Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 3 - Agnes M. Holdborg - Страница 5

Brü­der

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»Du bist wirk­lich der fes­ten Über­zeu­gung, die­ser Sen­tran könn­te der Rich­ti­ge sein?«

»Oh ja, Vi­tus, das bin ich«, be­stä­tig­te Estra. »Er ist ge­nau der Mann, den du suchst.«

»Hhm-hhm.« Vi­tus zog genüss­lich an sei­ner di­cken Zi­gar­re, ge­neh­mig­te sich zu­dem ein Schlü­ck­chen vom Ver­dau­ungs­obst­ler.

Lo­a­na und er wa­ren bei Estra in den Ber­gen des west­li­chen El­fen­rei­ches zu Be­such und hat­ten ge­ra­de erst, ge­mein­sam mit Estras Frau Isi­nis und den Kin­dern Pa­nu, Mai­nio und Il­tra­na, fürst­lich zu Mit­tag ge­speist.

Die bei­den Frau­en ver­tra­ten sich nun die Bei­ne im herr­li­chen Park, di­rekt vor dem rie­si­gen hoch­herr­schaft­li­chen Haus, wäh­rend es sich die bei­den Brü­der im Win­ter­gar­ten ge­müt­lich mach­ten. Sie sa­ßen in be­que­men Le­der­ses­seln, die ba­ren Fü­ße auf ei­nem Hocker ab­ge­legt.

Ha­mo, Estras jun­ger Be­diens­te­ter, der noch nicht lan­ge für ihn tä­tig war, trat ein und frag­te, ob er noch et­was brin­gen soll­te. Sie ver­nein­ten fast zur glei­chen Zeit und lä­chel­ten, weil sie bei­de das­sel­be ge­sagt hat­ten: »Nein, der Obst­ler reicht.«

Be­vor er wie­der hin­aus­ging, hat­te Ha­mo sie mit ei­nem Aus­druck im Ge­sicht an­ge­st­arrt, der Vi­tus nur all­zu be­kannt war. Es lag an sei­ner gro­ßen Ähn­lich­keit mit Estra, die selbst Freun­de und Be­kann­te ab und an ver­wirr­te. Aber auch Frem­de sa­hen so­fort, dass sie Brü­der wa­ren:

Sie wa­ren bei­de sehr groß, Estra so­gar noch et­was grö­ßer, und von schlan­ker, mus­ku­lö­ser Sta­tur, hat­ten glat­tes ra­ben­schwa­r­zes Haar, das ih­nen bis auf die Schul­tern fiel, und ein at­trak­ti­ves Ge­sicht mit scha­rf ge­schnit­te­nen Zü­gen. Viel­leicht war Estras Na­se nicht ganz so groß und aus­ge­prägt und sein Mund da­für einen Tick brei­ter. Auch zier­te Estras Kinn kein Grüb­chen und sei­ne Au­gen wa­ren nicht meer­grün, son­dern braun wie Milch­scho­ko­la­de. Den­noch, ih­re Ähn­lich­keit war enorm. Be­son­ders, wenn sie lach­ten und Grüb­chen auf ih­ren Wan­gen er­schie­nen.

Ei­ne wei­te­re Ge­mein­sam­keit stell­te ih­re Ab­nei­gung ge­gen Schu­he dar. Bei­de hass­ten Schu­he, selbst So­cken. Das kam bei El­fen al­ler­dings häu­fig vor, spe­zi­ell bei den männ­li­chen. Vie­le von ih­nen zo­gen es vor, wei­test­ge­hend ba­r­fuß durchs Le­ben zu schrei­ten, weil sie selbst den un­an­ge­neh­men Schmerz spit­zer Din­ge un­ter ih­ren Fü­ßen dem da­für frei­en und küh­len Ge­fühl lie­bend gern den Vor­zug ga­ben.

»Was für ein gran­dio­ser Aus­blick«, dach­te Vi­tus, wäh­rend er die gi­gan­ti­schen schnee­be­deck­ten Ber­ge be­wun­der­te, die sich un­weit des Hau­ses auf­türm­ten. Sie bil­de­ten einen bi­zar­ren, scha­rf­kan­ti­gen Zick­zack­kurs, über dem sich der Him­mel in ei­nem der­art kla­ren Blau er­streck­te, dass Vi­tus die Trä­nen in die Au­gen tra­ten und er kurz blin­zeln muss­te. »Ich kom­me viel zu sel­ten her.«

»Da hast du wohl recht«, hol­te Estra ihn aus sei­nen Ge­dan­ken. »Schau nicht so ver­wun­dert drein, Vi­tus.« Das über­rasch­te Stau­nen sei­nes Bru­ders ver­lei­te­te Estra zu ei­nem Lä­cheln. »Seit du mit dei­ner bre­to­ni­schen Ke­ned – Schön­heit Lo­a­na ei­ne Hoch­zeit planst, bist du des Öf­te­ren zer­streut. Ich hab noch nie so viel von dei­nem Ge­dan­ken­gut er­ha­schen kön­nen wie in der letz­ten Zeit.« Estras Lä­cheln blieb un­ver­än­dert. »Sie tut dir gut. Das se­he ich. Ich kann dir gar nicht sa­gen, wie sehr Isi­nis und auch mich das freut.«

Nun wur­de Estra ernst und schlug einen ge­schäfts­mä­ßi­gen Ton an: »Schau dir den Bur­schen doch nach­her mal an. Ich ha­be Sen­tran ex­tra her­ge­holt, da­mit ihr euch auf neu­tra­lem Ge­biet ein we­nig be­schnup­pern könnt.«

»Gut, mach ich«, er­wi­der­te Vi­tus knapp. Mit ei­nem Mal wur­de er still. Nach­denk­lich senk­te er den Kopf, um sei­ne Über­le­gun­gen samt der er­neut auf­stei­gen­den Trau­er vor Estra zu ver­ber­gen.

»Si­stra war ein gu­ter Mann, Vi­tus.« In Estras Stim­me lag stil­les Be­dau­ern. »Er war nicht nur ei­ner dei­ner sechs Eli­te­wach­män­ner. Er war dein Freund, ge­nau wie mei­ner. Und auch Du­rell und Aeda­ma wa­ren un­se­re Freun­de. Nie­mand wird sie je er­set­zen kön­nen. Sie be­hal­ten auf ewig ih­ren Platz in un­se­ren Her­zen.« Er stieß einen ab­grund­tie­fen Seuf­zer aus.

»Das war ein schwa­r­zer Tag, als Lo­a­nas …«, er schnaub­te, »… so­ge­nann­te Fa­mi­lie die drei er­mor­det hat. Wir bei­de ha­ben schon so man­che dunk­le Stun­de mit­ein­an­der ge­teilt, mein Bru­der. Doch du hast wie schon so oft die Last trotz al­lem al­lein ge­tra­gen.«

Estra mach­te ei­ne kur­ze Pau­se und nipp­te an sei­nem Glas. »Das hat dir zu­ge­setzt, je­des Mal. Trotz­dem, Vi­tus, dein Le­ben geht nun ein­mal wei­ter. Und in An­be­tracht dei­ner wun­der­schö­nen Ver­lob­ten, wird es von nun an ein sehr, sehr gu­tes Le­ben sein.« Er be­rühr­te sei­nen Bru­der lie­be­voll am Arm. »Wir wer­den un­se­re El­tern und Freun­de und auch Vik­tors und Vik­to­ri­as Mut­ter nie ver­ges­sen, nie­mals. Aber …«

Vi­tus hob den Kopf und Estra sah in sei­ne ge­quäl­te See­le. »Aber ich brau­che nun mal einen neu­en sechs­ten Wach­mann«, voll­en­de­te er den Satz.

»Ja, den brauchst du.«

»Lass uns an­sto­ßen, Estra. Lass uns das Glas er­he­ben auf Aeda­ma und Du­rell, die Iren. Und auf Si­stra, den Wach­mann. Auf un­se­re Freun­de. Und auf all un­se­re Lie­ben, die wir ver­lo­ren ha­ben.«

Estra füll­te die Glä­ser auf. »Ja, wir trin­ken auf die Iren, auf Si­stra und auf al­le an­de­ren und auf die Ge­sund­heit. Sláin­te!«

»Ge­nau, auf un­se­re Freun­de und auch auf die Ge­sund­heit!«

In die­sem Mo­ment be­tra­ten Lo­a­na und Isi­nis den Win­ter­gar­ten.

»Halt, war­tet, da sind wir na­tür­lich auch da­bei.« Isi­nis goss Lo­a­na und sich je­weils ein Glas ein, um mit an­zu­sto­ßen. »Auf die Ge­sund­heit!«

»Yec´het mat!« Lo­a­na stieß mit den an­de­ren an, trank den scha­r­fen Schnaps in ei­nem Zug aus und ver­zog so­dann für einen win­zi­gen Au­gen­blick ihr schö­nes Ge­sicht zu ei­ner an­ge­wi­der­ten Gri­mas­se. »Puh! Mat-tre! Ähm, sehr gut.« Wäh­rend sie ihr ho­nig­blon­des Haar schüt­tel­te, leck­te sie sich die Lip­pen und hol­te tief Luft. »Seid ihr euch si­cher, dass die­ses Zeug ge­sund ist?«

Vi­tus lach­te schal­lend. Lo­a­na schaff­te es im­mer wie­der, sei­ne trü­be Stim­mung zu ver­trei­ben. Er stand auf, leg­te einen Fin­ger un­ter ihr Kinn, um es an­zu­he­ben, und mus­ter­te sie.

»Hier in den Ber­gen ge­hört es sich, einen gu­ten Obst­ler zu ge­ni­e­ßen.« Er gab ihr einen sanf­ten Kuss. »Was ist, Ke­ned, hat er dir et­wa nicht ge­mun­det?«

»Hhm? Doch, doch. Mat-tre«, ant­wor­te­te sie. »Das sag­te ich ja be­reits. Aber ein Lam­big oder Ca­l­va­dos schmeckt mir halt doch ein klei­nes biss­chen bes­ser. Noch lie­ber ist mir Cou­chenn oder ein­fa­cher Cid­re

»Mat-tre? So­so.« Vi­tus ver­sank in ih­ren edel­stein­grü­nen Au­gen und lä­chel­te amü­siert. »Wenn er dir trotz dei­ner Vor­lie­be für Ap­fel- und Ho­nig­wein sehr gut schmeckt, dann könn­ten wir uns ja noch ein Gläs­chen da­von ge­neh­mi­gen. Was meinst du, mei­ne Schö­ne?«

Lo­a­na trat et­was von ihm zu­rück, reck­te aber forsch das Kinn. Zu­nächst den Kopf in den Nacken ge­legt, um ihn ih­rer ge­rin­gen Grö­ße we­gen bes­ser an­se­hen zu kön­nen, neig­te sie den Kopf nun zur Sei­te und stemm­te die Hän­de in die Hüf­ten. Wie sie so vor ihm stand, muss­te Vi­tus schmun­zeln, gab je­doch nicht preis, was er dach­te: Die­ser An­blick raub­te ihm je­des Mal aufs Neue die Sin­ne. Ge­nau­so fes­selnd hat­te sie an dem Abend aus­ge­se­hen, als sie ihm zum ers­ten Mal im Emp­fangs­saal sei­nes Schlos­ses ent­ge­gen­ge­tre­ten war. Mit die­sem ova­len Ge­sicht, den eben­mä­ßi­gen, lieb­li­chen Zü­gen, der leicht ge­bräun­ten Haut, der klei­nen Na­se und dem vol­len sinn­li­chen Mund. Doch was ihm re­gel­mä­ßig den Atem ver­schlug, wa­ren ih­re leicht schräg ste­hen­den, blit­zend grü­nen Au­gen un­ter sanft ge­schwun­ge­nen Brau­en.

»Ja­wohl«, ent­geg­ne­te sie mit fes­ter Stim­me. »Wie sagt man doch so schön?: Ein Bein steht nicht gern al­lein.«

Isi­nis run­zel­te zu­nächst die Stirn und glucks­te dann be­lus­tigt, ver­kniff sich aber of­fen­bar ein rich­ti­ges La­chen. »Ja, so ist es, Lo­a­na. Auf ei­nem Bein kann man nicht ste­hen.« Sie goss al­le Glä­ser wie­der voll. »Yec´het mat

Es wur­den mehr als zwei Bei­ne. Die Fla­sche mit dem Obst­ler war fast bis zum letz­ten Trop­fen ge­leert. So blieb es nicht aus, dass die Frau­en ir­gend­wann bei ih­ren Män­nern auf dem Schoß sa­ßen und la­chend de­ren Ge­schich­ten aus ih­rer wil­den Ju­gend­zeit lausch­ten.

Wäh­rend­des­sen spiel­te Lo­a­na ver­son­nen mit dem gol­de­nen Amu­lett, das Vi­tus stets an ei­ner schma­len Ket­te um den Hals trug. Es war mit fei­nen Or­na­men­ten ver­ziert, der Schrift der Vor­vä­ter. Seit Vi­tus mit knapp neun­zehn Jah­ren, nach der Er­mor­dung sei­ner El­tern, als der äl­te­re der bei­den Brü­der den el­fi­schen Thron hat­te über­neh­men müs­sen, wies ihn die­ses Amu­lett als den Kö­nig des west­li­chen El­fen­rei­ches aus.

Dann ließ sie die Ket­te wie­der los und über­rasch­te mit ei­nem Lied. Lo­a­na be­gann so un­ver­mit­telt zu sin­gen, dass die an­de­ren wie ge­bannt in­ne­hiel­ten. Mit kla­rer, wun­der­schö­ner Stim­me sang sie auf Bre­to­nisch ei­ne Bal­la­de aus ih­rer Hei­mat. Über Lie­be und Trau­er.

Vi­tus konn­te dem Text nicht rich­tig fol­gen, so fas­zi­nier­te ihn Lo­a­nas Ge­sang.

Um­so mehr ver­blüff­te es ihn, als sie eben­so ab­rupt zu sin­gen auf­hör­te, wie sie be­gon­nen hat­te, und un­deut­lich mur­mel­te: »Das hab ich lan­ge nicht mehr …«

Sie schmieg­te sich eng an Vi­tus’ Brust und schwieg.

»Lo­a­na?« Er stups­te sanft ih­re Schul­ter, doch sie re­a­gier­te nicht. »Ich glau­be, wir ha­ben sie be­trun­ken ge­macht«, mein­te er und lä­chel­te. »Die Ärms­te. Das ist das ers­te Mal, dass ich sie über­haupt ha­be star­ken Al­ko­hol trin­ken se­hen. Und ge­gen ein Gläs­chen Cid­re oder Cou­chenn hier und da sind vier bis fünf Obst­ler am frü­hen Nach­mit­tag wohl ein­deu­tig zu viel für mei­ne Ke­ned ge­we­sen.«

Vi­tus er­hob sich mit ihr in den Ar­men. »Tja, es tut mir leid, mei­ne Lie­ben. Es ist be­stimmt bes­ser, wenn ich sie ins Bett brin­ge und bei ihr blei­be, falls ihr schlecht wird.«

Er woll­te ge­ra­de ge­hen, als er kurz in­ne­hielt. »Ach, Estra, mor­gen früh wür­de ich ger­ne mit die­sem Sen­tran spre­chen. Du hast recht. Er könn­te der Rich­ti­ge sein.«

Mit der schla­fen­den Lo­a­na im Arm ver­ließ er den Win­ter­gar­ten.

***

Estra hielt Isi­nis wei­ter­hin auf sei­nem Schoß und gab ihr einen lei­den­schaft­li­chen Kuss.

»Da sind wir al­so un­ver­hofft al­lein, mei­ne Liebs­te. Die Kin­der sind bei ih­ren Freun­den.«

Er be­sah sei­ne schö­ne Frau mit ei­nem un­ver­hoh­len hung­ri­gen Blick, strich mit den Hän­den über ihr lan­ges hell­blon­des Haar. In all den Jah­ren ih­rer Ehe hat­te sein Be­geh­ren nichts an Stär­ke ein­ge­büßt.

»Was denkst du, Isi­nis, sol­len wir viel­leicht auch ein we­nig un­se­ren Rausch aus­schla­fen?«

»Ein biss­chen Ru­he könn­te nicht scha­den«, er­wi­der­te Isi­nis und be­ant­wor­te­te da­bei aus gro­ßen hell­grü­nen Au­gen in glei­cher Wei­se sei­nen Blick. »Ich möch­te aber auch ge­tra­gen wer­den, so wie Lo­a­na.«

Er­freut hob Estra die Brau­en. Mit den Wor­ten »Dein Wunsch sei mir Be­fehl« trug er sie lä­chelnd da­von.

***

»Chaous, Chaous, Chaous!«, wim­mer­te Lo­a­na in bre­to­ni­scher Spra­che.

Vi­tus hielt ihr das Haar aus dem Ge­sicht, als sie den Kopf aus dem Bett über einen Ei­mer reck­te und sich zum wie­der­hol­ten Ma­le er­brach. Mit ei­nem feuch­ten Tuch be­tupf­te er ihr Stirn und Mund.

»Mist, Mist, Mist!«, rief sie er­neut aus, weil sie wie­der wür­gen und spu­cken muss­te. Dann schnauf­te sie kräf­tig durch, nahm Vi­tus das Tuch ab, um sich noch ein­mal gründ­lich das Ge­sicht ab­zu­wi­schen und die Na­se zu put­zen.

»Du soll­test mich nicht so se­hen, Vi­tus«, stöhn­te sie. »Das ist ja grau­en­voll.«

»Ja, da stim­me ich dir voll­kom­men zu, Ke­ned«, gab Vi­tus tro­cken zu­rück. »Du hät­test mit so et­was we­nigs­tens war­ten kön­nen, bis wir ver­hei­ra­tet sind.«

Ihr be­stürz­ter Ge­sichts­aus­druck ver­lei­te­te Vi­tus da­zu, noch einen drauf­zu­set­zen: »Na ja, Lo­a­na, jetzt muss ich mir über­le­gen, ob ich ei­ne Frau ehe­li­chen will, die zu viel trinkt und das nicht ein­mal ver­trägt, son­dern sich nach ge­ra­de mal ein paar Gläs­chen be­reits die See­le aus dem Leib kotzt.« Er neig­te den Kopf. »Es ist wirk­lich frag­lich, ob du die rich­ti­ge Frau für mich bist.«

Lo­a­na stieß ihm un­sanft in die Rip­pen. »Mach dich bloß nicht lus­tig über mich, du Schuft.«

Nein, er woll­te sich kei­nes­wegs über sie lus­tig ma­chen, da­zu war er viel zu be­sorgt. Doch sei­ne Sor­ge wür­de ihr auch nicht hel­fen. Da war es ihm schon lie­ber, sie und viel­leicht auch sich selbst mit sei­nen Sprü­chen ein we­nig ab­zu­len­ken. Vi­tus zog die Brau­en zu­sam­men, als er be­merk­te, wie sie schon wie­der tief durch­at­men muss­te, weil sie ei­ne neue Wel­le der Übel­keit über­kam. Doch konn­te sie die­ser an­schei­nend stand­hal­ten.

»So schlecht ist es mir noch nie er­gan­gen. Das ken­ne ich gar nicht. So einen Obst­ler rüh­re ich un­ter kei­nen Um­stän­den mehr an, nie­mals.«

»Wie du meinst.« Er sah sie reu­mü­tig an. »Es tut mir üb­ri­gens leid, dass wir dich mit dem Schnaps ab­ge­füllt ha­ben.«

»Na, das Zeug habt ihr mir ja nicht ge­ra­de ein­trich­tern müs­sen. Das war ich schon selbst, die die­sen, bäh, Obst­ler ge­schluckt hat. Ooh, Chaous! – Mist! Nicht schon wie­der.«

Ge­dul­dig und ge­ra­de­zu zärt­lich ha­lf Vi­tus ihr, auch noch den letz­ten Rest los­zu­wer­den. Den­noch at­me­te er er­leich­tert auf, weil sie ihm mit­teil­te, dass es end­lich vor­bei wä­re.

Als er dann be­gann, ihr die Klei­der aus­zu­zie­hen, schreck­te Lo­a­na zu­sam­men. »Was tust du denn da? Du willst doch nicht et­wa jetzt? Ich mei­ne, ich bin ganz …«

»Mei­ne schö­ne Lo­a­na«, ent­geg­ne­te ihr Vi­tus, »ich bin dein Ver­lob­ter, kein Mons­ter. Ich will dich nur ins Bad brin­gen, da­mit du du­schen oder ba­den kannst, ganz wie du möch­test. Ich dach­te, das wür­de dir gut­tun. Wenn du nicht willst …«

»Tut mir leid, Vi­tus«, kam es ver­le­gen zu­rück. »Ich kom­me mir furcht­bar, ähm, schmut­zig vor und ich rie­che be­stimmt nicht gut. Es ist mir halt pein­lich, wenn du mir jetzt so na­he­kommst.«

Vi­tus aber hat­te Lo­a­na im Nu ent­klei­det und brach­te sie ins Bad. »Drum ma­chen wir dich jetzt ein biss­chen sau­ber.«

Er sah ih­ren ent­setz­ten Blick. »Lo­a­na, nun komm schon, das ist doch nichts Schlim­mes. Du hast den star­ken Al­ko­hol nicht ver­tra­gen. Nun ist er raus. Kein Grund, sich zu schä­men. Haupt­sa­che, es geht dir bes­ser.«

Mit die­sen Wor­ten stell­te er sie frech grin­send un­ter die Du­sche und – dreh­te das kal­te Was­ser an.

»Aaah, Vi­tus!« Ei­ne reich­hal­ti­ge Aus­wahl bre­to­ni­scher Flü­che ver­ließ ih­ren Mund und Geist, wäh­rend sie ihn am Kra­gen sei­nes Hem­des zu fas­sen be­kam und mit sich un­ter den eis­kal­ten Was­ser­strahl zog. Da­bei spür­te er ih­re Ge­dan­ken:

Sie muss­te sich ent­schei­den, was sie nun zu­erst tun soll­te, das Was­ser warm stel­len oder ihm die Klei­der vom Lei­be rei­ßen. Sie be­fand, dass sie bei­des auf ein­mal schaf­fen könn­te.

***

»Geht es dir gut, Lo­a­na?«, er­kun­dig­te sich Isi­nis am Früh­stücks­tisch. »Du wirkst ein biss­chen blass um die Na­se.«

»Es ging mir schon mal deut­lich bes­ser«, stöhn­te die. »Ich ha­be schreck­li­che Kopf­schmer­zen und mein Ma­gen fühlt sich im­mer noch flau an. Na ja, ich bin ja selbst schuld. Aber es geht mir schon viel bes­ser als ges­tern. Dan­ke.«

»Trink das, Ke­ned.« Vi­tus hielt ihr ein klei­nes Glas mit ei­ner merk­wür­dig aus­se­hen­den Flüs­sig­keit hin.

»Nann! Nein! Was ist denn das schon wie­der für ein Teu­fels­zeug? Das rüh­re ich auf kei­nen Fall an!«

Als Lo­a­na auf­sprang, um wie­sel­flink an Vi­tus vor­bei­zu­hu­schen, fing er sie blitz­schnell mit dem Arm um ih­re Tail­le ein und hielt sie er­bar­mungs­los fest.

»Trink das, du bre­to­ni­scher Stur­schä­del«, flüs­ter­te er ihr ins Ohr. »Das ist ein al­tes Haus­re­zept. Es wird dei­nen Ka­ter ver­trei­ben.« Er rück­te noch nä­her an Lo­a­nas Ohr, weil sie ih­re Lip­pen fest zu­sam­men­press­te. »Es wird dir gut­tun. Nun mach schon, oder muss ich es dir et­wa ein­flö­ßen?«

Lo­a­nas Au­gen ver­eng­ten sich ge­fähr­lich. »Du wagst es nicht, Vi­tus. Da …«

Au­gen­blick­lich er­griff er die sich ihm bie­ten­de Ge­le­gen­heit: Er kipp­te das Ge­bräu kur­zer­hand in ih­ren ge­öff­ne­ten Mund und hielt ihn so­lan­ge zu, bis sie schluck­te.

»So ist es brav«, mein­te er zu­frie­den, ließ sie los und setz­te sich.

Er hat­te Lo­a­na kei­ne Zeit ge­las­sen, um zu re­a­gie­ren. Nun, da sie den Trank un­frei­wil­lig hin­un­ter­ge­würgt hat­te, schüt­tel­te sie sich hef­tig.

»Brrrr!«, stieß sie an­ge­wi­dert aus. »Ich wuss­te es, das Zeug ist noch schlim­mer als Obst­ler. Da­für wirst du bei­ßen, Vi­tus, ganz be­stimmt.«

Vi­tus zog Lo­a­na un­be­ein­druckt auf den Stuhl ne­ben sich. »Ich bei­ße dich ab und an zu ger­ne, Ke­ned. Doch ich schät­ze mal, du woll­test mich ei­gent­lich bü­ßen las­sen.« Sei­ne Mund­win­kel zuck­ten.

Lo­a­na kau­te auf der Un­ter­lip­pe, um ein an­fäng­li­ches Lä­cheln zu un­ter­drü­cken, doch es war zu spät. Sie steck­te ihn und die an­de­ren mit ih­rem La­chen an.

»Un­ser Haus­mit­tel scheint be­reits zu wir­ken, Lo­a­na«, mein­te Estra, im­mer noch mit Lachträ­nen in den Au­gen. »Du hast wie­der Fa­r­be. Of­fen­bar sind auch dei­ne Kopf­schmer­zen weg.«

»Ja­ja, schon gut«, ent­geg­ne­te sie. »Mir geht es bes­ser und ihr hat­tet recht. Aber des­we­gen braucht Vi­tus ja nicht gleich das Ham­mer­holz zu schwin­gen.«

Vi­tus ver­such­te, ein wei­te­res La­chen zu un­ter­drü­cken, was ihm kläg­lich miss­lang. »Du mein­test si­cher­lich Holz­ham­mer.« Schnell wur­de er wie­der ernst, als ihm die grü­nen Blit­ze aus ih­ren Au­gen ent­ge­gen­zuck­ten. »Nein, kei­ne Sor­ge, jetzt ist Schluss da­mit. Kei­ne kal­ten Du­schen und Ham­mer­höl­zer mehr, ver­spro­chen.«

Isi­nis wirk­te ver­wun­dert. »Kal­te Du­schen?«

»Tja, ihr könnt euch gar nicht vor­stel­len, was für ein Scheu­sal Vi­tus sein kann, wenn ich mit ihm al­lei­ne bin«, be­klag­te sich Lo­a­na mit be­tont erns­ter Mie­ne. Doch Vi­tus ent­ging das be­lus­tig­te Zu­cken in ih­rem Mund­win­kel nicht. »In eu­rer Ge­gen­wart, ja, da trägt er mich auf Hän­den. Aber we­he, wenn wir al­lei­ne sind!«

»Ich bin und blei­be ein Ty­rann.« Vi­tus biss ge­ra­de genüss­lich in sei­ne Wurst­sem­mel, als Tim­mun und Es­sem mit ei­nem Frem­den das Zim­mer be­tra­ten.

Zu­nächst be­grüß­ten die zwei Wach­män­ner Vi­tus mit dem üb­li­chen Kopf­ni­cken und »Mein Kö­nig!«. Da­nach wand­ten sie sich den an­de­ren zum Gruß zu.

»Ah, da seid ihr ja.« Estra war auf­ge­stan­den, um den Män­nern einen Sitz­platz an­zu­bie­ten. »Ich möch­te, dass ihr mit uns ge­mein­sam früh­stückt, wenn’s recht ist.«

Tim­mun und Es­sem blick­ten fins­ter drein. Vi­tus wuss­te, dass sei­ne Wach­leu­te stets Pro­ble­me da­mit hat­ten, am sel­ben Tisch wie ihr Kö­nig, sei­ne Fa­mi­lie oder Freun­de zu sit­zen und zu es­sen. Sie tru­gen zwar fast das glei­che gol­de­ne Amu­lett um den Hals wie er, in ei­ner et­was klei­ne­ren Aus­ga­be, doch das be­deu­te­te in ih­ren Au­gen nur, dass sie dem Kö­nig zu Diens­ten wa­ren, nicht aber, dass sie mit ihm in ver­trau­ter Run­de ge­mein­sam spei­sen soll­ten.

Wie üb­lich küm­mer­te das Vi­tus über­haupt nicht, eben­so wie sei­nen Bru­der. Und weil die Wa­chen das wie­der­um wuss­ten, setz­ten sich die Män­ner ge­zwun­ge­ner­ma­ßen da­zu und nah­men schwei­gend ei­ne Tas­se Kaf­fee an.

Estra rich­te­te sich an Vi­tus. »Darf ich dir Sen­tran vor­stel­len?«

Der leg­te sein Bröt­chen bei­sei­te, schau­te dem Frem­den in des­sen reich­lich mür­ri­sches Ge­sicht und stell­te da­bei er­freut fest, dass der Mann sehr gut in der La­ge war, Ge­dan­ken und Geist sorg­fäl­tig ein­zu­schlie­ßen.

Da­her mus­ter­te er zu­nächst ein­mal nur das äu­ße­re Er­schei­nungs­bild: Leicht ge­well­tes, schul­ter­lan­ges blon­des Haar. Wach­sa­me sil­ber­graue Au­gen. Ein brei­ter, erns­ter Mund. Ho­he Wan­gen­kno­chen. Ei­ne et­was krum­me Na­se und ein aus­ge­präg­tes har­tes Kinn. Ins­ge­samt hat­te die­ser Sen­tran ein aus­druck­star­kes, mar­kan­tes Ge­sicht, be­fand Vi­tus. Da ihm al­ler­dings das miss­mu­ti­ge Mie­nen­spiel des Man­nes nicht ge­fiel, be­schloss er, ihn mit ba­na­len Fra­gen ein we­nig aus der Re­ser­ve zu lo­cken. »Darf ich wis­sen, wie alt und wie groß du bist?«

Sen­trans Ge­sichts­aus­druck blieb mür­risch. »Du weißt, dass ich sie­ben­und­zwan­zig bin und ge­nau zwei Me­ter mes­se, mein Kö­nig«, ant­wor­te­te er mit dunk­ler Stim­me und leicht spöt­ti­schem Un­ter­ton.

»Ja, da hast du na­tür­lich recht. Dem­nach kann ich da­von aus­ge­hen, dass du dich in sämt­li­chen Kamp­fes­küns­ten, aber auch Kun­du­um, men­ta­len Ge­schi­cken, Di­plo­ma­tie und au­ßer­dem im All­tags­le­ben der Men­schen bes­tens aus­kennst?«

»Ja.«

Vi­tus ver­zog kei­ne Mie­ne ob Sen­trans knap­per Ant­wort, die ei­ne Men­ge Ver­är­ge­rung aus­drück­te.

»Hm, ich ge­he al­so wei­ter da­von aus, dass du In­ter­es­se an der Auf­ga­be als mein sechs­ter Eli­te­wach­mann hast, sonst wärst du wohl kaum hier. Al­ler­dings ver­ste­he ich dei­ne mi­se­ra­ble Stim­mung nicht, Sen­tran. Ich se­he dei­nen Blick, hö­re dei­ne Stim­me und spü­re dei­nen ver­schlos­se­nen Geist. Al­les ver­rät mir, dass du äu­ßerst schlecht ge­launt bist. Al­so, wür­dest du mir bit­te ver­ra­ten, was dich so mie­se­pet­rig er­schei­nen lässt?«

»Das ist ei­ne per­sön­li­che An­ge­le­gen­heit, mein Kö­nig. Dar­über möch­te ich nicht spre­chen – mit Ver­laub.«

Er­staunt zog Vi­tus ei­ne Braue hoch. Der Mann hat­te Mumm, war noch da­zu äu­ßerst ei­gen­sin­nig, dach­te er und wun­der­te sich, wie sehr ihm das ge­fiel.

Un­ter­des­sen hat­te Lo­a­na ei­ne auf­ge­schnit­te­ne Sem­mel mit But­ter und Ho­nig be­stri­chen und reich­te sie dem Mann, der zu­erst sie und dar­auf­hin die Sem­mel ver­blüfft an­sah. »Iss das, Sen­tran. Sü­ßes hilft bei Lie­bes­kum­mer. Das ist bei al­len gleich, ob bei Män­nern oder Frau­en.« Lo­a­na er­griff sei­ne freie Hand. »Die Lie­be ist oft merk­wür­dig und schwer zu fin­den. Aber auch du wirst ei­nes Ta­ges der rich­ti­gen Frau be­geg­nen.«

Fas­zi­niert be­ob­ach­te­te Vi­tus, wie Sen­tran ihr vor­sich­tig die Hand ent­zie­hen woll­te, Lo­a­na sie je­doch wei­ter­hin fest­hielt und ihm da­bei in die Au­gen schau­te. Auf Sen­trans Wan­gen er­schien ei­ne leich­te Rö­te. Ver­le­gen senk­te er die Li­der.

»Dan­ke«, ent­geg­ne­te er knapp, aber freund­lich und lös­te sich nun doch aus ih­rem Griff.

Vi­tus hat­te das Gan­ze mit gro­ßem In­ter­es­se ver­folgt. Ihm war klar, dass der Mann Lo­a­nas hei­len­de Wär­me wahr­ge­nom­men hat­te. Ei­ne Wär­me, die je­man­dem Kno­ten in der Brust lo­ckern konn­te, von de­nen er bis da­to gar nicht wuss­te, dass sie exis­tier­ten. Er kann­te Lo­a­nas un­glaub­li­che Kräf­te. Trotz­dem war er ein­mal mehr er­staunt über das Aus­maß ih­res em­pa­thi­schen und hei­len­den Kön­nens.

»Tja, das er­klärt so man­ches«, kom­men­tier­te er tro­cken. »Wir soll­ten nun ein­fach un­ser Früh­stück fort­s­et­zen und uns ein we­nig un­ter­hal­ten. Da­bei kannst du mir auch ger­ne dei­ne Vor­stel­lun­gen zum künf­ti­gen Auf­ga­ben­be­reich un­ter­brei­ten, Sen­tran.« Er lä­chel­te mil­de. »Ich neh­me an, du hast dich be­reits bei Es­sem und Tim­mun ein we­nig über mich er­kun­digt.«

***

Ei­ne gan­ze Wei­le spä­ter sa­ßen Estra und Vi­tus wie­der ein­mal im Win­ter­gar­ten. Lo­a­na hat­te sich hin­ge­legt. Ihr war doch im­mer noch et­was übel. Isi­nis wer­kel­te zu­sam­men mit dem Per­so­nal in der Kü­che und hat­te die Män­ner raus­ge­wor­fen. Al­so gönn­ten sie sich ei­ne Zi­gar­re. Da­zu tran­ken sie star­ken sü­ßen Tee.

»Es freut mich, dass du ihn mit­neh­men willst. Er wird dich nicht ent­täu­schen.«

»Wir wer­den se­hen. Ich neh­me ihn erst mal sorg­fäl­tig un­ter die Lu­pe. Sen­trans Starr­sinn könn­te Schwie­rig­kei­ten ma­chen«, mein­te Vi­tus.

»Ach, hör doch auf. Ich hab ge­nau ge­merkt, dass du ihn magst.« Estra lä­chel­te. »Ich wuss­te, dass du ihn mö­gen wür­dest. Ja, ich wuss­te es.« Sei­ne Au­gen blitz­ten fröh­lich auf.

»Ja­ja, du wuss­test es. Nun ist es aber mal gut mit der Selbst­lob­hu­de­lei.« Vi­tus lä­chel­te zu­rück. »Du hat­test üb­ri­gens ver­ges­sen zu er­wäh­nen, dass er per­sön­li­che Pro­ble­me hat. Und be­strei­te bit­te nicht, dass dir das be­kannt war.«

»Gut, gut, Schluss mit dem Selbst­lob. Und ja, ich wuss­te es. Aber ich woll­te se­hen, wie gut er sich vor dei­nen Sin­nes­an­grif­fen ver­schlie­ßen kann. Ich muss sa­gen, er ist so­gar noch bes­ser, als ich dach­te.«

Estra zog kräf­tig an sei­ner Zi­gar­re und stieß ei­ne di­cke Rauch­wol­ke aus, be­vor er wei­ter­sprach: »Sen­trans lang­jäh­ri­ge Ver­lob­te hat am Tag der Hoch­zeit kal­te Fü­ße be­kom­men und ihn ver­las­sen. Das ist ge­ra­de erst ein paar Wo­chen her. Er­staun­lich, dass Lo­a­na es so­fort er­kannt hat.« Den letz­ten Satz schien Estra mehr zu sich selbst ge­spro­chen zu ha­ben.

Dann at­me­te er ein­mal kurz durch und lenk­te das Ge­spräch auf ein an­de­res The­ma: »Die Zwil­lin­ge ha­ben in ei­ner Wo­che Ge­burts­tag. Was wirst du ih­nen schen­ken?«

Vi­tus blies Rauch­krin­gel in die Luft und dach­te nach.

»Es soll­te et­was Be­son­de­res sein«, er­wi­der­te er be­trof­fen. »Letz­tes Jahr sind sie voll­jäh­rig ge­wor­den und ich war nicht da. Ich ha­be ih­nen nicht ein­mal gra­tu­liert, Estra.«

»Hör auf, dir Vor­wür­fe zu ma­chen. Du hast die bei­den nach dem Tod ih­rer Mut­ter mehr als acht­zehn Jah­re lang Tag und Nacht vor ei­ner ge­mei­nen, rach­süch­ti­gen Frau be­schützt.«

Estra lehn­te sich zu Vi­tus hin­über und blick­te ihn durch­drin­gend an. »Vik­tor und Vik­to­ria sind bei Isi­nis und mir glü­ck­lich auf­ge­wach­sen, Vi­tus. Wir lie­ben die bei­den wie un­se­re ei­ge­nen Kin­der. Es hat ih­nen nie an et­was ge­fehlt. Das weißt du doch hof­fent­lich?«

Vi­tus nick­te. »Na­tür­lich weiß ich das. Und ich wer­de mein gan­zes Le­ben da­für in eu­rer Schuld ste­hen.«

Er mach­te ei­ne ab­weh­ren­de Ges­te, als Estra pro­tes­tie­ren woll­te, und seufz­te. »Ich dach­te da­mals, ich wür­de das Rich­tig tun. Ich dach­te, die Kin­der zu schüt­zen und nie­man­dem von der Ge­fahr durch Ka­na zu er­zäh­len, sei die ein­zig mög­li­che Lö­sung. Jetzt bin ich mir nicht mehr si­cher, ob es gut war. Ich weiß es ein­fach nicht, Estra. Ich ha­be sie so lan­ge al­lein­ge­las­sen.«

»Was ge­sche­hen ist, ist ge­sche­hen. Wie du schon sag­test: Wir wis­sen nicht, ob es un­be­dingt das Rich­ti­ge war. Aber letzt­lich hast du uns um Hil­fe ge­be­ten und wir ha­ben uns ge­mein­sam ge­gen Ka­na samt ih­rem Zau­ber­freund Kaoul ge­wehrt. Das wis­sen wir. Au­ßer­dem sind die bei­den tot. Sie kön­nen die Zwil­lin­ge und auch dich nie mehr be­dro­hen. Das ist, so den­ke ich, das Wich­tigs­te.«

»Das mag wohl sein. Doch nun ha­ben Vik­tor und Vik­to­ria mich ge­ra­de erst für sich und da tritt auf ein­mal Lo­a­na auf den Plan. Es wun­dert mich, wie rück­halt­los die Kin­der sie in ihr Herz ge­schlos­sen ha­ben.«

Estra schüt­tel­te un­gläu­big den Kopf. »Ich bit­te dich, wer könn­te das nicht? Lo­a­na ist wirk­lich ei­ne be­mer­kens­wer­te Frau und das nicht nur, weil sie ne­ben ih­ren hei­len­den auch enor­me em­pa­thi­sche Kräf­te be­sitzt und da­mit ein­fach un­glaub­lich gut zu dir passt.«

Er beug­te sich zu Vi­tus hin­über. »Es hat­te zwar einen schreck­li­chen Grund, wes­halb ihr zwei euch vor ein paar Mo­na­ten ken­nen­ge­lernt habt, aber ich bin sehr froh dar­über, dass du nach Vik­tors und Vik­to­ri­as Mut­ter end­lich wie­der je­man­den ge­fun­den hast. Dei­ne Kin­der den­ken haar­ge­nau das­sel­be.«

… Vi­tus schwieg. Die Er­in­ne­rung dar­an, wie Lo­a­na aus rei­ner Ver­zweif­lung und mut­ter­see­le­n­al­lein zu Fuß aus der Bre­ta­gne in sein Schloss ge­kom­men war und dort so­lan­ge aus­ge­harrt hat­te, bis sie mit ih­rem Kö­nig spre­chen durf­te, um Hil­fe zu er­bit­ten, war ihm nur all­zu ge­gen­wär­tig.

Lo­a­nas Mann war vor meh­re­ren Jah­ren einen mys­te­ri­ösen Tod ge­stor­ben. Seit­dem wur­de sie von ei­nem ih­rer zwei Schwä­ger so­wie ih­rer Schwie­ger­mut­ter und de­ren Bru­der sys­te­ma­tisch al­ler Be­sitz­tü­mer und ih­res Lan­des be­raubt und da­nach fort­ge­jagt. Der Mör­der ih­res Man­nes und sei­ne Kum­pa­ne wa­ren nun zwar nicht mehr am Le­ben, doch Lo­a­na zu hel­fen, hat­te da­für auch Si­stra, Aeda­ma und Du­rell das Le­ben ge­kos­tet. Lo­a­nas Wi­der­sa­cher hat­ten al­le drei fei­ge nie­der­ge­sto­chen. …

Er at­me­te ein­mal kräf­tig durch, um die Dä­mo­nen der Ver­gan­gen­heit zu ver­trei­ben. Dann leg­te er die Zi­gar­re in den Aschen­be­cher und sah sei­nen Bru­der an.

»Stimmt, man muss Lo­a­na ein­fach mö­gen. Und sie hat mei­nem Le­ben ei­ne deut­li­che Wen­de ge­ge­ben.« Er lä­chel­te. »Ich glau­be, mir ist ge­ra­de ein­ge­fal­len, was ich den Kin­dern schen­ken könn­te, hör zu …«

Sonnenwarm und Regensanft - Band 3

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