Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 7
Wut im Bauch
ОглавлениеAnna war furchtbar blass und diese durchscheinende Blässe ließ sich einfach nicht vertreiben.
»Leg dich bitte hin, Süße«, sorgte sich Viktor. »Du bist ja ganz wackelig, komm schon.« Er schob sie in dem kleinen Wohnzimmer der Nells Richtung Sofa, drückte sie dort behutsam in die Kissen und deckte sie mit einer wärmenden Decke zu. »Ich hole dir erst einmal etwas zu trinken und mach dir ein Brot. Bin gleich zurück.«
Mit einem Stirnrunzeln registrierte er, dass sie ihm nicht das kleinste Widerwort gab, und das, obwohl er von Essen gesprochen hatte. Das ließ seine Besorgnis noch anwachsen. Schnell machte er in der Küche einen Teller mit belegten Broten zurecht, füllte ein Glas mit Cola, ein weiteres mit Mineralwasser und balancierte alles auf einem Tablett zur Couch. Dort lag Anna noch genau so, wie er sie verlassen hatte.
»Komm her, Kleines.«
Er hob ihren Kopf an und half ihr, ein paar Schlucke Cola zu nehmen, in der Hoffnung, der Koffeinkick würde sie beleben. Gleichzeitig versorgte er sie mit einem guten Maß an Sonne. Zu seiner Freude kehrte ein wenig Farbe in ihr Gesicht zurück.
»Warum habe ich das getan, Viktor?«, fragte sie matt. »Ich wollte das doch gar nicht. Ich wollte mich nur da hinsetzen, erzählen, was passiert ist, und Fragen beantworten. Stattdessen renne ich zu diesem Schwein und … Du meine Güte!«
Er musste sich ein Lachen verkneifen, als Anna laut aufstöhnte bei der Erinnerung, die für ihn gut sichtbar in ihr aufstieg. Sie hatte dem Ungeheuer eine Ohrfeige verpasst. Mitten im Gerichtssaal!
… Kaum betrat sie den großen unfreundlichen Raum, sah sie nur noch rot. Völlig unverhofft, von einem Moment zum nächsten, hatte es sie überkommen. Sie stürmte anstatt zu ihrem Zeugenstuhl zum Angeklagten, ihrem ehemaligen Biologielehrer Nils Zitt, und verpasste ihm wortlos eine schallende Ohrfeige. Annas Vater rannte so schnell wie möglich dazu, um sie daran zu hindern, weiter auf den jammernden Mann einzudreschen. Die Hand hatte sie bereits erneut erhoben.
Johannes nahm seine Tochter zärtlich in den Arm, redete begütigend auf sie ein. Danach entschuldigte er sich beim Vorsitzenden für Annas Verhalten, gab gleichzeitig ihre seelische Verfassung zu bedenken und bat um richterliche Nachsicht.
Der Richter reagierte wegen der Sache ziemlich aufgebracht, behielt sich indes eine Entscheidung über das »ungebührliche Verhalten« der Zeugin vor.
Dann endlich spürte Anna Viktors und ebenso Vitus‘ besänftigende Kraft. Es gelang ihr daraufhin, die Fassung zurückzugewinnen. Einigermaßen entspannt ließ sie sich von ihrem Vater an den Zeugentisch führen. Dem Richter schaute sie dabei tief in die Augen. Nun bat auch sie ihn um Verzeihung, ohne allerdings eine weitere Erklärung zu ihrem Benehmen abzugeben. Sie nahm wahr, wie der Mann unangenehm berührt auf seinem Richterstuhl hin und her rutschte, sich sogar ein paarmal räusperte, bevor er ihre Entschuldigung annahm.
Doch er forderte sie nicht auf, sich überdies beim Angeklagten zu entschuldigen, was dessen Verteidiger wiederum gar nicht gefiel. Nach einem Blickwechsel mit Annas blitzenden Saphiraugen gab der allerdings keine zusätzlichen Äußerungen dazu ab. Und nach einem weiteren kurzen Augenkontakt mit Anna strich er stattdessen seinem nach wie vor heulenden Mandanten einmal väterlich über den Rücken, obwohl der deutlich älter als sein Anwalt zu sein schien. Daraufhin stellte der Angeklagte sein in Annas Ohren und Augen lächerliches Wimmern und kindisches Verhalten wieder ein. …
Viktor beobachtete Anna aufmerksam. Augenscheinlich dachte sie auch weiterhin gründlich über all das nach, was während ihrer Zeugenaussage vorhin im Gerichtssaal geschehen war.
»Du oder Vitus, einer von euch beiden hat den Richter und den Verteidiger beeinflusst, nicht wahr?«, wollte sie dann wissen. »Man hätte mich eigentlich für meinen Super-Auftritt bestrafen müssen, rügen, oder wie man so was nennt, hat es aber nicht getan.«
»Nein, Anna, das warst du selbst. Du hast alle beide manipuliert. Nicht ich. Nicht Vitus.«
»Was?« Anna war so schnell hochgeschossen, dass ihr offensichtlich gleich wieder schwindelig wurde und sie sich deshalb zurück in die Kissen sinken ließ. »Ich?« Sie sah Viktor mit immer noch trüben Augen an. »Ich kann so was doch gar nicht.«
Viktor runzelte nachdenklich die Stirn. »Anscheinend doch, Kleines. Wie Vitus schon sagte: Du lernst ständig dazu.« Jetzt lächelte er verschmitzt. »Du hast eine gute Linke, Süße. Das hat bis nach draußen geknallt. Ich hab‘s gehört und natürlich in dir gesehen. Du warst einfach großartig.«
»Lass das, Viktor«, erwiderte Anna unwirsch. »Das hätte mir nicht passieren dürfen. Ich hab das alles viel zu nah an mich rangelassen. Ich …«
Jetzt war es an ihm, unwirsch zu werden. »Sag mal, spinnst du?«, rief er entrüstet dazwischen. »Wem sollte das Ganze wohl nahegehen, wenn nicht dir? Dieser Typ hat dir Gewalt angetan, er wollte …« Viktor unterbrach sich selbst und schüttelte den Kopf. »Allein beim Gedanken daran flippe ich aus.«
Sein Blick bohrte sich in ihren. »Anna, wenn du das nicht getan hättest und wenn Vitus mich nicht mental zurückgehalten hätte, ich wäre bestimmt nicht straffrei da rausgegangen, glaub mir. Ich hätte den Kerl fertiggemacht, richtig fertig.«
»Hättest du nicht, Viktor. Du hast es gewollt, ja. Aber du hättest es für mich bleiben lassen, damit ich mir keine Sorgen machen muss. Es wäre schließlich nicht besonders schlau, sollten die Behörden dich allzu sehr durchleuchten. Du hast zwar eine menschliche deutsche Mutter, eine ordentliche Geburtsurkunde, auch einen Pass und Führerschein und all so was. Trotzdem wäre es riskant, mehr von dir preiszugeben. Denk an Marius. Es ist nicht klug, die Neugierde anderer Menschen zu wecken.«
Sie richtete sich langsam wieder auf, nahm eines der Brote zur Hand und biss vorsichtig hinein.
»Ja, das stimmt natürlich.« Er nahm sich auch ein Brot. »Trotzdem fiel es mir schwer. Deshalb ist es nur recht, dass du ihm eine runtergehauen hast, sozusagen stellvertretend für mich.«
Schwach lächelnd kaute sie zu Ende und spülte den Bissen mit einem großen Schluck Cola hinunter, so, als ob das Essen nicht richtig rutschen wollte.
»Ich dachte, ich käme besser damit zurecht, Viktor. Ich dachte, ich hätte es im Griff und nichts würde mir mehr Angst machen als die Aussicht, dich zu verlieren. Zugegeben, so einfach war es wohl doch nicht. Ich musste mich erst richtig von dem Scheusal befreien, es körperlich spüren. Ich glaube, auf diese, nun ja, etwas dramatische Art und Weise ist mir das gelungen.« Geistesabwesend biss sie noch einmal in ihr Brot. »So langsam geht es mir besser.«
»Bleib trotzdem noch ein Weilchen liegen, Süße. Ich mach uns einen Kamillentee. Dann lege ich mich zu dir, ja?« Viktor stand auf, um erneut in die Küche zu gehen.
Anna hielt ihn jedoch am Hemdärmel fest. »Er wird bestraft und kommt vorerst nicht mehr raus, nicht wahr?«
»Ganz bestimmt«, beruhigte Viktor sie. Dabei behielt er für sich, dass auch er den Richter und den Verteidiger, ja, sogar den Staatsanwalt ein kleines bisschen empathisch beeinflusst hatte. »Wir haben unsere Aussagen gemacht. Das werden die anderen betroffenen Mädchen ebenfalls tun, genau wie die Lehrer und auch die Polizisten, die damals seine Wohnung gestürmt haben.« Ein grimmiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Außerdem bricht dieser Jammerlappen sowieso bald zusammen und wird endlich vollständig gestehen. Es wird also alles gut.«
Mit diesen Worten löste er sich von ihr und verließ das Wohnzimmer. Als er wiederkam, fielen Anna gerade die Augen zu. Behutsam nahm er ihr sowohl das angebissene Brot aus der Hand als auch die Brille von der Nase, schob Anna sachte etwas zur Seite und kuschelte sich neben sie unter die Decke. Bald legte sich auch bei ihm die Müdigkeit mit entspannender Ruhe und Schlaf über die aufgewühlten Sinne.
***
Sie wurde durch das Klirren von Schlüsseln am Wohnungseingang geweckt und von munteren Stimmen, die zu ihr drangen. Kurz darauf öffnete sich die Wohnzimmertür.
Anna brauchte einen Augenblick zum Wachwerden. Sie hatte sich irgendetwas Sonderbares, Unheimliches zusammengeträumt. Noch schläfrig verdrängte sie die letzten Schleier des Traums, an den sie sich bereits in der Sekunde nicht mehr erinnern konnte, in der sie die Augen aufgeschlagen hatte.
Ihr Bruder samt Freundin trat ein. Noch nahm Anna lediglich Jens‘ sandfarbenes Haar sowie Silvis schulterlange braune Mähne wahr. Blinzelnd tastete sie über Viktor hinweg nach ihrer Brille.
»Oh, Entschuldigung. Wir wussten nicht, dass ihr hier seid. Habt ihr geschlafen?«
Sobald Annas Brille auf ihrer Nase saß, schärfte sich das Bild. Jens grinste in der ihm typischen Art. Auf Silvis hübsches Gesicht legte sich ein Lächeln.
Inzwischen war auch Viktor aufgewacht, streckte sich, sagte aber nichts.
Jens ging in betont würdevollen Schritten zu ihnen, ergriff Annas Hand und schüttelte sie ausgiebig. Er unterstrich diese förmlichen Gesten mit einem knappen Diener, wobei seine grauen Augen allerdings fröhlich blitzten. Mit einem Mal ließ er ihre Hand wieder los, um Anna überschwänglich auf den Mund zu küssen. »Herzlichen Glückwunsch, Schwesterherz. Ich habe gehört, du hast dem Arsch eine geballert. Echt cooler Schachzug.«
… Noch vor gar nicht so langer Zeit waren sich Anna und ihr einundzwanzig Jahre alter Bruder spinnefeind gewesen. Das hatte sich drastisch geändert, seit Viktor in Annas Leben getreten war. Und seit sie und Jens herausgefunden hatten, dass sie sich telepathisch miteinander verständigen konnten. …
Annas Stimme klang vom Schlaf, dem eigenartigen Traum, auch von ihrem seelischen Zustand noch ein wenig belegt. »Erinner mich bloß nicht daran, Jens. Das war alles andere als schlau von mir.« Doch dann zuckte sie mit den Achseln. »Ach, was soll‘s? Der Mistkerl hat es voll und ganz verdient.«
»Na, das nenne ich die richtige Einstellung!«, rief Silvi gut gelaunt aus. »Wir haben Kuchen mitgebracht.« Sie schaute zu Jens. »Wie wär‘s, wenn du uns einen Feierabend-Kaffee dazu kochst?«
»Okay, bin schon auf dem Weg.«
»Woher weißt du überhaupt von der Ohrfeige?«, fragte Anna etwas später und leckte sich dabei den klebrigen Zucker des Berliners von den Fingern. »Hat Mama dir gesimst?«
»Klar hat sie. Und Ketu hat mir freundlicherweise ein paar feine Bildchen aus deinem Kopf geschickt. Bisher kann ich ja nur deine Gedanken, seine und die von Viktor und Vitus wahrnehmen. Na ja, das ist immerhin besser als nichts.«
»Überlegt bitte alle einmal, dass ich als rein menschliche Außenstehende vielleicht gar nicht so unglücklich darüber bin, wenn ihr nicht ständig mit euren ach so tollen Fähigkeiten prahlt«, gab Silvi schnippisch zu bedenken, machte allerdings einen kleinen Rückzieher, als sie die irritierten Blicke aufschnappte. »Ist doch wahr, oder? Ab und an komme ich mir richtig minderbemittelt vor, weil ihr solche Sachen könnt und ich nicht. Sogar Lena. Und Theresa hatte ja schon immer ihren sogenannten Siebten Sinn. – Äh, ich bin nicht neidisch, oder so. Nee, nee.« Sie hob die Hände, so, als wollte sie sich ergeben. »Also gut, also gut, ich bin neidisch. Aber nur ein ganz klein bisschen.«
»Silvi, wir bemühen uns doch wirklich, uns in deiner Gegenwart sozusagen normal zu verhalten. Das weißt du doch«, schalt Jens seine Freundin.
Silvi wurde rot. »Hhm, das stimmt ja auch. Ach, menno, gebt mir halt etwas Zeit. Manchmal krieg ich das alles immer noch nicht so ganz auf die Reihe, tut mir leid.«
»Also schön, keine Bemerkungen mehr über Elfen und so – und, falls es geht, auch nicht mehr über den blöden Prozess«, schloss Anna das Thema ab und stutzte, als es klingelte.
»Wenn das wieder diese dämlichen Reporter sind, dann werd ich denen aber was erzählen«, grummelte Jens.
»Reporter?«, stöhnte Anna und bemerkte entsetzt, wie neue Panik in ihr aufstieg.
»Keine Bange«, beruhigte Jens sie, »ich hatte denen gesagt, sie sollen sich verpissen oder ich rufe die Bullen. Na ja, ein bisschen netter hab ich‘s schon ausgedrückt, aber so in etwa. Falls das allerdings doch einer von diesen neugierigen Typen ist, werden Viktor und ich die bestimmt abwimmeln können. Mach dir keinen Kopf.«
Anna dachte darüber nach: Sie hatte sich wie in Trance von Viktor aus dem Gerichtsgebäude bringen lassen. Aus diesem Grunde waren ihr die Leute dort nicht so richtig aufgefallen. Jetzt erinnerte sie sich daran, dass Viktor die Meute von Journalisten auf dem Weg vom Gerichtssaal bis zum Auto mental in Schach gehalten hatte. Scheinbar waren die ihnen dennoch zur Wohnung gefolgt.
Mit gestrafften Schultern ging Jens zur Sprechanlage. Doch da vernahm Anna ihr vertraute Stimmen.
»Oh, ihr seid‘s!«, flötete Jens. »Na, dann alle mal reinspaziert!«
Kurz darauf traten Loana, Vitus, Viktoria, Ketu, Lena und Sentran ein. Sie hatten sich bereits Stühle aus dem angrenzenden Esszimmer mitgebracht, damit sie allesamt im Wohnraum Platz nehmen konnten. Nach einem Wangenkuss für Anna setzten sie sich, bis auf Loana.
»Diese Leute da draußen vor der Haustüre scheinen mir ganz schön neugierig zu sein, Anna.« Loanas Edelsteinaugen glühten vor Zorn. »Vitus war so freundlich, sie gedanklich des Weges zu verweisen. Sie sind nun unterwegs, um von einem schweren Unfall auf der Straßenbahn zu berichten, auf 52 A, glaube ich.«
Vitus nahm Loana bei der Hand und zog sie auf seinen Schoß. »Du meintest sicherlich die Autobahn mit der Bezeichnung A52, meine Schöne, denn eine Straßenbahn ist gar keine Straße, sondern ein Vehikel, das auf Schienen dahingleitet.«
Loanas Blick wurde weich, bevor sie kicherte, allerdings keinen Kommentar zu ihrem Versprecher abgab. »Keine Sorge, Anna, es gab natürlich keinen solchen Unfall. Bis diese Leute das feststellen, hast du erst mal Ruhe. Danach denken wir uns etwas Neues aus.«
Während sie das sagte, neigte sie den Kopf zur Seite und betrachtete Anna mit ihren grünen Augen. »Wir dachten, du könntest noch etwas Gesellschaft gebrauchen und eventuell ein Stückchen Kuchen. Aber, wie ich sehe, wurdest du bereits versorgt.« Sie legte die Hände schützend um ihren kleinen runden Bauch, wie es so typisch für schwangere Frauen war.
»Na ja, ihr schafft es bestimmt, den Kuchen auch ohne mich aufzuessen«, erwiderte Anna in leicht ironischem Ton und freute sich riesig über den großen Zuspruch. »Ich könnte euch einen Kaffee dazu kochen.«
»Kommt gar nicht in Frage. Das übernehmen Ketu und ich. Kommst du?« Viktoria zog ihren Wachmann vom Stuhl und schob ihn in Richtung Küche.
So unterhielten sie sich angeregt bei Kaffee und Kuchen, um Anna abzulenken. Dabei sprachen sie über alles Mögliche, nur nicht über den Prozess.
Vitus hatte bislang so gut wie nicht gesprochen, was eher untypisch für ihn war. Er wirkte nachdenklich, sogar zerknirscht. Als er dann nicht einmal protestierte, weil Loana sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte, hob diese erstaunt eine Braue und trank eilig noch einen Schluck, wobei sie vorsichtig in seine Richtung schielte. Sie schien zu befürchten, dass er es vielleicht doch mitbekäme. »Was geht dir durch den Kopf, Vitus? Du scheinst mit deinen Gedanken meilenweit entfernt zu sein?«
»Hm?« Vitus sah sie zunächst geistesabwesend an, bevor er sie milde anlächelte, so wie ein Vater sein ertapptes Kind. »Oh, nicht gerade meilenweit entfernt, Kened, und vor allen Dingen nahe genug, um deinen Kaffeekonsum zu registrieren. Und die zweite Tasse sei dir heute mal gegönnt.« Sie seufzte und er lächelte erneut, wurde dann aber ernst. »Ich habe tatsächlich nachgedacht und frage mich, wie es Anna gelungen ist, sich meiner sowie Viktors beruhigenden Kraft zu entziehen und diesen Mann zu ohrfeigen. Außerdem hat sie sowohl Richter als auch Rechtsanwalt empathisch manipuliert.«
Er musterte Anna eingehend. »Du warst wirklich gut. Ich habe in diesen paar Momenten fast nichts von dir wahrnehmen können. Deine Reaktionen selbst waren zwar erfassbar: Deine Ohrfeige. Deine Entschuldigung beim Richter. Deine Blicke zu dem Winkeladvokaten. Aber ansonsten hattest du den Geist völlig versiegelt, bis du dich endlich entspannt und nur noch auf die Fragen des Vorsitzenden und der Anwälte konzentriert hast.«
Vitus setzte ein süffisantes Grinsen auf. »Den Geist derart zu verschließen, gehört nicht gerade zu deinen Stärken.«
Anna überlegte. Wenn man sie schon auf ihr Verhalten im Gerichtssaal ansprach, so sollte sie nun tatsächlich genauer darüber nachdenken. »Ich weiß nicht, wie und warum das passiert ist. Eigentlich war ich ganz ruhig, dachte ich jedenfalls. Aber dann hatte ich urplötzlich eine unglaubliche Wut im Bauch. Deshalb konnte ich euch in dem Augenblick wohl nicht mehr spüren. Das lässt sich also einigermaßen logisch erklären. Na ja, soweit man bei Elfenmacht von Logik sprechen kann.«
»Tut mir leid, Silvi, dass wir das jetzt doch noch durchkauen«, wandte sie sich an Jens‘ Freundin. »Aber ein paar Antworten in dieser Sache fänd ich schon interessant.«
Silvi winkte lässig ab. »Mach nur. Ich höre zu. Mich interessiert das genauso.«
»Danke, das ist echt lieb von dir. – Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich hatte plötzlich eine Stinkwut und aufgrund eben dieser Wut hab ich mich offenbar mental komplett abgekapselt. Und dann … Ich wollte mich auf keinen Fall bei diesem, sorry, Arschloch entschuldigen. Nein, so etwas hätte ich nie und nimmer über die Lippen gebracht. Nichts und niemand hätten mich dazu zwingen können. Außerdem hätte ich es total ungerecht gefunden, wenn mich der Richter für die meines Erachtens durchaus berechtigte Ohrfeige bestraft hätte. Zitt hatte die Ohrfeige nämlich, weiß Gott, mehr als verdient. Hhm, wenn ich jetzt so drüber nachdenke, dann fällt mir ein, dass ich all diese Dinge im Kopf hatte, als ich den Richter und danach den Anwalt angesehen habe.« Sie überlegte kurz. »Kann das denn sein? Hab ich meine Gedanken auf sie projiziert und sie damit beeinflusst?«
»So könnte man es ausdrücken«, erwiderte Vitus ernst. »Du hast ihnen sozusagen unbewusst deinen Willen aufgezwungen. Das ist Suggestion und geht tief in die elfische Macht, Tochter. Und damit du deine Macht in die richtigen Bahnen lenken kannst, werde ich dich unterrichten.«
Er schaute Anna mit seinen intensiven Augen bis tief in ihre Seele. Seine strenge Miene ließ keine Widerrede zu, wurde ihr klar. »Ja, das ist eine wirklich gute Idee. Findest du nicht auch, Anna? Ich werde dich unterrichten, dich – und Viktor – und …«, nun wanderte sein Blick zu Viktoria, »… dich natürlich auch. Mal überlegen, ja, einmal pro Woche sollte genügen. Am besten führen wir einen speziellen Tag dafür ein. Einen, an dem Lena zu Loana gehen kann, um von ihr mehr über die Heil- und Kräuterkunde zu erfahren.«
Wie so oft, wenn er nachdachte, trommelte Vitus mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln herum. Dann sah er unvermittelt zu Jens. »Du könntest auch dazulernen. Natürlich nur, falls du es willst und deine Freundin sich nicht ängstigt.«
»Tja«, meinte Jens verlegen.
Nach einem Blickwechsel mit Silvi zuckte die mit den Achseln, sagte aber in aufrichtigem Tonfall: »Ich werde mich niemals vor dir ängstigen, Jens. Du hast zum Teil elfisches Blut in dir und dadurch besondere Gaben mit in die Wiege gelegt bekommen. Es wäre Frevel, die nicht zu nutzen. Das wäre fast so, als ob Eltern verschiedener Nationalitäten ihr Kind nicht zweisprachig erziehen und ihm daher eine Sprache, eine Kultur, ja, eine halbe Identität vorenthalten würden.« Sie hob die Hände, als Jens etwas sagen wollte. »Also, lerne deine ganze Identität kennen und zu nutzen.«
Anna war beeindruckt von diesem Statement und von Jens, der Silvi an der Hand zu sich zog, um sie zu küssen. Seine grauen Augen durchdrangen mit ihrem Blick Silvis rehbraune.
»Du bist das Beste, was mir je passiert ist, Silvi. Ich liebe dich über alle Maßen.«
»Das will ich wohl meinen«, gab diese erheblich trockener zurück, als ihr offenbar zumute war.
»Nun denn«, unterbrach Vitus die rührselige Szene, »das wäre demnach geklärt. Vielleicht bekommen wir einen Termin zusammen, der sich sowohl mit den Zeiten, die Anna in der Schule und Viktoria in der Universität verbringen, als auch mit Jens‘ und Lenas Arbeitszeiten vereinbaren lässt.« Schief grinsend fügte er hinzu: »Interessanterweise scheint es für Loana, Viktor und sogar mich selbst als Führende eines recht großen Elfenreiches einfacher zu sein, die Termine mit euch abzustimmen.«
Anscheinend war für ihn damit das Thema vorerst vom Tisch, denn er stand auf und nahm seine Frau bei der Hand. »Der erste Verhandlungstag ist jetzt übrigens vorbei. Wie ich es mitbekommen habe, hat dieses Arschloch, wie Anna den Kerl so treffend genannt hat, vor Kurzem ein umfangreiches Geständnis abgelegt. Vielleicht wird deshalb schon morgen das Urteil verkündet werden. Obwohl, ich befürchte, dass der Rechtsanwalt weiterhin auf unzurechnungsfähig plädieren wird. So oder so, dieses Arschloch, um das schöne Wort noch einmal zu wiederholen, bleibt weggesperrt.«
Er küsste zuerst Anna, danach seinem Sohn, Jens und Silvi die Stirn. »Johannes und Theresa sind bald hier. Deshalb gehen wir jetzt. Dann ist es etwas ruhiger, wenn sie eintreffen. Bitte grüße sie herzlich von uns, Anna, und richte ihnen aus, dass wir sie gern wiedersehen möchten. Ach, und sag Bescheid, dass Lena morgen früh von Sentran direkt zum Friseursalon gebracht wird.«
Das war das Stichwort für die anderen, sich ebenso zu erheben. Nach kurzem Händeschütteln und diversen Wangenküssen waren sie fort.