Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 4 - Agnes M. Holdborg - Страница 8
Keinem Kraut gewachsen
ОглавлениеSie fanden tatsächlich einen Tag in der Woche, an dem sich alle ein paar Stunden für den Unterricht freischaufeln konnten.
Lena behagte es nicht, dass es sich dabei ausgerechnet um ihren freien Montag handelte. Als Friseurin war ihr dieser Tag heilig. Deshalb gehörte er eigentlich allein Sentran und ihr. Da der Unterricht allerdings ohnehin im Schloss und somit in der Nähe ihres Freundes stattfand, gab sie sich geschlagen. Schließlich war sie viel zu neugierig. Im Grunde genommen konnte sie es gar nicht abwarten, mehr über ihre elfischen Heilkräfte sowie den Nutzen der diversen Pflanzen und Kräuter hierfür zu erfahren. Obendrein war es ein kleines Wunder, alle unter einen Hut bekommen zu haben.
Schmunzelnd erinnerte sie sich an die Schilderungen ihrer Geschwister, die Reaktion ihrer Eltern und die äußerst frivolen Gedanken einiger Elfenmänner:
… Jens war glücklich über das Entgegenkommen seines Chefs, hatte der ihm doch erlaubt, an diesem Wochentag regelmäßig früher in den Feierabend zu gehen und die verlorene Arbeitszeit an anderen Tagen wettzumachen. Zwar war Jens trotz dieses Umstandes und seiner Neugierde auf den Unterricht noch ein wenig skeptisch, denn er wollte seine Silvi schließlich auch an diesem Tage noch zu Gesicht bekommen. Aber Vitus hatte ihm versprochen, ihn stets pünktlich heimbringen zu lassen.
Anna hatte die Mitglieder ihrer Bio-Lerngruppe dazu überredet, den wöchentlichen Termin von montags auf mittwochs zu verlegen. Miri, Annas ein wenig verrückte, schrille neue Schulfreundin, hatte sie zwar gelöchert, um den Grund hierfür zu erfahren. Doch bei der Erwähnung des Namens Viktor hatte Miri wissend die Augen verdreht und gemeint, dass sie für so eine Sahneschnitte notfalls die Nacht zum Tage machen würde. Anna fing an, die unkomplizierte Miri gernzuhaben, und bedauerte es zunehmend, sie nicht in das Elfengeheimnis einweihen zu dürfen.
Johannes und Theresa hatten sich zunächst nicht vorstellen können, fast einen ganzen Tag in der Woche ohne eines ihrer drei Kinder zu verbringen, sich dann aber rasch mit dem Gedanken angefreundet. Nach über zwanzig Jahren ließe sich mit so einem »kinderfreien« Tag sicherlich etwas anfangen.
Sentran, Ketu und Viktor waren sich zudem einig darüber, dass dieser Unterrichtstag einen praktischen und noch dazu äußerst erfreulichen Nebeneffekt mit sich brächte. Denn an diesem Tag blieben ihre Freundinnen stets über Nacht im Schloss, somit letztendlich bei ihnen – und in ihren Betten. Ein wirklich verlockender Gedanke. …
So gehörte der Montagnachmittag ab sechzehn Uhr nunmehr Vitus und Loana.
***
»Elfenmänner sind letztlich eben auch nur Männer«, spöttelte Viktoria, als Ketu sie an seinen gedanklichen Fantasien teilhaben ließ. »Gibt es eigentlich Augenblicke am Tag, an denen ihr nicht an Sex denkt?«
Er verzichtete auf eine Antwort. Stattdessen runzelte er die Stirn, bis die Brauen fast gänzlich unter seinem dichten braunen Haar verschwanden, sodass er den Eindruck erweckte, angestrengt nachzudenken. Das brachte ihm einen Knuff in die Rippen ein.
»Also wirklich«, frotzelte sie weiter.
Während sie gemütlich durch den Schlossgarten schlenderten, lehnte Viktoria sich an Ketus Schulter. Sie nutzten die Zeit, um ein paar Sonnenstrahlen einzufangen und bei dieser Gelegenheit die beginnenden Bauarbeiten in einem abgelegenen Teil des Schlossparks zu inspizieren. Der Unterricht würde erst in einer Stunde beginnen und Ketu hatte gerade Feierabend.
Ein richtiger Feierabend ergab sich für ihn als königlichen Elitewachmann allerdings eher selten. Eigentlich war er immer im Dienst, außer Vitus gab ausdrücklich frei oder genehmigte ein paar Tage Urlaub.
Trotz alledem gab es einen Dienstplan. Außerhalb dieses Plans befand sich Ketu, wie auch seine Kollegen, quasi in Bereitschaft. In dieser Zeit konnte er seinen privaten Interessen nachgehen, hatte sich jedoch auf Befehl des Königs oder natürlich bei drohender Gefahr sofort zu melden.
Diesen Dienstplan hatte Vitus, seitdem Lena und Sentran ein Paar waren, neu abgestimmt und dabei insbesondere Ketus und Sentrans Schichten weitestgehend zusammengelegt. Das machte es Ketu leichter, die freie Zeit gemeinsam mit Viktoria zu gestalten. Seine persönlichen Verhältnisse waren derart eng mit ihr, den Nell-Geschwistern und dadurch zusätzlich mit Viktor und Sentran verwoben, dass es Vitus zudem wichtig erschien, auch Viktor in diese Planung mit einzubeziehen. Einmal mehr war Ketu erstaunt über die Umsicht seines Königs, Dienstherrn und Freundes.
***
Vitus schaute zum Fenster seines Arbeitszimmers hinaus auf das im parkähnlichen Schlossgarten spazierende Paar. Er sah die Liebe in den Augen der beiden. Unterdessen schweiften seine Gedanken ab.
Wie schnell die Kinder erwachsen geworden waren.
Er war sich sicher, dass Ketu und Viktoria das nächste königliche Brautpaar werden würden, schließlich hatten sie sich ja auf seiner Hochzeit verlobt. Seit dieser Zeit hatten die beiden allerdings keinen Ton mehr darüber verlauten lassen. Freilich, Sistras Tod war noch nicht lang her und seine Asche begann gerade erst auf dem Grund des elterlichen Gartens zu erblühen. Trotzdem wäre es zweifellos nicht im Sinne von Ketus Bruder gewesen, die Heirat seinetwegen auf die lange Bank zu schieben. Vitus würde sich unbedingt mit ihnen darüber unterhalten müssen.
Nach einem letzten Blick hinunter setzte er sich an seinem Schreibtisch, bevor seine Grübeleien ihn wiederum von der Arbeit ablenkten:
Viktor war unterwegs, um Anna zu holen. Bei der Vorstellung musste Vitus unwillkürlich lächeln.
Nach wie vor war es seinem Sohn nicht gelungen, Anna an Gertus zu gewöhnen. Dabei hatte das Pferd sie sofort akzeptiert und in sein großes Elfenpferdherz geschlossen. Heute, nach dem Abendessen, würde er Anna einfach auf den Rücken des Tieres setzen.
»Wollen doch mal sehen, ob wir sie nicht endlich dazu kriegen, ihr eigenes Pferd anzuerkennen. Das Tier hat seine Besitzerin jedenfalls vom ersten Augenblick an geliebt. Nun müssen wir ihr nur noch beibringen, das Gleiche für ihn zu empfinden.«
Zufrieden mit seinem Vorhaben machte er sich nun an seine Arbeit und begann damit, sämtliche Anträge und Beschwerden nach dem ihm eigenen System zu sortieren und zu ordnen, um sie danach genauer in Augenschein zu nehmen. Dabei erregte besonders eine Beschwerde aus der Region seines Bruders Estra seine Aufmerksamkeit.
»Eine gute Gelegenheit, Estra, Isinis und die Kinder mal wieder zu besuchen«, überlegte er. »Viktor und Viktoria haben ihre Zieheltern seit meiner Heirat nicht mehr gesehen. Gut, ich werde auch Anna fragen, ob sie nächstes Wochenende Zeit hat, um uns dorthin zu begleiten.«
Er machte sich ein paar gedankliche Notizen, unterschrieb mehrere Schriftstücke und reichte sie einem seiner Berater, der gerade zur Tür hereinkam.
»Das wäre alles für heute, Ansa. Geh zu deiner Frau und grüße sie von mir. Bis morgen.«
»Mein König«, antwortete Ansa in der typisch elfischen Form knapp und respektvoll, nahm die Papiere, bevor er sich leise zurückzog.
Als Vitus plötzlich die helle, leicht gereizte Stimme seiner Frau wahrnahm, wurde ihm warm uns Herz.
»Sie streitet sich mal wieder mit Wonu«, flüsterte er vergnügt. »Du meine Güte, was ist denn nun schon wieder los?«
Ohne seinen Arbeitsraum eines weiteren Blickes zu würdigen, stand er auf und lief hinaus. Jetzt hatte er nur noch Ohren und Sinne für seine bezaubernde Ehefrau, folgte daher ihren schnellen bretonischen Flüchen und Schimpftiraden. Wie er richtig vermutet hatte, landete er in der Küchentür, wo er fasziniert stehen blieb, um in aller Ruhe Loanas Streit mit dem Ersten Koch des Schlosses zu verfolgen:
»Das ist doch bloß ein Kraut, Wonu. Bloß ein harmloses, gesundes Kraut, das du für den Rotweinsud verwenden sollst. Ich verlange ja nichts Unmögliches. Dieses Kraut soll nur in den verdammten Sud. Man kann es nicht schmecken oder riechen. Deiner Soße passiert also nichts. Aber damit kann ich Lena zeigen, wie man manche Dinge nutzt, ohne dass andere es bemerken. Das ist wichtig, verstehst du?« Loana fuchtelte wild mit einem Bündel, das nach Vitus‘ Eindruck wie getrocknetes Gras aussah, vor Wonus Nase herum. »Ach, weißt du was, du Kochlöffelschwinger? Ich kann dich nicht immer mit Wollhandschuhen anfassen, hörst du? Ich bin deine Königin und du handelst gefälligst nach meinen Boten!«
Wütend hielt sie dem gleichsam wütenden Koch das Büschel unscheinbaren Krauts hin. Der nahm es ihr mit spitzen Fingern und einem demonstrativ lauten, dazu eindeutig protestierenden Schnauben ab.
»Wir werden ja sehen, ob es meinem Gericht schadet oder nicht«, meckerte er. »Du trägst die Verantwortung dafür. Bisher sind mir meine Speisen immer sehr gut gelungen, meine Königin.« Er blitzte Loana mit seinen kleinen schwarzen Käferaugen böse an. »Das soll auch so bleiben!«
In ihrem Zorn hatten sie beide nicht bemerkt, dass Vitus im Türrahmen stand. Deshalb stapfte Wonu nun mit dem Büschel in der Hand in Richtung Spüle. Dabei brummelte er laut vor sich hin, fragte sich noch dazu, was das mit den »Wollhandschuhen« und »Boten« wohl wieder mal zu bedeuten hätte. Derb fluchend warf das Kraut zum Waschen ins Becken.
Die Hände zu Fäusten in die Hüften gestemmt drehte sich Loana derweil mit sichtlich zufriedener Miene um und stieß geradewegs mit ihrem Mann zusammen. Sofort verdunkelte sich ihr Blick. Sie presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, während sie ein paar edelsteingrüne Funken auf ihn abfeuerte. »Mit Wollhandschuhen kommt man bei dem nun mal nicht weiter, genau wie beim Gärtner. Dabei bin ich eigentlich überhaupt nicht der Typ für Boten. Das weißt du genau, mein König.«
Vitus musterte seine wunderschöne Frau von oben bis unten. Immer aufs Neue erstaunten, ja, erregten ihn ihr Anblick und ihr Geist. Dann setzte er zu einem schiefen Grinsen an und sagte nur drei Worte: »Samt-handschuhe und Ge-bote.«
»Oh«, war ihre schlichte Antwort.
Loanas Miene wurde sanft, ihr Mund wieder voll und sinnlich. Sie sah Vitus mit einem süßen Lächeln an, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen kleinen Kuss. Er hielt sie fest, hob sie hoch, als sie sich von ihm lösen wollte, und vertiefte den Kuss, bis sie nach Atem rang. Danach stellte er sie auf die Füße zurück.
»Du willst uns also zum Abendessen ein Kraut unterjubeln?«, erkundigte er sich.
»Das ist ein sehr gutes Kraut. Ich hab es gesammelt, als wir an der bretonischen Küste an Land gegangen sind. Es wächst bislang nur dort. Und falls dieser starrköpfige Gärtner es endlich zulässt, werde ich versuchen, es hier zu kultivieren.«
Leise fluchend stellte Vitus fest, dass Loana ihre Gedanken sorgfältig abschirmte, als er darin herumstöberte. »Oh nein, mein König, die Wirkung dieses Gewächses verrate ich dir nicht. Noch nicht. Es ist zwar sehr stark, dennoch absolut harmlos, glaub mir. Sonst würde ich das nicht tun. Aber Lena kann am meisten von mir lernen, wenn ich ihr praktische Grundlagen verschaffe.«
Vitus dachte nach, was Loana ihm offenbar sofort ansah. Schnell fügte sie hinzu: »Vitus, es ist ein gutes Kraut. Auch für unsere Babys.« Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Unsere Babys«, wiederholte sie flüsternd.
***
Da Vitus königlich steife Zwänge zutiefst verabscheute, fanden sich seine Familie, seine sechs Wachleute, Freunde und die meisten seiner Gäste fast ausschließlich in der Küche am riesigen Tisch zum Essen ein. Der große Speisesaal – mit den funkelnden Lüstern, hoheitsvollen Stuckverzierungen an den Decken und beeindruckendem Kamin – war grundsätzlich besonders festlichen Anlässen vorbehalten oder diente als Treffpunkt, falls der Platz in der Schlossküche doch einmal nicht ausreichte.
Es hatte Vitus einiges an Geduld abverlangt, seine sechs Wachleute davon zu überzeugen, dass sie zu seiner Familie gehörten, und sie dazu zu bewegen, regelmäßig mit ihm am Küchentisch zu speisen. Nach anfänglichem Zögern fanden sie allmählich Gefallen daran.
So gestaltete sich auch das heutige Abendessen zu einem gemütlichen Beisammensein. Und zwar ohne Bedienstete, ohne Benimmregeln, ohne Protokolle – ohne Vorbehalte. Jeder konnte sich nach seiner Fasson am Buffet bedienen. Eine praktische Sache, falls einmal jemand nicht pünktlich da sein könnte.
Trotzdem achtete Vitus bei seiner Gattin und den beiden Nell-Frauen stets darauf, dass ihre Teller gut gefüllt und dann auch geleert wurden.
Als er Anna am Tresen stehen sah, fiel ihm auf, dass sie die Aufregung rund um die Gerichtsverhandlung einige Kilo gekostet hatte. Diese neue Hose schien ihr förmlich von den Hüften zu rutschen. Das ging wirklich nicht so weiter. Manchmal wirkte Anna so zart und ätherisch, wie die Menschen sich die Elfen in ihren Fantasien oft vorstellten. Seine Veronika hatte damals genauso ausgesehen, kam es ihm in den Sinn. Sofort verwarf er den Gedanken an sie, versetzte er ihm doch nach wie vor einen bitteren Stich.
Auch Loana war eher klein und zierlich. Vitus schmunzelte bei ihrem Anblick sowie dem von Anna und seinem Sohn.
Daraufhin ließ er seinen Blick zu Sentran und Lena gleiten. Noch so ein ungleiches Paar, dachte er.
Lena sah ihrer Schwester ausgesprochen ähnlich, mit dem langen goldblonden Haar. Nur trug sie keine Brille und war ein paar Zentimeter größer als Anna. Da Sentran allerdings zwei Meter maß und als Wachmann eine besonders ausgeprägte Muskulatur aufwies, sprang jedem der drastische Gegensatz zwischen den beiden ins Auge.
Unverkennbar hatten sie alle drei – er, Viktor und Sentran – eine Schwäche für solch zarte Geschöpfe.
Dieser Eindruck von Zerbrechlichkeit war rein äußerlich zu betrachten, meinte Vitus. Denn es handelte sich bei allen drei Frauen um ausgesprochen starke Persönlichkeiten. Auch bei den Nell-Schwestern, die sich trotz ihrer Jugend, genau wie Viktoria, von ihren Männern nichts sagen ließen oder diese aber in dem Glauben ließen, sie würden es ihnen recht machen. Anna hatte zwar etwas länger gebraucht, um ihr Selbstbewusstsein aufzubauen, und war sich dessen noch nicht immer bewusst, aber sie hatte Viktor fest am Haken.
Vitus war durchaus klar, dass auch Loana ihn ständig um den kleinen Finger wickelte. Doch schmolzen sie letztlich gegenseitig wie Wachs in der Sonne, wenn sie sich berührten. Die Liebe machte sogar die stärkste Frau schwach. Das war bei Frauen wie bei Männern so, dachte Vitus für sich und beschloss spontan, sein Vorhaben, Anna nach dem Abendessen an Gertus zu gewöhnen, auf ein andermal zu verschieben.
Heute Abend müsste er unbedingt mit seiner Frau zusammen sein, und zwar sehr ausgiebig, sehr gründlich, sehr intensiv. Es war, als dürstete ihm nach ihr und einzig sie könnte diesen Durst stillen.
Er aß den letzten Bissen vom köstlichen Braten, den Wonu gezaubert hatte, und tunkte genüsslich die restliche Rotweinsoße mit einem Stückchen Weißbrot auf. Dann fiel sein Blick auf Loanas Teller.
»Du bist ja schon fertig. Wie kann das sein?«, fragte er sie verwundert.
Loana hob amüsiert eine ihrer geschwungenen Brauen. »Nicht alle hier am Tisch sind so tief in Grübeleien versunken wie du, Vitus. Du hast geträumt.«
Vergnügt legte sie eine Hand auf sein Knie, was ihn ausgesprochen erregte, wie er verwundert registrierte.
»Ich träume nie, Kened«, gab er milde zurück. »Ich denke immer nur nach.« Sein Blick versank in ihrem und ließ Loana kurz erschauern. »Falls du nichts dagegen hast, bringe ich dich zu Bett. Du bist sehr müde.«
Gespielt erstaunt zog Loana ihre Braue noch höher. »So? Bin ich das? Hhm. Na ja, jetzt, wo ich darüber nachdenke … Vielleicht hast du recht. Das Unterrichten hat mich tatsächlich erschöpft.«
Sie wollte aufstehen, doch war Vitus wie üblich schneller und hob sie auf seine Arme. »Ja, du bist wirklich sehr, sehr müde, Kened.«
Das war das Letzte, was die anderen von den beiden sahen, so schnell war Vitus mit Loana zur Küche hinausgestürmt.
Nichtsdestotrotz wusste er genau, dass sie sich schweigend am Küchentisch gegenübersaßen und gegenseitig etwas verlegen angrinsten. Dann erhoben sich Viktor, Ketu und Sentran immer noch wortlos von ihren Plätzen, nahmen ihre Frauen bei der Hand und zogen sie hinaus.
Es war wahrhaftig ein sehr anstrengender Tag gewesen, für sie alle.
***
Ungeduldig warf Viktor die Tür ins Schloss, nachdem sie sein Zimmer betreten hatten. Er stürzte sich regelrecht auf Anna. Die war nicht minder stürmisch.
Ihre Münder flogen zueinander, kämpften gegenseitig unter lautem Stöhnen mit Zunge und Zähnen um Vorherrschaft.
Dabei zogen und zerrten sie beide wie von Sinnen an ihren Kleidern. Sie ernteten ihre gegenseitigen triumphierenden Blicke, als sie endlich nackt waren, ließen sich gemeinsam aufs Bett fallen, um sich dort ungestüm umherzuwälzen.
»Himmel, du machst mich verrückt«, stieß Viktor mit rauer Stimme aus, bevor er mit dem Mund eine Knospe ihrer kleinen festen Brust umschloss, damit ihr und sein Verlangen ins Unermessliche steigerte. Immer, wenn er an der süßen Spitze sog, durchfloss ein unglaublicher Schauerregen seine Lenden und trieb ihn schier in den Wahnsinn, während sie laut aufstöhnte und sich vor Wonne auf die Lippe biss.
Würde dieses Begehren immer so bleiben?, fragte er sich. Würde er immer derart nach ihr verlangen?
Er zog eine heiße Spur von ihren Brüsten entlang ihrer leicht hervortretenden Rippen, hinab zu dem flachen Bauch, hielt dort inne, um ihren Nabel zu kosten. Doch er verharrte nicht lange dort, denn er wollte sie unbedingt schreien hören. Getrieben von diesem Wunsch schob er sich tiefer. Er war erst zufrieden, als sie sich wand und stöhnend seinen Namen ausrief. Es war fast so, als durchlebte er selbst diesen Ausbruch. Dabei hatte er große Schwierigkeiten, sich zurückzuhalten, so nah war er ihr, so sehr spürte er sie.
In seinem Rausch nahm er ihre Hitze, ihr Zittern, ihr Schluchzen immer deutlicher wahr. Er war sie! Und er wollte mehr und mehr. So glitt er wieder zu ihr hoch, um sich endlich mit ihr zu vereinigen, da er das Ende seiner Beherrschung beinahe erreicht hatte. Ihr Schrei hallte in seinem Mund, erstickte damit seine eigenen Schreie.
In ihm, in ihr, in dem Zimmer toste ein Sturm. Rote Funken stoben, als er sich mit ihr dem Siedepunkt näherte.
»Jetzt, jetzt, jetzt!«
Ihre Gedanken und Hände fest miteinander verschlungen, hielten sie ihren Atem an, bevor die Explosion sie zu zerreißen drohte und in eine andere Welt entführte.
Zu keiner Reaktion, Bewegung, auch zu keinem Wort fähig lag er mit hämmerndem Herzen auf ihr, badete in ihrem und seinem heißen Schweiß, versuchte, sich mit bleiernen Knochen von ihr zu rollen, bevor er sie erdrückte, und rang rasselnd nach Atem.
Nach wie vor hatte Anna ihre Brille schief auf der Nase sitzen, völlig verschmiert. Mit schwerer Hand nahm sie sie ab, um sie auf das Tischchen neben dem Bett zu legen. Zwar genauso atemlos wie Viktor bemühte sie sich dennoch, Worte zu formulieren, war aber einzig zu müden Gedanken fähig.
»Was – um alles in der Welt – war das denn? Was hast du mit mir gemacht?«
Viktor drehte seinen Kopf zu ihr und versuchte sich an einem Grinsen, das allerdings reichlich schwach ausfiel.
»Ich mit dir? Von wegen, wohl eher du mit mir«, gab er gedanklich zur Antwort.
»Das war Wahnsinn, Viktor! Das war unbeschreiblich! Ich hätte nie gedacht, dass es immer noch intensiver werden könnte. Wir waren ich und ich war wir. Gott, das hört sich total verrückt an!«
Viktor wandte all seine Kraft auf, um sich ein bisschen aufzurichten und sie anzuschauen. Nun sprach er seine Gedanken aus, weil er fürchtete, die geistige Kommunikation würde ihn seiner allerletzten Kraftreserven berauben.
»Das ist nicht verrückt, Anna. Das ist elfisch. Du wirst mehr und mehr elfisch. Das muss am Unterricht liegen.« Er hielt kurz inne. »Quatsch, das liegt an dir, nur an dir.«
Es war erstaunlich, er empfand weiterhin pure Erregung, als er sie so neben sich liegen sah. Völlig weich, feucht und glühend. Er beugte sich zu ihr hinab.
»Anna«, raunt er ihr ins Ohr, »das bist nur du. Nur du kannst das mit mir machen.«
Er spürte genau, wie die gleiche Begierde in ihr neu erwachte und sie gaben sich noch einmal einem nicht minder aufregenden Tanz hin. Danach sanken sie gemeinsam in inniger Umarmung in tiefen Schlaf.
***
Das Frühstück am nächsten Morgen verlief entgegen sonstiger Gepflogenheiten eher ruhig. Viktoria und Ketu waren erst gar nicht erschienen. Offenbar begann Viktorias Vorlesung, Seminar oder was auch immer wohl später, überlegte Loana und betrachtete dann sowohl Annas als auch Lenas müde, übernächtigte Augen. Sentran wie auch Viktor machten ebenfalls keinen allzu frischen Eindruck.
»Was ist denn hier los?« Anna war anscheinend aufgefallen, dass nicht nur sie sich schlapp fühlte.
»Das ist die Nachwirkung von Jectam, einem seltenen Gewächs aus der Bretagne«, erklärte Loana knapp. Statt einen weiteren Kommentar abzugeben, warf sie Lena einen auffordernden Blick zu.
Die hatte bei Loanas Antwort bereits interessiert von ihrer Müslischale aufgeschaut. Nach einer Sekunde des Nachdenkens machte sie zunächst ein verblüfftes, danach ein wissendes Gesicht. »Ooh, Jectam, ich verstehe.«
Vitus verfolgte aufmerksam die Mienen der beiden Frauen und verstand offenbar ebenso.
»Du hast uns allen eine – nun, ich nenne es mal ereignisreiche Nacht beschert, Loana. Mit dieser Art von anschaulichem Unterricht hatte ich allerdings nicht gerechnet. Außerdem hast du mir gesagt, das Zeug sei harmlos. Ich hatte aber eher das Gefühl, es bringt uns um.«
Er räusperte sich, allerdings nicht ohne ein schalkhaftes Funkeln in seinen Augen. »Versteh mich bitte nicht falsch. Es war eine ausnehmend angenehme Erfahrung. Dennoch würde ich sie nicht gerade als harmlos bezeichnen.«
»Jectam fördert extrem die Konzentration«, klärte Lena die anderen auf, die völlig ahnungslos waren und deshalb mit diesem Gespräch überhaupt nichts hatten anfangen können.
»Te!«, schnaubte Vitus. »Nennt man das jetzt so? Konzentration?«
Loana setzte Lenas Erklärung unbeirrt fort: »Ich habe das Kraut gestern von Wonu unters Essen mischen lassen. Es ist geschmacks- und geruchsneutral, verliert aber nicht seine Wirkung, wenn man es kocht.« Sie kaute verlegen auf der Unterlippe. »Na ja, vielleicht verstärkt sich die Wirkung durch das Kochen noch ein bisschen.«
»Ein bisschen?«, fuhr Vitus wieder dazwischen.
»Ja, ein bisschen«, beharrte Loana auf ihrer Meinung. »Ihr denkt jetzt bestimmt, Jectam sei eher eine Art erotische Droge als ein Mittel zur Konzentrationssteigerung. Schließlich hatten wir in dieser Nacht alle eine intensive Erfahrung, falls ich mich nicht irre. Trotzdem ist und bleibt Jectam eine Heilpflanze, die allein die Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Anspannung und Ausdauer beeinflusst. Mehr nicht.«
Vitus kratzte sich am Kopf. »Das hat sich heute Nacht nicht besonders nach Achtsamkeit angefühlt, Kened. Und du kannst das nicht leugnen. Du warst schließlich dabei.«
Vitus sprach in der ihm so typisch offenen Art weiter: »Ich habe es für grenzenloses Begehren gehalten und finde den Gedanken, dass dieses Gefühl allein durch ein mickriges Kraut erzeugt wurde, eigentlich furchtbar schade.«
»Das ist es aber nicht, Vitus. Jectam verstärkt und intensiviert ausnahmslos das, was ich eben genannt habe. Der Rest kommt von einem selbst. Wäre, hhm, sagen wir mal Etita statt meiner im Schlafgemach gewesen, hättest du sie niemals angerührt, glaube mir. Das funktioniert nur mit bereits vorhandenen Emotionen. Außerdem hättest du jederzeit aufhören können, wenn du gewollt hättest, oder ich.«
»Mmh mmh«, murrte Vitus ungläubig und schüttelte dabei den Kopf. »Und was lehrt es dich und Lena nun?«
»In der Heilkunde wird es natürlich anders eingesetzt. Tja, und man sollte es vielleicht wirklich nicht kochen.« Den zweiten Satz hatte sie mehr an sich selbst gerichtet. Sie machte sich den gedanklichen Vermerk, die verstärkende Wirkung genauer zu erforschen, schließlich hatte sie dieses Kraut seit vielen Jahren nicht mehr verwendet.
Dann blickte sie erneut in die Runde. »Es hilft zum Beispiel bei Denkblockaden. Man kann mit seiner Hilfe ein bestimmtes Ziel in den alleinigen Fokus stellen. Überdies vermag es von starken Schmerzen abzulenken. Es ist also äußerst vielfältig einsetzbar.«
Als sie Vitus‘ Blick begegnete, fügte sie noch hinzu: »Jaja, und es kann, bei sexueller Kompatibilität, zu äußerst erotischen Zuständen führen.« Mit einer kleinen Geste gebot Loana den anderen, zu schweigen. »Diesen zuletzt genannten Zustand kann man durch Steigerung der eigenen mentalen Konzentration allzeit wieder erreichen, auch ohne Verwendung von Jectam. Also, keine Sorge.«
Allgemeines Murmeln durchbrach die folgende Stille. Loana musste lachen. »Es ist daher kein Problem, derartig, hhm, nun ja, sagen wir mal, reizvolle Momente erneut zu erleben. Dafür benötigt man Jectam eigentlich nicht. Aber es kann halt sehr inspirierend sein.«
Sie wandte sich wieder an Lena: »Du siehst also, wie schnell man mit ein paar Kräutern andere beeinflussen und manipulieren kann. Das war eine einmalige Demonstration der Macht der Kräuter, um dich über deine Verantwortung im Umgang damit zu lehren. Ich gebe dir gleich ein paar Aufzeichnungen mit. Darin kannst du alles über Jectam und andere Gewächse nachschlagen.«
Sie lächelte schelmisch. »Du brauchst übrigens gar nicht in eurem Intanetz nachzuschauen. Jectam wächst ausschließlich im Elfenland und dort obendrein nur an der bretonischen Küste. Wir beide sollten trotzdem versuchen, es hier im Schlossgarten zu ziehen.«
Sie stand auf und ging zur Küchentheke. »So, ich hab noch etwas Hunger.«
Während sie sich die Erdbeeren mit Quark genießerisch zu Gemüte führte, ließ sie den Blick durch die Runde schweifen.
War die Wirkung des Jectam-Krautes vielleicht ein klein wenig heftig ausgefallen, so hatte sich ihre Theorie über die Reaktion dennoch in allen Punkten bewahrheitet. Das wog ihr schlechtes Gewissen auf:
Jectam war in vielerlei Hinsicht ein effizientes Heilmittel. Dazu müsste man allerdings zuvor sehr viel über den inneren seelischen Zustand des zu Heilenden erfahren, um das Gewächs gezielt anwenden zu können. Es wäre sicherlich hochinteressant, es im heimischen Kräutergarten zu züchten, damit sie es jederzeit für diverse Zwecke einsetzen könnte, überlegte sie.