Vik­tor hat hier über drei Wo­chen lang die Stel­lung ge­hal­ten und das wirk­lich aus­ge­spro­chen gut. Na­tür­lich wird er heu­te bei dir blei­ben, Toch­ter.« Dar­auf­hin stand auch er auf, ging zu An­na, die er wie Vik­to­ri­as Freund Ke­tu oft als »sein Kind« be­zeich­ne­te und nahm sie in den Arm.

… Sie soll­te nicht im­mer so ein mul­mi­ges Ge­fühl ha­ben, wenn sie in sei­ner Nä­he war, dach­te Le­na, nun, da sie er­neut be­ob­ach­ten durf­te, wie herz­lich Vi­tus sein konn­te. So viel Macht und Au­to­ri­tät er auch ausstrahl­te, er konn­te eben­so viel Wär­me und Lie­be ge­ben.

Sie über­leg­te: Vi­tus war grö­ßer als Vik­tor und ziem­lich mus­ku­lös. Viel­leicht fühl­te sie sich ja des­halb oft so ein­ge­schüch­tert in sei­ner Nä­he. Aber ihr ei­ge­ner Freund Sen­tran über­traf den El­fen­kö­nig bei Wei­tem an Grö­ße und Stär­ke. Das konn­te es al­so nicht sein.

Oder lag es even­tu­ell an sei­nem äu­ßerst at­trak­ti­ven Ge­sicht, mit den scha­rf ge­schnit­te­nen Zü­gen, schön ge­schwun­ge­nem Mund und der schul­ter­lan­gen ra­ben­schwa­r­zen Mäh­ne? Nein, hier sa­ßen aus­schließ­lich gut­aus­se­hen­de El­fen. Das schied al­so auch aus. Selbst Vi­tus‘ ener­gi­sches Kinn mit dem männ­li­chen Grüb­chen in der Mit­te fand Le­na ein­fach nur se­xy und kei­nes­falls angst­ein­flö­ßend. Ge­nau wie sein La­chen, weil er dann auf­grund der Grüb­chen auf den Wan­gen sei­nen Kin­dern so ähn­lich sah.

Nein, es war wohl doch eher sei­ne macht­vol­le Au­ra, die ihr die­sen Re­spekt ein­flößte. …

Als Le­na zu­dem be­ob­ach­te­te, wie Vi­tus ih­re Schwes­ter mit ei­nem lie­be­vol­len Blick be­dach­te, nahm sie sich vor, ih­re Vor­be­hal­te end­gül­tig ad ac­ta zu le­gen.

Es war ein­fach zu fa­mi­li­är, wie die­ser macht­vol­le Mann ein­mal sanft über An­nas Ar­me strich, dann so­wohl ih­ren Arm­reif, den er ihr zum Ge­burts­tag ge­schenkt hat­te, als auch das Me­dail­lon an ih­rer Ket­te be­rühr­te und sprach: »Denk im­mer dar­an, was Lo­a­na dir ein­mal ge­sagt hat, Toch­ter: Du bist nie al­lein. Wir al­le sind bei dir, über­dies dei­ne El­tern und Ge­schwis­ter, ganz be­son­ders na­tür­lich Vik­tor. Ver­giss das nie.« Er küss­te ih­re Stirn, mach­te dar­auf­hin Platz für die an­de­ren, da die­se mitt­ler­wei­le eben­falls auf­ge­stan­den wa­ren, um sich zu ver­ab­schie­den.

Auch Le­na schloss An­na in die Ar­me und be­merk­te, dass ih­rer Schwes­ter, wie so oft, vor Rüh­rung ei­ne ein­zel­ne Trä­ne die Wan­ge hin­a­b­lief. An­na sag­te nichts, als sie sich ab­wand­te. Das fiel ihr schein­bar zu schwer. Vik­tor nick­te ih­nen zu, be­vor sie die Kü­che ver­lie­ßen.

***

Zu­erst herrsch­te be­tre­te­nes Schwei­gen, das aus­ge­rech­net Vi­tus‘ wort­kar­ger Eli­te­wach­mann Ke­tu durch­brach. Er sah Vik­to­ria aus ru­hi­gen hell­brau­nen Au­gen zärt­lich an.

»Wir wis­sen, dass An­na viel stär­ker ist, als sie manch­mal wirkt.«

»Hhm«, mein­te Vik­to­ria nur.

Vi­tus da­ge­gen blieb zu­nächst auf­fäl­lig schweig­sam. Er hat­te sei­nen Geist tief ver­schlos­sen, woll­te er sei­ne Über­le­gun­gen doch ger­ne für sich be­hal­ten. Ihm war durch­aus be­wusst, dass die­se Ver­hand­lung nicht nur An­na, son­dern auch Vik­tor schwer zu schaf­fen mach­te. Er wür­de ge­dank­lich mit sei­nem Sohn ver­bun­den blei­ben, um ihn not­falls zu be­ru­hi­gen. Dann je­doch macht er sei­nen Kopf da­von frei. Bis zum Pro­zess war ja noch et­was Zeit. Al­so wand­te er sich in sei­ner ty­pisch spon­ta­nen Art an Sen­tran: »Was sagt denn Lin­na ei­gent­lich zu un­se­rem Vor­ha­ben?«

Sen­tran be­tupf­te sich mit ei­ner Ser­vi­et­te den Mund, be­vor er ant­wor­te­te: »Mei­ne Mut­ter ist über­g­lü­ck­lich, mein Kö­nig, was sie üb­ri­gens be­reits vor­her schon war. Na­tür­lich hält sie es für maß­los über­trie­ben, dass du ihr ein Haus auf dem Schloss­ge­län­de bau­en willst, und dem pflich­te ich un­um­wun­den bei. Den­noch freut sie sich über al­le Ma­ßen. Noch nie hat sich je­mand der­art um sie ge­küm­mert.«

Jetzt muss­te Vi­tus grin­sen. »In ei­nem Punkt hast du mich schein­bar falsch ver­stan­den, Sen­tran. Das wird nicht nur ein Haus für Lin­na, son­dern eben­so für dich.«

Vi­tus ver­gnüg­te sich an Lo­a­nas of­fen­sicht­li­che Ver­wun­de­rung dar­über, dass sein Grin­sen sich we­gen Sen­trans ver­blüff­ter Mie­ne noch wei­ter aus­dehn­te.

»Na ja, falls du ein­mal ei­ne Fa­mi­lie grün­dest, brauchst du Platz. Al­so soll­te das Haus groß ge­nug wer­den.«

»Mein Kö­nig, ich weiß nicht, was ich sa­gen soll.«

»Dann lass es halt, Sen­tran. Schließ­lich ha­be ich mir den Mund oft ge­nug fus­se­lig ge­re­det, wenn ich euch sechs Wach­män­nern zu er­klä­ren ver­such­te, dass ihr zu mei­ner Fa­mi­lie ge­hört. Al­ler­dings wirst du im Mo­ment noch kei­ne Zeit ha­ben, dich um den Bau zu küm­mern. Über­lass das al­so dem Bau­meis­ter und dei­ner Mut­ter.«

Vi­tus fuhr auf­grund Sen­trans fra­gen­dem Ge­sichts­aus­druck fort: »Ich ha­be Tim­mun und Es­sem mit ih­ren Frau­en für zwei Wo­chen in Ur­laub ge­schickt. Das war schon lan­ge fäl­lig. Zu­dem wird An­nam erst in ei­ner Wo­che vom Be­such bei sei­ner Fa­mi­lie im Fer­nen Os­ten zu­rück sein. Tja, und Vol­tran ist noch mit Kir­sa im Nor­den. Ihr Auf­ent­halt bei Jeo­mi und auch Ta­hi­ti selbst hat ih­nen bei­den gut­ge­tan. Jetzt muss Kir­sa sich dar­über im Kla­ren wer­den, ob sie hier­her zu Vol­tran zie­hen möch­te.«

Vi­tus seufz­te. »Ich den­ke, ich wer­de mit dem Bau­meis­ter we­gen ei­nes wei­te­ren Hau­ses spre­chen müs­sen. Denn Kir­sa wird mit­kom­men und sie wird Vol­tran hei­ra­ten. Da bin ich mir si­cher.«

Die letz­ten Sät­ze hat­te er mehr zu sich selbst ge­sagt. Da­her wun­der­te er sich über die stau­nen­den Ge­sich­ter der An­we­sen­den, so sehr war er mit sei­nen Zu­kunfts­plä­nen be­schäf­tigt.

Er sprang vom Stuhl. Da­bei schau­te er Ke­tu und Sen­tran ge­spielt ernst an. »Ja, guckt nicht so ver­dutzt. Ihr bei­den Wach­män­ner seid nun mal zur­zeit die ein­zi­gen von den Sech­sen, die Vik­tor und mir zur Sei­te ste­hen.«

Er klatsch­te auf­for­dernd in die Hän­de. »Al­so, auf, auf! Es gibt viel zu tun.«

Dar­auf­hin wand­te er sich sei­ner Frau, Vik­to­ria und Le­na zu. »Ihr wer­det bis heu­te Mit­tag wohl oder übel oh­ne uns aus­kom­men müs­sen.«

Sonnenwarm und Regensanft - Band 4

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