Читать книгу Sonnenwarm und Regensanft - Band 3 - Agnes M. Holdborg - Страница 6
Bonbonrosa
ОглавлениеAnna saß zu Hause an ihrem Schreibtisch. Zufrieden legte sie ihr Heft beiseite. Die Hausaufgaben waren erledigt, die aufgegebenen Textpassagen gelesen.
Dennoch blieb sie noch eine Weile auf dem weißen neuen Schreibtischstuhl sitzen. Tief in Gedanken versunken schaute sie aus dem Fenster.
Endlich schien ihr Leben wieder einigermaßen sorgenfrei zu verlaufen. Es war so viel passiert, seit Viktor sie Anfang der letzten Sommerferien auf ihrer kleinen Lichtung im Wald angesprochen und ihr später gestanden hatte, dass er ein Halbelfe wäre.
Mit dieser Begegnung erfuhr ihr Leben eine drastische, aufregende Wendung, hatte Viktor sie doch in eine andere, ihr völlig unbekannte Welt mit Elfen und deren übersinnlichen Kräften geführt. Nicht minder aufregend war es allerdings für Anna, sich obendrein Hals über Kopf in den halbmenschlichen Sohn eines mächtigen Elfenkönigs zu verlieben und mit ihm die Liebe samt ihrer schillernden Facetten zu erleben. Sie waren sich gegenseitig verfallen – mit Haut und Haaren, schwirrte es Anna durch den Kopf. Sofort versuchte sie, diesen Gedanken abzuschütteln, bevor Viktor sich wieder darin einschlich und herumspionierte.
… Sie lachte bei der Erinnerung daran, wie ihr Bruder Jens und sie zum ersten Mal ihre eigenen telepathischen Fähigkeiten ausprobiert hatten. Ein weiteres Phänomen, das sie schon bald nach der ersten Begegnung mit Viktor erkennen musste. Sie selbst und auch ihr Bruder verfügten über beachtliche übermenschliche Sinne.
Im Laufe der Zeit wurde es allerdings nicht nur aufregend und lustig, sondern auch immer abenteuerlicher und leider gefährlich, dieser anderen Welt zu begegnen und Viktor zu lieben:
Die Bedrohung durch Kana, der Königin des südlichen Elfenreiches, gemeinsam mit dem mächtigen Zauberelfen Kaoul. Sogar Annas Familie wollte diese skrupellose Frau ans Leder, und das allein aus Rache an Vitus. Aber das sowie die Intrigen von Loanas Verwandtschaft in der Bretagne gehörten nun endlich der Vergangenheit an.
Die eigene Entführung durch ihren Biologielehrer im Herbst letzten Jahres hatte eigentlich nichts mit den Elfen zu tun. Doch wer weiß, was geschehen wäre, wenn Viktor sie nicht zusammen mit Vitus samt seinen Wachmännern aus den Fängen dieses Monsters befreit hätte. …
Anna versuchte, möglichst wenig daran zu denken, dass sie diesen Mann demnächst bei der Gerichtsverhandlung wiedersehen und gegen ihn aussagen müsste. Das Strafverfahren beunruhigte und befriedigte sie gleichermaßen. Ihrem Peiniger noch einmal gegenübertreten zu müssen, wäre bestimmt schlimm. Aber er sollte büßen für das, was er ihr und auch noch anderen Mädchen angetan hatte. Diese Vorstellung verlieh ihr Zuversicht und ein gewisses Maß an Stärke.
Dennoch hatte sie es an ihrer alten Schule nicht mehr ausgehalten, weil ihr dort immer wieder die furchtbaren Geschehnisse ins Gedächtnis gerufen wurden. Sie war deshalb nach den Weihnachtsferien auf ein anderes Gymnasium übergewechselt. Das lag allerdings erheblich weiter von ihrem Zuhause entfernt, was für Anna eine lange Busfahrt bedeutete, wenn Viktor sie nicht fuhr. Doch die neue Schule in Düsseldorf gefiel ihr. Sie hatte sich sogar schon mit einem Mädchen aus dem Biologiekurs angefreundet.
»Hey, meine Süße, was sinnierst du denn so vor dich hin? Komm lieber noch ein bisschen zu mir, wenn du Lust hast. Schließlich hab dich seit geschlagenen vier Stunden nicht mehr gesehen.«
»War ja klar, dass du es dir nicht nehmen lässt, in meinem Kopf rumzuspuken. Aber ich hätte wirklich noch Lust auf einen Besuch bei einem verrückten Halbelfen.«
Anna grinste schelmisch in sich hinein.
»Ich frage mal Jens, Silvi und Lena, ob sie auch mitkommen möchten. Jens würde sich bestimmt freuen, Ketu wiederzusehen. Und Lena hat frei. Es ist ja Montag. Ein wenig Abwechslung täte ihr gut.«
»Du kannst manchmal ganz schön gemein sein!«, meckerte Viktor in ihren Kopf hinein.
Anna war klar, dass er sie viel lieber ganz für sich allein bei sich hätte, und musste deswegen ein klein wenig schmunzeln.
»Tja, Viktor Müller, das Leben ist nun mal kein Ponyhof!«
»Ponyhof? Wie soll ich das denn bitte verstehen?«
»Das ist nur so eine Redewendung, Viktor. Bis gleich.«
»Okay, bis gleich. Freu mich trotzdem.«
Anna lächelte immer noch, als sie aufstand und in den runden Spiegel an der Zimmerwand blickte. Früher hatte ihr Spiegelbild sie regelmäßig verunsichert und aus dem Tritt gebracht. Doch jetzt war sie durchaus zufrieden damit, trotz ihrer Brille.
Zwar war das neue Gestell mit seinem kupferfarbenen, fast rechteckigen Metallrahmen und breiten Bügeln erheblich auffälliger als das vorherige Modell, dafür brachte es ihre hellblauen Augen mehr zur Geltung. Das tröstete Anna darüber hinweg, so ein Ding tragen zu müssen. Und Viktor liebte sie ja sowieso mit Brille. Immer schon hatte er das Teil an ihr gemocht, was sie so gar nicht verstehen konnte.
Anna schaute an sich hinunter. Mit ihrem Garde-Mini-Maß von sage und schreibe eins-dreiundfünfzig gab sie gegenüber den meisten Elfen einen richtigen Winzling ab. Selbst die meisten Elfenfrauen waren erheblich größer als sie. Nur Loana und die nordische Elfe Denara bildeten da eine Ausnahme, soweit Anna bekannt war.
Sie zuckte mit den Achseln. Sie war eben die Kleinste in ihrer Familie und auch unter den Elfen und Halbelfen. Was soll’s.
Die Aufregung der letzten Monate und auch der Antritt in der neuen Schule hatten ihr Gewicht auf achtundvierzig Kilo schmelzen lassen, was ihr durchaus gefiel. Viktor und ganz besonders Vitus sahen das allerdings völlig anders. Ständig versuchten sie, Anna zum Essen zu animieren.
Aus irgendeinem Grunde schien die Nahrungsaufnahme für Elfen immens wichtig zu sein. Nie zuvor hatte Anna jemanden so viel und regelmäßig essen sehen wie Viktor und die Elfen, insbesondere Vitus und dessen Wachen. Nur Loana bildete da wieder einmal eine Ausnahme.
Mit einem milden Lächeln wandte sie sich vom Spiegel ab. Ja, sie war mit sich, der Menschen- und Elfenwelt und ihrer Liebe zu Viktor wirklich glücklich und zufrieden.
***
Etwa eine halbe Stunde später spazierten Anna, Lena, Jens und seine Freundin Silvi gemütlich durch den Wald.
Früher hatte Viktor seine Anna stets zu sich nach Hause abgeholt, meistens durch den Wald und nicht, ohne eine kleine Schmusepause auf ihrer Lichtung zu zelebrieren. Und weil Viktor ein »nostalgischer« Halbelfe war, bestand er auch jetzt noch oft darauf, sie zu begleiten.
Da Anna aber seit einiger Zeit die Schlüssel besaß, um selbstständig in die Elfenwelt oder, wie in diesem Fall, durch einen Eingang in die Vorwelt und dann durch einen weiteren Eingang direkt zum fünfzig Kilometer entfernten, in der Menschenwelt gelegenen Haus der Zwillinge zu gelangen, waren sie heute ohne Viktor unterwegs.
Vitus hatte die magischen Worte regelrecht in Annas Kopf eingepflanzt. Inzwischen war sie geübt darin, die Zeichen zu erkennen und an der richtigen Stelle die passenden Formeln zu murmeln. Daher schwatzte sie munter mit den dreien, währenddessen sich auf ihr Geheiß der erste unsichtbare Eingang öffnete und, nachdem sie hindurchgegangen waren, wieder schloss, um alle hinter sich zu verbergen.
***
Dabei war sie so ins Gespräch vertieft, dass ihr entging, wie sie aus einiger Entfernung aufmerksam beobachtet wurde.
***
Da! Da war es wieder! Dieses kurze Blitzen! Wo war sie geblieben? Seltsam!
Er hatte es jetzt schon mehrmals gesehen und konnte es einfach nicht begreifen.
Eigentlich hatte er ihr damals gar nicht hinterherspionieren wollen. Schließlich war er kein Voyeur, der einem Pärchen beim Knutschen im Wald zuschauen wollte. Er hatte es trotzdem getan. Dabei war ihm halt aufgefallen, dass sie entweder von ihrem Freund mit dem Auto abgeholt wurde oder aber einfach im Wald verschwand – ob alleine oder gemeinsam mit ihm oder wie heute sogar mit anderen zusammen. Jedenfalls verschwand sie oft auf diese mysteriöse Art und Weise, meist für recht lange Zeit – und das im Januar, bei den derzeit herrschenden Minustemperaturen!
Seit dieser Entdeckung war er bereits einige Male hergekommen, um nachzuschauen, wer, wie oft und wie lange in den Wald ging. Er nahm sich vor, dies von nun an sogar noch regelmäßiger zu tun.
Umständlich kramte er aus seiner Jackentasche einen kleinen Block mit Stift hervor, um sich eifrig Notizen zu machen. Nachdem er das Notizbuch wieder eingesteckt hatte, folgte er dem verschlungenen schmalen Waldweg, fand jedoch – wie auch schon die letzten Male – nichts. Da waren einfach nur ein Weg und ein Wald. Sonst nichts!
Eine Zigarette wäre jetzt nicht schlecht, dachte er grimmig. Dann hätte er wenigstens was zum Zeitvertreib. Verflixt! Blöde Gesundheit! Aber er hatte bereits über drei Monate lang durchgehalten. Also würde er auch weiterhin beim Nichtrauchen bleiben.
Er wartete noch eine Stunde, verharrte Füße stampfend und Hände reibend in der eisigen Kälte. Als sich weiterhin nichts tat, machte er kehrt und verließ nachdenklich den Wald.
***
Nachdem Anna mit den dreien gemeinsam den zweiten Eingang passiert hatte, befand sie sich wieder in der Welt der Menschen. Nur wenige Schritte vom Wald entfernt konnten sie bereits hinter ein paar dichten Büschen das zweigeschossige Reetdachhaus mit den roten Klinkersteinen und weißen Sprossenfenstern erspähen. Davor den hellen Kiesweg, der zum Hauseingang führte, rechts und links flankiert von einem hübschen Vorgarten mit immergrünen Stauden.
Das war das Haus der Zwillinge oder auch gerne Müller-Haus oder aber einfach nur Reetdachhaus genannt. Obwohl es fast fünfzig Kilometer weit von Annas Zuhause entfernt lag, konnten sie es auf diese elfische Weise in nur einigen Gehminuten durch den Wald erreichen.
Wenig später saßen sie gemeinsam im großen Wohnzimmer des hell und luftig modern eingerichteten Hauses auf bequemen weißen Ledersofas und -sesseln.
»Die Musik ist echt cool, Jens. Wie heißen die?« Viktor klang begeistert, als Jens ihm seinen iPod gab und er das Lied abspielte.
»Biffy Clyro«, erklärte der. »Ist ’ne schottische Gruppe. Hab letztens erst von denen gehört. Ich find die auch echt gut.«
»Könnten wir diese coole Musik eventuell in einer Lautstärke genießen, bei der uns nicht die Ohren abfallen?«, wandte Viktoria leicht gereizt ein. »Man kann sich ja gar nicht richtig unterhalten.«
Jens und Viktor, sogar Ketu verdrehten demonstrativ die Augen.
»Okay, wie wär’s, wenn ihr drei nach oben geht?«, schlug Viktoria ungeduldig vor. »Da könnt ihr eure Musi noch ein bisschen lauter aufdrehen und weiter darüber fachsimpeln. Und wir könnten uns erwachsenen Gesprächen widmen.«
Ketu sagte nichts, lächelte nur sanft.
Das Reden übernahm Viktor: »Kommt, Jungs, lasst uns raufgehen. Kleinen Mädchen soll man nicht widersprechen, wenn sie große Damen spielen wollen.«
Das brachte ihm einen Stupser von Anna ein. Er belohnte sie mit einem spitzbübischen Grinsen. Viktor erhob sich, nahm den iPod von der Station und winkte die anderen beiden hinter sich her.
Viktoria stand daraufhin auch auf. Sie schloss die Zimmertür hinter ihnen, nicht ohne einen Seufzer der Erleichterung auszustoßen.
»So, jetzt können wir endlich mal in Ruhe über die Hochzeit reden, ohne dass die Jungs uns nerven. Wir müssen nämlich darüber nachdenken, was wir als Brautjungfern anziehen wollen. Loana hat gesagt, sie lässt uns da freie Hand.«
Wie so oft, wenn sie überlegte oder verlegen war, kaute sie auf der Unterlippe. »Natürlich hab ich mir so meine Gedanken gemacht. Ich finde, es sollte etwas sein, was uns allen gefällt und zu blonden und braunen Haaren passt.«
Viktoria sah Lena und Silvi an. »Hat Anna euch schon gefragt, was ihr davon haltet, dass wir blond mit blond und braun mit braun kombinieren wollen?«
In Lenas Gesicht breitete sich ein schiefes Grinsen aus. »Du meinst, ob ich dazu meine Haarfarbe behalte, oder?«
»Tja, nun, ich dachte halt, das wäre bestimmt hübsch: Zwei Blondinen und zwei Brünette, jeweils nebeneinander. Die Kleider müssten ja nicht dieselbe Farbe haben, aber sie sollten irgendwie miteinander harmonieren.«
Lena grinste immer noch. »Mach dir mal keinen Kopf. Ich habe sogar vor, meine Naturfarbe wieder anzunehmen, die ist nämlich fast die gleiche wie Annas. Das wäre doch bestimmt in deinem Sinne, nicht wahr?«
Jetzt mischte Anna sich ein. »Das musst du aber nicht, Lena. Nur wenn du Lust drauf hast, klar?«
»Sicher, Schwesterchen, ich hab halt Lust drauf.«
Sie drehte sich zu Silvi. »Was sagst du denn dazu?«
Anna hatte mental sehr wohl registriert, wie Silvi sich die ganze Zeit zurückhielt. Nach wie vor schien sie Probleme damit zu haben, dass Viktoria im letzten Sommer, getarnt als rothaarige Viola, zusammen mit Jens und Anna auf der Nordseeinsel gewesen war. Ohne Silvi. Unverkennbar pikste sie die Eifersucht hin und wieder ins Herz, obwohl sie gesehen hatte, wie liebevoll Ketu und Viktoria miteinander umgingen und es wirklich keinen Grund für ihren Argwohn gab.
»Jaa«, begann Silvi langsam, »das mit zwei zu zwei finde ich ziemlich gut. Die Frage ist nur: Geht blond mit blond und braun mit braun oder gehen zwei gemischte Paare? Und dann gibt es da so ein paar Kleiderfarben, für die ich mich persönlich nicht unbedingt begeistern könnte. Bonbonrosa und so etwas. Also, das ist nicht so meins.«
Viktoria lachte fröhlich. »Das mit der Pärchenbildung ist eine gute Frage, Silvi. Bei der Farbe werden wir uns schon noch einig. Ich würde zu gern Vitus’ Gesicht sehen, wenn wir alle in Bonbonrosa zu seiner Hochzeit auftauchen würden.«
***
»Soso, würdest du das gerne?« Vitus lächelte seine Tochter mit hochgezogenen Brauen an.
Er hatte sich in voller Größe von eins-fünfundneunzig derart im Türrahmen aufgebaut, dass er seine gut dreißig Zentimeter kleinere Verlobte hinter sich verbarg. Doch dann wurde er von ihr einfach zur Seite geschubst.
»Entschuldigt bitte, ihr Lieben, aber mein zukünftiger Ehemann benimmt sich mal wieder wie ein rohes Klotzholz. Er war schon drin, bevor ich überhaupt die Chance hatte, die Türglocke zu läuten.«
»Klotzholz?« Amüsiert zog Vitus die Brauen noch höher.
»Was?«, fragte Loana gereizt zurück.
»Es heißt: Holzklotz und nicht Klotzholz, Kened.«
Loana schnaubte laut auf. »Pah! Das kann ja jeder behaupten.« Als sie allerdings sah, wie die Frauen auf der Couch sich vor Lachen kringelten, fing sie selbst an zu kichern. »Na gut, du roher Holzklotz!«
»Grober, Loana, es heißt eigentlich: grober Holzklotz oder noch besser grober Klotz.«
Loana stemmte die Fäuste in die Hüften und blitzte Vitus mit ihren edelsteingrünen Augen an.
»Meinetwegen schimpfe mich ein rohes Klotzholz, wenn es dich glücklich macht, meine Schöne.« Er hob ergeben die Hände und bedachte sie mit einem derart glückstrahlenden Lächeln, dass ihr scheinbar fast die Luft und zudem gänzlich die Sprache wegblieben. Sie klappte den bereits zur Widerrede geöffneten Mund wieder zu und folgte ihm ins Wohnzimmer.
Vitus bemerkte, wie die anderen Frauen den fremden Mann musterten, den er und Loana neben den Wachmännern Timmun und Essem mitgebracht hatten. Wie üblich blieben alle drei Wachleute respektvoll vor der Tür stehen, bis Vitus sie aufforderte einzutreten.
Er gab seinen beiden Töchtern einen Kuss auf die Wangen. Seit er Anna kennengelernt hatte, sah er sie als seine Tochter an, so wie ihm Ketu ein Sohn war.
Danach reichte er Lena und Silvi die Hand und blickte ihnen mit seinen meergrünen Augen tief in die Seele.
»Wie ich sehe, habt ihr mittlerweile die elfischen Neuigkeiten ganz gut verkraftet. Das freut mich. Und es freut Loana und mich, dass ihr uns auf unserer Hochzeit als Brautjungfern begleiten werdet.«
Silvi war hochrot angelaufen und des Sprechens offenkundig nicht fähig. Also übernahm Lena tapfer das Wort: »Es war sehr nett von euch, uns darum zu bitten. Wir haben uns total darüber gefreut. Nicht wahr, Silvi?«
Die nickte tonlos. Vitus schmunzelte über ihre Gefühle. Es sah so aus, als machte er ihr stets ein bisschen Angst, obwohl er sich so viel Mühe gab und sie auch jetzt freundlich anschaute. Doch seine Aura von Autorität und Macht schüchterte sie weiterhin ein.
Unterdessen hatte auch Loana alle begrüßt und nahm nun Silvis Hand, um sie mit ihrer heilenden Kraft ein wenig zu beruhigen. »Mach dir keine Sorgen, Silvi«, sprach sie sanft. »Ich habe ihn zwar – wie war das noch gleich? – ach ja, einen groben Klotz genannt, aber meistens ist er eher ein weiches Ei.«
Erneut schossen Vitus’ Brauen in die Höhe, doch er biss sich auf die Lippe und schluckte einen weiteren Tadel bezüglich Loanas manchmal äußerst eigentümlichen Sprachgebrauchs hinunter.
Himmel, war diese Frau süß, dachte er vergnügt. Er liebte einfach alles an ihr. Ihr Temperament und ihre außergewöhnlichen Talente. Was allerdings das Fluchen und Schimpfen betraf, das konnte sie eindeutig besser auf Bretonisch.
Natürlich erkannte Loana, was in ihm vorging, und lachte. »Jaja, Vitus, ist ja gut. Ich werde es schon noch lernen.«
Sie ließ sich auf dem Sofa nieder und Vitus nahm neben ihr Platz.
Als Viktoria hinausgehen wollte, um für die drei Wachleute Stühle aus dem Esszimmer zu holen, trat ihr der Fremde entgegen.
»Bleibe hier, Königstochter«, bat er sie ernst. »Wir werden uns die Stühle selbst holen.« Er ging hinaus und die anderen beiden folgten ihm.
Mit großem Interesse verfolgte Vitus, wie Timmun und Essem dem neuen Mann ohne Zögern hinterhergingen, obwohl sie ihn kaum kannten. Sie schienen sich bereits gut zu verstehen.
»Wer ist das, Vater?«, erkundigte sich Viktoria leise.
»Das ist Sentran, der neue sechste Mann.« Dabei sah er ihm stirnrunzelnd nach. Eigentlich hatte Vitus nicht vorgehabt, ihn schon als sechsten Mann zu bezeichnen, weil er ihn zunächst nur probeweise mit zum Schloss nehmen wollte. Doch irgendwie fand er es richtig, ihn schon jetzt so zu nennen. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er seine Wahl bereits getroffen hatte.
Seine Aufmerksamkeit wurde nun auf Ketu gelenkt, der mit Viktor und Jens die Treppe herunterkam. Ketu, einer seiner Elitewachmänner und zudem Sistras Bruder, würde Zeit brauchen, sich daran zu gewöhnen, Sistra nach dessen Tod scheinbar durch einen Fremden ersetzt zu sehen, überlegte Vitus.
Er stand wieder auf, um die drei Männer zu begrüßen und ihnen Sentran vorzustellen.
Dieser ließ daraufhin seinen Blick durch die Runde schweifen – ruhig und besonnen – von einer Person zur anderen. Es war, als würde dieser Blick einen silbergrauen Streifen hinter sich herziehen. Nur einen winzigen, kaum registrierbaren Moment hielt er bei Lena inne und im selben Moment senkte die ihre Lider.
Neben diesem kaum merklichen Blickkontakt zwischen Lena und Sentran vernahm Vitus, wie nicht anders von ihm erwartet, ein kurzes Blitzen in Ketus hellbraunen Augen, das aber gleich wieder erlosch. Außerdem spürte Vitus, dass auch Sentran Ketus Empfindungen wahrgenommen hatte. Mitzuverfolgen, wie sich die beiden Wachmänner weiterhin beäugen und annähern würden, dürfte nach Vitus’ Ansicht spannend werden. Und sie würden einander näher kennenlernen, sich sogar anfreunden, dessen war Vitus sich gewiss.
Viktor riss ihn aus seinen Spekulationen. »Ich schätze mal, wir haben keine andere Wahl, als uns daran zu gewöhnen, dass du auf immer die gleiche Weise, also ohne zu klingeln, hier bei uns reinplatzt.«
Vitus lächelte verschmitzt. »Tja, das ist wohl das Privileg eines Königs.« Er nahm einen Schluck von der Cola, die Viktoria ihm eingeschenkt hatte. »Nein, ich wollte euch ursprünglich nur kurz Sentran vorstellen. Dann war es einfach so, dass ich nicht widerstehen konnte, als man sich darüber Gedanken machte, auf unserer Hochzeit in Bonbonrosa zu erscheinen. Eine wirklich nette Idee und so passend zur Kirschblüte. Findest du nicht auch, Kened?«
Während er sprach, wickelte er gedankenverloren eine Strähne ihres honigblonden Haares um seinen Finger.
»Du weißt, dass ich an der Tür läuten wollte, so wie es sich gehört. Und bonbonrosa würde mir nicht unbedingt gefallen. Aber ihr sollt eure Wahl selbst treffen. Ich habe ja schließlich schon genug mit mir und meinem barfüßigen Bräutigam zu tun.«
Sofort blickten alle an Vitus hinunter, der, wie üblich und so auch an diesem bitterkalten Tag, keine Schuhe trug. Diese elfische Vorliebe hatte Vitus als Erbe an seinen ebenso barfüßig dasitzenden Sohn weitergegeben. Auch seine Wachen gingen normalerweise ohne Schuhe, hatten allerdings für Besuche in der Menschenwelt stets leichtes Schuhwerk dabei.
»Privileg eines Königs hin oder her«, richtete sich Viktoria an ihren Vater, »du wirst an deinem Hochzeitstag doch wohl Schuhe anziehen.«
»Ach, liebste Tochter, was soll ich dir nun darauf antworten?« Er seufzte theatralisch. »Selbstverständlich werde ich zu meiner eigenen Hochzeit standesgemäß erscheinen.« Als er daraufhin nicht nur von seiner Tochter skeptische Blicke erntete, fügte er hastig hinzu: »Mit Schuhen an den Füßen, jaja. Dabei hätte es mir durchaus Spaß gemacht, meine Verlobte noch ein klein wenig im Ungewissen zu lassen und aufzuziehen. Jetzt hast du mich um den ganzen Spaß gebracht.«
Er spielte weiter mit Loanas Locke, zog sie daran sanft zu sich und küsste sie zärtlich auf den Mund. »Für dich käme ich auch in Ritterrüstung.«
»Ritterrüstung? Gibt es so etwas denn bei den Elfen?«, wollte Anna wissen.
»Nein, gibt es nicht. Ich dachte halt, dass sich das hübsch anhört.« Vitus lachte herzhaft.
Sie unterhielten sich noch eine ganze Weile miteinander. Der lebhafte Verlauf des Nachmittages machte Vitus durch und durch zufrieden. Selbst Ketu brach sein Schweigen. Unter anfänglichem Zögern begann er, Sentran ein paar Fragen zu stellen, allerdings erst, nachdem ihn Viktoria mit funkelnd dunkelblauen Augen auffordernd angeblitzt hatte.
Ehe sich Vitus gemeinsam mit Loana nach gut einer Stunde verabschiedete, standen Timmun, Essem und Sentran bereits auf, nickten mit dem Kopf und gingen schon einmal vor, um draußen auf ihren König zu warten. Vitus nahm seine Zwillinge, aber auch Ketu und Anna, Lena, Jens und Silvi, überschwänglich in den Arm.
»Ich freue mich schon auf die Geburtstagsfeier am Freitag. Das wird herrlich. Wir bringen meinen, nein, unseren Koch Wonu mit. Seid also pünktlich und esst vorher nicht zu viel. Grüßt bitte Johannes und Theresa von uns und richtet ihnen aus, wie sehr wir uns auf das Wiedersehen freuen.«
Nachdem auch Loana sich herzlich verabschiedet hatte, umfing er ihre Taille und zog seine Verlobte mit hinaus.
Draußen vor der Tür flüsterte er ihr ins Ohr: »Bei der Erwähnung unseres Kochs ist mir eingefallen, dass wir seit der Abreise von Estra und Isinis nichts mehr gegessen haben. Komm, meine Schöne, lass uns schnell zum Schloss zurückkehren. Ich muss dringend meinen Hunger stillen. Nicht nur mit Wonus Köstlichkeiten.«