Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 7

Wut im Bauch

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An­na war furcht­bar blass und die­se durch­schei­nen­de Bläs­se ließ sich ein­fach nicht ver­trei­ben.

»Leg dich bit­te hin, Sü­ße«, sorg­te sich Vik­tor. »Du bist ja ganz wa­cke­lig, komm schon.« Er schob sie in dem klei­nen Wohn­zim­mer der Nells Rich­tung So­fa, drück­te sie dort be­hut­sam in die Kis­sen und deck­te sie mit ei­ner wär­me­n­den De­cke zu. »Ich ho­le dir erst ein­mal et­was zu trin­ken und mach dir ein Brot. Bin gleich zu­rück.«

Mit ei­nem Stirn­run­zeln re­gis­trier­te er, dass sie ihm nicht das kleins­te Wi­der­wort gab, und das, ob­wohl er von Es­sen ge­spro­chen hat­te. Das ließ sei­ne Be­sorg­nis noch an­wach­sen. Schnell mach­te er in der Kü­che einen Tel­ler mit be­leg­ten Bro­t­en zu­recht, füll­te ein Glas mit Co­la, ein wei­te­res mit Mi­ne­ral­was­ser und ba­lan­cier­te al­les auf ei­nem Ta­blett zur Couch. Dort lag An­na noch ge­nau so, wie er sie ver­las­sen hat­te.

»Komm her, Klei­nes.«

Er hob ih­ren Kopf an und ha­lf ihr, ein paar Schlu­cke Co­la zu neh­men, in der Hoff­nung, der Kof­fe­in­kick wür­de sie be­le­ben. Gleich­zei­tig ver­sorg­te er sie mit ei­nem gu­ten Maß an Son­ne. Zu sei­ner Freu­de kehr­te ein we­nig Fa­r­be in ihr Ge­sicht zu­rück.

»War­um ha­be ich das ge­tan, Vik­tor?«, frag­te sie matt. »Ich woll­te das doch gar nicht. Ich woll­te mich nur da hin­set­zen, er­zäh­len, was pas­siert ist, und Fra­gen be­ant­wor­ten. Statt­des­sen ren­ne ich zu die­sem Schwein und … Du mei­ne Gü­te!«

Er muss­te sich ein La­chen ver­knei­fen, als An­na laut auf­stöhn­te bei der Er­in­ne­rung, die für ihn gut sicht­bar in ihr auf­stieg. Sie hat­te dem Un­ge­heu­er ei­ne Ohr­fei­ge ver­passt. Mit­ten im Ge­richts­saal!

… Kaum be­trat sie den gro­ßen un­freund­li­chen Raum, sah sie nur noch rot. Völ­lig un­ver­hofft, von ei­nem Mo­ment zum nächs­ten, hat­te es sie über­kom­men. Sie stürm­te an­statt zu ih­rem Zeu­gen­stuhl zum An­ge­klag­ten, ih­rem ehe­ma­li­gen Bio­lo­gie­leh­rer Nils Zitt, und ver­pass­te ihm wort­los ei­ne schal­len­de Ohr­fei­ge. An­nas Va­ter rann­te so schnell wie mög­lich da­zu, um sie dar­an zu hin­dern, wei­ter auf den jam­mern­den Mann ein­zu­dre­schen. Die Hand hat­te sie be­reits er­neut er­ho­ben.

Jo­han­nes nahm sei­ne Toch­ter zärt­lich in den Arm, re­de­te be­gü­ti­gend auf sie ein. Da­nach ent­schul­dig­te er sich beim Vor­sit­zen­den für An­nas Ver­hal­ten, gab gleich­zei­tig ih­re see­li­sche Ver­fas­sung zu be­den­ken und bat um rich­ter­li­che Nach­sicht.

Der Rich­ter re­a­gier­te we­gen der Sa­che ziem­lich auf­ge­bracht, be­hielt sich in­des ei­ne Ent­schei­dung über das »un­ge­bühr­li­che Ver­hal­ten« der Zeu­gin vor.

Dann end­lich spür­te An­na Vik­tors und eben­so Vi­tus‘ be­sänf­ti­gen­de Kraft. Es ge­lang ihr dar­auf­hin, die Fas­sung zu­rück­zu­ge­win­nen. Ei­ni­ger­ma­ßen ent­spannt ließ sie sich von ih­rem Va­ter an den Zeu­gen­tisch füh­ren. Dem Rich­ter schau­te sie da­bei tief in die Au­gen. Nun bat auch sie ihn um Ver­zei­hung, oh­ne al­ler­dings ei­ne wei­te­re Er­klä­rung zu ih­rem Be­neh­men ab­zu­ge­ben. Sie nahm wahr, wie der Mann un­an­ge­nehm be­rührt auf sei­nem Richter­stuhl hin und her rutsch­te, sich so­gar ein paar­mal räus­per­te, be­vor er ih­re Ent­schul­di­gung an­nahm.

Doch er for­der­te sie nicht auf, sich über­dies beim An­ge­klag­ten zu ent­schul­di­gen, was des­sen Ver­tei­di­ger wie­der­um gar nicht ge­fiel. Nach ei­nem Blick­wech­sel mit An­nas blit­zen­den Sa­phi­rau­gen gab der al­ler­dings kei­ne zu­sätz­li­chen Äu­ße­run­gen da­zu ab. Und nach ei­nem wei­te­ren kur­z­en Au­gen­kon­takt mit An­na strich er statt­des­sen sei­nem nach wie vor heu­len­den Man­dan­ten ein­mal vä­ter­lich über den Rü­cken, ob­wohl der deut­lich äl­ter als sein An­walt zu sein schien. Dar­auf­hin stell­te der An­ge­klag­te sein in An­nas Oh­ren und Au­gen lä­cher­li­ches Wim­mern und kin­di­sches Ver­hal­ten wie­der ein. …

Vik­tor be­ob­ach­te­te An­na auf­merk­sam. Au­gen­schein­lich dach­te sie auch wei­ter­hin gründ­lich über all das nach, was wäh­rend ih­rer Zeu­ge­n­aus­sa­ge vor­hin im Ge­richts­saal ge­sche­hen war.

»Du oder Vi­tus, ei­ner von euch bei­den hat den Rich­ter und den Ver­tei­di­ger be­ein­flusst, nicht wahr?«, woll­te sie dann wis­sen. »Man hät­te mich ei­gent­lich für mei­nen Su­per-Auf­tritt be­stra­fen müs­sen, rü­gen, oder wie man so was nennt, hat es aber nicht ge­tan.«

»Nein, An­na, das warst du selbst. Du hast al­le bei­de ma­ni­pu­liert. Nicht ich. Nicht Vi­tus.«

»Was?« An­na war so schnell hoch­ge­schos­sen, dass ihr of­fen­sicht­lich gleich wie­der schwin­de­lig wur­de und sie sich des­halb zu­rück in die Kis­sen sin­ken ließ. »Ich?« Sie sah Vik­tor mit im­mer noch trü­ben Au­gen an. »Ich kann so was doch gar nicht.«

Vik­tor run­zel­te nach­denk­lich die Stirn. »An­schei­nend doch, Klei­nes. Wie Vi­tus schon sag­te: Du lernst stän­dig da­zu.« Jetzt lä­chel­te er ver­schmitzt. »Du hast ei­ne gu­te Lin­ke, Sü­ße. Das hat bis nach drau­ßen ge­knallt. Ich hab‘s ge­hört und na­tür­lich in dir ge­se­hen. Du warst ein­fach groß­ar­tig.«

»Lass das, Vik­tor«, er­wi­der­te An­na un­wirsch. »Das hät­te mir nicht pas­sie­ren dür­fen. Ich hab das al­les viel zu nah an mich ran­ge­las­sen. Ich …«

Jetzt war es an ihm, un­wirsch zu wer­den. »Sag mal, spinnst du?«, rief er ent­rüs­tet da­zwi­schen. »Wem soll­te das Gan­ze wohl na­he­ge­hen, wenn nicht dir? Die­ser Typ hat dir Ge­walt an­ge­tan, er woll­te …« Vik­tor un­ter­brach sich selbst und schüt­tel­te den Kopf. »Al­lein beim Ge­dan­ken dar­an flip­pe ich aus.«

Sein Blick bohr­te sich in ih­ren. »An­na, wenn du das nicht ge­tan hät­test und wenn Vi­tus mich nicht men­tal zu­rück­ge­hal­ten hät­te, ich wä­re be­stimmt nicht straf­frei da raus­ge­gan­gen, glaub mir. Ich hät­te den Kerl fer­tig­ge­macht, rich­tig fer­tig.«

»Hät­test du nicht, Vik­tor. Du hast es ge­wollt, ja. Aber du hät­test es für mich blei­ben las­sen, da­mit ich mir kei­ne Sor­gen ma­chen muss. Es wä­re schließ­lich nicht be­son­ders schlau, soll­ten die Be­hör­den dich all­zu sehr durch­leuch­ten. Du hast zwar ei­ne mensch­li­che deut­sche Mut­ter, ei­ne or­dent­li­che Ge­burts­ur­kun­de, auch einen Pass und Füh­rer­schein und all so was. Trotz­dem wä­re es ris­kant, mehr von dir preis­zu­ge­ben. Denk an Ma­ri­us. Es ist nicht klug, die Neu­gier­de an­de­rer Men­schen zu we­cken.«

Sie rich­te­te sich lang­sam wie­der auf, nahm ei­nes der Bro­te zur Hand und biss vor­sich­tig hin­ein.

»Ja, das stimmt na­tür­lich.« Er nahm sich auch ein Brot. »Trotz­dem fiel es mir schwer. Des­halb ist es nur recht, dass du ihm ei­ne run­ter­ge­hau­en hast, so­zu­sa­gen stell­ver­tre­tend für mich.«

Schwach lä­chelnd kau­te sie zu En­de und spül­te den Bis­sen mit ei­nem gro­ßen Schluck Co­la hin­un­ter, so, als ob das Es­sen nicht rich­tig rut­schen woll­te.

»Ich dach­te, ich kä­me bes­ser da­mit zu­recht, Vik­tor. Ich dach­te, ich hät­te es im Griff und nichts wür­de mir mehr Angst ma­chen als die Aus­sicht, dich zu ver­lie­ren. Zu­ge­ge­ben, so ein­fach war es wohl doch nicht. Ich muss­te mich erst rich­tig von dem Scheu­sal be­frei­en, es kör­per­lich spü­ren. Ich glau­be, auf die­se, nun ja, et­was dra­ma­ti­sche Art und Wei­se ist mir das ge­lun­gen.« Geis­tes­ab­we­send biss sie noch ein­mal in ihr Brot. »So lang­sam geht es mir bes­ser.«

»Bleib trotz­dem noch ein Weil­chen lie­gen, Sü­ße. Ich mach uns einen Ka­mil­len­tee. Dann le­ge ich mich zu dir, ja?« Vik­tor stand auf, um er­neut in die Kü­che zu ge­hen.

An­na hielt ihn je­doch am Hem­d­är­mel fest. »Er wird be­straft und kommt vor­erst nicht mehr raus, nicht wahr?«

»Ganz be­stimmt«, be­ru­hig­te Vik­tor sie. Da­bei be­hielt er für sich, dass auch er den Rich­ter und den Ver­tei­di­ger, ja, so­gar den Staats­an­walt ein klei­nes biss­chen em­pa­thisch be­ein­flusst hat­te. »Wir ha­ben un­se­re Aus­sa­gen ge­macht. Das wer­den die an­de­ren be­trof­fe­nen Mäd­chen eben­falls tun, ge­nau wie die Leh­rer und auch die Po­li­zis­ten, die da­mals sei­ne Woh­nung ge­stürmt ha­ben.« Ein grim­mi­ger Aus­druck husch­te über sein Ge­sicht. »Au­ßer­dem bricht die­ser Jam­mer­lap­pen so­wie­so bald zu­sam­men und wird end­lich voll­stän­dig ge­ste­hen. Es wird al­so al­les gut.«

Mit die­sen Wor­ten lös­te er sich von ihr und ver­ließ das Wohn­zim­mer. Als er wie­der­kam, fie­len An­na ge­ra­de die Au­gen zu. Be­hut­sam nahm er ihr so­wohl das an­ge­bis­se­ne Brot aus der Hand als auch die Bril­le von der Na­se, schob An­na sach­te et­was zur Sei­te und ku­schel­te sich ne­ben sie un­ter die De­cke. Bald leg­te sich auch bei ihm die Mü­dig­keit mit ent­span­nen­der Ru­he und Schlaf über die auf­ge­wühl­ten Sin­ne.

***

Sie wur­de durch das Klir­ren von Schlüs­seln am Woh­nungs­ein­gang ge­weckt und von mun­te­ren Stim­men, die zu ihr dran­gen. Kurz dar­auf öff­ne­te sich die Wohn­zim­mer­tür.

An­na brauch­te einen Au­gen­blick zum Wach­wer­den. Sie hat­te sich ir­gen­d­et­was Son­der­ba­res, Un­heim­li­ches zu­sam­men­ge­träumt. Noch schläf­rig ver­dräng­te sie die letz­ten Schlei­er des Traums, an den sie sich be­reits in der Se­kun­de nicht mehr er­in­nern konn­te, in der sie die Au­gen auf­ge­schla­gen hat­te.

Ihr Bru­der samt Freun­din trat ein. Noch nahm An­na le­dig­lich Jens‘ sand­fa­r­be­nes Haar so­wie Sil­vis schul­ter­lan­ge brau­ne Mäh­ne wahr. Blin­zelnd tas­te­te sie über Vik­tor hin­weg nach ih­rer Bril­le.

»Oh, Ent­schul­di­gung. Wir wuss­ten nicht, dass ihr hier seid. Habt ihr ge­schla­fen?«

So­bald An­nas Bril­le auf ih­rer Na­se saß, schärf­te sich das Bild. Jens grins­te in der ihm ty­pi­schen Art. Auf Sil­vis hüb­sches Ge­sicht leg­te sich ein Lä­cheln.

In­zwi­schen war auch Vik­tor auf­ge­wacht, streck­te sich, sag­te aber nichts.

Jens ging in be­tont wür­de­vol­len Schrit­ten zu ih­nen, er­griff An­nas Hand und schüt­tel­te sie aus­gie­big. Er un­ter­strich die­se förm­li­chen Ges­ten mit ei­nem knap­pen Die­ner, wo­bei sei­ne grau­en Au­gen al­ler­dings fröh­lich blitz­ten. Mit ei­nem Mal ließ er ih­re Hand wie­der los, um An­na über­schwäng­lich auf den Mund zu küs­sen. »Herz­li­chen Glü­ck­wunsch, Schwes­ter­herz. Ich ha­be ge­hört, du hast dem Arsch ei­ne ge­bal­lert. Echt coo­ler Schach­zug.«

… Noch vor gar nicht so lan­ger Zeit wa­ren sich An­na und ihr ein­und­zwan­zig Jah­re al­ter Bru­der spin­ne­feind ge­we­sen. Das hat­te sich dras­tisch ge­än­dert, seit Vik­tor in An­nas Le­ben ge­tre­ten war. Und seit sie und Jens her­aus­ge­fun­den hat­ten, dass sie sich te­le­pa­thisch mit­ein­an­der ver­stän­di­gen konn­ten. …

An­nas Stim­me klang vom Schlaf, dem ei­gen­ar­ti­gen Traum, auch von ih­rem see­li­schen Zu­stand noch ein we­nig be­legt. »Er­in­ner mich bloß nicht dar­an, Jens. Das war al­les an­de­re als schlau von mir.« Doch dann zuck­te sie mit den Ach­seln. »Ach, was soll‘s? Der Mist­kerl hat es voll und ganz ver­dient.«

»Na, das nen­ne ich die rich­ti­ge Ein­stel­lung!«, rief Sil­vi gut ge­launt aus. »Wir ha­ben Ku­chen mit­ge­bracht.« Sie schau­te zu Jens. »Wie wär‘s, wenn du uns einen Fei­er­abend-Kaf­fee da­zu kochst?«

»Okay, bin schon auf dem Weg.«

»Wo­her weißt du über­haupt von der Ohr­fei­ge?«, frag­te An­na et­was spä­ter und leck­te sich da­bei den kleb­ri­gen Zu­cker des Ber­li­ners von den Fin­gern. »Hat Ma­ma dir ge­simst?«

»Klar hat sie. Und Ke­tu hat mir freund­li­cher­wei­se ein paar fei­ne Bild­chen aus dei­nem Kopf ge­schickt. Bis­her kann ich ja nur dei­ne Ge­dan­ken, sei­ne und die von Vik­tor und Vi­tus wahr­neh­men. Na ja, das ist im­mer­hin bes­ser als nichts.«

»Über­legt bit­te al­le ein­mal, dass ich als rein mensch­li­che Au­ßen­ste­hen­de viel­leicht gar nicht so un­g­lü­ck­lich dar­über bin, wenn ihr nicht stän­dig mit eu­ren ach so tol­len Fä­hig­kei­ten prahlt«, gab Sil­vi schnip­pisch zu be­den­ken, mach­te al­ler­dings einen klei­nen Rü­ck­zie­her, als sie die ir­ri­tier­ten Bli­cke auf­schnapp­te. »Ist doch wahr, oder? Ab und an kom­me ich mir rich­tig min­der­be­mit­telt vor, weil ihr sol­che Sa­chen könnt und ich nicht. So­gar Le­na. Und The­resa hat­te ja schon im­mer ih­ren so­ge­nann­ten Sieb­ten Sinn. – Äh, ich bin nicht nei­disch, oder so. Nee, nee.« Sie hob die Hän­de, so, als woll­te sie sich er­ge­ben. »Al­so gut, al­so gut, ich bin nei­disch. Aber nur ein ganz klein biss­chen.«

»Sil­vi, wir be­mü­hen uns doch wirk­lich, uns in dei­ner Ge­gen­wart so­zu­sa­gen nor­mal zu ver­hal­ten. Das weißt du doch«, schalt Jens sei­ne Freun­din.

Sil­vi wur­de rot. »Hhm, das stimmt ja auch. Ach, men­no, gebt mir halt et­was Zeit. Manch­mal krieg ich das al­les im­mer noch nicht so ganz auf die Rei­he, tut mir leid.«

»Al­so schön, kei­ne Be­mer­kun­gen mehr über El­fen und so – und, falls es geht, auch nicht mehr über den blö­den Pro­zess«, schloss An­na das The­ma ab und stutz­te, als es klin­gel­te.

»Wenn das wie­der die­se däm­li­chen Re­por­ter sind, dann werd ich de­nen aber was er­zäh­len«, grum­mel­te Jens.

»Re­por­ter?«, stöhn­te An­na und be­merk­te ent­setzt, wie neue Pa­nik in ihr auf­stieg.

»Kei­ne Ban­ge«, be­ru­hig­te Jens sie, »ich hat­te de­nen ge­sagt, sie sol­len sich ver­pis­sen oder ich ru­fe die Bul­len. Na ja, ein biss­chen net­ter hab ich‘s schon aus­ge­drückt, aber so in et­wa. Falls das al­ler­dings doch ei­ner von die­sen neu­gie­ri­gen Ty­pen ist, wer­den Vik­tor und ich die be­stimmt ab­wim­meln kön­nen. Mach dir kei­nen Kopf.«

An­na dach­te dar­über nach: Sie hat­te sich wie in Tran­ce von Vik­tor aus dem Ge­richts­ge­bäu­de brin­gen las­sen. Aus die­sem Grun­de wa­ren ihr die Leu­te dort nicht so rich­tig auf­ge­fal­len. Jetzt er­in­ner­te sie sich dar­an, dass Vik­tor die Meu­te von Jour­na­lis­ten auf dem Weg vom Ge­richts­saal bis zum Au­to men­tal in Schach ge­hal­ten hat­te. Schein­bar wa­ren die ih­nen den­noch zur Woh­nung ge­folgt.

Mit ge­straff­ten Schul­tern ging Jens zur Sprech­an­la­ge. Doch da ver­nahm An­na ihr ver­trau­te Stim­men.

»Oh, ihr seid‘s!«, flö­te­te Jens. »Na, dann al­le mal rein­spa­ziert!«

Kurz dar­auf tra­ten Lo­a­na, Vi­tus, Vik­to­ria, Ke­tu, Le­na und Sen­tran ein. Sie hat­ten sich be­reits Stüh­le aus dem an­gren­zen­den Ess­zim­mer mit­ge­bracht, da­mit sie al­le­samt im Wohn­raum Platz neh­men konn­ten. Nach ei­nem Wan­gen­kuss für An­na setz­ten sie sich, bis auf Lo­a­na.

»Die­se Leu­te da drau­ßen vor der Hau­s­tü­re schei­nen mir ganz schön neu­gie­rig zu sein, An­na.« Lo­a­nas Edel­stein­au­gen glüh­ten vor Zorn. »Vi­tus war so freund­lich, sie ge­dank­lich des Weges zu ver­wei­sen. Sie sind nun un­ter­wegs, um von ei­nem schwe­ren Un­fall auf der Stra­ßen­bahn zu be­rich­ten, auf 52 A, glau­be ich.«

Vi­tus nahm Lo­a­na bei der Hand und zog sie auf sei­nen Schoß. »Du mein­test si­cher­lich die Au­to­bahn mit der Be­zeich­nung A52, mei­ne Schö­ne, denn ei­ne Stra­ßen­bahn ist gar kei­ne Stra­ße, son­dern ein Ve­hi­kel, das auf Schie­nen da­hin­glei­tet.«

Lo­a­nas Blick wur­de weich, be­vor sie ki­cher­te, al­ler­dings kei­nen Kom­men­tar zu ih­rem Ver­spre­cher ab­gab. »Kei­ne Sor­ge, An­na, es gab na­tür­lich kei­nen sol­chen Un­fall. Bis die­se Leu­te das fest­stel­len, hast du erst mal Ru­he. Da­nach den­ken wir uns et­was Neu­es aus.«

Wäh­rend sie das sag­te, neig­te sie den Kopf zur Sei­te und be­trach­te­te An­na mit ih­ren grü­nen Au­gen. »Wir dach­ten, du könn­test noch et­was Ge­sell­schaft ge­brau­chen und even­tu­ell ein Stü­ck­chen Ku­chen. Aber, wie ich se­he, wur­dest du be­reits ver­sorgt.« Sie leg­te die Hän­de schüt­zend um ih­ren klei­nen run­den Bauch, wie es so ty­pisch für schwan­ge­re Frau­en war.

»Na ja, ihr schafft es be­stimmt, den Ku­chen auch oh­ne mich auf­zu­es­sen«, er­wi­der­te An­na in leicht iro­ni­schem Ton und freu­te sich rie­sig über den gro­ßen Zu­spruch. »Ich könn­te euch einen Kaf­fee da­zu ko­chen.«

»Kommt gar nicht in Fra­ge. Das über­neh­men Ke­tu und ich. Kommst du?« Vik­to­ria zog ih­ren Wach­mann vom Stuhl und schob ihn in Rich­tung Kü­che.

So un­ter­hiel­ten sie sich an­ge­regt bei Kaf­fee und Ku­chen, um An­na ab­zu­len­ken. Da­bei spra­chen sie über al­les Mög­li­che, nur nicht über den Pro­zess.

Vi­tus hat­te bis­lang so gut wie nicht ge­spro­chen, was eher un­ty­pisch für ihn war. Er wirk­te nach­denk­lich, so­gar zer­knirscht. Als er dann nicht ein­mal pro­tes­tier­te, weil Lo­a­na sich ei­ne zwei­te Tas­se Kaf­fee ein­schenk­te, hob die­se er­staunt ei­ne Braue und trank ei­lig noch einen Schluck, wo­bei sie vor­sich­tig in sei­ne Rich­tung schiel­te. Sie schien zu be­fürch­ten, dass er es viel­leicht doch mit­be­kä­me. »Was geht dir durch den Kopf, Vi­tus? Du scheinst mit dei­nen Ge­dan­ken mei­len­weit ent­fernt zu sein?«

»Hm?« Vi­tus sah sie zu­nächst geis­tes­ab­we­send an, be­vor er sie mil­de an­lä­chel­te, so wie ein Va­ter sein er­tapp­tes Kind. »Oh, nicht ge­ra­de mei­len­weit ent­fernt, Ke­ned, und vor al­len Din­gen na­he ge­nug, um dei­nen Kaf­fee­kon­sum zu re­gis­trie­ren. Und die zwei­te Tas­se sei dir heu­te mal ge­gönnt.« Sie seufz­te und er lä­chel­te er­neut, wur­de dann aber ernst. »Ich ha­be tat­säch­lich nach­ge­dacht und fra­ge mich, wie es An­na ge­lun­gen ist, sich mei­ner so­wie Vik­tors be­ru­hi­gen­den Kraft zu ent­zie­hen und die­sen Mann zu ohr­fei­gen. Au­ßer­dem hat sie so­wohl Rich­ter als auch Rechts­an­walt em­pa­thisch ma­ni­pu­liert.«

Er mus­ter­te An­na ein­ge­hend. »Du warst wirk­lich gut. Ich ha­be in die­sen paar Mo­men­ten fast nichts von dir wahr­neh­men kön­nen. Dei­ne Re­ak­ti­o­nen selbst wa­ren zwar er­fass­bar: Dei­ne Ohr­fei­ge. Dei­ne Ent­schul­di­gung beim Rich­ter. Dei­ne Bli­cke zu dem Win­kel­ad­vo­ka­ten. Aber an­sons­ten hat­test du den Geist völ­lig ver­sie­gelt, bis du dich end­lich ent­spannt und nur noch auf die Fra­gen des Vor­sit­zen­den und der An­wäl­te kon­zen­triert hast.«

Vi­tus setz­te ein süf­fi­san­tes Grin­sen auf. »Den Geist der­art zu ver­schlie­ßen, ge­hört nicht ge­ra­de zu dei­nen Stär­ken.«

An­na über­leg­te. Wenn man sie schon auf ihr Ver­hal­ten im Ge­richts­saal an­sprach, so soll­te sie nun tat­säch­lich ge­nau­er dar­über nach­den­ken. »Ich weiß nicht, wie und war­um das pas­siert ist. Ei­gent­lich war ich ganz ru­hig, dach­te ich je­den­falls. Aber dann hat­te ich ur­plötz­lich ei­ne un­glaub­li­che Wut im Bauch. Des­halb konn­te ich euch in dem Au­gen­blick wohl nicht mehr spü­ren. Das lässt sich al­so ei­ni­ger­ma­ßen lo­gisch er­klä­ren. Na ja, so­weit man bei El­fen­macht von Lo­gik spre­chen kann.«

»Tut mir leid, Sil­vi, dass wir das jetzt doch noch durch­kau­en«, wand­te sie sich an Jens‘ Freun­din. »Aber ein paar Ant­wor­ten in die­ser Sa­che fänd ich schon in­ter­es­sant.«

Sil­vi wink­te läs­sig ab. »Mach nur. Ich hö­re zu. Mich in­ter­es­siert das ge­nau­so.«

»Dan­ke, das ist echt lieb von dir. – Wo war ich ste­hen­ge­blie­ben? Ach ja, ich hat­te plötz­lich ei­ne Stink­wut und auf­grund eben die­ser Wut hab ich mich of­fen­bar men­tal kom­plett ab­ge­kap­selt. Und dann … Ich woll­te mich auf kei­nen Fall bei die­sem, sor­ry, Arsch­loch ent­schul­di­gen. Nein, so et­was hät­te ich nie und nim­mer über die Lip­pen ge­bracht. Nichts und nie­mand hät­ten mich da­zu zwin­gen kön­nen. Au­ßer­dem hät­te ich es to­tal un­ge­recht ge­fun­den, wenn mich der Rich­ter für die mei­nes Er­ach­tens durch­aus be­rech­tig­te Ohr­fei­ge be­straft hät­te. Zitt hat­te die Ohr­fei­ge näm­lich, weiß Gott, mehr als ver­dient. Hhm, wenn ich jetzt so drü­ber nach­den­ke, dann fällt mir ein, dass ich all die­se Din­ge im Kopf hat­te, als ich den Rich­ter und da­nach den An­walt an­ge­se­hen ha­be.« Sie über­leg­te kurz. »Kann das denn sein? Hab ich mei­ne Ge­dan­ken auf sie pro­ji­ziert und sie da­mit be­ein­flusst?«

»So könn­te man es aus­drü­cken«, er­wi­der­te Vi­tus ernst. »Du hast ih­nen so­zu­sa­gen un­be­wusst dei­nen Wil­len auf­ge­zwun­gen. Das ist Sug­ge­s­ti­on und geht tief in die el­fi­sche Macht, Toch­ter. Und da­mit du dei­ne Macht in die rich­ti­gen Bah­nen len­ken kannst, wer­de ich dich un­ter­rich­ten.«

Er schau­te An­na mit sei­nen in­ten­si­ven Au­gen bis tief in ih­re See­le. Sei­ne stren­ge Mie­ne ließ kei­ne Wi­der­re­de zu, wur­de ihr klar. »Ja, das ist ei­ne wirk­lich gu­te Idee. Fin­dest du nicht auch, An­na? Ich wer­de dich un­ter­rich­ten, dich – und Vik­tor – und …«, nun wan­der­te sein Blick zu Vik­to­ria, »… dich na­tür­lich auch. Mal über­le­gen, ja, ein­mal pro Wo­che soll­te ge­nü­gen. Am bes­ten füh­ren wir einen spe­zi­el­len Tag da­für ein. Einen, an dem Le­na zu Lo­a­na ge­hen kann, um von ihr mehr über die Heil- und Kräu­ter­kun­de zu er­fah­ren.«

Wie so oft, wenn er nach­dach­te, trom­mel­te Vi­tus mit den Fin­gern auf sei­nen Ober­schen­keln her­um. Dann sah er un­ver­mit­telt zu Jens. »Du könn­test auch da­zu­ler­nen. Na­tür­lich nur, falls du es willst und dei­ne Freun­din sich nicht ängs­tigt.«

»Tja«, mein­te Jens ver­le­gen.

Nach ei­nem Blick­wech­sel mit Sil­vi zuck­te die mit den Ach­seln, sag­te aber in auf­rich­ti­gem Ton­fall: »Ich wer­de mich nie­mals vor dir ängs­ti­gen, Jens. Du hast zum Teil el­fi­sches Blut in dir und da­durch be­son­de­re Ga­ben mit in die Wie­ge ge­legt be­kom­men. Es wä­re Fre­vel, die nicht zu nut­zen. Das wä­re fast so, als ob El­tern ver­schie­de­ner Na­ti­o­na­li­tä­ten ihr Kind nicht zwei­spra­chig er­zie­hen und ihm da­her ei­ne Spra­che, ei­ne Kul­tur, ja, ei­ne hal­be Iden­ti­tät vor­ent­hal­ten wür­den.« Sie hob die Hän­de, als Jens et­was sa­gen woll­te. »Al­so, ler­ne dei­ne gan­ze Iden­ti­tät ken­nen und zu nut­zen.«

An­na war be­ein­druckt von die­sem State­ment und von Jens, der Sil­vi an der Hand zu sich zog, um sie zu küs­sen. Sei­ne grau­en Au­gen durch­dran­gen mit ih­rem Blick Sil­vis reh­brau­ne.

»Du bist das Bes­te, was mir je pas­siert ist, Sil­vi. Ich lie­be dich über al­le Ma­ßen.«

»Das will ich wohl mei­nen«, gab die­se er­heb­lich tro­ckener zu­rück, als ihr of­fen­bar zu­mu­te war.

»Nun denn«, un­ter­brach Vi­tus die rühr­se­li­ge Sze­ne, »das wä­re dem­nach ge­klärt. Viel­leicht be­kom­men wir einen Ter­min zu­sam­men, der sich so­wohl mit den Zei­ten, die An­na in der Schu­le und Vik­to­ria in der Uni­ver­si­tät ver­brin­gen, als auch mit Jens‘ und Le­n­as Ar­beits­zei­ten ver­ein­ba­ren lässt.« Schief grin­send füg­te er hin­zu: »In­ter­es­san­ter­wei­se scheint es für Lo­a­na, Vik­tor und so­gar mich selbst als Füh­ren­de ei­nes recht gro­ßen El­fen­rei­ches ein­fa­cher zu sein, die Ter­mi­ne mit euch ab­zu­stim­men.«

An­schei­nend war für ihn da­mit das The­ma vor­erst vom Tisch, denn er stand auf und nahm sei­ne Frau bei der Hand. »Der ers­te Ver­hand­lungs­tag ist jetzt üb­ri­gens vor­bei. Wie ich es mit­be­kom­men ha­be, hat die­ses Arsch­loch, wie An­na den Kerl so tref­fend ge­nannt hat, vor Kur­z­em ein um­fang­rei­ches Ge­ständ­nis ab­ge­legt. Viel­leicht wird des­halb schon mor­gen das Ur­teil ver­kün­det wer­den. Ob­wohl, ich be­fürch­te, dass der Rechts­an­walt wei­ter­hin auf un­zu­rech­nungs­fä­hig plä­die­ren wird. So oder so, die­ses Arsch­loch, um das schö­ne Wort noch ein­mal zu wie­der­ho­len, bleibt weg­ge­sperrt.«

Er küss­te zu­erst An­na, da­nach sei­nem Sohn, Jens und Sil­vi die Stirn. »Jo­han­nes und The­resa sind bald hier. Des­halb ge­hen wir jetzt. Dann ist es et­was ru­hi­ger, wenn sie ein­tref­fen. Bit­te grü­ße sie herz­lich von uns, An­na, und rich­te ih­nen aus, dass wir sie gern wie­der­se­hen möch­ten. Ach, und sag Be­scheid, dass Le­na mor­gen früh von Sen­tran di­rekt zum Fri­seur­sa­lon ge­bracht wird.«

Das war das Stich­wort für die an­de­ren, sich eben­so zu er­he­ben. Nach kur­z­em Hän­de­schüt­teln und di­ver­sen Wan­gen­küs­sen wa­ren sie fort.

Sonnenwarm und Regensanft - Band 4

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